Institut 4 - Timothy Whiter - E-Book

Institut 4 E-Book

Timothy Whiter

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Beschreibung

Vor den Augen des Studenten Edward Darry wird eine Frau erschossen, eine weitere entführt. Ein erneuter Tiefpunkt in seinem Leben, denn die entführte Frau war die einzige Freundin in seinem tristen Leben. Der Zufall mischt die Karten neu und zwingt Edward, sich dem Leben zu stellen. Unerwartete Hilfe erhält er ausgerechnet aus dem Klinikum, in dem sein Vater im Koma liegt. Seine Nachforschungen allerdings passen einigen überhaupt nicht. Und so wird die Suche nach Antworten zu einem tödlichen Strudel aus Verbrechen und Verrat mit ungewissem Ausgang.

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Timothy Whiter

Institut 4

Zum Inhalt:

Vor den Augen des Studenten Edward Darry wird eine Frau erschossen, eine weitere entführt. Ein erneuter Tiefpunkt in seinem Leben, denn die entführte Frau war die einzige Freundin in seinem tristen Leben.

Der Zufall mischt die Karten neu und zwingt Edward, sich dem Leben zu stellen. Unerwartete Hilfe erhält er ausgerechnet aus dem Klinikum, in dem sein Vater im Koma liegt.

Seine Nachforschungen allerdings passen einigen überhaupt nicht. Und so wird die Suche nach Antworten zu einem tödlichen Strudel aus Verbrechen und Verrat mit ungewissem Ausgang.

Über den Autor:

Geboren wurde er 1982 in Norddeutschland. Dort lebt er mit seiner Frau und den Kindern nahe der deutschen Nordseeküste im Herzen von Ostfriesland.

Als er in der Schule zum ersten Mal in Berührung mit dem Schreiben von Geschichten kam, hat ihn die ausgelöste Begeisterung nie wieder losgelassen.

Nach einigen Geschichten für seine Kinder brachte er im Jahr 2015 schließlich seinen ersten Roman zu Papier.

Viele weitere Ideen schlummern noch in seinen Notizbüchern und wir dürfen gespannt sein, welche davon als nächstes in einer Geschichte zum Leben erweckt wird.

Ausführliche Information

über unsere Autoren und Bucher erhalten Sie auf

www.JustTales.de

Thriller

von Timothy Whiter

1. Auflage 2017

Ungekürzte Taschenbuchausgabe

November 2017

JustTales Verlag, Bremen

Geschäftsführer Andreas Eisermann

Copyright © 2017 JustTales Verlag

An diesem Buch haben viele mitgewirkt, insbesondere:

Lektorat: Britta-Chr. Engel

Korrektorat: Roland Blümel, Britta-Chr. Engel

Einbandgestaltung: ArBIS Bremen gemeinnützige GmbH

unter Mithilfe der Beschäftigten der WeBeSo

Buchsatz: Da-TeX Gerd Blumenstein

Druck & Bindung: Booksfactory.de/PRINT GROUP Sp. z o.o.

Paperback (ISBN 978-3-947221-08-0)

Auch erhältlich als

E-Book (ISBN 978-3-947221-09-7)

Timothy Whiter

Institut 4

Thriller

Lieber Leser!

Der JustTales Verlag dankt für den Kauf dieses Print-Exemplars.

In Zeiten der Digitalisierung fällt es kleinen Sortimentsbuchhandlungen immer schwerer, Ihnen eine Vielfalt an Büchern zu präsentieren. Daher freuen wir uns, dass Sie mit dem Kauf eines Print-Exemplars den Deutschen Buchhandel unterstützt haben und wünschen Ihnen ebenso viel Freude beim Lesen, wie wir hatten beim Erstellen des Buches.

Ihr Team vom JustTales Verlag

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
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DANKSAGUNG

1

Donnerstag, 21:32 Uhr

Dieser unerträglich quälende Schmerz, der seit zwölf Jahren das Leben nicht mehr lebenswert machte. Dieser Schmerz, für das Leben zu groß und für das Sterben zu klein.

Ich faltete das alte, bereits abgenutzte Foto behutsam in meinen Händen.

„Gute Nacht, Mom“, flüsterte ich in die Stille meiner kleinen Ein-Zimmer-Wohnung. Das Foto legte ich wie jeden Abend in die schwarze Pappschachtel, welche sich mit letzter Kraft gegen den endgültigen Zerfall wehrte.

Eine Träne kämpfte sich durch mein unrasiertes Gesicht, glitt meinen blassen Hals hinunter, um vom Rand des T-Shirts aufgesogen zu werden.

Ich schob die Schachtel unter mein Bett und richtete mich auf. Jede meiner Bewegungen wurde knarzend vom rostigen Metallgestell des Bettes quittiert. Mein Blick streifte durch die kahle Wohnung. Ein altes Bett sowie eine kleine, schäbige und bereits vergilbte Einbauküche mit defektem Kühlschrank fristeten seit Jahrzehnten ihr Dasein in dieser Bude. Mein einziger Freund und Helfer thronte auf der Fensterbank vor dem verdreckten, kleinen Fenster. Die bräunliche Kunststoffdose mit den illegal beschafften Beruhigungstabletten waren meine Hilfe – meine Freunde. Die, die mir wirklich helfen konnten seit diesem Abend am 25. März vor zwölf Jahren auf der Farm meiner Großmutter Dorothee.

