Integrative Beratung -  - E-Book

Integrative Beratung E-Book

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Beschreibung

Verbinden, was zusammengehört: Menschen, Methoden und Wissenschaften. Integration beginnt bei den inneren Anteilen einer Person und umfasst zwischenmenschliche Beziehungen, Mindsets, Milieus, Kulturen sowie Psyche und Spiritualität. Der Ansatz der von Ulrich Giesekus und Eva Maria Jäger entwickelten "Integrativen Beratung" antwortet auf den steigenden Bedarf an wissenschaftlich fundierter und reflektierter ganzheitlicher Beratung. Neben der Beratungswissenschaft, Psychologie, Soziologie und Medizin spielt dabei auch die Theologie eine wichtige Rolle. Gute Theorie begründet gute Praxis, darf aber dort nicht stehen bleiben. "Integrative Beratung" bietet deshalb viele praktische Bezüge aus dem Alltag der Beratung. Das Buch führt die verschiedenen Disziplinen zusammen. Mit Beiträgen von Waltraud Belser, Sarah Bolz, Dietmar Czycholl, Heinzpeter Hempelmann, Michael Herbst, Matthias Samlow, Friedemann Schulz von Thun und Michael Utsch.

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Ulrich Giesekus / Eva Maria Jäger (Hg.)

Integrative Beratung

Grundlagen und Perspektiven für die Praxis

Vandenhoeck & Ruprecht

 

 

Mit 20 Abbildungen und 6 Tabellen

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © Eva Maria Jäger

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99384-3

Inhalt

Vorwort

1 »Mahlzeit!«Einleitende Worte zu einer integrativen Grundhaltung

Eva Maria Jäger

2 Beratung, Seelsorge und Psychotherapie: Versuch einer Bestimmung im Begriffsdschungel

Ulrich Giesekus

3 Integration: aus Puzzlestücken Bilder zaubern

Ulrich Giesekus

4 Glaube ich an Gott? Eine Selbstbefragung mit dem Inneren Team

Friedemann Schulz von Thun

5 Das Innere Team im Selbstgespräch zu Integrativer Beratung

Eva Maria Jäger

6 Integrative Beratung mit Ego-States und dem Inneren Team

Eva Maria Jäger

7 Die Pesso-Therapie

Waltraud Belser

8 Geistlich-spirituelle Lebensthemen coachen mithilfe von Elementen des Zürcher Ressourcen Modells

Sarah Bolz

9 Pneumatopsychosomatik

Matthias Samlow

10 Kommunikation mit und zwischen unterschiedlichen Mindsets als Herausforderung für Seelsorge und Beratung

Heinzpeter Hempelmann

11 Beratung – integrativ und transkulturell

Dietmar Czycholl

12 Beratungsherausforderungen im weltanschaulichen Pluralismus

Michael Utsch

13 »Verkaufe alles, was du hast …« Der Eintritt in den Ruhestand als kritisches Lebensereignis

Michael Herbst

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Als wir unseren Masterstudiengang an der Internationalen Hochschule Liebenzell vor einigen Jahren neu entwickeln und benennen wollten, sagte einer der Mitdenker1: »Integration ist eine Lustvokabel, das passt.« In der Tat – ob in der Politik (»Nun wächst zusammen, was zusammengehört«) oder in der Gesellschaft (z. B. Integration von Migrantinnen), in der Seelsorge (Integration von spirituellen und psychologischen Aspekten) oder in der Psychotherapie, bei der unterschiedliche Behandlungsansätze integriert werden: Die Vielfalt des Denkens und Handelns wird von vielen Menschen als Reichtum wahrgenommen. Dabei wird oft auch Widersprüchliches oder in Spannungsfeldern Stehendes unter einen Hut gebracht – in der Regel mit einem Gewinn größerer Wirksamkeit und umfassenderer Wirklichkeitsbezüge. Selbstverständlich müssen auch Beratung und Beratungswissenschaft integrativer wahrnehmen, denken und handeln.

Die Welt, die wir verstehen wollen, wird immer komplexer. Das globale Netz versorgt uns mit Informationen und Wissen aus vielen Perspektiven, Lebenswirklichkeiten und kulturellen Bezügen. Vielleicht wird es oft zu kompliziert – Fake News, Hatespeech und verbale Gewalt im Netz zeigen ungesunde Nebenerscheinungen einer Realität, in der man nichts sicher wissen, geschweige denn verstehen und der man vertrauen kann. Polarisierung und Schwarz-Weiß-Denken sind die gefährlichen Alternativen zur Integration. So steht unsere »Liebe zur Integration« in einem Spannungsfeld zur zunehmenden Polarisierung in weiten Teilen der Gesellschaft. Unsere Beratung will Gegensätze verbinden, unterschiedliche subjektive Wirklichkeiten in den Dialog bringen und innerhalb wie außerhalb der Person zu einer Befriedung gegnerischer Tendenzen einladen. Anstelle einer Entfremdung von sich selbst, von anderen, von der Gemeinschaft, von der Natur und der Welt wollen wir zu gelingenden Bezügen und Beziehungen beitragen. Auch die unsichtbare Wirklichkeit glaubender Menschen darf und soll integriert werden. Die dazu nötige theologische Reflexion findet hier im Rahmen christlichen Glaubens statt, was nicht als Abwertung von Menschen mit anderen Glaubensvorstellungen, einschließlich aller ungläubigen Menschen, gesehen werden darf. Im Gegenteil: Nur wer den eigenen Glauben reflektiert hat, ist zu einem echten interreligiösen Dialog in der Lage.

