Institut für gute Mütter - Jessamine Chan - E-Book
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Institut für gute Mütter E-Book

Jessamine Chan

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Beschreibung

Bin ich eine schlechte Mutter? Frida ist überfordert: Ihr Baby Harriet schreit und schreit und alles, wonach sich die alleinerziehende Mutter sehnt, ist eine halbe Stunde Ruhe und etwas Zeit für sich. Als sie das kleine Mädchen für eine Stunde unbeaufsichtigt zu Hause lässt, ruft ein Nachbar die Polizei. Was dann folgt, ist der Albtraum einer jeden Mutter: Frida verliert das Sorgerecht und wird in eine Besserungsanstalt gesteckt. Im Institut für gute Mütter soll sie mithilfe einer KI-Puppe lernen, was es heißt, eine gute Mutter zu sein. Ein Jahr totaler Überwachung, Strafen und unmenschlicher Lektionen nimmt seinen Lauf. Steht auf Obamas Summer Reading List 2022! »Empörend aktuell« The New York Times Review »Ein bemerkenswerter, mitreißender Roman« Vogue

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Institut für gute Mütter

Die Autorin

JESSAMINE CHAN studierte an der Columbia University und arbeitete bei Publishers Weekly. Ihre Kurzgeschichten erschienen in Tin House und Epoch. Institut für gute Mütter ist ihr Debütroman und stand auf Barack Obamas Summer Reading List 2022. Chan lebt mit ihrer Familie in Chicago.Friederike Hofert studierte Literaturwissenschaft und Literaturübersetzen und forschte zu postkolonialen Perspektiven auf Übersetzungsprozesse. Sie übersetzt aus dem Englischen und Spanischen, u.a. NoViolet Bulawayo, Tina Makereti und Fausto Alzati Fernández.

Das Buch

Frida ist überfordert: Baby Harriet schreit und schreit und alles, wonach sich die alleinerziehende Mutter sehnt, ist Ruhe und etwas Zeit für sich. Als sie das kleine Mädchen eines Tages unbeaufsichtigt zu Hause lässt, ruft ein Nachbar die Polizei. Was dann folgt, ist ein Albtraum: Frida verliert das Sorgerecht und muss ein Rehabilitierungsprogramm durchlaufen. Im Institut für gute Mütter soll sie mithilfe einer KI-Puppe lernen, was es heißt, eine gute Mutter zu sein.

»EXPLOSIV! EIN INTENSIVES, UNAUFDRINGLICHES DEBÜT.«OPRAH DAILY

»BEMERKENSWERT.«VOGUE

Jessamine Chan

Institut für gute Mütter

Roman

Aus dem Englischen von Friederike Hofert

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel The School for Good Mothers bei Simon & Schuster, New York.

Der Verlag bedankt sich sehr herzlich bei Arpana Berndt für ihr Sensitivity Reading.

Das Zitat auf Seite 7 stammt aus »Anthropologie des Wassers« von Anne Carson, aus dem Englischen von Marie Luise Knott. 

© 2022 by Jessamine Chan© der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehalten© 2014 MSB; Matthes & Seitz Berlin, Verlagsgesellschaft mbHAutorinnenfoto: © Beowulf SheehanE-Book powered by pepyrus

ISBN: 978-3-8437-2939-0

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1. Kapitel

Widmung

Meinen Eltern

Motto

Ich suchte nach einem Gesetz, das alles Lebende zusammenhält. Was ich fand, war Furcht. Mit der Liste meiner Alpträume als Karte finde ich hier heraus.

Anne Carson, Anthropologie des Wassers

1. Kapitel

»Ihre Tochter ist bei uns.«

Es ist der erste Dienstag im September, der Nachmittag an ihrem richtig schlechten Tag, und Frida versucht, nicht von der Straße abzukommen. In der Sprachnachricht fordert der Polizist sie auf, unverzüglich auf die Wache zu kommen. Sie hält die Nachricht an, legt das Handy weg. Es ist 14:46 Uhr. Sie hatte schon vor anderthalb Stunden zu Hause sein wollen. Sie biegt in die erste Nebenstraße außerhalb vom Grays-Ferry-Viertel ab und parkt in zweiter Reihe. Sie ruft zurück und entschuldigt sich, erklärt, dass sie die Zeit vergessen hat.

»Geht es ihr gut?«

Der Polizist sagt, das Kind sei in Sicherheit. »Wir haben wiederholt versucht, Sie zu erreichen, Ma’am.«

Frida legt auf und ruft Gust an, muss ihm eine Nachricht auf Band hinterlassen. Er soll sofort zur Wache an der Eleventh Ecke Wharton kommen. »Es gibt ein Problem. Es geht um Harriet.« Sie gerät ins Stocken. Sie wiederholt, was der Polizist ihr gesagt hat – ihre Tochter ist in Sicherheit.

Beim Weiterfahren muss sie sich immer wieder ermahnen, nicht zu schnell zu fahren, bei Rot stehen zu bleiben, zu atmen. Das gesamte Labour-Day-Wochenende über hatte sie keinen ruhigen Moment gehabt. Freitag und Samstag litt sie unter ihrer üblichen Schlaflosigkeit, schlief nur zwei Stunden pro Nacht. Als Gust Harriet am Sonntag für die dreieinhalb Tage vorbeibrachte, die sie pro Woche bei Frida ist, brütete Harriet gerade eine Mittelohrentzündung aus. In dieser Nacht schlief Frida neunzig Minuten. Letzte Nacht eine Stunde. Harriets Weinen war gnadenlos, zu mächtig für ihren Körper, zu laut, um von den Wänden des kleinen Hauses geschluckt zu werden. Frida tat, was sie konnte. Sie sang Harriet Schlaflieder vor, rieb ihr die Brust ein, gab ihr ein weiteres Fläschchen Milch. Sie legte sich auf den Boden neben Harriets Bettchen, hielt ihr durch die Gitterstäbe die unwahrscheinlich makellose Hand, küsste an jedem Finger die Knöchel, die Nägel, ertastete die, die geschnitten werden mussten, und betete, dass Harriet endlich die Augen zufielen.

Die Nachmittagssonne brennt vom Himmel, als Frida vor der Wache ankommt, die zwei Blocks entfernt von ihrem Haus in einem alten italienischen Viertel in South Philadelphia liegt. Sie parkt und eilt zum Empfangstresen, fragt, ob die Frau dort ihre Tochter gesehen hat, ein Kleinkind, achtzehn Monate, halb chinesisch, halb weiß, große braune Augen, braunes, lockiges Haar und ein Pony.

»Dann sind Sie also die Mutter«, sagt die Frau am Empfang.

Die Rezeptionistin, eine ältere weiße Frau, an deren Lippen die Reste eines rosa Lippenstifts kleben, kommt hinter dem Tresen hervor. Der schnelle Blick, mit dem sie Frida von Kopf bis Fuß mustert, bleibt an Fridas Füßen hängen, ihren abgetragenen Birkenstocksandalen.

Auf der Wache scheint kaum jemand zu sein. Die Rezeptionistin humpelt beim Gehen, zieht das rechte Bein nach. Sie führt Frida den Flur entlang zu einem fensterlosen Vernehmungsraum, dessen Wände in einem unangenehmen Minzgrün gestrichen sind. Frida setzt sich. In den Krimis, die sie gesehen hat, flackern immer die Lampen, aber hier ist das Licht gleichbleibend grell. Sie hat Gänsehaut, wünscht, sie hätte eine Jacke oder einen Schal. Zu der Erschöpfung, die sie meistens an den Tagen spürt, an denen Harriet bei ihr ist, gesellt sich jetzt ein zusätzliches Gewicht auf ihrer Brust, ein Schmerz, der ihr bis in die Knochen dringt und sie betäubt.

Sie reibt sich die Arme, die Aufmerksamkeit entgleitet ihr immer wieder. Sie fischt ihr Handy aus den Tiefen der Tasche, verflucht sich, die Nachricht des Polizisten nicht sofort gesehen zu haben, weil sie das Telefon, nachdem morgens ein Spam-Anruf nach dem anderen eingegangen war, auf stumm geschaltet und nicht mehr daran gedacht hatte, den Klingelton wieder auf laut zu stellen. In den vergangenen zwanzig Minuten hat Gust sechs Mal angerufen und eine ganze Reihe besorgter Nachrichten geschrieben.

Bin da, schreibt sie endlich. Komm schnell. Sie sollte zurückrufen, aber sie hat Angst. Während ihrer Hälfte der Woche ruft Gust jeden Abend an und fragt, ob Harriet sich sprachlich oder motorisch weiterentwickelt hat. Sie hasst die Enttäuschung in seiner Stimme, wenn sie nichts vorweisen kann. Aber Harriets Fortschritte machen sich anders bemerkbar: in einem festeren Griff, einer neuen Kleinigkeit, die ihr in einem Buch auffällt, oder einem längeren Blickkontakt, wenn Frida ihr einen Gutenachtkuss gibt.

Frida legt die Unterarme auf den Metalltisch, lässt den Kopf sinken und schläft für den Bruchteil einer Sekunde ein. Sie blickt nach oben und entdeckt die Kamera, die in einer Ecke von der Decke hängt. Ihre Gedanken kehren zurück zu Harriet. Frida wird ihr eine ganze Packung Erdbeereis kaufen. Harriets Lieblingssorte. Wenn sie wieder zu Hause sind, darf Harriet in der Badewanne spielen, so lange sie will. Sie wird Harriet besonders lange zum Einschlafen vorlesen. Der Kater mit Hut. Wo die wilden Kerle wohnen.