Ich sah auf den roten Rucksack, der angelehnt neben der Küche stand. Provisorisch hatte ich ihn vor Wochen mit einer Sicherheitsnadel geflickt, nachdem der Reißverschluss seinen Geist aufgab. Vorne, in einer Schutzfolie, lächelte mich mein Foto an. Damals noch rasiert. Die Haare aber waren, wie seit Langem, auf wenige Millimeter kurz geschoren. Mein Bild klebte auf der Vorderseite des Studentenausweises der Universität von Portland, an der ich amerikanische Geschichte im vierten Semester studierte. ‚Edward Darry‘ stand in großen, schwarzen Buchstaben unter dem Foto. Wie ich meinen Namen hasste.

In den bitteren, dunklen Stunden, in denen auch die Tabletten nur bedingt halfen, sehnte ich mich nach vertrauten Stimmen. Eigentlich gab es da nur noch die Eine, mit der ich meine Sorgen teilen konnte. Denn seit diesem einen Tag vor zwölf Jahren lebte ich ohne Bekannte und Freunde. Die anderen Studenten der Uni beachteten mich nicht. Verwandte in der Nähe zum Reden hatte ich keine. Selten besuchte ich meine Grandma Dorothee, die mich großzog und auf das Leben vorbereitete. Ich war ihr von ganzem Herzen dafür dankbar, aber das Geld, das sie mir jeden Monat gab, reichte einfach nicht für die langen Busfahrten in den entlegenen Teil des Bundesstaates Oregon zu ihrer kleinen Farm.

Und so zog ich in den schweren Stunden nach Einbruch der Dunkelheit in die düsteren Viertel von Portland. Hier hatte ich vor einigen Wochen, eher zufällig, die Bekanntschaft mit der drogenabhängigen Prostituierten Linda gemacht.

Ich verbrachte eine Nacht mit ihr. Jedoch nicht nach dem Geschäftssinn von Linda, sondern wir unterhielten uns. Nach dieser Nacht wusste ich, wie schön sich sozialer Kontakt anfühlt. Nachdem das Eis zwischen uns gebrochen war, entwickelte sich allmählich eine Freundschaft und wir trafen uns hin und wieder in der Nähe der berühmten 82nd Avenue.

An diesem Donnerstagabend, an dem selbst die illegal beschafften Tabletten mir mal wieder nicht die innere Ruhe geben konnten, ging ich hinaus in das Nachtleben von Portland mit dem Ziel, Linda zu treffen. Ich schaltete das Licht aus, schnappte meine graue Kapuzenjacke und begab mich auf den 30-minütigen Fußmarsch zu Lindas Stammplatz.

Der starke Regen war mittlerweile in einen sanften Sommerregen übergegangen und die Sterne funkelten am Himmel. Der Geruch des warmen Regens, der mit dem heißen Asphalt in Berührung kam, roch wunderbar und ich atmete auf der Straße stehend ein paar Mal tief ein und aus. Die kühle Luft nach dem Gewitter füllte meine Lungen.

In den ersten Minuten führte der Weg vorbei an den angrenzenden Straßen mit den Häusern der gut verdienenden Gesellschaft. Sehnsüchtig blieb ich auf meinem Weg immer an dem gleichen Eckhaus einer Familie stehen und sah von der Straße aus durch die sauberen Fenster in das sorgsam und liebevoll eingerichtete Wohnzimmer. Hier saßen die Eltern mit ihren zwei Kindern am großen, ovalen Esstisch. Sie lachten, gestikulierten und reichten einander Knabbereien und Getränke. In diesen Momenten träumte ich davon, einer von ihnen zu sein. Ich schloss die Augen, schluckte den Kummer hinunter und lief die letzten zwanzig Minuten des Weges mit gesenktem Kopf.

In der 82nd Avenue herrschte wie jeden Abend reges Treiben. Die mächtig aufgeplusterten Frauen flanierten über die Fußwege und klopften mit ihren Absätzen rhythmische Geräusche in das Nachtleben von Portland. Die jungen Latinos ohne Perspektive verdienten ihr Geld mit dem Handel von sogenanntem weißem Gold. Hin und wieder waren Schüsse zu hören, die durch die Sirenen von Ambulanz und Polizei untermalt wurden. Keiner der Passanten schien sich daran zu stören. Es gehörte zu dieser Straße wie Wälder zu Kanada. Auch der Geruch von Urin und Erbrochenem, der durch den Wind getragen wurde, schien keinen zu stören. Das war der Duft der 82nd Avenue.

Mein Ziel war jedoch eine kleine Seitenstraße. Hier hatte ich Linda die letzten Wochen öfters getroffen. Manchmal stand sie nicht an ihrem Stammplatz. Dann ging sie ihrer nächtlichen Arbeit nach, um ihren Lebensunterhalt, bestehend aus Miete und Drogen, zu finanzieren. Doch an diesem Abend sollte alles anders werden.

Ich sah vorsichtig um die Ecke, um Lindas potentiellen Kunden nicht zu vermitteln, sie sei bereits besetzt. Darum hatte sie mich gebeten und ich hielt mich daran. Linda stand zusammen mit einer weiteren aufgetakelten Frau an einem mit Graffiti beschmierten Hydrant. Sie sprachen miteinander und teilten sich einen Joint. Den Geruch des Joints trug der seichte Wind bis zur Straßenecke, an der ich verborgen im Dunkeln auf meine Gelegenheit wartete.

Gerade als ich Lindas Namen rufen wollte, fuhr neben mir eine große, schwarze Limousine vorbei in die Gasse und blieb mit quietschenden Reifen neben den beiden Frauen stehen. Das fade Licht der Straßenlaterne spiegelte sich auf der polierten Edelkarosserie, als der Insasse die Scheibe der hinteren Wagentür hinunterließ. Linda und die andere Frau beugten sich nach vorne und begannen zu gestikulieren. Plötzlich schreckten die beiden Frauen zurück und hielten die Hände über ihren Kopf. Ich hielt die Luft an und beobachtete das Geschehen aus der Dunkelheit heraus.