Dieses Buch erfordert nicht zuletzt von den Lesern eine gehörige Portion Integrationsfähigkeit: Sehr unterschiedliche Beiträge, unterschiedliche Stile und unterschiedliche Themen kommen zusammen. Vom fachlich-nüchternen Wissenschaftsbeitrag bis zur ganz persönlichen Reflexion, von Professorinnen bis zu Studierenden, Medizinern, Psychologinnen, Theologen – eine bunte Mischung. So sollte es sein, und so wollten wir es. Dabei gibt es natürlich einen roten Faden: Integrative Beratung. Wie kann man also dieses Buch am besten lesen? Wir schlagen, vor, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich zuerst alles anschauen, und dann herausnehmen und zusammenbauen, was zu Ihnen passt. Wie in einem reichen Buffet (siehe Kapitel 1 »Mahlzeit«). Guten Appetit!

Unser herzlicher Dank gilt allen, die ihren Beitrag geleistet haben: als Absolventinnen des Masterstudienganges »Integrative Beratung« sind Waltraud Belser und Sarah Bolz vertreten. Regelmäßige Dozenten dieses Studienganges sind Prof. Dr. Heinzpeter Hempelmann, Dr. Matthias Samlow und Dr. Dietmar Czycholl, die an der inhaltlichen Entwicklung intensiv beteiligt waren. Als wissenschaftliche Mitdenker und langjährig geschätzte Kollegen und Freunde Prof. Dr. Michael Herbst und Prof. Dr. Michael Utsch. Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun – einem der zu Recht prominentesten Vertreter der wissenschaftlichen Psychologie in Deutschland – ist ein echtes Sahnehäubchen: persönlich, authentisch und bewegend. Vielen Dank!

Ein Sammelbecken, in dem sich so unterschiedliches Gedankengut und so unterschiedliche Denkerinnen treffen konnten, ist die Internationale Hochschule Liebenzell (IHL), deren Studiengang »Integrative Beratung« zu dieser Vernetzung geführt hat. Nicht zuletzt auch durch die großzügige Freistellung von Arbeitszeit für Forschung, die uns, der Herausgeberin und dem Herausgeber, als Professorin und Professor dieser Hochschule gewährt wird, wurde vieles möglich. Und auch für die Atmosphäre des wissenschaftlichen Disputs, die lebendige Diskussion in und außerhalb des Kollegiums sind wir sehr dankbar. »Wir« sind die Herausgeberin und der Herausgeber dieses Bandes, die gleichzeitig auch den Studiengang »Integrative Beratung« entwickelt haben und leiten: Eva Maria Jäger und Ulrich Giesekus.

Auch Ihnen, den Leserinnen und Lesern, sind wir sind wir dankbar und wünschen Ihnen, dass Sie Freude haben an dem bunt gemischten, aber passend zusammengestellten Blumenstrauß, den Sie hier vorfinden!

Bad Liebenzell, im Oktober 2022

Eva Maria Jäger und Ulrich Giesekus

 

1Aufgrund besserer Lesbarkeit wird im Wechsel die neutrale, männliche oder weibliche Form verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

1

Hoffentlich bringen Sie ein bisschen Hunger mit! Eva-Maria Jäger lädt Sie zu einer Mahlzeit ein – mit einem reichen Buffet an Ideen,Fragestellungen und Anregungen. Da kann man nur sagen: Guten Appetit!

»Mahlzeit!« Einleitende Worte zu einer integrativen Grundhaltung

Eva Maria Jäger

Wohin führt Beratung, wenn es gut ausgeht? Welche Vorstellung ich mir von einem »guten Ende« mache, ist auch in der Beratung selbst eine wertvolle Frage. Es ist bereits eine kleine Form der Auftragsklärung. Ich frage Ratsuchende gern zu Beginn der Sitzung: »Wie möchten Sie heute aus dem Gespräch gehen?« Und eben diese Frage darf auch an die »Integrative Beratung« gestellt werden.

Eine meiner Vorstellungen ist, dass es beim Beraten um das Erkennen von persönlichen Bedürfnissen geht, um Wege zu suchen, sie zu befriedigen. Das Wort »be-friedigen« zeigt schon: Es geht um »Frieden«. Den Wunsch nach »innerem Frieden« bringen auch viele Ratsuchende mit. Wenn Beratung gut geht, sind die Ratsuchenden hinterher mehr mit sich im Reinen und zu-friedener. Wenn ein kleines Kind Hunger hat und schreit und die Eltern erkennen, dass es um Hunger geht, können sie den Hunger stillen, das Kind wird satt und zufrieden. Es wächst – und bekommt wieder Hunger … und so geht das weiter mit dem Leben.

Ein Schlussbild, das dazu vor meinem inneren Auge auftaucht, ist eine zufriedene Gemeinschaft, die sich am Ende des Tages immer wieder neu findet, sich austauscht und sich bei einem guten Essen stärkt: eine Tafelrunde! So wie auf der Schlussseite ganz hinten in jedem (!) Asterix-Heft alle Abenteuer am Lagerfeuer enden: in einer großen Runde, in der das ganze Dorf Platz hat. Jeder hat einen Platz – sogar Troubadix, wenn auch in stimmlich gedämpfter Version. Und dann geht es wieder ins nächste Abenteuer …

Daher gleich zu Beginn: ein herzliches »Mahlzeit«!