Die Polizisten treten, ohne zu klopfen, ein. Officer Brunner, der Polizist, der sie angerufen hat, ist ein stämmiger weißer Mann Mitte zwanzig mit Akne an den Mundwinkeln. Officer Harris ein Schwarzer Mann mittleren Alters mit perfekt gestutztem Schnurrbart und kräftigen Schultern.

Sie steht auf und gibt beiden die Hand. Sie wollen ihren Führerschein sehen, sich vergewissern, dass sie Frida Liu ist.

»Wo ist mein Baby?«

»Setzen Sie sich«, sagt Officer Brunner und schaut auf Fridas Brust. Er blättert in seinem Notizbuch zu einer leeren Seite. »Ma’am, wann haben Sie heute das Haus verlassen?«

»Vielleicht so gegen Mittag. Halb eins? Ich habe mir einen Kaffee geholt. Und bin dann ins Büro. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich weiß. Das war dumm. Ich war erschöpft. Es tut mir leid. Ich wollte doch nicht … Können Sie mir bitte sagen, wo sie ist?«

»Jetzt tun Sie mal nicht so unschuldig, Ms. Liu«, sagt Officer Harris.

»Mach ich nicht. Ich kann alles erklären.«

»Sie haben Ihr kleines Kind zu Hause gelassen. Allein. Die Nachbarn haben es schreien gehört.«

Frida spreizt die Finger auf der Tischplatte, braucht das Gefühl von etwas Kühlem und Stabilem. »Das war ein Fehler.«

Gegen zwei sind die Polizisten durch den überdachten Gang zwischen den Häusern gekommen.

Die Schiebetür zwischen Fridas Küche und dem Garten stand offen; das Kind war nur durch ein wackeliges Fliegengitter geschützt.

»Also, Ihr Kleinkind … Harriet heißt es, ja? Harriet war zwei Stunden lang allein? Ist das so richtig, Ms. Liu?«

Frida sitzt auf ihren Händen. Sie hat ihren Körper verlassen und schwebt jetzt über der Szene.

Sie sagen ihr, dass Harriet gerade in der Kindernotdienststelle untersucht wird. »Sie wird gleich hergebracht …«

»Was meinen Sie mit ›untersucht‹? Hören Sie, es ist nicht so, wie es aussieht. Ich würde niemals …«

»Lassen Sie mich ausreden, Ma’am«, sagt Officer Brunner. »Sie scheinen doch eine vernünftige Frau zu sein. Schön der Reihe nach. Was hat Sie überhaupt dazu bewegt, Ihr Kind allein zu lassen?«

»Ich habe mir einen Kaffee geholt und bin dann zur Arbeit gefahren. Ich brauchte Unterlagen, einen Ordner. Dabei muss ich wohl die Zeit vergessen haben. Als ich Ihren Anruf gesehen habe, war ich schon auf dem Weg nach Hause. Es tut mir leid. Ich habe seit Tagen nicht richtig geschlafen. Ich muss zu ihr. Kann ich jetzt gehen?«

Officer Harris schüttelt den Kopf. »Wir sind hier noch nicht fertig. Wo hätten Sie heute sein sollen? Wer hatte die Aufsichtspflicht für das Kind?«

»Ich. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich zur Arbeit gefahren bin. Ich arbeite an der Wharton-Universität.«

Frida erklärt, dass sie an einer Fakultätszeitschrift mitarbeitet und für Geschäftsleute kurze Artikel über die Kernthesen aktueller Forschungsarbeiten verfasst. Als würde sie Hausarbeiten zu Themen schreiben, von denen sie keine Ahnung hat. Wenn sie Harriet hat, arbeitet sie von Montag bis Mittwoch im Homeoffice – eine Sonderregelung. Es ist ihre erste Vollzeitstelle seit Harriets Geburt. Sie arbeitet erst seit sechs Monaten dort. Es war wirklich schwer, in Philly eine gute Stelle zu bekommen, überhaupt eine Stelle zu bekommen.

Sie erzählt von ihrem fordernden Chef, der Deadline. Der Professor, mit dem sie im Moment zusammenarbeitet, ist einundachtzig. Er schickt ihr seine Anmerkungen nie per Mail. Letzten Freitag hat sie vergessen, seine Notizen mit nach Hause zu nehmen, brauchte sie aber, um einen Artikel fertig zu schreiben.

»Ich wollte nur kurz den Ordner holen und dann sofort zurückfahren. Dann habe ich Mails beantwortet und dabei vollkommen die Zeit vergessen. Ich hätte …«

»So gehen Sie zur Arbeit?« Officer Harris deutet auf Fridas ungeschminktes Gesicht, ihre mit Erdnussbutter und Zahnpasta bekleckerte Chambray-Bluse. Ihr langes schwarzes Haar, das zu einem unordentlichen Dutt hochgebunden ist. Ihre Shorts. Den Pickel am Kinn.

Sie schluckt. »Mein Chef weiß, dass ich ein kleines Kind habe.«

Sie kritzeln in ihre Notizbücher. Man werde ihr Strafregister prüfen, aber wenn sie dort irgendwelche Einträge hat, sollte sie es besser gleich sagen.

»Ich habe selbstverständlich keine Einträge.« Sie spürt, wie sich etwas in ihrer Brust zusammenzieht. Sie bricht in Tränen aus. »Das war ein Versehen. Bitte, Sie müssen mir glauben. Nehmen Sie mich jetzt fest?«

Die Polizisten verneinen. Aber sie haben die Kinderschutzbehörde informiert. Eine Sozialarbeiterin ist unterwegs.

Allein in dem minzgrünen Raum, kaut Frida an ihren Fingernägeln. Sie erinnert sich daran, wie sie Harriet aus dem Bettchen geholt und die Windel gewechselt hat. Sie erinnert sich daran, wie sie Harriet die Frühstücksflasche gegeben, sie mit Banane und Joghurt gefüttert und ihr eine der Geschichten aus dem Bärenland vorgelesen hat, die mit der Pyjamaparty.

Seit vier Uhr früh waren sie immer wieder wach. Fridas Artikel hätte eigentlich schon letzte Woche fertig sein sollen. Den ganzen Morgen ist sie zwischen Harriets Spielecke und dem Sofa im Wohnzimmer, wo sie ihre Notizen auf dem Couchtisch ausgebreitet hatte, hin und her gelaufen. Sie schrieb den gleichen Absatz immer und immer wieder, versuchte, mit einfachen Worten das bayessche Verfahren zu erklären. Harriet hörte nicht auf zu schreien. Sie wollte auf Fridas Schoß. Sie wollte auf den Arm. Sie griff nach Fridas Papieren und warf sie auf den Boden. Sie patschte immer wieder auf die Tastatur.

Frida hätte Harriet vor den Fernseher setzen sollen. Sie erinnert sich daran, wie sie dachte, ihr Chef würde ihr das Homeofficeprivileg entziehen, sollte sie den Artikel nicht fertig bekommen, nicht durchhalten können, und dass sie Harriet dann in die Tagesbetreuung geben müsste, was sie eigentlich vermeiden wollte. Und sie erinnert sich daran, wie sie Harriet daraufhin in den Sitz ihres Baby-Activity-Center verfrachtete, obwohl sie dieses Gerät eigentlich schon vor Monaten besser ausrangiert hätte, als Harriet zu laufen anfing. Später stellte Frida Harriet Wasser und Tierkekse hin. Sie kontrollierte Harriets Windel. Sie küsste Harriets Köpfchen, das ölig roch. Sie zwickte Harriet in die pummeligen Ärmchen.

In dem Spielsitz war Harriet sicher aufgehoben, dachte Frida. Das Kind konnte ihn nicht vom Fleck bewegen. Was sollte innerhalb einer Stunde schon passieren?

Unter dem grellen Licht des Vernehmungsraums knabbert Frida an ihrer Nagelhaut, reißt Hautfetzen ab. Ihre Kontaktlinsen bringen sie um. Sie holt ein Puderdöschen aus der Tasche und betrachtet im Spiegel die schwarzen Ringe unter ihren Augen. Früher hatte sie mal als attraktiv gegolten. Sie ist klein und zierlich, und mit ihrem Pony und dem runden Porzellanpuppengesicht wurde sie noch lange für Mitte zwanzig gehalten. Aber mit neununddreißig haben sich zwischen den Brauen und um die Mundwinkel tiefe Furchen gebildet, Falten, die nach der Geburt erschienen und noch tiefer wurden, nachdem Gust sie drei Monate nach Harriets Geburt wegen Susanna verlassen hatte.

Sie hat sich morgens weder geduscht noch das Gesicht gewaschen. Sie hatte Angst, die Nachbarn würden sich über Harriets Geschrei beschweren. Sie hätte die Tür zum Garten schließen sollen. Sie hätte sofort nach Hause fahren sollen. Sie hätte nie das Haus verlassen sollen. Sie hätte den Ordner nicht im Büro vergessen oder ihn schnell am Wochenende holen sollen. Sie hätte die ursprüngliche Deadline einhalten sollen.