Die beiden Hintertüren des Wagens öffneten sich und zwei in schwarz gekleidete Männer stiegen aus. Einer der beiden Männer, ein Glatzkopf, hielt ein Handy am Ohr und schien aufgeregt zu telefonieren. Der andere Mann schritt direkt auf Linda zu. Er hielt eine Pistole in seiner rechten Hand.

Ich blickte zurück in das geschäftige Treiben der 82nd Avenue, aber um Hilfe rufen konnte ich vergessen. Es würde hier niemanden interessieren und im schlimmsten Fall würden die beiden Männer mich bemerken. Linda und der anderen Frau konnte ich nicht helfen. Was sollte ich, 1,80 Meter abgemagertes Hemd, gegen die zwei muskulösen Männer schon ausrichten können? Für diese Situation fehlte mir, wie sonst auch, jeglicher Mut und Wille.

Feigling, beschimpfte ich mich selber.

Der glatzköpfige Mann steckte das Handy in seine Hosentasche und näherte sich ebenfalls den beiden Frauen. Er musterte Linda von oben bis unten. Blitzschnell packte er sie, hielt ihr den Mund zu und drückte sie in die geöffnete, rechte Seitentür des Wagens. Geduckt kroch er hinter ihr her und erschien kurz darauf wieder. Die andere Frau, deren Namen ich nicht kannte und die ich auch noch nie zuvor gesehen hatte, schien aus ihrer ungläubigen Fassungslosigkeit aufzuschrecken, begann mit den Armen zu fuchteln und schrie laut um Hilfe. Ohne zu zögern, schoss der Mann mit der Pistole zwei Mal auf die hysterische Frau. Diese brach neben dem Hydranten zusammen, knallte mit dem Kopf auf die grauen Pflastersteine und blieb regungslos liegen. Die beiden Männer schauten kurz um sich und stiegen in den Wagen. Der Wagen fuhr los und verschwand an der Kreuzung kurz hinter der Seitenstraße.

Übelkeit kroch in mir hoch. Ich hatte große Probleme, den Brechreiz zu unterdrücken. Noch nie musste ich mit eigenen Augen ansehen, wie jemand angeschossen wurde.

Aber, ist die Frau tot, schoss es mir fragend durch den Kopf.

Ich lief beherzt zu der am Boden liegenden Frau, um ihr zu helfen. Erregt kämpfte ich mit meinen Gefühlen. Ich kniete mich neben die Frau und versuchte, den Puls am Hals zu ertasten, als plötzlich wie aus dem Nichts jemand neben mir stand. Eine schmale, äußerst gepflegte Hand tippte auf meine Schulter und eine dunkle, kräftige Stimme sprach zu mir herunter.

„Konntest du nicht bezahlen?“

Ich erschrak, sprang auf und rannte, ohne den Mann eines Blickes zu würdigen, die Seitenstraße hinauf, zurück zur 82nd Avenue. Bevor ich in die Straße einbog, warf ich der Frau und dem danebenstehenden Mann noch einen schnellen Blick zu. Neben der verletzten Frau stand ein dunkler Koffer. Der Mann beugte sich hinunter zu ihr. Mehr konnte ich in der spärlich beleuchteten Seitenstraße auf diese Entfernung nicht erkennen. So schnell mich meine Beine trugen, rannte ich um die Häuserecke in eine belebte Straße.

Der Schock saß tief. Ich rannte und rannte, als würde es um mein eigenes Leben gehen. Ich wollte unter keinen Umständen mit diesem Vorfall irgendwie in Verbindung gebracht werden. Völlig außer Puste blieb ich nach einiger Zeit stehen und zog die Plastikdose mit den Tabletten aus meiner Jackentasche. Vier Tabletten warf ich auf einmal in meinen trockenen Mund und begann, diese hastig zu zerkauen. Wie in Trance machte ich mich auf den Rückweg. Meine benebelten Gedanken kreisten um Linda.

Wo ist sie jetzt? Was mache ich jetzt?

Zuhause ließ ich mich auf das Bett fallen und schlief zugedröhnt von den Beruhigungstabletten sofort ein. In dieser Nacht sah ich immer wieder diesen Mann vor der Frau stehen. Er kam mir so bekannt vor. Irgendwo hatte ich auch diese Stimme schon einmal gehört. Nur wo?

Dass ich diesem Mann nicht zum letzten Mal begegnet war, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

2

Donnerstag, 23:20 Uhr

Das Telefon auf dem Tresen klingelte. Die diensthabende Nachtschwester, Emma Dawson, strich sich die braunen Haare aus dem Gesicht.

„Privatstation Dr. Bill Jordan. Schönen guten Abend. Wie kann ich Ihnen helfen?“, sprach sie, während ihre Lippen ein Lächeln formten.

„Bereite den Behandlungsraum vor. Schussverletzung. Bin in zehn Minuten da!“ – Klick.

Emma schloss die Augen, seufzte und legte den Hörer auf. Sie pustete sich die restlichen Haarsträhnen aus dem Gesicht und stand energisch auf. Der blaue Drehstuhl schoss nach hinten und knallte gegen den weißen Medikamentenschrank. Emma stand vor dem Telefon, salutierte, während sie auf den Hörer starrte.

„Jawohl, Diktator Jordan!“, hallte ihre sonst sanfte Stimme zornig in den totenstillen Flur hinein.

Sie eilte zum Behandlungsraum gegenüber dem Empfangstresen und begann mit den Vorbereitungen.