Doch die Alltagswirklichkeit holt uns ein, denn sie zeigt dieses Bild eher selten: In Familien ist es (selbst in Lockdown-Zeiten) nicht leicht, ein gemeinsames Essen zwischen den Stundenplänen und Arbeitszeiten zu koordinieren. Oder überhaupt Blickkontakt mit den Kindern am aufzunehmen – es gibt da jede Menge »Konkurrenzveranstaltungen digitaler Art«. Gemeinsam zu essen, ist nicht selbstverständlich, wie ein kleiner Dialog zeigt: »Hast du nicht manchmal die Sehnsucht, alle an einen Tisch zu kriegen?« – »Schaff das mal, dass alle an einem Ort sind und sich alle o. k. fühlen!«1 Nach Informationen aus der Familienfürsorge gibt es in besonders belasteten Familien nur noch selten ein gemeinsames Essen am Tag. Es gibt immer mehr Familien, die nicht einmal mehr einen Esstisch haben oder für jedes Familienmitglied einen Stuhl.2 Dabei haben gemeinsame Tischrunden einen stabilisierenden und stärkenden Einfluss auf die Familie, was nicht nur von Therapeutinnen immer häufiger betont wird3: Essen hält Leib und Seele zusammen – und auch Menschen.

Auch im akademischen Miteinander ist es mit dem gemeinsamen Austausch nicht unbedingt leichter. Eher selten findet ein öffentlicher Dialog unter den Vertretern verschiedener Beratungsmodelle oder Therapieschulen statt – und so bleiben die Beratung-Studierenden mit einem Zusammenführen und Integrieren oft sich selbst überlassen. Und kochen am Ende ihr »eigenes Beratungssüppchen« (auch wenn das nicht schlecht schmecken muss).

Ich möchte die Vorstellung der Mahlzeit als Ausgangsbild für verschiedene Ebenen integrativer Beratung nutzen: Nicht nur bei Ratsuchenden, sondern auch bei Studierenden ist es mir wichtig, den Appetit anzuregen. Neugier und Wissensdurst sind kostbar (»kost-bar« – was für ein passendes Wort!) in einer Zeit, in der man beim Lernen eher den Eindruck hat, es gehe um ein »Säcke-Stopfen« statt um ein »Feuer-Entfachen«. Säcke stopfen belastet und erschöpft, aber ein Feuer, das zu brennen beginnt, hat »Hunger«: Es möchte neues Brennmaterial und transformiert es in Wärme und Licht.

Auch die Verdauung im menschlichen Körper transformiert etwas Fremdes in Eigenes. Das ist ein integrativer Prozess: Beim Essen, beim Verdauen wird etwas integriert. Und das Wunder geschieht, dass die Tomate, die man eben gegessen hat, nicht mehr als »Tomate« irgendwo herausschaut. Nein, wenn es gut geht, wird sie verdaut und in etwas Eigenes verwandelt: »Man ist, was man isst«, wie es der Volksmund ausdrückt.

Immer häufiger taucht in letzter Zeit in meiner Praxis oder an der Hochschule ein Wort auf, das jedoch wenig mit Appetit zusammengeht: Es ist das Wort »Druck«. Wer mit Appetit kam, dann aber immer mehr essen und unter Druck verinnerlichen muss, verliert den letzten Rest an Appetit unter diesen Bedingungen bald. Nicht nur für Studierende, sondern auch für Ratsuchende in meiner Praxis ist es mir daher ein persönliches Anliegen, dass nach einer Begegnung mehr Neugierde da ist als zuvor, dass Ratsuchende wissensdurstiger und wenn möglich mit mehr Appetit aus der Begegnung gehen. Und dass sie dabei ihren persönlichen »Geschmack« entwickeln, erweitern und vertiefen können.

Es gibt zwei lateinische Begriffe für Weisheit, einer davon, »sapientia« hat seinen Wortstamm im Verb »sapere«, abschmecken und verkosten. Und erinnert an den elementaren Zusammenhang zwischen Geschmacksorganen und Weisheit, »sapientia«. Der Mensch ist auch Mensch, weil er schmecken kann. Ich freue mich immer wieder an dem Begriff »homo sapiens« – Menschsein zeigt sich in diesem Probieren, »Kosten« und im Schmecken, Nachschmecken von Erfahrungen. Und damit darf man es als Beraterin zu tun haben.

»Nicht das Vielwissen sättigt die Seele und befriedigt sie, sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von innen her.« So hat es Ignatius von Loyola auf den Punkt gebracht. Verkosten hat mit Zeit zu tun – alle Prozesse, die nicht über denkerische Abkürzungen laufen, sondern erspürt werden wollen, brauchen Zeit. Die C-Fasern im Nervensystem, die für dieses Spüren nach innen notwendig sind, ähneln eher verschlungenen Waldwegen, auf denen man nicht mit 120 Kilometern pro Stunde unterwegs sein kann.4 Doch der Zeitaufwand wird durch die Zeitersparnis belohnt, wenn dann im Anschluss Entscheiden und Wählen leichter fällt, weil ich in besserem Kontakt mit mir bin. Oder wie es die Zwei-Prozess-Theorie5 unter dem Begriff »Synchronisation« beschreibt, in der das analytische Denken und der Verstand einerseits mit dem Unbewussten und der ganzheitlichen Intuition andererseits in Verbindung gebracht werden.

Wie wichtig dieses »Verkosten«, das Spüren und Wahrnehmen ist, drückt sich auch in der menschlichen Physiologie aus: 80 Prozent der Nervenbahnen führen mit sensorischen Informationen als afferente Bahnen zur Auswertung ins Gehirn – und nur 20 Prozent als efferente Bahnen vom Gehirn zurück in den Körper. Als Hochschullehrerin möchte man zwar nicht so weit gehen, ein »Sacrificium intellectum« zu vollziehen, wie es Ignatius vorgeschlagen hat, das heißt, dass es für Gott das größte Opfer ist, den Verstand zu opfern, um ihm näher sein zu können. Aber die Frage nach anderen Zugängen, auch körperlichen Zugängen zu Wissen und Weisheit, möchte gestellt werden. Und da tut es gut, in den Psalmen (Ps 34,8 und Ps 119,103) zu lesen, dass wir die Freundlichkeit des Herrn schmecken dürfen, dass es ein Stillen von Hunger6 und ein heilsames Sattwerden geben darf.