Sie hätte den Polizisten sagen sollen, dass sie diesen Job auf keinen Fall verlieren darf. Dass Gust damals eine Mediatorin zur Festsetzung der Unterhaltszahlung engagiert hatte. Er wollte kein Geld für Gerichtskosten verschwenden. Weil Gust eine Stelle hatte, die ihm zwar Anerkennung, aber kaum Geld einbrachte, und er seinen Studienkredit noch nicht abbezahlt hatte, Frida dagegen erwerbsfähig war und sich beide weiter zu gleichen Teilen um Harriet kümmern wollten, schlug die Mediatorin vor, Gust solle Frida monatlich 500 Dollar zahlen, was nicht ansatzweise für Harriets und ihren Lebensunterhalt reichte, zumal Frida ihre Stelle in New York gekündigt hatte. Sie konnte sich aber auch nicht überwinden, mehr von ihm zu fordern. Sie bestand nicht auf dem Regelsatz. Ihre Eltern würden sie unterstützen, wenn sie darum bäte, aber dann könnte sie nicht mehr in den Spiegel schauen. Sie hatten ihr schon während der Trennung den gesamten Lebensunterhalt finanziert.

Es ist 16:15 Uhr. Frida hört Stimmen im Flur, öffnet die Tür und sieht Gust und Susanna im Gespräch mit den Polizisten. Susanna kommt auf Frida zu und umarmt sie, hält sie auch dann noch fest, als Frida eingehüllt von Susannas üppigem roten Haar und Sandelholzparfüm vollkommen erstarrt.

Susanna tätschelt ihr den Rücken, als wären sie Freundinnen. Das Mädchen hat sich offenbar vorgenommen, sie mit Freundlichkeit zu ersticken. Einen Zermürbungskrieg zu führen. Susanna ist erst achtundzwanzig, eine ehemalige Tänzerin. Bevor Susanna in ihrem Leben auftauchte, war Frida nie bewusst gewesen, wie wirkmächtig und tödlich der Abstand zwischen achtundzwanzig und neununddreißig sein konnte. Susanna hat ein fein geschnittenes, elfengleiches Gesicht mit großen blauen Augen, die ihr das Aussehen einer zerbrechlichen Märchenfigur verleihen. Selbst an Tagen, an denen sie sich nur um das Kind kümmert, trägt sie schwarzen Eyeliner mit Wing. Sie kleidet sich wie ein Teenager und bewegt sich mit einer Selbstsicherheit, die Frida nie besessen hat.

Gust gibt den anderen Männern die Hand. Frida starrt auf den Boden und wartet. Der Gust von früher würde sie jetzt anschreien. So wie an den Abenden, an denen sie sich zum Weinen im Bad einschloss, statt das Baby auf dem Arm zu halten. Aber das hier ist ein neuer Gust, ein Gust, der sie trotz ihres Vergehens zärtlich in den Arm nimmt, der durch Susannas Liebe und ihren rundum gesunden Lebensstil viel weicher geworden ist.

»Gust, es tut mir so leid.«

Er bittet Susanna, draußen zu warten, führt Frida dann am Arm zurück in den minzgrünen Raum, wo er sich neben sie setzt und ihre Hände in seine nimmt. Es ist Monate her, seit sie das letzte Mal allein in einem Raum waren. Sie schämt sich, weil sie ihn selbst jetzt am liebsten küssen würde. Er war schon immer viel zu schön für sie, groß und schlank und muskulös. Mit zweiundvierzig hat die viele Sonne sein kantiges Gesicht mit Linien überzogen, die rotblonden Locken, in denen sich erstes Grau zeigt, hat er Susanna zuliebe wachsen lassen. Er ähnelt jetzt dem Surfer, der er in seiner Jugend war.

Gust drückt ihre Hände fester, tut ihr weh. »Was heute passiert ist, ist natürlich …«

»Ich habe seit Tagen nicht geschlafen. Ich habe nicht nachgedacht. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung. Ich dachte, ihr würde in einer Stunde schon nichts passieren. Ich wollte nur kurz rüberfahren und gleich wieder zurückkommen.«

»Was ist denn nur in dich gefahren? Das ist einfach nicht in Ordnung. Du bist nicht alleinerziehend, hörst du? Du hättest mich anrufen können. Einen von uns. Susanna hätte dir helfen können.« Gust packt sie am Handgelenk. »Sie bleibt heute bei uns. Sieh mich an! Hörst du mir überhaupt zu, Frida? Die Sache ist ernst. Die Polizisten sagen, du könntest das Sorgerecht verlieren.«

»Nein.« Sie zieht die Hände weg. Der Raum dreht sich.

»Vorübergehend«, sagte er. »Hey, du atmest ja gar nicht mehr.« Er schüttelt sie und sagt, sie solle tief Luft holen, aber sie kann nicht. Wenn sie es täte, müsste sie sich vielleicht übergeben.

Hinter der Tür hört sie ein Weinen. »Darf ich?«

Gust nickt.

Susanna hält Harriet auf dem Arm. Sie hat ihr ein paar Apfelschnitzchen gegeben. Es macht Frida immer fertig, zu sehen, wie wohl Harriet sich bei Susanna fühlt, wie wohl sie sich sogar jetzt nach einem ganzen Tag mit Krankheit und Angst und fremden Leute bei ihr fühlt. Frida hatte Harriet morgens ein violettes Dinosaurier-T-Shirt, gestreifte Leggings und Krabbelschuhe angezogen, jetzt trägt sie einen schäbigen rosa Pullover und viel zu große Jeans, Socken, aber keine Schuhe.

»Bitte«, sagt Frida und nimmt Harriet aus Susannas Armen.

Harriet schlingt die Hände um Fridas Hals. Jetzt, wo sie wieder zusammen sind, fällt die Anspannung von Frida ab.

»Hast du Hunger? Hast du etwas zu essen bekommen?«

Harriet schnieft. Ihre Augen sind rot und geschwollen. Die geborgte Kleidung riecht säuerlich. Frida stellt sich vor, wie irgendwelche Staatsangestellte Harriet die Kleidung und die Windel ausziehen, ihren Körper untersuchen. Hat jemand sie unsittlich berührt? Wie soll sie das ihrem Baby gegenüber jemals wiedergutmachen? Wird sie dafür Monate oder Jahre brauchen?

»Mommy.« Harriets Stimme klingt heiser.

Frida lehnt ihren Kopf an Harriets. »Es tut Mommy so leid. Du musst jetzt eine Weile bei Daddy und Sue-Sue bleiben, okay? Es tut mir so leid, mein Spatz. Ich habe es wirklich vermasselt.« Sie gibt Harriet einen Kuss aufs Ohr. »Tut’s noch weh?«

Harriet nickt.

»Daddy hat Medizin für dich. Versprichst du, lieb zu sein?« Frida ist kurz davor zu sagen, dass sie sich bald wiedersehen, beißt sich aber auf die Zunge. Sie umfasst Harriets kleinen Finger mit ihrem.

»Galaktisch doll«, flüstert sie. Das ist ihr Lieblingsspiel, ein Versprechen, das sie sich zur Schlafenszeit geben. Ich hab dich lieb. Ich hab dich bis zum Mond lieb. Ich hab dich bis zu den Sternen lieb. Ich hab dich galaktisch doll lieb. Das sagt sie immer, wenn sie Harriet ins Bett bringt, dieses kleine Mädchen, das genau das gleiche Mondgesicht, die gleiche doppelte Lidfalte und den gleichen nachdenklichen Mund hat wie sie.

Harriet schläft an Fridas Schulter ein.

Gust zupft Frida am Arm. »Wir sollten vor dem Abendessen zu Hause sein.«

»Nur noch kurz.« Sie hält Harriet und wiegt sie, gibt ihr einen Kuss auf die salzige Wange. Sie müssen sie aus diesen widerlichen Sachen rausholen, sie in die Badewanne stecken. »Du wirst mir wie verrückt fehlen. Hab dich lieb, mein Spatz, hab dich so, so lieb.«

Harriet regt sich, antwortet aber nicht. Frida sieht Harriet noch einmal an und schließt die Augen, als Gust ihr ihre Tochter aus den Armen nimmt.

Die Sozialarbeiterin steckt im Berufsverkehr fest. Frida wartet in dem minzgrünen Raum. Eine halbe Stunde verstreicht. Sie ruft Gust an.

»Du, was ich ganz vergessen hab: Ich weiß, ihr wollt eigentlich weg von Milchprodukten, aber darf sie heute bitte Nachtisch haben? Sie hätte bei mir Eis gekriegt.«

Gust sagt, dass sie schon mit dem Essen fertig sind. Harriet hat vor Müdigkeit kaum etwas gegessen. Susanna badet sie gerade. Frida entschuldigt sich noch einmal, weiß, das könnte der Beginn eines Jahres voller Entschuldigungen sein, weil sie sich selbst eine Grube gegraben hat, aus der sie vielleicht niemals wieder rauskommt.