Vor eineinhalb Jahren nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester hatte Emma den Job auf der Privatstation von Dr. Jordan angeboten bekommen.

„Kind, was Besseres findest du so schnell nicht“, hatten ihre Eltern damals gepredigt. Die Bezahlung war besser als üblich in der Branche. Der Schichtdienst war ausgeglichen und schaffte genügend Freiräume, um dem Körper die Erholung zwischen den einzelnen Schichten zu geben. Aber wie so oft hatte das Positive auch immer eine Kehrseite. Und diese Kehrseite war Dr. Jordan, Emmas Chef. Die Angestellten hielten Dr. Jordan für einen merkwürdigen Mann mittleren Alters, der seine Angestellten gerne herumkommandierte. Er war kühl und emotionslos, sprach sehr wenig und schien immer in Gedanken abwesend zu sein. Wenn er dann mal etwas sagte, dann oft in einem Befehlston, der dem so mancher Drillsergeant der US-Army nahekam.

In dieser Nacht hatte Emma alleine Dienst, da nur zwei der zehn Zimmer belegt waren. Nachdem sie die Vorbereitungen im Behandlungsraum abgeschlossen hatte, schaute sie kurz zu Mrs. Donelli hinein, die tief und fest vor dem eingeschalteten Fernseher schlief.

Der andere Patient, ein seit Jahren im Koma ­liegender Mann, benötigte außer der morgendlichen Wäsche und dem gelegentlichen Umlegen keine weiteren Maßnahmen durch die Angestellten. Diese Anweisung hatte Dr. Bill Jordan seinen Mitarbeitern in einem persönlichen Gespräch mitgeteilt. Dieser Patient wurde mit allen benötigten Medikamenten ausschließlich von Dr. Jordan versorgt. Zudem war es dem Personal strikt untersagt, ohne triftigen Grund das Einzelzimmer des Patienten zu betreten.

Besuch bekam der Patient nur jeden Samstagvormittag von seinem Sohn. Emma hatte ihn ein paar Mal gesehen, wenn ihr Dienst auf einen Samstag fiel, aber nie mit ihm gesprochen. Er betrat das Zimmer seines Dads mit gesenktem Kopf und verließ dieses, manchmal erst nach Stunden, mit ebenso gesenktem Kopf, ohne ein Wort zu sprechen.

Nachdem Emma die Tür von Mrs. Donelli geschlossen hatte, huschte sie hinüber zu dem Zimmer mit der großen Eins auf der Tür, hinter dem der Komapatient lag. Sie fragte sich seit Langem, warum Dr. Jordan sich ausgerechnet um diesen Mann so rührend kümmerte, und warum er jeglichen Fragen zu diesem Patienten auswich. Zudem hätte sie gerne gewusst, wer die monatliche, hohe Rechnung beglich. Sein Sohn schien nach seinem Äußeren zu urteilen nicht dazu in der Lage. Fragen über Fragen rasten Emma immer wieder durch den Kopf. Neugier war eine ihrer größten Schwächen. Ihre Eltern und nahe Verwandte nannten sie, seitdem sie denken konnte, liebevoll ‚Madame Neugier‘.

„Neugierige wissen aber auch immer mehr als andere!“, gab sie dann gespielt eingeschnappt zur Antwort, wenn es ihr mal wieder zu viel wurde.

Gerade als Emma mit den Gedanken wieder bei dem Sohn des Patienten war, hörte sie einen dumpfen Knall. Die Tür zur Privatstation von Dr. Jordan wurde in diesem Moment aufgestoßen und die Luft füllte sich mit dem Duft von billigem Parfum und Schweißgeruch. Schwer atmend trug Dr. Jordan eine regungslose, rothaarige Frau mit schwarzem, kurzem Rock und weißer, blutdurchtränkter Bluse in seinen Armen durch den Flur.

„Ist die Notaufnahme unten geschlossen?“ Emma biss sich auf die Zunge, musste aber über ihren Satz schmunzeln.

„Emma!“, rief Dr. Jordan laut und in einem strengen Ton.

„Ist der Behandlungsraum vorbereitet?“ Seine dunklen Augen funkelten böse. Seine braunen, lockigen, kinnlangen Haare waren verschwitzt und klebten an den Seiten seines akkurat rasierten Gesichts. Emma nickte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen und nach Luft schnappend, trug Dr. Jordan die Frau an Emma vorbei zum Behandlungsraum. Das Blut der Frau sickerte an Dr. Jordans Hand hinunter und tropfte auf den grauen Linoleumboden.

„Soll ich noch jemanden aus der Chirurgie anfordern?“ Emma blickte Dr. Jordan hinterher, der bereits durch die Tür zum Behandlungsraum verschwunden war.

„Nein!“

Überrascht zog Emma die Augenbrauen in die Höhe und folgte schließlich ihrem Chef in den Behandlungsraum. Gekonnt wich sie auf dem Weg dorthin den Blutstropfen auf dem Boden aus. Emma attestierte ihrem Chef, so gut es eben möglich war. Sie gab sich alle Mühe, war in Gedanke jedoch hin und her gerissen zwischen dem Komapatienten und der Frage, warum sie mit Dr. Jordan diese in Lebensgefahr schwebende Frau ohne die Hilfe von einem anderen Pfleger operierten. Nach einem weiteren Arzt oder einem Anästhesisten traute sie sich erst gar nicht zu fragen.

Zwischendurch tupfte sie Dr. Jordan den Schweiß von der Stirn, da er mit beiden Händen Operationswerkzeuge hielt und diese in dem teilweise geöffneten Brustkorb der Frau verschwinden ließ. Emma kontrollierte immer wieder die Vitalwerte an den Monitoren und rief die Werte in den Raum hinein. Ein leichtes Nicken durch Dr. Jordan quittierten ihre Angaben.