Der Grundgedanke dieses Buches lässt sich tatsächlich über das Bild eines gemeinsamen Mahls beschreiben, eine Tischrunde, in der verschiedene Blickwinkel ihren Beitrag teilen. Und das mit offenem Ausgang, denn Integration findet immer wieder neu und anders statt.

Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, Kollegen in diese Runde einzuladen, und auch zwei (mittlerweile absolvierte) Masterstudentinnen, deren Arbeiten ich begleiten durfte und deren Beiträge unser »Mahl« bereichern.

Mein Beitrag hier wird einige Besonderheiten der integrativen Beratung vorstellen, so wie sie sich die vergangenen Jahre an der Hochschule und in der Praxis entwickelt haben. Beginnen möchte ich mit dem Bild der Seele als einem »offenen Schnabel«, um ein Blickfenster in die jüdisch-christliche Anthropologie zu öffnen. Im nächsten Schritt geht es um die Haltung der Beraterin, die sich aus dem Verständnis der Seele als Ort der Bedürftigkeit entwickelt: Es geht um eine wertschätzende und wahrnehmende Haltung, um Erkennen und Anerkennen. Zuletzt soll ein Überblick auf die konkret ausgewählten Beratungsverfahren der integrativen Studienmodule im Sinne eines »Viergangmenüs« dieses Kapitel abschließen.

1 Der offene Schnabel oder Die Seele als Ort der Bedürftigkeit

Beim Durchschauen der wichtigsten psychologischen Modelle zu Bedürfnissen fällt auf, dass sie vor allem zu Beginn der Bedürfnisforschung von Psychologen jüdischer Herkunft stammen. Um nur einige von ihnen zu nennen: Abraham Maslows Bedürfnispyramide, Marshall B. Rosenbergs »Bedürfnisse«7 im Rahmen der gewaltfreien Kommunikation, Alfred Adlers »Strebungen« oder Albert Pessos Bedürfnismodell. Auf unterschiedliche Weise hatten diese Psychologen auch Bezug zu ihren jüdischen Hintergründen und dadurch eine implizite Verbindung zu deren Anthropologie. Ich möchte mir im Folgenden Zeit nehmen, das zu würdigen, denn möglicherweise ist es eine Besonderheit des jüdischchristlichen Menschenbilds und der westlichen Kultur, die uns so selbstverständlich geworden ist, dass sie uns gar nicht mehr bewusst ist. Wenn man nach Asien reist, werden die Unterschiede deutlicher, indem z. B. Bedürftigkeit aus buddhistischer Perspektive eher als Gier oder Anhaftung (eines der drei sogenannten »Geistesgifte«) bewertet wird: etwas, was es abzustreifen und abzulegen gilt.

Es ist daher nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheint, dass Bedürfnisse und auch ihre »Kinder«, die Primäremotionen, vor allem durch Paul Ekman (auch einem jüdischen Vertreter) erforscht, immer mehr in den Fokus gerückt sind. Die sogenannte »dritte Welle« in der Verhaltenstherapie und auch der Beitrag Klaus Grawes8 haben diesem Fokus in der therapeutischen Landschaft ab 1990 bis in die Gegenwart weiter wertvollen Vorschub geleistet.

Wenn wir dem Hintergrund und der Spur der jüdisch-christlichen Anthropologie weiter folgen wollen, so hat die Tatsache, dass Bedürftigkeit und Bedürfnisse besonders gewichtet wurden, möglicherweise mit dem Bedeutungsfeld des hebräischen Wortes für »Seele« zu tun. Nefesch ( ֥נפֶׁשֶ ) bedeutet nicht nur Seele, sondern auch Kehle. Das ist der körperliche Bereich, durch den der Atem ein- und ausfließt, das Wasser, die Nahrung, es ist der Ort meiner »Bedürftigkeit«.9

Abb. 1: Küken im Nest (© Pixabay/Tania Van den Berghen)

Ein Bild für solche »Orte der Bedürftigkeit« bietet der Blick in ein Vogelnest. Wer geschlüpfte Vögel von oben sehen kann, kann ihre Kehlen oft an einer Signalfarbe erkennen: Mit leuchtendem Rot oder Orange zeigen die kleinen Vögel, wo der Wurm hinsoll. Doch dieser Bereich der Kehle ist auch sehr verletzlich. Aus gutem Grund muss sie daher geschützt und auch verborgen werden.

Das hebräische Wort nefesch für Seele und Kehle taucht zum ersten Mal im Schöpfungsbericht auf, wo es in 1. Mose 2,7 heißt: »Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen [nefesh].«

Nefesch beginnt in der Verbindung von Erde und Gottes Atem. Die Erde (zu der wir ohne diesen Atem auch wieder zerfallen, da wir aus »Erde und Asche sind«) kommt in Kontakt mit Gottes Atem, auf Hebräisch ruach (רּוח), im griechischen pneuma (πνεῦμα), was nicht nur Atem, sondern auch Geist und Kraft bedeutet. Aus Erde und Atem wird etwas Drittes: die lebendige Seele.

Das Leib-Seele-Thema wird in der Philosophie als die »Grundfrage«, bei Schopenhauer sogar als »Weltknoten«, oft jedoch auch als »Scheinproblem« bezeichnet. In der Psychologie tauchte es dagegen kaum auf. Während meines Universitätsstudiums wurde der Begriff »Seele« – und noch viel mehr ein Bezug zum Atem – vermieden, da er als zu unwissenschaftlich erachtet wurde. Doch weil er auf einer wesentlichen Qualität von »Integration« und »Verbindung« hinweist, erlaube ich mir in diesem Beitrag folgende Frage: Wenn die Seele, wie es in 1. Mose heißt, durch den Kontakt zwischen Erde und Gottes Atem geworden ist, ist sie kein eigenes Element, sondern die Verbindung selbst?10 Denn in der Verbindung wurde die Seele »lebendig«. Die Vorstellung, dass es um Verbindung geht, wäre in meinen Augen der innerste Keimgedanke »integrativer« Beratung.