»Bleib ruhig, wenn du mit ihnen sprichst«, sagt Gust. »Reiß dich zusammen. Ich bin sicher, dass alles bald vorbei sein wird.«

Sie widersteht dem Drang, Ich liebe dich zu sagen. Dem Drang, ihm zu danken. Sie wünscht ihm einen schönen Abend und geht dann unruhig im Raum auf und ab. Sie hätte die Polizisten fragen sollen, wer aus der Nachbarschaft angerufen hat. Ob es das ältere Paar war, das ausgeblichene Postkarten von Johannes Paul II. an die Fliegentür geklebt hat. Oder die Frau, die auf der anderen Seite des Zauns hinter Fridas Haus lebt und deren Katzen Fridas Garten immer als Klo benutzen. Oder das Pärchen, mit dem sie sich eine Schlafzimmerwand teilt und dessen lustvolles Stöhnen sie sich noch einsamer fühlt als sie ohnehin schon ist.

Sie kennt keinen von ihnen mit Namen. Sie hatte versucht, sie zu grüßen, aber die Nachbarn ignorierten sie jedes Mal oder wechselten die Straßenseite. Letztes Jahr mietete sie ein Reihenhaus mit vier Zimmern in der Nähe des Passyunk-Square-Viertels. In ihrer Nachbarschaft ist sie die einzige Nichtweiße, die Einzige, die nicht schon seit Jahrzehnten dort lebt, die Einzige, die zur Miete wohnt, die einzige Akademikerin und die Einzige mit Kleinkind. Es war die größte Wohnung, die sie in so kurzer Zeit finden konnte. Ihre Eltern mussten den Vertrag mitunterzeichnen; damals hatte sie den Job an der Uni noch nicht. West Philly war näher an der Arbeit, aber zu teuer. Fishtown, Bellavista, Queen Village und Graduate Hospital waren zu teuer. Sie waren aus Brooklyn deshalb hierhergezogen, weil eine prestigeträchtige Dachbegrünungsfirma aus Philly Gust als Landschaftsarchitekten anstellen wollte. Die Firma ist auf nachhaltige Projekte spezialisiert: Renaturierung von Feuchtgebieten, Wasserauffanganlagen. Gust hatte gesagt, in Philly könnten sie Geld für ein Haus ansparen. Und New York wäre ja auch immer noch nah genug, dass sie jederzeit hinfahren könnten, wenn sie Lust dazu hätten. Um Kinder großzuziehen, sei es hier einfach besser. Jetzt hängt sie in der kleinsten Stadt fest, in der sie je gelebt hat. Eine Spielzeugstadt, in der sie kein Netzwerk hat, das sie auffängt, und nur ein paar lose Bekanntschaften statt eines richtigen Freundeskreises. Wegen des gemeinsamen Sorgerechts muss sie hierbleiben, bis Harriet achtzehn ist.

Eine der Deckenleuchten flackert. Frida würde am liebsten den Kopf auf die Tischplatte legen, wird aber das Gefühl nicht los, dass sie unter Beobachtung steht. Susanna wird es ihren Freundinnen erzählen. Gust wird es seinen Eltern erzählen. Sie wird es ihren Eltern erzählen müssen. Am linken Daumen ist kaum noch Nagelhaut übrig. Ihr wird plötzlich bewusst, dass sie Kopfschmerzen hat, einen trockenen Mund und das dringende Bedürfnis, den Raum zu verlassen.

Sie öffnet die Tür und bittet um Erlaubnis, die Toilette aufzusuchen und sich etwas zum Essen zu holen. Am Snackautomaten kauft sie sich Erdnussbutterkekse und einen Schokoriegel. Seit dem Frühstück hat sie nichts mehr zu sich genommen. Nur Kaffee. Den ganzen Tag haben ihr die Hände gezittert.

Als sie zurückkommt, wartet die Sozialarbeiterin auf sie. Frida lässt den halb gegessenen Riegel fallen und hebt ihn unbeholfen wieder auf, wobei ihr Blick die Sneakers und die straffen Waden der Sozialarbeiterin streift, die in schwarzen Caprihosen stecken. Die Frau ist jung und sehr gut aussehend, Mitte zwanzig vielleicht, kommt offensichtlich direkt aus dem Fitnessstudio. Unter der Trainingsjacke trägt sie ein Tanktop. Ein goldenes Kruzifix hängt tief in ihrem Ausschnitt. Selbst unter der Kleidung zeichnen sich die Muskeln ihrer Arme ab. Das blond gefärbte Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihren weit auseinanderstehenden Augen etwas Reptilienhaftes verleiht. Trotz ihrer makellosen Haut hat sie eine dicke Schicht Make-up aufgetragen und das Gesicht mit Contouringpuder und Highlightern modelliert. Wenn sie lächelt, entblößt sie ein strahlend weißes Filmlächeln.

Sie geben sich die Hand. Ms. Torres, die Sozialarbeiterin, macht Frida auf einen Krümel Schokolade an ihrer Lippe aufmerksam. Bevor Frida ihn wegwischen kann, hat die Sozialarbeiterin schon ein Foto von ihr gemacht. Sie entdeckt die eingerissene Nagelhaut und bittet Frida, ihre Hände zu zeigen.

»Warum?«

»Haben Sie damit ein Problem?«

»Nein, ist schon okay.«

Sie macht eine Nahaufnahme von Fridas Händen, dann von ihrem Gesicht. Sie mustert eingehend die Flecken auf Fridas Bluse. Dann stellt sie ihr Tablet auf und beginnt zu tippen.

»Sie können sich setzen.«

»Mein Ex-Mann hat gesagt, dass mir das Sorgerecht entzogen werden könnte. Ist das wahr?«

»Ja, das Kind verbleibt in der Obhut des Vaters.«

»Aber das wird nie wieder vorkommen. Gust weiß das.«

»Ms. Liu, es handelt sich hier um eine Inobhutnahme wegen akuter Gefährdung. Sie haben Ihr Kind unbeaufsichtigt gelassen.«

Frida wird rot. Sie hat sowieso ständig das Gefühl, zu versagen, aber diesmal gibt es eindeutige Beweise.

»Wir konnten keine Spuren körperlicher Gewalt entdecken, aber Ihre Tochter war dehydriert. Und hungrig. Laut dem Bericht war die Windel vollkommen durchnässt. Sie hatte schon sehr lange geschrien. Sie war vollkommen aufgelöst.« Die Sozialarbeiterin blättert durch ihre Notizen. »Hier steht auch, dass es bei Ihnen zu Hause schmutzig war.«

»Normalerweise bin ich nicht so. Ich wollte am Wochenende sauber machen. Ich würde ihr niemals etwas antun.«

Die Sozialarbeiterin lächelt kühl. »Sie haben ihr aber etwas angetan. Warum haben Sie Ihre Tochter eigentlich nicht einfach mitgenommen? Was für eine Mutter denkt denn nicht: Wenn ich das Haus verlassen muss oder will, kommt mein Kind mit?«

Sie wartet auf eine Antwort. Frida erinnert sich an den Frust und die Angst, die sich an diesem Morgen angestaut hatten, an das Bedürfnis nach einem kurzen Augenblick Ruhe. An den meisten Tagen gelingt es ihr, sich aus dieser Stimmung zu befreien. Es ist demütigend, dass über sie eine Akte angelegt wurde, als würde sie Harriet schlagen oder vernachlässigen, als wäre sie eine von den Müttern, die ihr Baby an einem heißen Sommertag allein im Auto zurücklassen.

»Es war ein Versehen.«

»Ja, das sagten Sie bereits. Aber ich habe das Gefühl, dass Sie mir etwas verschweigen. Was hat Sie denn plötzlich dazu bewegt, in Ihr Büro zu fahren?«

»Ich habe mir einen Kaffee geholt. Dann bin ich zur Uni gefahren. Dort lag noch ein Ordner, den ich da vergessen hatte. Ich hatte die Unterlagen nur in Papierform. Der Professor, mit dem ich zusammen an dem Artikel arbeite, ist einer der Ältesten an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Er hat sich beim Dekan schon einmal über mich beschwert. Weil ich ihn falsch zitiert habe. Er wollte, dass ich entlassen werde. Und als ich im Büro war, habe ich noch ein paar Mails beantwortet. Ich hätte die Zeit im Auge behalten sollen. Ich weiß, ich hätte mein Kind nicht allein zu Hause lassen dürfen. Das weiß ich. Ich habe richtig Mist gebaut.«

Frida zupft an ihrem Haar herum, löst den Dutt. »Meine Tochter war einfach die ganze Zeit wach. Eigentlich schläft sie zweimal am Tag, aber ich konnte sie überhaupt nicht zur Ruhe bringen. Ich habe in ihrem Zimmer auf dem Boden geschlafen. Im Moment schläft sie nur ein, wenn ich ihre Hand halte. Und immer, wenn ich dann rausgehen will, wacht sie auf und flippt total aus. Die letzten Tage sind zu einem einzigen Brei verschwommen. Ich war vollkommen fertig. Geht es Ihnen nicht auch manchmal so? Ich hatte vor Müdigkeit Schmerzen in der Brust.«

»Alle Eltern sind müde.«

»Ich wollte auch eigentlich sofort wieder zurückkommen.«

»Sind Sie aber nicht. Sie sind in Ihr Auto gestiegen und einfach weggefahren. Das istAussetzung, Ms. Liu. Wenn Sie einfach das Haus verlassen möchten, wann immer Ihnen danach ist, sollten Sie sich einen Hund anschaffen und kein Kind.«

Frida kämpft mit den Tränen. Sie will sagen, dass sie keine von diesen schlechten Müttern ist, die man dauernd in den Nachrichten sieht. Sie hat nicht das Haus angezündet. Sie hat Harriet nicht an einer U-Bahn-Station ausgesetzt. Sie hat Harriet nicht an den Rücksitz angeschnallt und ist in einen See gefahren.