„Warum sind wir hier allein und die Frau nicht in der Notaufnahme der Chirurgie?“, fragte sich Emma und reichte der ausgestreckten Hand ihres Chefs die angeforderte Zange. Dr. Jordan holte eine mit Blut befleckte Kugel aus dem Körper der Frau und warf diese klingend in eine der Metallschalen auf dem Tisch hinter ihm.

„Emma, melde uns zum CT an“, durchbrach Dr. Jordan die Stille und zeigte mit der blutigen Zange in seiner Hand zur Tür. Emma folgte der Anweisung, streifte sich die blauen Latexhandschuhe von den Händen, rannte zum Tresen. Sie riss den Hörer aus der Halterung und wählte die interne Rufnummer der Radiologie.

Besetzt! Emma legte auf und knabberte an ihren Fingernägeln. Sie tippelte nervös mit ihren Füßen vor dem Tresen, als Dr. Jordan plötzlich in der Tür des Behandlungsraumes stand und laut ihren Namen rief.

„Emmaaaaa!“

Er ruderte wild mit den blutigen Händen und hastete zurück in den Raum. Emma erschrak, trat einige Schritte zurück und wäre fast auf einem der größeren Blutstropfen auf dem Boden ausgerutscht. Sie hielt ihr Gleichgewicht mit letzter Kraft und eilte zurück zum Behandlungsraum.

Das lange Piepen der Monitore hieß Emma willkommen. Auf den grauen Fliesen des Fußbodens unter dem OP-Tisch sammelte sich eine dunkelrote, dickflüssige Pfütze. Emma sah mit weit aufgerissenen Augen zu ihrem Chef. Dieser warf die blutige Zange in eine der Metallschalen und schüttelte den Kopf.

„Eine Kugel hat die Aorta schwer verletzt. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan! Die Frau ist an dem Blutverlust gestorben.“ Er zog sich seinen Mundschutz ab, drückte ein paar der auf den Tisch liegenden Watterollen in den Brustraum der Frau und nahm die Operationsklemmen von der Brust. Ein grünes, gefaltetes Tuch neben ihm legte er ihr über das Gesicht.

„Ich erledige das“, sagte er emotionslos, klopfte der erstarrten Emma auf die Schulter und verschwand aus dem Behandlungsraum. Emma stand wie angewurzelt vor der Leiche. Diese Situation hatte sie immer gefürchtet. Ihr wurde übel. Tote Menschen gehörten zu ihrer Arbeit. Dennoch musste sie noch niemals mit ansehen, wie ein Mensch in ihrer Gegenwart starb. Sie konnte sich nicht bewegen, stand wie versteinert vor der toten Frau. Ihr Blick wechselte unentwegt zwischen der Blutlache auf dem Boden und dem Tuch, das den Leichnam bedeckte. Ihr Magen begann, das Sandwich, das sie vor einer Stunde gegessen hatte, nach oben zu befördern. Emma schluckte und versuchte, den Brechreiz zu unterdrücken. Sie schlich Schritt für Schritt rückwärts hinaus. Die Tote immer im Blick.

„Ich … Ich muss an die frische Luft“, murmelte sie. Schwindel setzte ein. Wankend durchquerte sie den Flur. Geblendet von den Halogenlampen an der Decke erreichte sie die Bürotür ihres Chefs. Auf dem polierten Goldschild links neben der Tür, auf Augenhöhe, stand eingraviert sein Name ‚Dr. Bill Jordan‘. Emma atmete tief ein und trat einen Schritt nach vorne. Dabei stieß sie leicht mit der Fußspitze gegen die angelehnte braune Tür aus Holzimitat. Diese öffnete sich einen Spalt. Das Licht aus dem Büro fiel durch den Spalt auf den Boden und der Geruch von billigem Parfum bohrte sich in Emmas Nase. Als sie die Hand zur Tür hob und anklopfen wollte, vernahm sie, dass Dr. Jordan telefonierte.

„… alles erledigt! Die kleine Dawson hat nichts bemerkt.“ Ein Klicken verriet, dass das Gespräch beendet war. Dr. Jordan pfiff die Titelmelodie von seinen geliebten Indianer-Jones-Filmen und ließ sich in seinen sündhaft teuren Schreibtischstuhl fallen. Emma hielt die Luft an und zog die Augenbrauen nach oben. Reflexartig trat sie ein paar Schritte zurück und schlich langsam und geräuschlos durch den Flur zurück zum Empfangstresen.

Was ist hier los, dachte sie und ließ sich auf dem blauen Drehstuhl nieder. Ihr Körper zitterte und Emma schloss die Augen.

Was habe ich nicht bemerkt, grübelte sie, während ihr immer wieder die letzten Worte von Dr. Jordan durch den Kopf schossen.

Emma war noch am Grübeln, als das von ihr herbeigerufene Reinigungspersonal des Krankenhauses die Station erreichte. Zwei Angestellte entfernten die Blutflecke im Flur, während zwei weitere die Leiche bedeckten und sie mitnahmen. Danach wurde der Behandlungsraum wieder gesäubert und desinfiziert. Circa eine halbe Stunde später kehrte wieder Ruhe auf der Station ein.

Es mochte noch einmal eine halbe Stunde vergangen sein, als Dr. Jordan am Tresen vorbeilief, nickte und eine ruhige Nacht wünschte. Emma würdigte ihm keinen Blick, sondern saß wie auch den Rest der Nacht gelähmt hinter dem Tresen und starrte zur Tür des Behandlungsraums.