Zu Atem und Erde sind sich auch unterschiedliche Trauma- und Körpertherapeutinnen einig, bei dissoziativen Zuständen, also Momenten des »Nebensich-Stehens«, auf eben diese zwei Kontaktstellen hinzuweisen – um wieder »zu sich zu kommen«: »Denke an den Boden (die Erde) und an deine Atmung!«

Dieser Verbindungsgedanke zieht sich auch durch die Tradition christlicher Philosophinnen und Mystiker, die keine Scheu hatten, dieses »Geheimnis« zu studieren: Thomas von Aquin ordnete der Seele in seiner Lehre der »Anima forma corporis« eine Verbindungsklammer-Aufgabe zwischen Leib und Geist zu. Sie kann den Dualismus überbücken: »So ist der Mensch eine einzige (komposite) Substanz, obwohl er zugleich aus einer materiellen und einer geistigen Substanz zusammengesetzt« ist.«11

Eher bildhaft sprachen die Mystiker von der Seele: Meister Eckhart beschrieb das Seelenfünklein »Scintilla animae«12, das dort »funkt«, wo der Mensch ganz er selbst ist und gleichzeitig mit Gott in Berührung. Sein Zeitgenosse Johannes Tauler führte den Gedanken mit der Gottesgeburt in der Seele noch weiter aus: dass Gott in der Seele geboren werden will und im »Seelengrund« wohnt.13

Der Seelengrund ist – um ein kleines Wortspiel zu erlauben – ein ähnlich verborgener Ort, wie es der Grund eines Sees ist. Um zu den Bedürfnissen der Seele und Kehle zurückzukehren: Auch diese sind nicht offensichtlich, sondern liegen wie im »Schlund« verborgen und tief am »Grunde der Seele«. Der Grund ist schwierig einsehbar – Bedürfnisse sind uns keineswegs immer bewusst: »Sie können als Komponenten des Unbewussten wirksam sein, ohne dass dies bis in unser Bewusstsein vordringt.«14 Wenn wir im Bild eines Sees bleiben, dann sind es die Fische, die man noch eher als den Grund des Sees zu Gesicht bekommt. Das wunderbare Bilderbuch »Heute bin ich«15 zeigt unterschiedliche Emotionen als verschieden gestaltete und farbige Fische, die auf dunklem Grund schwimmen. Stumm wie Fische können sie nicht sprechen – und laden zum Rätselraten ein, welches Gefühl sie vermitteln möchten: Wie in einem »Vokabelheft« steht das Gefühl, das sich dem Bild zuordnen lässt, auf der anderen Seite.

So geht es bereits im Umgang mit Gefühlen ums »Entschlüsseln«: Sie sind nicht eindeutig, aber sie können Hinweise auf Bedürfnisse geben und schon hier braucht es Empathie. Mit dem vertieften Blick auf Bedürfnisse, wird auch der Schutz notwendiger. Denn wo ich bedürftig bin, bin ich auch verletzbar, doch auch nirgendswo anders erfahre ich so vieles über mich. »Zeige deine Wunde« ist der Titel eines Werkes von Joseph Beuys. Doch aus guten Gründen ist es sinnvoll, sie nicht jedem zu zeigen. Ratsuchende spüren oft intuitiv, wieviel Vertrauen sie in einer Begegnung riskieren können. Zu den eigenen tieferen Schwächen und »Dünnstellen« zu stehen, erfordert Vertrauen und Mut.

Warum ist die Frage nach den Bedürfnissen so wesentlich in der Beratung?

Weil sie zu Befriedigung führt. Menschen suchen Beratung auf, um Lösungen zu finden, die zufriedenstellender sind als ihre bisherigen. Unbefriedigte Bedürfnisse können fixieren und die Entwicklung blockieren, wie ein Stöcklein, das im Strudel hängen bleibt. Ein zufriedener Mensch dagegen kann »weiterfließen«, er kann die Wirklichkeit wieder anders wahrnehmen und Gelegenheiten erkennen, die ein bedürftiger Mensch aufgrund seiner Fixierung nicht sehen kann. Auch im Umgang mit Konflikten dient aufmerksames Hinsehen dem Frieden oft mehr als »guter Wille« und Energie: Einmal genauer hinzuschauen, führt eher zum Ziel, als mit 150 Kilometern pro Stunde und viel Power versehentlich die Autobahnausfahrt verpasst zu haben.

Außerdem rückt durch die Frage nach Bedürfnissen die Einzigartigkeit eines jeden Menschen in den Fokus. Wenn Menschen den Mut haben, sich selbst zu reflektieren und anzuerkennen, dass sie Bedürfnisse nicht »abgucken« können, sondern sie durch Auswerten eigener Befriedigungserlebnisse entdecken können, wird wertvolle Information über das ganz persönliche »Bedürfnisprofil« gesammelt. Für eine nachhaltige Zufriedenheit ist diese Selbstreflexion unersetzlich: Zufriedenheit lässt sich eben nicht durch Nachmachen oder Imitieren16 schaffen und das glückliche Gesicht einer anderen muss sich nicht mit dem eigenen Glückserleben decken. Über meinen individuellen Weg erfahre ich mehr, wenn ich im Sinne einer Evaluation in eigener Sache regelmäßig zurückschaue und mich frage: Was hat mich die vergangenen Tage tatsächlich zufrieden gemacht?

