Internat der bösen Tiere, Band 1: Die Prüfung - Gina Mayer - E-Book

Internat der bösen Tiere, Band 1: Die Prüfung E-Book

Gina Mayer

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Beschreibung

Bist du gefährlich genug für diese Schule? Noëls Vergangenheit: ein einziges Rätsel. Seine Gegenwart: eine absolute Katastrophe. Seine Zukunft: ein Abenteuer, das ihn das Leben kosten könnte. Als Noël auch noch von der Schule fliegen soll, scheint sein Pech perfekt zu sein. Doch dann kreuzen ein paar böse Tiere seinen Weg, um ihn zu einem sagenhaften Internat zu bringen … Entdecke alle Abenteuer im "Internat der bösen Tiere": Band 1: Die Prüfung Band 2: Die Falle Band 3: Die Reise Band 4: Der Verrat Band 5: Die Schamanin Band 6: Die Entscheidung

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag GmbHPostfach 2460, 88194 Ravensburg© 2020 Ravensburger VerlagText © Gina MayerVermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, BerlinCover- und Innenillustrationen: Clara VathAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durchRavensburger Verlag GmbHISBN 978-3-473-47990-0www.ravensburger.de

Prolog

„Nox hier“, knurrte eine tiefe Stimme.

Mrs Moas Körper schnellte hoch, fast wäre sie mit dem Kopf gegen die Bürodecke gestoßen. Endlich. Der Anruf, auf den sie so lange gewartet hatte.

„Was gibt es, Nox?“, fragte sie aufgeregt.

„Wir haben ihn.“

Die Schuldirektorin stieß ein erleichtertes Zischen aus. Sie war kurz davor gewesen, die Hoffnung aufzugeben, dass sie den Jungen jemals wiederfinden würden. Nach dem Vorfall in den Bergen war Noël spurlos verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Die Späher hatten monatelang vergeblich nach ihm gesucht.

„Wo ist er?“, fragte sie.

„Immer noch in Deutschland“, erwiderte Nox knapp. „Gar nicht so weit weg von dem Ort, an dem wir ihn im Winter entdeckt haben.“

„Was ist mit Uko?“

„Keine Spur von ihm.“

„Das hat nichts zu bedeuten. Uko ist gerissen.“

„Wir wissen, dass er gerissen ist“, bellte Nox. „Wir sind schließlich keine Anfänger!“

„Das hätte man beim letzten Mal durchaus vermuten können“, entgegnete Mrs Moa spitz. „Ihr habt Uko direkt zu ihm geführt. Er hätte ihn fast umgebracht.“

Der Anrufer schwieg einen Moment lang. „Diesmal ist alles sicher“, erklärte er dann leicht verdrossen. „Wir waren extrem vorsichtig, das garantier ich Ihnen.“ Er räusperte sich. „Wie gehen wir denn jetzt vor?“

„Organisieren Sie den Transport“, zischelte die Schuldirektorin. „Und informieren Sie die Wächter. Es gilt jetzt die allerhöchste Alarmstufe, daran muss ich Sie nicht erinnern, oder? Noël muss um jeden Preis sicher hier ankommen.“ Sie dehnte ihren schuppigen Leib. „Kein Risiko, hören Sie, Nox?“

„Was ist schon ohne Risiko?“, fragte Nox zurück.

„Sie wissen genau, was ich meine“, sagte Mrs Moa. „So was wie damals in den Bergen darf auf gar keinen Fall noch einmal passieren.“

„Mit dem Einsatz hatte ich nichts zu tun“, brummte Nox. „Das hat Hora verbockt. Aber diesmal haben wir alles richtig gemacht. Es läuft. Keine Sorge.“

Keine Sorge, dachte Mrs Moa. Wenn die Sache nicht so ernst gewesen wäre, hätte sie laut gelacht.

Nox hatte jedoch recht. Nichts war ohne Risiko.

Die ganze Schule war ein Risiko.

Aber sie mussten es eingehen.

Immerhin stand die Welt auf dem Spiel.

„Siehst du, da drüben?“ Bens Stimme war so leise, dass Noël ihn kaum verstand. „Das Fenster neben dem Lehrerzimmer ist auf. Die Luschen haben nicht gemerkt, dass wir es geöffnet haben.“

„Und?“, fragte Noël. „Was bringt uns das jetzt?“

Ben boxte ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. „Mann, ey! Wir können da einsteigen!“

„Wieso sollten wir das machen?“, fragte Noël. „Reicht doch, dass wir tagsüber in der Schule abhängen. Ich muss nicht auch noch nachts rein.“

„Alter, denk doch mal nach. Wir gehen ins Lehrerzimmer. Das Türschloss ist kein Problem, das krieg ich geknackt. Nächste Woche schreiben wir Mathe und Physik. Vielleicht finden wir ja die Aufgabenzettel. Oder besser noch: die Lösungen.“

„Vergiss es“, sagte Noël. „Ich hab schon eine Verwarnung. Wenn die uns erwischen, flieg ich von der Schule.“

„Wer soll uns denn erwischen?“ Ben breitete die Arme aus und drehte sich einmal um die eigene Achse. „Die Schule ist leer, da ist niemand. Und wenn einer kommt, hauen wir einfach ab.“

Noël schüttelte den Kopf. „Echt nicht.“

„Komm schon“, sagte Ben. „Ich steh in Mathe und Physik auf fünf, wenn wir die Arbeiten finden, rettet mir das den Arsch.“

Bevor Noël etwas entgegnen konnte, fiel plötzlich ein kleiner Ball vom Himmel und landete direkt vor seinen Füßen. Unwillkürlich bückte er sich danach, hob ihn auf und betrachtete ihn im Licht der Laterne, die am Rand des Schulhofs stand.