3

Freitag, 09:08 Uhr

Das Sonnenlicht kitzelte mir in der Nase. Ich streckte mich und strich mir mit der Hand durch meine Stoppelhaare. Ein Blick zum Wecker. Ich riss die Augen auf.

„Verdammter Mist!“, schrie ich laut, schlug mir mit der Faust auf die Brust und sprang aus dem Bett. Während ich die wichtigsten Sachen in meinen zerlumpten Rucksack schleuderte, versuchte ich, mich zu beruhigen.

„In dreißig Minuten im Vorlesesaal. Das schaffst du!“, sprach ich mir selber Mut zu. Plötzlich tauchte das Bild von Linda wieder vor mir auf.

Abrupt blieb ich stehen.

Ob ich ihr helfen kann? Aber wie? Ich und die Polizei? Nein!

Ich hoffte inständig, dass mir schnellstmöglich eine Lösung einfallen würde. Ich drehte den von Kalkflecken übersäten Wasserhahn der kleinen Einbauküche bis zum Anschlag auf und schob meinen Kopf unter das kalte Wasser, um die restliche Müdigkeit aus meinem Körper zu vertreiben. Die an meinem Gesicht hinunterlaufenden Rinnsale fing ich gekonnt mit dem Mund ein und schluckte hastig das kühle Nass. Ich rubbelte meine Haare mit dem alten Handtuch trocken, das ich schon bei meinem Einzug in der Küche gefunden hatte, schnappte meinen Rucksack und ließ beim Hinausgehen die Wohnungstür laut ins Schloss fallen.

Als ich den Eingang des Wohnhauses verließ, blickte ich in den wolkenlosen Himmel. Die angekündigte Hitzewelle, die dieses Wochenende über den Nord-Westen der USA rollte, begrüßte mich mit 35°C um 9:17 Uhr an diesem Freitagmorgen. Im Laufschritt eilte ich durch die von kleinen Einkaufgelegenheiten durchzogene Straße. Auf der linken Seite befand sich der Eisenwarenladen von Mr. Garret, und ein paar Häuser weiter war der Barbier-Shop von Mrs. Henry. Auf der anderen Seite der Asia-Imbiss, der schon seit Wochen seine Türen nicht mehr für Kunden geöffnet hatte.

Nach wenigen Minuten erreichte ich das kunstvoll gestaltete Eingangstor des Japanese Garden im Washington Park. Das war eine meiner liebsten Abkürzungen, um die Universität schnellstmöglich zu erreichen. Zudem war ich froh, den Weg durch den Park im Schatten der großen Bäume gehen zu können.

Mitten im Park begann sich mein Magen gegen das Frühstück, bestehend aus dem bisschen Leitungswasser, mit Krämpfen zu wehren. Weiterhin im Laufschritt hievte ich den Rucksack gekonnt vom Rücken auf die Brust und kramte zwischen der Tablettendose und losen Notizzetteln nach etwas Essbarem. Ich war mir ganz sicher, noch den Müsliriegel vom Vortag im Rucksack zu haben. Ein lauter Schrei ließ mich die Suche nach dem Müsliriegel einstellen. Ich blieb stehen und sah mich um. Weit hinter mir joggten zwei junge Frauen mit Kopfhörer in den Ohren in meine Richtung. Vor mir saß eine alte Dame, mit ihrem wahrscheinlich ebenso alten Schäferhund und machte eine Pause auf einer der vielen, weißen Parkbänke. Alles war ruhig.

Hatte ich mich geirrt? Waren das die Konsequenzen aus dem Konsum der Pillen, die ich immer nahm, überlegte ich. Dann hörte ich wieder diesen Schrei. Diesmal lauter und näher als davor. Schräg links von mir raschelten die Blätter des dichten Gebüsches und ein Mann mit weißem Hemd, dunkelgrüner Krawatte und schwarzer Hose kam herausgesprungen. Große Schweißperlen klebten auf seiner Stirn. Hastig blickte er immer wieder nach hinten. Er rannte direkt auf mich zu. Ich wollte ihm noch ausweichen, doch der Zusammenprall ließ sich nicht vermeiden. Der Mann, etwas kleiner als ich, knallte mit seinem Kopf direkt auf meine Brust. Mir blieb die Luft weg. Ich konnte weder ein- noch ausatmen. Durch die Wucht des Zusammenpralls drehte sich mein Körper auf dem sandigen trockenen Boden und ich kippte schließlich stumpf zur Seite in das angrenzende, trockene Gras. Der Mann hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck den Kopf und fiel nach vorne, mit dem Gesicht voran auf den Weg. Eine Staubwolke aus feinem Sand wirbelte hoch und untermalte seinen Sturz.

Nach Luft schnappend versuchte ich aufzustehen und sah, wie zwei Polizisten mit gezogener Pistole ebenfalls aus dem Gebüsch sprangen. Sie rannten an mir vorbei und zielten auf den noch immer am Boden liegenden Mann.

„Liegen bleiben! Nicht bewegen!“, schrie der dunkelhäutige Polizist und stellte sich direkt vor den Kopf des Mannes. Ein kleines Stück hinter dem Mann lag mein roter Rucksack. Ich musste ihn beim Zusammenprall dort verloren haben. Daneben lag eine schwarze Lederbörse, diedem Mann gehören musste. Ich stand auf, rieb mir die schmerzende Brust und wankte schwer atmend zu meinem Rucksack. Ich nahm ihn an mich, hob die Lederbörse auf und reichte sie den beiden Polizisten, die immer noch den Mann mit ihren Pistolen am Boden fixierten.