Der spirituelle Aspekt, der hier ins Spiel kommt, ist eine Dankbarkeit, die – an sich schon heilsam17 – eine Brücke und Rückbindung zu Gott öffnet. So wie es nicht nur die Aufgabe einer Vogelmutter ist, feinfühlig die Bedürfnisse ihres Kindes deuten zu lernen, so ist es die Aufgabe der Beratenden, sich den Ratsuchenden anzupassen – und nicht umgekehrt. Manche Ratsuchenden versuchen, möglichst »gute Klientinnen« zu sein und fragen sich: »Welches Problem muss ich hier haben, damit ich gesehen werde und Hilfe erfahre?« In einer Beratung dann zu erfahren, dass das Gegenüber die Beweglichkeit und Feinfühligkeit18 besitzt, eine Passform anzubieten, ist eine entscheidende Bestätigung.

Die Individualität zu würdigen war auch Milton H. Ericksons Anliegen, wenn er Psychotherapie so definiert19, dass sie der Einzigartigkeit der Bedürfnisse eines Individuums gerecht werde, statt den Menschen so zurechtzustutzen, dass er in das Prokrustesbett einer hypothetischen Theorie von menschlichem Verhalten passe. (Prokrustes, ein Riese aus der griechischen Mythologie, bot Reisenden ein Bett an. Wenn sie zu groß für das Bett waren, wurden ihre Füße abgehackt, waren sie zu klein, streckte er sie auf dem Amboss.) Das Herantasten und das Abstimmen geben der Klientin direkt oder indirekt Bestätigung und »Selbst-Sicherheit«. Die Beraterin vermittelt ihr, dass sie mit ihrem Bedürfnis nicht »falsch« liegt und sie es auch selbst noch bewusster (»selbst-bewusst«) vertreten kann. Das ist ein, wenn nicht sogar das wesentliche Anliegen integrativer Beratung.

Seelsorge und Beratung könnten an dieser Stelle einen unschätzbar wertvollen Beitrag leisten, wenn die Beratenden in geschütztem Rahmen ermutigen, dieser persönlichen inneren »Bedürfnisform« näherzukommen. Oft genug ist diese Form selbst – ungewollt – das »bestgehütete Geheimnis« der Ratsuchenden. Direkt nach den Bedürfnissen zu fragen, wird in der Beratung daher selten belohnt. In Kapitel 7 stellt Waltraud Belser einen Weg, ja einen »Kunstgriff« des Therapeuten Albert Pesso vor, der es auch ohne Gesichtsverluste erlaubt, mehr über die Bedürfnisse der Ratsuchenden zu erfahren. Pesso, selbst aus einer jüdisch-sephardischen Familie stammend, hat in seiner Arbeit jedoch keine spirituellen Bezüge hergestellt. Sein Form-Passform-Modell, wie es in Waltraud Belsers Artikel beschrieben wird, bezieht sich ausschließlich auf die horizontale Passung zwischen zwei Menschen wie z. B. einer Mutter mit ihrem Kind oder einer Beraterin mit ihrer Ratsuchenden. Ich stelle mir vor, dass die Urform der Passung zwischen Mensch und Mensch in der Beziehung zwischen Mensch und Gott liegt, und habe mir erlaubt, das Form-Passform-Modell in die Vertikale zu drehen: So wie der Mensch als Erdenkloß in Gottes Hand geformt wurde, in seine Hand passt und »Seele« wird, so kann er in Gott sein idealstes »Antidot« (Gegengift) finden und in Frieden kommen.

Abb. 2: Albert Pessos Form-Passform-Modell (eigene Darstellung)

An dieser Stelle möchte ich diese Verbindung mit einem Bild aus dem Neuen Testament vertiefen. Jesus vergleicht sich im Johannesevangelium mit einem Weinstock und seine Jünger mit Weinreben und beschreibt eine ganz innige Verbindung: »Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.« (Joh 15,5) Nur die Weinreben, die mit dem Weinstock verbunden sind, bekommen von dort über die tiefen Wurzeln Nährstoffe und Wasser, um Früchte zu entwickeln. Wenn die Kontaktstelle zwischen Rebe und Weinstock zu schwach zusammengewachsen ist, ist das nicht möglich. Damit eine tiefe Verbindung entsteht, muss beim Pfropfen die Schnittstelle der Weinrebe, die aufgepfropft wird, offen sein. Diese Offenheit bedeutet jedoch auch Verletzbarkeit und Verwundbarkeit: Der Wundsaft, der beim Zuschneiden der Rebe austritt und in der Botanik und auch in der Medizin bei Knochenbrüchen »Kallus« genannt wird, verbindet die Weinrebe und den Weinstock miteinander und dient als »Klebstoff«. Die Wunde (!) wird zur Kontaktstelle, ohne Wunde gibt es keinen Kontakt.

Im Remstal, einer schwäbischen Weingegend hat Eugen Wahler ein Patent für die sogenannte »Omega-Propfung« entwickelt, um Weinrebe und Weinstock stabil zu verbinden: Bei beiden wird die Form des griechischen Buchstaben »Ω« (Omega) eingestanzt, wodurch sie dann wie ein Puzzlestück ineinander geschoben werden können. Diese Verbindung ist umfassender und »inniger« als es z. B. eine V-Stanzung wäre, da es mehr Kontaktmöglichkeit gibt. Sie versinnbildlicht in besonderer Weise das Wort von Jesus: »in mir bleiben und ich in ihm«.

Abb. 3: Pfropfstelle als Verbindung zwischen Weinstock und Weinrebe (© Eva Maria Jäger)

Die beiden Kontaktstellen können derart zusammenwachsen, dass man später die Schnittstelle kaum mehr sieht.