»Ich weiß, dass ich einen riesigen Fehler gemacht habe, aber es war keine Absicht. Ich weiß, dass das alles vollkommen verrückt von mir war.«

»Ms. Liu, litten oder leiden Sie an einer psychischen Erkrankung?«

»Ich hatte immer mal wieder Depressionen, aber das meine ich nicht. Ich bin nicht …«

»Müssen wir davon ausgehen, dass es sich um einen psychotischen Anfall gehandelt hat? Eine manische Episode? Standen Sie unter dem Einfluss irgendwelcher Substanzen?«

»Nein. Überhaupt nicht. Und ich bin nicht verrückt. Ich kann nicht behaupten, dass ich eine perfekte Mutter bin, aber Eltern machen nun mal Fehler. Ich bin sicher, Sie haben schon weitaus Schlimmeres gesehen.«

»Aber hier geht es nicht um andere Eltern. Hier geht es um Sie.«

Frida versucht, ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Ich muss sie sehen. Wie lange dauert das denn alles hier? Wir waren noch nie länger als vier Tage voneinander getrennt.«

»So schnell geht das nicht.« Die Sozialarbeiterin erklärt das Prozedere, als würde sie eine Einkaufsliste herunterrattern. Von Frida wird ein psychologisches Gutachten erstellt, genau wie von Harriet. Harriet erhält therapeutische Betreuung. Innerhalb der nächsten sechzig Tage können sie sich drei Mal unter Aufsicht sehen. Der Staat sammelt Informationen. Die KSB, die Kinderschutzbehörde, hat gerade ein neues Programm verabschiedet.

»Ich werde Empfehlungen aussprechen«, sagt die Sozialarbeiterin. »Ein Gericht bestimmt dann, welche Sorgerechtsregelung dem Wohle des Kindes am zuträglichsten ist.«

Als Frida etwas sagen will, unterbricht die Sozialarbeiterin sie. »Ms. Liu, seien Sie froh, dass sich der Kindesvater kümmert. Hätten wir keine Möglichkeit, das Kind bei Verwandten unterzubringen, müssten wir es in die Bereitschaftspflege geben.«

In dieser Nacht kann Frida wieder einmal nicht schlafen. Sie muss dem Familiengericht erzählen, dass Harriet nicht misshandelt, nicht vernachlässigt wurde, dass ihre Mutter nur einen richtig schlechten Tag hatte. Sie muss den Richter fragen, ob er nicht auch schon einmal einen richtig schlechten Tag hatte. An ihrem schlechten Tag musste sie dringend ihr Gedankenhaus verlassen, das in ihrem Körperhaus gefangen war, das wiederum in dem Haus gefangen war, in dem Harriet mit einem Teller Tierkekse in ihrem Activity-Center festsaß. Gust hatte früher immer die ganze Welt so erklärt: Der Verstand ist ein Haus, das im Haus des Körpers lebt, das im Haus des Wohnhauses lebt, das im großen Haus der Stadt, im noch größeren des Bundesstaates und schließlich in den Häusern der USA, der Gesellschaft und des Universums lebt. Laut Gust passten die Häuser ineinander wie die russischen Matrjoschkas, die sie Harriet gekauft hatten.

Was sie nicht erklären kann, was sie nicht zugeben will und wovon sie nicht sicher weiß, ob sie sich überhaupt richtig daran erinnert: das freudige Kribbeln, das sie plötzlich empfand, als sie die Tür hinter sich schloss und in das Auto stieg, das sie wegbrachte von Verstand und Körper und Haus und Kind.

Sie stahl sich davon, als Harriet gerade abgelenkt war. Jetzt fragt sie sich, ob das nicht ungefähr so war, wie jemanden hinterrücks zu erschießen, das Unfairste, das sie je getan hat. Im Coffeeshop am Ende der Straße kaufte sie sich einen Iced-Latte und ging dann zu ihrem Auto. Sie hatte sich fest vorgenommen, sofort wieder nach Hause zu fahren. Aber dann wurden aus den zehn Minuten, in denen sie sich einen Kaffee holen wollte, dreißig, die zu einer Stunde wurden, die sich erst auf zwei, dann auf zweieinhalb Stunden dehnte. Das Vergnügen der Fahrt gab ihr Auftrieb. Es war nicht das gleiche, das sie bei Sex oder Liebe oder einem Sonnenuntergang empfand, sondern das Vergnügen, ihren Körper, ihr Leben zu vergessen.

Um ein Uhr nachts steht sie auf. Sie hat seit drei Wochen nicht geputzt, kann nicht glauben, dass die Polizei das Haus in diesem Zustand vorgefunden hat. Sie sammelt Harriets Spielzeug ein, leert den Plastikmüll, saugt die Teppiche, setzt eine Wäsche an, wischt das Activity-Center ab und schämt sich, das nicht schon eher getan zu haben.

Sie putzt bis fünf Uhr, wird ganz benommen von den Desinfektions- und Bleichmitteln. Alle Waschbecken sind geschrubbt. Die Badewanne ist geputzt. Das Parkett gewischt. Kein Polizist ist da, der die sauberen Herdplatten bemerken könnte. Keiner, der sieht, dass die Toilettenschüssel makellos strahlt, dass Harriets Kleidung ordentlich gefaltet im Schrank liegt, dass die halb vollen Lieferdienstkartons weggeworfen wurden, dass die Oberflächen nicht mehr von einer Staubschicht bedeckt sind. Aber solange sie weitermacht, muss sie nicht ohne Harriet ins Bett gehen, wartet sie nicht darauf, dass Harriet nach ihr ruft.

Sie ruht sich auf dem sauberen Boden aus, Haare und Nachthemd sind schweißgetränkt, sie friert in der kühlen Brise, die durch die Hintertür hereinweht. Wenn sie nicht schlafen kann und Harriet bei ihr ist, holt sie sie normalerweise aus dem Bettchen und hält sie auf dem Arm, während Harriet an Fridas Schulter weiterschläft. Ihr kleines Mädchen. Sie vermisst die Wärme und das Gefühl, ihre Tochter im Arm zu halten.

Um zehn wacht Frida mit triefender Nase und kratzendem Hals auf, freut sich darauf, Harriet zu erzählen, dass Mommy endlich geschlafen hat, dass Mommy heute mit ihr auf den Spielplatz gehen kann. Dann erfüllt sie langsam die grauenhafte Gewissheit, dass Harriet nicht zu Hause ist.

Sie setzt sich auf und lässt die schmerzenden Schultern kreisen, erinnert sich an die Sozialarbeiterin und an den minzgrünen Raum, in dem sie wie eine Kriminelle behandelt wurde. Sie stellt sich vor, wie Polizisten dieses dunkle, enge Haus betreten und Harriet mitten in diesem Durcheinander vorfinden. Vielleicht sahen sie, dass der Kühlschrank und die Regale fast leer waren. Vielleicht fielen ihnen die Krümel auf der Arbeitsfläche, die zusammengeknüllten Papiertücher und die Teebeutel in der Spüle auf.

Frida und Gust hatten jeweils die Möbel behalten, die sie mit in die Ehe gebracht hatten. Die meisten besseren Stücke gehörten ihm. Fast alle Dekoteile und Kunstgegenstände. Sie steckten gerade mitten in Renovierungsarbeiten, als er aus ihrem alten Haus auszog. Das Haus, in dem Frida jetzt lebt, wurde vom Eigentümer in Pastellfarben gestrichen, das Wohnzimmer hellgelb, die Küche apricot, das Obergeschoss lavendel und hellblau. Die Farben von Fridas Möbeln und Dekogegenständen beißen sich mit denen der Wände: die schwarzen Bilderrahmen, der dunkelblau-violette Perserteppich, die schlichten olivgrünen Sessel.

Sie hat es nicht geschafft, auch nur eine einzige Pflanze am Leben zu erhalten. Die Wände in der Küche und im Wohnzimmer sind nackt. Im Flur im Obergeschoss hängen nur ein paar Bilder von ihren Eltern und ihrer Großmutter, ein Versuch, Harriet an ihre Herkunft zu erinnern, obwohl Frida nicht genug Mandarin spricht, um es ihr richtig beibringen zu können. In Harriets Zimmer hat sie neben eine knallbunte Stoffgirlande ein acht Jahre altes Foto von Gust gehängt. Obwohl sie weiß, dass Gust nicht das Gleiche macht, wollte sie, dass Harriet ihren Vater auch hier vor Augen hat, wenn auch nur auf einem Bild. Das gehört zu den schrecklichen Seiten eines geteilten Sorgerechts. Ein Kind sollte seine Mutter jeden Tag sehen können.

Sie sieht auf ihr Handy: ein verpasster Anruf von ihrem Chef, der sicher wissen wollte, warum sie nicht auf seine Mails reagiert. Sie ruft zurück und entschuldigt sich, behauptet, eine Lebensmittelvergiftung zu haben. Sie bittet um etwas mehr Zeit für den Artikel.