„Entschuldigung, Sirs“, flüsterte ich vorsichtig um die nervös wirkenden Polizisten nicht zu erschrecken und hielt die Lederbörse hoch in ihre Richtung. Der etwas kleinere Polizist mit dem markant eckigen Gesicht sah genervt nach hinten.

„Hau ab!“, knurrte er und machte eine wegwerfende Handbewegung. In diesem Moment schellte der am Boden liegende Mann nach oben und griff nach der Waffe des Polizisten. Ein Schuss löste sich und die Kugel schlug aus kürzester Entfernung über der rechten Augenbraue des Mannes ein.

Es knackte widerlich beim Einschlag und Blutspritzer verteilten sich auf den beiden Polizisten. Ein paar der Spritzer schossen an den Uniformierten vorbei und trafen mich direkt ins Gesicht. Der Mann sackte zusammen und fiel wie ein Stein nach hinten auf den Weg. Das Blut sickerte aus dem Einschussloch und färbte den goldgelben Sand um den Kopf herum in ein tiefes dunkelrot.

Augenblicklich herrschte Totenstille im sonst so lebendigen Japanese Garden. Die ältere Frau mit dem Schäferhund an der Leine stand von der Parkbank auf, betrachtete mich, die beiden Polizisten und schlurfte kopfschüttelnd an uns vorbei.

Ich sammelte meine Sinne und wischte mir mit der Hand durch das Gesicht. Als ich das Blut in meiner Handfläche sah, begann sich alles um mich herum zu drehen. Ich erbrach meinen Mageninhalt, bestehend aus Leitungswasser und Magensäure, direkt hinter den beiden Polizisten. Der kleinere Polizist seufzte laut auf und drehte sich zu mir um, als ich gerade dabei war, ein Taschentuch aus meinem Rucksack zu fischen. Mit zitternden Händen wühlte ich durch die Tasche und zog versehentlich die Dose mit meinen Tabletten heraus. Diese fiel dem, neben mir stehenden, Polizisten auf einen seiner staubigen, mit Blutspritzer versehenen, schwarzen Schuhe und rollte von dort in den Sand.

Jetzt bin ich dran! Ich stand für eine Schrecksekunde wie gelähmt da.

Verdammt, auch das noch! Schnell vergaß ich meine Scheu, biss die Zähne zusammen und griff nach meinen Tabletten. Ich schmiss die Dose in Sekundenschnelle in meinen Rucksack, drehte mich vom Polizisten weg und rannte in Panik davon. Ich hoffte inständig, dass er mich nicht verfolgen würde.

Ein kurzer Blick nach hinten verschaffte mir Erleichterung. Der Polizist sah mir verdutzt hinterher, drehte sich dann zu seinem Kollegen und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem toten Mann vor sich.

Nach einiger Zeit ließ mich meine Kondition im Stich. Unterhalb der Rippen auf der rechten Seite spürte ich ein starkes Stechen. Mein unsportlicher, dünner Körper ließ mich keinen Schritt weiter rennen. So blieb ich nach Luft schnappend stehen, suchte die nächstgelegene Parkbank am Rande des Weges und ließ mich schließlich darauf fallen.

Ich betrachtete meinen Rucksack in der linken Hand, als mir auffiel, dass ich in der rechten immer noch die schwarze Lederbörse des Toten hielt. Zurück zu den Polizisten konnte ich nicht. Und so suchte ich nach einem Abfallbehälter in der Nähe, um die Börse dort zu entsorgen, konnte aber nirgends einen entdecken.

Eine weiße Kunststoffkarte lugte aus der Börse und meine Neugier siegte. Mit zitternden Händen öffnete ich den Druckknopf der Börse. Die weiße Karte mit Magnetstreifen auf der Rückseite fiel heraus. Es schien eine Mitgliedskarte zu sein. ‚Institut 4‘ stand in schwarzen Buchstaben in die weiße Karte eingestanzt – sonst nichts. Kein Name und keine Adresse waren auf der Karte zu finden. Mit einem Schulterzucken steckte ich die Karte zurück in die Börse, als mir im hinteren Fach ein geknicktes, dickes Papier auffiel. Ich nahm es heraus. Ein Foto. Eine Gruppe Männer und Frauen lachten und winkten in die Kamera.

Dem Datumsstempel unten rechts nach zu urteilen, wurde das Foto erst vor wenigen Wochen aufgenommen. Im Hintergrund erkannte ich den Mount Hood mit seiner schneebedeckten Spitze, einer der größten Berge in der Nähe von Portland mitten im Mount Hood National Park. Ich sah mir die Menschen auf dem Bild genauer an. Eine Frau mit langen, blonden Haaren war auf dem Foto mit rotem Stift umkreist worden. Die Worte ‚IN LOVE‘standen daneben.

Wenn du wüsstest, dachte ich und musste an den gerade erschossenen Mann denken. Ich sah mir die anderen auf dem Foto sorgsam an. Das Gesicht des Mannes, des zweiten von rechts auf dem Bild, jagte mir beim genaueren Hinsehen einen eisigen Schauer über den Rücken. Ich glaubte, das Gesicht zu erkennen. Ein Gesicht, das ich nie hatte wiedersehen wollen. – Doch das war noch nicht alles. Die Frau an seiner linken Seite, mit gesenktem Kopf und dem von der Hand des Nebenmannes verdeckten Gesicht, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich riss die Augen weit auf und hielt den Atem an. Ein Kloß machte sich in meiner Halsgegend bemerkbar und Übelkeit bahnte sich abermals den Weg durch meinen Magen. Immer wieder starrte ich auf den Mann und die Frau auf dem Foto. Ich rieb mir die Augen, drehte das Bild hin und her und knabberte heftig an meiner Unterlippe.