Die Rebe bekommt über den Weinstock die Verbindung zum Grundwasser: Der Weinstock gehört im Pflanzenreich zu den Pflanzen mit sehr tiefen, bis zu 30 Meter langen Wurzeln. Wenn man in den vergangenen, trockenen Sommern durch Deutschland gefahren ist, bot sich vielerorts ein überwiegend gelbes und braunes Bild. Doch bei Würzburg erschien die Landschaft überraschend frisch: Es waren die Weinberge, die trotz der Hitze und Trockenheit saftig grün leuchteten, weil sie eine Verbindung zum Grundwasser hatten.

Während die Omega-Propfung eine mechanische Methode ist, die jede Rebe in derselben Form einstanzt, geht es in der Begegnung mit Jesus um eine ganz individuelle Form, die in jedem Fall anders geartet ist. Der Mensch ist eingeladen, Gottes Gegenüber zu werden. In dieser Beziehung kann er wachsen, den »Blick zurückgeben« und eines Tages »endlich den treffen, der mich immer schon gesehen hat«20. Oder wie Augustinus formulierte: »Videntem videre« – den Sehenden sehen. Gott meint mein Wesen.

»Die Einheit ist die Einheit von zweien – und darin liegt die Seligkeit […]. Das ICH ist für jede Beziehung unerlässlich. Die, die sich aufeinander beziehen, bleiben erhalten. Wenn es ein Liebesverhältnis ist und wenn es schon so etwas wie eine Berührung gibt, dann wäre es widersinnig, wenn das, was ich liebe, mich auflöst und auslöscht.«21

Und so ist es einer der Kerngedanken christlich-jüdischer Anthropologie, dass Gott in den Dialog tritt. Und dass dort die Idee der Grundbeziehung entstehen kann, aus der auch Beratung zwischen Menschen schöpft.

Exkurs: Reifungsparcours

Es geht um Bedürfnisse. Doch es geht nicht darum, sie unbedingt zu erfüllen. Nur in wenigen Fällen ist eine zeitnahe Erfüllung möglich. Doch Wegschieben ist auch keine wachstumsförderliche Option. Reifungs- und Integrationswege sind nicht »Entweder-oder«-, sondern »Sowohl-als-auch«-Wege. Was bedeutet das für den Umgang mit Bedürfnissen?

Es bedeutet, ein Bedürfnis als Teil von sich sowohl wahrzunehmen als auch zu akzeptieren, dass die äußere Wirklichkeit im Augenblick keine Befriedigung gibt. Entlang dieses Wahrnehmens und Tröstens, entlang dieses Sowohl-als-auch verläuft die geistliche Wachstumslinie, die auch Bonhoeffer beschrieb: »Es gibt ein erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche«.22

Praktisch könnte es heißen, anzuerkennen, dass ich gerade richtig »Heimweh« habe, auch wenn ich nicht gleich »heimfahren« kann: »Ja, ich habe gerade Heimweh, das mich richtig fertig macht – ich spüre es, obwohl ich es gerade nicht stillen kann.« Oder wahrzunehmen, dass ich eine Sexualität habe, auch wenn ich sie im Augenblick nicht so leben kann, wie ich es mir erträume. Sich die Zeit zu nehmen, das Bedürfnis noch mehr wahrzunehmen und Information über mich zu bekommen: »Nach was habe ich Heimweh? Was genau fehlt mir? Welche Sehnsucht meldet sich da?« Oder: »In welcher Weise merke ich, dass ich ein sexueller Mensch bin? Wo merke ich das in mir – an welchen Körperempfindungen, an welcher Stimmung? Und was hat es ausgelöst?«

Die Wachstumslinie, um als Persönlichkeit zu reifen, ist also, einen liebevollen Blick auf die eigene Bedürfnissituation zu richten und das Bedürfnis als ein eigenes Thema ernst zu nehmen, auch wenn ich es nicht »weg-stillen« kann. Erstaunlicher- weise kann allein das Wahrnehmen eines Bedürfnisses schon be-friedigend sein in dem Sinne, dass es einen entscheidenden Unterschied macht, ob ein Bedürfnis von mir »gesehen« wurde oder ungesehen weg-gefegt wird. Manche Bedürfnisse verwandeln sich auch. In jedem Fall bekomme ich mehr Informationen über mich und meine aktuelle Bedürfnissituation. Damit bin ich nicht mehr so angewiesen auf »Bedürfnisideenvorschläge« der Außenwelt oder der Medien, nach dem Motto: Sowas muss ich haben, damit ich zufrieden werde.

Ich kann mir Alternativen überlegen, die mich wieder handlungsfähig machen. Wenn ich z. B. beim Heimweh die Wiesen und den Wald vermisse, dann könnte es helfen, auch hier vor Ort mehr in der Natur wandern zu gehen. Wenn es der Hefezopf der Oma ist, kann ich Hefe und Mehl einkaufen und selbst backen usw.

Das Anerkennen von Bedürfnissen ist eine »Spezialität« des jüdisch-christlichen Menschenbildes, das sich Bedürfnissen gegenüber sehr positiv ausrichtet: Dieses Hinschauen – selbst wenn ich unter Umständen das Bedürfnis nicht gleich stillen kann – ist wichtiger, als man es im ersten Moment meinen könnte: Es ist die Grundlage allen Trostes.

Es kann sein, dass eine Mutter auf der Flucht zu ihrem Kind sagen muss: »Ich sehe, dass du weinst, weil du schon so lange auf den Beinen sein musst und müde bist und es gern warm hättest. Ist es so? Und ich habe gerade kein Plätzchen für dich zum Schlafen – aber ich sehe dich und deinen Wunsch!« So kommt Trost in die Beziehung, obwohl das Bedürfnis nicht gestillt ist.