Nachdem sie geduscht hat, ruft sie ihre Scheidungsanwältin Renee an. »Ich brauche unbedingt heute noch einen Termin bei dir. Bitte. Es ist ein Notfall.«

Die enge Straße, in der Frida wohnt, ist an diesem Nachmittag leer, obwohl die älteren Nachbarn sich sonst an sonnigen Tagen gern mit Gartenstühlen auf dem schmalen Bürgersteig versammeln. Sie wünschte, sie würden sie jetzt so sehen. Sie trägt eine maßgeschneiderte Hose, dazu eine Seidenbluse und Keilabsätze. Sie hat sich geschminkt und kaschiert die geschwollenen Lider mit einer dicken Schildpattbrille. Die Polizisten und die Sozialarbeiterin hätten sie so sehen sollen, kompetent, kultiviert und vertrauenswürdig.

Renees Büro befindet sich im fünften Stock eines Gebäudes in der Chestnut Street, zwei Blocks nördlich vom Rittenhouse-Square-Park. Im vergangenen Jahr hatte es eine Zeit gegeben, in der dieses Büro für Frida wie ein zweites Zuhause war. Renee wie eine große Schwester.

»Komm rein, Frida. Was ist passiert? Du bist ja ganz blass.«

Frida bedankt sich, dass Renee so kurzfristig Zeit für sie gefunden hat. Sie sieht sich um, erinnert sich daran, wie Harriet auf die Ledercouch gesabbert und jeden kleinen Fussel vom Teppich geklaubt hat. Renee ist eine stämmige Brünette Ende vierzig, die am liebsten Pullover mit Wasserfallausschnitt und dramatischen Türkis-Schmuck trägt. Auch aus New York zugezogen. Als Außenseiterinnen in einer Stadt, in der alle sich schon seit dem Kindergarten zu kennen scheinen, hatten Frida und sie sich von Anfang an gut verstanden.

Renee bleibt stehen und lehnt sich mit verschränkten Armen gegen den Schreibtisch, während Frida erzählt, was passiert ist. Renee ist wütender als Gust und Susanna, schockierter und enttäuschter. Frida hat das Gefühl, als würde sie mit ihren Eltern reden.

»Warum hast du mich nicht direkt gestern Abend angerufen?«

»Mir war nicht klar, in welchen Schwierigkeiten ich stecke. Ich habe es total versaut. Das weiß ich. Aber es war ein Versehen. Ich habe einfach einen Fehler gemacht.«

»So darfst du das nicht nennen«, sagt Renee. »Diesen Leuten ist total egal, was du dir dabei gedacht hast. Die Kinderschutzbehörde ist in letzter Zeit um einiges aggressiver geworden.« Vergangenes Jahr waren unter ihrer Aufsicht zwei Kinder ums Leben gekommen. Der Gouverneur sagte danach, es würde keine Fehlertoleranz mehr geben. Gerade treten neue Regularien in Kraft. Bei der letzten Kommunalwahl wurde dazu ein Volksentscheid durchgeführt.

»Wovon redest du? Ich habe sie doch nicht misshandelt. Ich bin keine von denen. Harriet ist noch klein. Sie wird sich an nichts erinnern.«

»Frida, dein Kind einfach allein zu Hause zu lassen ist keine Kleinigkeit. Das ist dir doch klar, oder? Ich weiß, dass Mütter manchmal so gestresst sind, dass sie einfach abhauen, aber du hast dich erwischen lassen.«

Frida starrt auf ihre Hände. Wie hatte sie nur erwarten können, von Renee den gleichen Trost, die gleichen ermutigenden Worte zu bekommen wie bei der Scheidung?

»Ab jetzt werden wir das als Aussetzer bezeichnen«, sagt Renee. »Du kannst nicht einfach behaupten, es sei ein ›Versehen‹ gewesen. Du musst die Verantwortung dafür übernehmen.«

Renee glaubt, es könnte Wochen dauern, ehe sie das Sorgerecht zurückerhält. Im schlimmsten Fall sogar Monate. Sie hat gehört, bei der KSB ist momentan einiges in Bewegung. Der Fokus liegt jetzt auf Nachvollziehbarkeit und Transparenz. Irgendeine Art der Datenerfassung soll den Eltern mehr Möglichkeiten bieten, sich zu beweisen. Offenbar wird versucht, das Vorgehen landesweit zu optimieren, damit es von Bundesstaat zu Bundesstaat nicht mehr so große Abweichungen gibt. Die Unterschiede zwischen den Staaten waren schon immer problematisch. Trotzdem hängt immer noch viel vom Gericht ab.

»Warum habe ich noch nie etwas darüber gehört?«

»Wahrscheinlich hast du dich nicht dafür interessiert, weil es dich nicht betroffen hat. Warum auch? Du hast einfach dein Leben gelebt.« Frida soll sich auf die langfristigen Ziele konzentrieren: dass Harriet wieder bei ihr ist, der Fall abgeschlossen wird. Selbst wenn sie das Sorgerecht zurückbekommt, wird es wahrscheinlich eine Bewährungsfrist geben, in der sie weiter unter Aufsicht steht, ein Jahr vielleicht. Das Gericht könnte anordnen, dass Frida ein komplettes Programm absolvieren muss – Hausbesuche, Erziehungsberatung und Therapie. Aber Anrufe und begleiteter Umgang sind besser als nichts. Manchen Eltern wird nicht einmal das zugesprochen. Und selbst wenn sie das ganze Prozedere durchläuft, gibt es leider keine Garantie. Und wenn der Staat sie, und da sei Gott vor, im schlimmsten Fall für nicht geeignet hält und sich dagegen entscheidet, ihr das Kind zurückzugeben, könnten ihr die elterlichen Rechte entzogen werden.

»Aber das kann in unserem Fall nicht passieren, oder? Warum erzählst du mir das überhaupt?«

»Weil du von jetzt an sehr vorsichtig sein musst. Ich will dir keine Angst machen, Frida, aber wir reden hier von der Familiengerichtsbarkeit. Ich möchte, dass du weißt, mit wem du es hier zu tun hast. Ernsthaft. Tritt auf keinen Fall irgendeiner dieser Gruppen für Elternrechte bei. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, dich für deine Rechte einzusetzen. Du machst dich nur unglücklich. Es ist nicht so, als hättest du noch irgendwas an Privatsphäre, darüber musst du dir immer im Klaren sein. Die werden dich beobachten. Und sie haben über das neue Verfahren noch keine Details öffentlich bekannt gegeben.«

Renee setzt sich neben Frida. »Ich verspreche dir, dass wir sie zurückholen.« Sie legt eine Hand auf Fridas Arm. »Hör zu, es tut mir wirklich leid, aber der nächste Termin wartet schon auf mich. Ich ruf dich später an, okay? Wir kriegen das schon hin.«

Als Frida aufstehen will, ist sie wie gelähmt. Sie nimmt die Brille ab. Die Tränen kommen plötzlich.

Zur Feierabendzeit ist der Rittenhouse Square voller Menschen, die joggen und skaten, voller Studierender und obdachloser Männer und Frauen, die dort leben. Frida mag keinen Ort in der Stadt so sehr wie diesen, eine klassisch angelegte Grünfläche mit einem Springbrunnen, Tierfiguren und penibel gepflegten Blumenbeeten, die von Läden und Restaurants mit Tischen auf dem Gehweg umgeben ist. Die einzige Ecke von Philly, die sie an New York erinnert.

Sie entdeckt eine leere Bank und ruft Gust an. Er fragt, ob sie ein wenig schlafen konnte. Sie erzählt ihm, dass sie gerade von Renee kommt, fragt dann, ob sie mit Harriet sprechen kann. Sie versucht, auf FaceTime zu schalten, aber die Verbindung ist schlecht. Sobald sie Harriets Stimme hört, kommen ihr wieder die Tränen.

»Du fehlst mir. Wie geht es dir, mein Spatz?«

Harriet klingt immer noch heiser. Sie gibt eine Reihe von Vokalen von sich, von denen keiner wie »Mommy« klingt. Im Hintergrund sagt Gust, dass die Mittelohrentzündung abheilt. Susanna war heute Morgen mit ihr im Mitmach-Kindermuseum.

Frida stellt Fragen zu dem Museum, aber Gust sagt, dass sie gleich Abendbrot essen. Sie bringt noch einmal das Eis ins Spiel.

»Frida, ich weiß, du meinst es nur gut, aber wir wollen ihr nicht beibringen, immer zu essen, wenn sie traurig ist. Na los, Harri-Bär, sag ›Tschüss‹!«

Sie legen auf. Frida wischt sich die laufende Nase mit dem Handrücken ab. Obwohl es zu Fuß vierzig Minuten bis nach Hause sind und sie sich auf jeden Fall Blasen laufen wird, kann sie nicht in der Bahn weinen und sich von allen anstarren lassen. Sie denkt darüber nach, ein Taxi zu rufen, will aber keinen Small Talk führen. Sie geht in einen Starbucks, um sich Nase und Brille zu putzen. Die Leute glauben bestimmt, dass sie gerade verlassen oder gefeuert wurde. Niemand würde darauf kommen, was sie getan hat. Dafür sieht sie zu schick aus. Zu anständig. Zu asiatisch.