„Nein“, murmelte ich. „Nein, nein.“

In Zeitlupe schob ich das Foto zurück in die Börse und ließ diese zusammen mit der weißen Karte in meinen Rucksack fallen. Kopfschüttelnd stand ich auf und begab mich zum Ausgang des Parks. Die Vorlesung an der Uni, die bereits begonnen hatte, war mir in diesem Moment egal geworden. Ich wollte nur noch nach Hause.

4

Freitag, 10:43 Uhr

Der Rückweg vom Japanese Garden zu meiner Wohnung fühlte sich an wie ein Marathon mit Betonklötzen an den Füßen. Mit jedem Schritt, den ich meiner Wohnung näherkam, wurden meine Beine schwerer. Ich hatte nur das Foto und besonders den Mann und die Frau ganz rechts auf dem Bild im Kopf. Schwer atmend erreichte ich meine Wohnungstür, auf der mich seit Jahren der rote, bereits rissige Aufkleber der Portland Trail Blazers begrüßte.

Ich schloss die Tür mit zitternden Händen auf. Die Sonne strahlte durch das kleine, dreckige Fenster über dem Bett und der Geruch von Katzenurin kam mir entgegen. So roch es immer, wenn die Sonne auf den fleckigen, anthrazitfarbenen Teppich schien. Mein Vormieter hatte anscheinend Katzen geliebt. Ich nahm die Lederbörse aus meinem Rucksack und ließ mich auf das knarzende Bett fallen.

Noch einmal entfaltete ich das Papier, um mir die Gesichter anzusehen. Es gab keinen Zweifel bei der vorletzten Person. Abermals jagte mir ein Schauer den Rücken hinunter und ich bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. Eindeutig erkannte ich meinen Onkel Robert Bennet!

Schon als Kind fürchtete ich mich vor ihm. Er hatte mir nie etwas getan, dennoch konnte ich den Bruder meiner Mom nicht leiden. Er wirkte ungewohnt fröhlich auf dem Bild. Stand da wie immer in seinem grauen Anzug und roter Krawatte. Sein weißes Hemd strahlte mit seinem Gesicht um die Wette. Die Sonne spiegelte sich auf seiner großflächigen Glatze, die nur von wenigen, kurz rasierten, grauen Haaren über den Ohren unterbrochen wurde. Auf der Nase, ebenfalls wie immer seit ich ihn kannte, saß diese viel zu kleine Nickelbrille, hinter der seine eisblauen, kleinen Augen blitzten.

Onkel Robert hatte ich seit über dreizehn Jahren nicht mehr gesehen. Damals unterrichtete er als Professor der Medizin an der Universität von Seattle. Er kam uns selten besuchen. Wenn meine Mom zu ihm fuhr, tat ich alles Mögliche, um nicht mitgehen zu müssen.

Meine Mom sagte, dass Robert nicht immer so kalt und misstrauisch war. Aber als seine Eltern, meine Großeltern, vor knapp achtzehn Jahren kurz hintereinander an Herzversagen starben, brach für ihn eine Welt zusammen. Tante Judith war seitdem sein einziger Halt. Als ihre gemeinsame Tochter Allison dann im selben Jahr mit einem Herzfehler geboren wurde und kurz darauf ebenfalls verstarb, starb auch etwas in Robert. Seit dem Tag, meinte meine Mom, hätte sich ihr Bruder vollkommen verändert.

Er lebte zurückgezogen mit seiner Frau Judith und diesem kleinen ‚Hackenbeisser Modo‘, einem Jack Russell Terrier, der mittlerweile das Zeitliche gesegnet haben musste, in einem Einfamilienhaus in Albany, Oregon. Das Haus hatte ich als 5-jähriger einmal von innen gesehen. Danach nie wieder. Bei künftigen Besuchen hatte man mich bei Grandma gelassen. Gott sei Dank.

Und jetzt, nach über dreizehn Jahren, sah ich auf dem Foto in dieses glattrasierte Gesicht, vor dem ich mich so fürchtete.

Ich legte das Foto zur Seite, um mir eine Portion Nervennahrung aus meiner Pillendose zu genehmigen. Irgendwas in mir weigerte sich, das Foto wieder in die Hand zu nehmen. Wollte ich nicht wahrhaben, was ich vorhin im Park darauf gesehen hatte? Die Frau ganz rechts auf dem Bild. Ich kämpfte mit meinen Gefühlen.

Nachdem die Tabletten jedoch ihre Wirkung entfalteten, nahm ich das Foto wieder zur Hand und betrachtete die Frau. Das Gesicht wurde fast komplett durch die Hand von Onkel Robert bedeckt. Aber ein Auge und ein Teil der Stirn waren zu sehen, sowie ein kleiner Teil des Mundes.

Diese Narbe am Kinn. Mein Körper begann zu zittern – zu beben. Ob es jetzt an dem Bild lag oder an der Menge Tabletten, die ich seit gestern in meinen leeren Magen hineinwarf, wusste ich nicht.

Tränen und Schweißtropfen vermischten sich auf meinen Wangen. Diese Frau auf dem Foto sah aus wie meine vermisste Mom.

Die Gefühle von damals, vom 25. März vor 12 Jahren, kamen in mir zum Vorschein, als wäre es gestern gewesen. Diese Bilder der beiden Polizisten im strömenden Regen vor der Farm meiner Grandma Dorothee. Und wie Dorothee die Hände vor das Gesicht schlug und auf die Knie in den Matsch sank. Beide Polizisten stützten sie, als sie ins Haus zurück wankte. Der Notarzt gab ihr eine Spritze, und ein Nachbar brachte mich an ihrer statt ins Bett, bevor er sich dann um sie kümmerte.