2 Die anerkennende Haltungoder»Warm gucken«

Es kann »verräterisch« sein, Beratungsvorgänge zu beschreiben. Je nach Wortwahl kann man schnell einem bestimmten Beratungsansatz oder therapeutischen Verfahren zugeordnet werden. Ob ich das Wort »konstruieren« oder »projizieren« wähle, deutet bereits meinen Hintergrund an, sei es nun ein systemischer oder psychoanalytischer. Ob ich von einem »Täter-Introjekt«23 spreche oder von »destruktiv wirkenden Ego-States« oder »bewältigenden, traumakompensatorischen Ego-States«24 macht bereits einen Unterschied.

Beim Entwickeln der integrativen Beratung wollte ich jedoch die Festlegung auf ein spezielles Paradigma durch die Wortwahl vermeiden. Spreche ich zum Beispiel von »Aufmerksamkeit« oder von »Achtsamkeit« sind sofort unterschiedliche anthropologische »Schubladen« im Spiel. Carl Rogers’ Begriffe der »Empathie, Echtheit und Wertschätzung« sind in Zusammenhang mit der Grundhaltung von Beratenden auch bereits zu sprachlichen »Grundfesten« geworden. Offener ist die Formulierung von Rosenberg, der in der gewaltfreien Kommunikation schlicht von »Beobachten« spricht.25 Auch »Wahrnehmung« ist ein unbesetztes Wort.

Es geht mir darum, Beratende zu ermutigen, eine Sprache zu sprechen, die sich aus dem eigenen Mund nicht zu fremd anhört, und von Fall zu Fall neue »Wortfelder« zu suchen. Und so erlaube ich mir im Folgenden, die Frage zu stellen, wie die beraterische Grundhaltung einer integrativen Beratung beschrieben werden könnte und was sie nährt.

Ich möchte zwei innere Haltungsformen einladen: das Erkennen und das Anerkennen. In einem Wort oder Wortspiel zusammengefasst geht es um ein »An-Erkennungs-Paar«.

Oder, um doch einen aktuelleren Fachjargon zu bedienen: Achtsamkeit26 in Verbindung mit Mitgefühl, Awareness und Compassion. Eines ohne das andere wäre nicht hilfreich: »Üben von Achtsamkeit ohne Mitgefühl führt in kalte Gefühllosigkeit.«27 Achtsamkeit lässt klarer sehen, doch Mitgefühl öffnet das Herz, gerade für Schmerzhaftes und Unangenehmes.28 Man könnte daher auch von einer »Achtsamkeit des Herzens« sprechen.29

Andere Begriffe für diese heilsame Kombination können auch sein: »freundlich forschen«, »neugierig zuwenden«. In ihrem Buch über Selbstmitgefühl schreibt Kristin Neff, dass es darum gehe, »allem, was auftaucht, mit interessierter Neugier und Freundlichkeit zu begegnen«30.

Als ich von einer Schwäbin gefragt wurde, was mein Hauptinteresse beim Vermitteln integrativer Beratung sei und ob sie das überhaupt verstehen könnte, meinte ich: Es geht ums »Warm gucken« – wenn jemand nicht nur gucken kann, sondern auch noch warm gucken kann.

Eine Klientin ist bei mir wegen »Ausrastern« im Umgang mit ihrem zweijährigen Sohn, die ihr leidtun, die sie aber nicht »in den Griff bekommt«. Sie resümiert: »Was mir die ganzen letzten Jahre nicht geholfen hat, ja, was es verschlimmert hat, war mein Blick, mein eigener Blick auf mich selbst!« Sie möchte eine andere Blick-Qualität31 auf sich selbst entwickeln. Wie kann ihr »zusammen mit ihr« geholfen werden?32

Wie auch immer wir diese Blick-Qualitäten nennen wollen: Es geht darum, durch das Angebot des Beraters von außen, durch seine Haltung, die wie ein Modell anregen und ermutigen kann, eine innere Beobachterin33 in der Klientin zu fördern, die sie auch bei sich hat, wenn sie allein unterwegs ist. Also ein »24/7«- – 24 Stunden und 7 Tage die Woche – Coach. Um in der Beratung dieses wertvolle »An-Erkennungs-Paar« in den Ratsuchenden nachhaltig zu stärken, sollte es auch im inneren Team des Beraters präsent sein. Es geht um Integrität oder Kongruenz im Sinne von: »Man kann Ratsuchenden keine Haltung vermitteln, die nicht auch im eigenen Leben entwickelt wird.« Deshalb geht es in der Ausbildung zur Beratung um die eigene Haltung. Ich schlage für diese innere Haltung die beiden folgenden Entwicklungsfelder vor:

–Erkennen:

• Wahrnehmen entwickeln

• oder das, was in der Verhaltenstherapie mit einer strukturierten SORKC-Analyse als Beobachtungshilfe geübt wird34,

• oder das, was Rosenberg »Beobachten« nennt,

• oder »Achtsamkeit« als »die höchste Form menschlicher Intelligenz, zu beobachten, ohne zu bewerten«35.

Durch den Austausch von Beobachtungen und Perspektiven verschiedener Menschen ergibt sich dort, wo Schnittmengen sind, eine »gemeinsame Wirklichkeit«, die für Beratungsgespräche jedweder Art einen wertvollen Ausgangspunkt anbietet. Ein Vorbild für unbestechliche Wahrnehmung dieser Art könnte das Kind sein, das im Märchen von des »Kaisers neuen Kleidern« sieht, dass er »ja gar nichts anhat« – eine Wahrnehmung, in der sich auch nach und nach alle Beteiligten wiederfinden.

–Anerkennen:

• Wertschätzen entwickeln,

• oder das, was Barmherzigkeit in der Bibel meint,

• oder Mitgefühl (Compassion)36, wie es in der Meditationstradition eingeübt wird,

• oder Umdeutung und Reframing von bisher ent- und abgewerteten Aspekten,

• oder eben »Anerkennen« und Wärme.