Sie läuft in Richtung Süden, vorbei an jungen Frauen, die zu zweit und mit Yogamatten unterm Arm unterwegs sind, vorbei an tätowierten Eltern, die ihre Kinder aus der Kita abholen. Es fühlt sich immer noch so an, als wären die gestrigen Ereignisse jemand anderem zugestoßen. Das Gericht wird sehen, dass sie weder eine Alkoholikerin noch drogenabhängig ist und auch nie eine Straftat begangen hat. Sie ist erwerbstätig und händelt das geteilte Sorgerecht kooperativ und verantwortungsvoll. Sie hat an der Brown und der Columbia studiert, besitzt einen Bachelor und Master in Literaturwissenschaft, zahlt in die Rentenversicherung ein und hat für Harriet einen Collegefonds angelegt.

Sie versucht sich einzureden, dass Harriet zu klein ist, um sich an irgendetwas zu erinnern. Aber vielleicht wird ein schwaches Gefühl von Verletztheit zurückbleiben, das sich erhärtet, wenn Harriet älter wird. Eine gefühlte Erinnerung, wie es ist, wenn man weint und niemand reagiert.

Am Morgen danach klingelt es um acht an der Tür. Frida bleibt liegen, aber nach dem dritten Klingeln wirft sie sich den Morgenmantel über und eilt die Treppe hinunter.

Die Männer von der KSB sind groß, weiß und bullig. Sie tragen hellblaue Hemden und Kakihosen, haben beide einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck, einen Philly-Akzent und kurz geschorenes braunes Haar. Einer hat einen Bierbauch, der andere ein fliehendes Kinn. Beide tragen einen Metallkoffer.

Der mit dem fliehenden Kinn sagt: »Ma’am, wir müssen bei Ihnen ein paar Kameras installieren.« Er zeigt ihr die Unterlagen.

»Ist das der Hausbesuch?«

»Das läuft jetzt anders.«

Frida erfährt: Bis aufs Bad werden in jedem Raum Kameras installiert. Außerdem sehen sie sich an, wo es zu dem Vorfall gekommen ist. Der Mann mit dem fliehenden Kinn späht über ihren Kopf hinweg ins Wohnzimmer. »Sieht so aus, als hätten Sie sauber gemacht. Wann ist das passiert?«

»Neulich Abend. Weiß meine Anwältin, dass Sie hier sind?«

»Ihre Anwältin kann hier nichts für Sie tun, Ma’am.«

Die Frau, die auf der anderen Seite der Straße wohnt, beobachtet sie durch die Vorhänge. Frida beißt sich auf die Innenseite der Wangen. Beschwer dich nicht, hat Renee gesagt. Gib dich zuvorkommend. Kooperativ. Stell nicht zu viele Fragen. Jede Interaktion mit der KSB wird dokumentiert. Alles kann gegen sie verwendet werden.

Die Männer erklären ihr, dass der Staat über eine direkte Videoübertragung Bildmaterial sammelt. In jedem Raum wird in einer Ecke an der Decke eine Kamera angebracht. Eine weitere im Garten aufgestellt. Anrufe, Text- und Sprachnachrichten sowie die Nutzung von Internet und Apps werden nachverfolgt.

Frida soll ein Formular unterzeichnen. Sie muss der Überwachung zustimmen.

Die Nachbarin beobachtet sie immer noch. Frida schließt die Haustür und wischt sich die feuchten Handflächen am Morgenmantel ab. Das Ziel ist es, Harriet zurückzubekommen, hat Renee gesagt. Hier zu verlieren bedeutet, alles zu verlieren. Das Ganze wird sich vielleicht unerträglich elend anfühlen, aber was sind schon ein paar Wochen oder sogar Monate im Vergleich zu einem ganzen Leben? Stell dir nur einmal vor, wie elend sich das andere anfühlen würde, hat Renee gesagt. Das kann Frida nicht. Sollte das geschehen, würde sie nicht weiterleben wollen.

Sie geht ins Haus und holt einen Stift, unterschreibt das Formular. Als die Männer das Haus betreten und die Überwachungsausrüstung auspacken, fragt sie vorsichtig, was genau sie untersuchen werden.

Der Mann mit dem Bierbauch sagt: »Wir wollen Sie einfach ein bisschen kennenlernen.«

Sie fragt, ob auch etwas in ihrem Auto und an ihrem Arbeitsplatz angebracht wird. Die Männer versichern ihr, dass man sich nur auf ihr häusliches Leben konzentriere, als ob sie die Gewissheit, nur beim Essen und Schlafen und Atmen beobachtet zu werden, beruhigen sollte. Wenn genug Material vorliegt, werde man es dazu verwenden, ihre Gefühle zu analysieren.

Was soll das heißen? Wie ist das möglich? In den Artikeln, die sie online gefunden hat, sagte die Vertreterin der KSB, das neue Programm werde menschliches Versagen ausschließen. Entscheidungen würden effizienter getroffen werden. Außerdem seien sie zukünftig in der Lage, Voreingenommenheit und Befangenheit zu korrigieren und universelle Standards festzusetzen.

Die Männer fotografieren jeden Raum, halten ab und zu inne, um auf etwas zu zeigen und zu flüstern. Frida sagt auf der Arbeit Bescheid, dass sie später kommt. Sie inspizieren die Regale und den Kühlschrank, jede Schublade, jeden Schrank, den winzigen Garten, das Badezimmer und den Keller. Sie leuchten mit Taschenlampen in Waschmaschine und Trockner.

Sie durchsuchen die Kleidung, öffnen Fridas Schmuckkästchen. Fassen Kissen und Decke an. Sie rütteln an den Stäben von Harriets Bettchen, fahren mit den Händen über die Matratze und drehen sie um. Sie durchwühlen Harriets Decken und ihr Spielzeug. Während sie Zimmer um Zimmer in Augenschein nehmen, bleibt Frida in der Tür stehen und unterdrückt den Drang, gegen den Eingriff in ihre Privatsphäre zu protestieren. Es hätte sie nicht gewundert, wenn die Männer sagen würden, dass sie ihren Körper untersuchen wollen. Vielleicht fordern sie Frida auf, den Mund zu öffnen, und kontrollieren den Zustand ihrer Zähne. Vielleicht möchte der Staat wissen, ob sie Karies hat.

Die Männer tragen eine Trittleiter herein. Sie entfernen Spinnweben von der Decke. Nachdem sie die Kameras aufgehängt haben, rufen sie in der Zentrale an und schalten die Übertragung ein.

2. Kapitel

Frida ist versucht, an diesem Abend nicht nach Hause zu gehen, und überlegt, sich ein Zimmer im Gästehaus der Universität zu nehmen, ein Last-minute-Angebot auf Airbnb zu buchen oder spontan Freunde zu besuchen, die sie lange nicht gesehen hat. Vielleicht könnte sie auch an ihrem Arbeitsplatz im Großraumbüro schlafen, obwohl ihr Chef am Nachmittag bemerkt hatte, dass die Fotos von Harriet auf dem Schreibtisch verkehrt herum lagen, und Fragen stellte.

»Ich habe versucht, mich zu konzentrieren«, log sie.

Sobald ihr Chef außer Sichtweite war, stellte sie die Bilder wieder auf, strich mit den Fingern sanft darüber und entschuldigte sich: Harriet als fest in eine Decke gewickelte Neugeborene, Harriet mit einem Stück ihres ersten Geburtstagskuchens in der Hand, Harriet mit Herzchensonnenbrille und kariertem Strampler am Strand. Dieses Gesicht. Ihre Tochter. Das Einzige, was sie jemals richtig gemacht hat.

Sie bleibt bis elf, lange, nachdem sich das Gebäude geleert hat, bis die Angst, auf dem Campus überfallen zu werden, größer ist als die Angst vor dem, was sie zu Hause erwartet. Sie hatte den Tag über immer wieder mit Renee telefoniert. Die Sache mit den Kameras beunruhigt Renee, aber sie sagte mit einem tiefen Seufzen, die Regeln würden sich ständig ändern. Das Haus zu meiden sei keine Option für Frida. Genauso wenig wie sich mit Fakten zu wappnen. Nicht, dass Frida online viel gefunden hätte. Nur die üblichen Kommentare zu Social-Media-Sucht, zu Experimenten anhand von Big Data und der unheiligen Allianz zwischen der Regierung und Technologiekonzernen. Zu Liveübertragungen von Geburten und Gewaltverbrechen. Kontroversen über Kinder-Influencer auf YouTube. Darüber, ob versteckte Kameras zur Überwachung von Babysittern eine Bürgerrechtsverletzung darstellten. Über smarte Socken und Decken, die die Herzfrequenz, die Sauerstoffzufuhr und die Schlafqualität von Neugeborenen messen. Eine smarte Wiege, die das Schlaftraining übernimmt.

Sie alle werden seit Jahren über ihre Geräte beobachtet. Die rückläufige Kriminalitätsstatistik in London und Peking hat die Regierung davon überzeugt, in den meisten Städten der USA Überwachungskameras zu installieren. Und wer arbeitet denn heutzutage noch ohne Gesichtserkennungssoftware? Aber wenigstens weißt du, dass die Kameras da sind, hatte Renee gesagt. Frida sollte außerdem davon ausgehen, dass sie abgehört wird. Alles, was ein normaler Mensch tut, könnte als Akt des Widerstands ausgelegt werden. Du solltest nicht zu viele Spuren hinterlassen, hatte Renee gesagt. Hör mit dem ganzen Googeln auf. Gut möglich, dass auch dein Computer angezapft wird. Sie sollten den Fall nicht am Telefon besprechen.

Renee hatte Gerüchte gehört, dass die KSB ihren Bildungssektor ausbaut. Die Elternkurse werden auf den neuesten Stand gebracht. Anscheinend steuert das Silicon Valley Geld und Ressourcen bei. Die KSB stellt gerade wie verrückt ein, sie bieten jetzt auch weitaus höhere Gehälter. Unglücklicherweise wohnt Frida genau in dem Staat, in dem County, in dem das Testprogramm läuft.

»Ich wünschte, ich wüsste mehr darüber«, sagte Renee schließlich. »Wenn das vor einem Jahr oder sogar vor ein paar Monaten passiert wäre, hätte ich dir viel besser sagen können, was du tun sollst.« Sie hielt kurz inne. »Lass uns persönlich darüber sprechen. Bitte, Frida, versuch ruhig zu bleiben.«

Das Haus, das sich nie wie ihr eigenes angefühlt hat, kommt ihr heute Abend noch fremder vor. Nachdem sie ein Mikrowellenessen aufgewärmt, sämtliche Zimmer aufgeräumt und den Schmutz weggewischt hat, der von der KSB ins Haus getragen wurde, Schubladen geschlossen, Harriets Bettzeug zusammengelegt und ihre Spielsachen neu geordnet hat, zieht Frida sich in ihr vollgestopftes Badezimmer zurück und wünscht, sie könnte ihr gesamtes Leben in diesen Raum pferchen, hier essen und schlafen. Sie duscht und reinigt sich das Gesicht, trägt Toner, Feuchtigkeitscremes und ein Anti-Aging-Serum auf. Sie kämmt sich das nasse Haar, schneidet und feilt sich die Nägel und klebt ein Pflaster über die eingerissene Nagelhaut. Sie zupft sich die Augenbrauen. Dann setzt sie sich auf den Badewannenrand und kramt in dem Eimer mit den Badetieren: das aufziehbare Walross, das Quietscheentchen, der orangefarbene Oktopus, der keine Augen mehr hat. Sie berührt Harriets Bademantel, dann reibt sie sich die Hände mit Harriets Creme ein, damit sie den Kokosduft mit ins Bett nehmen kann.

Obwohl es ein milder Abend ist, zieht sie einen Kapuzenpullover über das Nachthemd. Die Erinnerung daran, wie die Männer ihre Kissen berührt haben, lässt sie erschaudern, und sie beschließt, die Bettwäsche zu wechseln.

Sie legt sich ins Bett, setzt die Kapuze auf und bindet sie unter dem Kinn zu, wünscht sich, sie hätte einen Schleier. Schon bald wird der Staat bemerken, dass sie kaum Besuch bekommt. Nach der Scheidung hat sie ihre alten New Yorker Freunde aus den Augen verloren und keine neuen gefunden, es gar nicht erst versucht, und so verbringt sie die meisten Abende, an denen Harriet nicht bei ihr ist, in der Gesellschaft ihres Telefons. Manchmal isst sie Cornflakes zum Abendbrot. Wenn sie Probleme hat, einzuschlafen, trainiert sie stundenlang Bauch und Beine. Wenn sie partout nicht schlafen kann, nimmt sie Unisom-Schlaftabletten und trinkt etwas. Wenn Harriet da ist, nur einen Bourbon. Wenn sie allein ist, drei oder vier hintereinander. Gott sei Dank haben die Männer keine leeren Flaschen gefunden. Jeden Morgen vor dem Frühstück misst sie ihren Taillenumfang. Sie kneift sich in den schlaffen Trizeps und die Innenseite der Oberschenkel. Sie lächelt ihrem Spiegelbild zu, um sich daran zu erinnern, dass sie früher einmal hübsch war. Die schlechten Angewohnheiten muss sie jetzt alle hinter sich lassen, darf nicht eitel, egoistisch oder labil wirken, als könnte sie sich nicht um sich selbst kümmern, als wäre sie vielleicht sogar – selbst in diesem Alter – nicht dazu in der Lage, sich um ein Kind zu kümmern.

Sie dreht sich auf die Seite, das Gesicht zum Fenster gewandt. Sie führt eine Hand zum Mund, hält dann inne. Sieht hoch zu dem rot blinkenden Licht. Bietet sie ihnen genug? Ist sie reumütig genug? Ängstlich genug? In ihren Zwanzigern ging sie zu einer Therapeutin, die sie eine Liste all ihrer Ängste anfertigen ließ, ein ermüdender Vorgang, der einzig und allein die Erkenntnis brachte, dass ihre Ängste willkürlich und grenzenlos waren. Wer auch immer ihr jetzt zusieht, sollte wissen, dass sie Angst vor Wäldern und großen Gewässern hat, vor Halmen und Seegras. Vor Langstreckenschwimmern, ganz allgemein vor Menschen, die unter Wasser atmen können. Sie hat Angst vor Menschen, die tanzen können. Sie hat Angst vor Nudisten und skandinavischen Wohnungseinrichtungen. Vor Fernsehsendungen, die mit einem toten Mädchen beginnen. Vor zu viel Sonne und vor zu wenig. Früher hatte sie Angst vor dem Baby, das in ihr heranwuchs, davor, dass es aufhören könnte zu wachsen und dass das tote Baby dann abgesaugt werden müsste, davor, dass Gust sie verlassen würde, wenn sie es nicht noch einmal probieren wollte. Sie hatte Angst davor, sie könnte den Zweifeln erliegen, ins Krankenhaus fahren und behaupten, die Blutungen hätten einfach so eingesetzt.

Heute Nacht hat sie Angst vor den Kameras, der Sozialarbeiterin, dem Gericht und dem Warten. Davor, was Gust und Susanna den Leuten erzählen. Vor der Tochter, deren Liebe vielleicht schon jetzt langsam erlischt. Davor, wie sehr es ihre Eltern treffen würde, wenn sie es wüssten.

Im Kopf geht sie die neuen Ängste immer wieder durch, versucht, die Bedeutung der Wörter abzunutzen. Ihr Herz rast, kalter Schweiß überzieht ihren Rücken. Vielleicht wäre es besser, eine schlechte Mutter einfach eine Klippe runterzustoßen, statt sie zu überwachen.

Frida hatte die Fotos letztes Jahr entdeckt. Es war Anfang Mai, mitten in der Nacht, die Schlaflosigkeit hatte wieder zugeschlagen. Sie wollte wissen, wie spät es ist, und nahm Gusts Telefon vom Nachttisch. Kurz nach drei war eine Nachricht eingegangen: Komm morgen zu mir.

Sie fand das Mädchen in einer Datei, die mit »Arbeit« beschriftet war. Susanna, die in einem sonnendurchfluteten Wohnzimmer einen Baiserkuchen in der Hand hält. Susanna, die den Kuchen in Gusts Schritt zerdrückt. Susanna, die ihm den Kuchen von der Haut leckt. Die Aufnahmen waren im Februar entstanden, als Frida im neunten Monat schwanger war. Sie fragte sich, wie Gust die Zeit gefunden hatte, sich mit diesem Mädchen zu treffen, was er von ihr wollte, aber es hatte Überstunden gegeben und Wochenenden mit Freunden, und ihr war Bettruhe verordnet worden, und sie hatte versucht, nicht die Art von Frau zu sein, die ihm andauernd am Hemdzipfel hing.

Stundenlang saß sie in der Küche, starrte auf Susannas obszönes Grinsen, ihr verschmiertes Gesicht mit dem kleinen, feuchten Mund, Gusts Penis in ihren Händen. Haut- und Haarfarbe des Mädchens hätten einem präraffaelitischen Gemälde entsprungen sein können, sie hatte einen blassen, von Sommersprossen überzogenen Körper mit schweren Brüsten und knabenhaften Hüften. Ihre schlanken Arme und Beine waren sehnig, Schlüsselbein und Rippen traten hervor. Frida hatte immer gedacht, Gust würde knochige Frauen hassen. Sie hatte gedacht, er würde ihren Schwangerschaftskörper lieben.

Sie weckte ihn nicht, wurde nicht laut, sondern wartete einfach bis zum Sonnenaufgang, machte dann, obwohl sie furchtbar aussah, ein Selfie und schickte es dem Mädchen.

An diesem Morgen kletterte Frida, nachdem sie Harriet gestillt und wieder in ihr Bettchen gelegt hatte, auf Gust und rieb ihre Hüfte so lange an ihm, bis er hart wurde. Sie hatten erst zwei Mal Sex gehabt, seitdem der Arzt sie wieder für Geschlechtsverkehr freigegeben hatte, und beide Male waren schockierend schmerzhaft gewesen. Sie hoffte, dass er mit dem Mädchen Kondome benutzte, dass das Mädchen sich nicht binden wollte. Vielleicht ließ sie sich weder von einem Ehering noch von einem Kind abschrecken, aber ganz sicher würde sie ihn bald leid sein. Frida hatte das bei Freunden aus New York gesehen, die mit Mittzwanzigerinnen ausgegangen waren. Es würde eine leidenschaftliche Affäre geben, neu entfachte Lebenskraft, eine plötzliche Verlobung, und kurz darauf würde das Mädchen auf die Galapagosinseln fliehen. Abenteuerreisen waren eine ebenso beliebte Ausrede wie spirituelles Erwachen.