Es war ein Wollball, grau und weich, aber aus dem zarten Gewebe ragte etwas Hartes, Weißes.

Noël zog daran und löste einen kleinen Knochen heraus. Irritiert musterte er ihn. Und dann sah er den langen dünnen Mäuseschwanz, der ebenfalls aus dem Gewölle hing.

„Was ist das denn Ekelhaftes?“, fragte Ben.

Noël ließ das Knäuel fallen und starrte nach oben, in die Dunkelheit, aus der der Ball gekommen war. Er zuckte erschrocken zusammen, als er die gelben Augen sah. Auf der Regenrinne der Schule saß ein großer Vogel und starrte zu Noël herab. Trotz der schlechten Beleuchtung erkannte Noël ihn sofort wieder. Der spitze, gebogene Schnabel, die Federohren, die vom Kopf abstanden, das runde Gesicht – kein Zweifel, es war die Eule aus dem Skilager.

Der Vogel hatte den haarigen Ball zu ihm heruntergeworfen. Ein Gewölle aus Federn, Fell und Knochen, das er aus seinem Magen hervorgewürgt hatte.

Die gelben Augen schienen Noël zu durchbohren. Er hätte gerne den Kopf gesenkt, aber er schaffte es nicht, den Blick von dem Vogel abzuwenden. Und plötzlich hatte er die Stimme wieder im Kopf.

„Nooo-eeeel“, krächzte sie.

Der Vogel hatte seinen Schnabel nicht bewegt, dennoch war sich Noël ganz sicher, dass es seine Stimme war.

„Hau ab!“, sagte er leise.

„Hä?“, fragte Ben.

„Nicht du“, sagte Noël.

„Ist da was?“ Ben schaute jetzt ebenfalls nach oben, aber er stand direkt unter der Dachrinne, er konnte den Vogel nicht sehen.

„Nichts.“ Noël nahm seine ganze Willenskraft zusammen und riss den Blick von der Eule los.

„Es ist so weit, Noël“, flüsterte die Stimme.

„Was ist jetzt?“, erkundigte sich Ben gleichzeitig.

„Ich weiß nicht“, entgegnete Noël. Auch wenn er nicht nach oben sah, spürte er den messerscharfen Blick der Eule.

„Aber ich“, sagte Ben. „Ohne dich schaff ich das nicht, du musst mir helfen. Ich hab auch was gut bei dir.“

„Es geht in wenigen Tagen los“, flüsterte die Stimme. „Halt dich bereit.“

Was zum Teufel sollte das? Diesmal sprach Noël die Frage nicht aus. Er wollte nichts mehr hören. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, aber das war sinnlos, die Stimme war ja in seinem Kopf.

„Geh jetzt nach Hause, Noël“, raunte die Stimme.

Lass mich in Ruhe, dachte Noël. Verschwinde endlich! Er hob einen großen Kiesel vom Boden auf und schleuderte ihn in Richtung Dach. Der Stein knallte gegen die Regenrinne und schlug direkt neben Ben auf dem Boden auf, der erschrocken zur Seite sprang.

„Bist du bekloppt?“, zischte er.

„Geh nach Hause“, hörte Noël die Stimme erneut flüstern.

Als er den Kopf hob, sah er, wie die Eule ihre riesigen Schwingen ausbreitete und lautlos durch die Dunkelheit davonschwebte. Noël blickte ihr mit einer Mischung aus Erleichterung und Unbehagen nach.

„Also gut“, sagte er dann. „Ich komm mit.“

Ben kletterte voran und Noël folgte ihm. Als er im Flur vor dem Lehrerzimmer vom Fensterbrett sprang, sah er Lennart. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und lächelte.

Noël reagierte sofort, er drehte sich um und wollte zurück nach draußen, aber bevor er fliehen konnte, hatten Ben und Lennart ihn gepackt. Jetzt zerrten sie ihn den Flur entlang.

„Seid ihr bescheuert? Was soll das?“ Noël versuchte, um sich zu treten, aber er hatte keine Chance.

Sie waren zu zweit und er war allein.

Ben riss die Tür zum Chemielabor auf, Lennart stieß Noël hinein und dann knallten sie die Tür zu und schlossen ab.

„Schönen Gruß an Sandrine!“, hörte Noël Ben noch rufen, dann entfernten sich ihre Schritte.

„Kommt zurück, verdammt!“ Noël trommelte mit den Fäusten gegen die Tür. Dabei wusste er ganz genau, dass es sinnlos war. Die beiden würden nicht mehr umkehren.

Der Chemieraum lag im Erdgeschoss, aber natürlich waren die Fenster abgeschlossen. Noël saß fest. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und ließ sich in die Hocke gleiten.

Wenn er nur auf die Eule gehört hätte. Oder auf sein eigenes Gefühl. Er hatte doch geahnt, dass Ben etwas Mieses plante. Dennoch hatte er sich von ihm aufs Kreuz legen lassen.

„Wir sollten mal wieder was zusammen machen“, hatte Ben heute Morgen in der Pause zu Noël gesagt. „Hast du Bock?“

Noël hatte keinen Bock. Früher waren er und Ben befreundet gewesen, aber seit Lennart in ihre Klasse ging und Ben und er ständig zusammen abhingen, hatte er sich total verändert. Noël konnte nichts mehr mit ihm anfangen. Doch nach der Sache mit Sandrine hatte er das Gefühl, dass er ihm was schuldig war. Also hatte er zugesagt.

Er war am Abend zu ihm gegangen, sie hatten ein bisschen gezockt und als es dunkel wurde, hatte Ben Noël überredet, mit ihm zur Schule zu gehen.

„Ich hab eine total krasse Idee, was wir da machen können“, hatte er gesagt. „Dauert auch nicht lange.“

Wie Ben und Lennart wohl an den Schlüssel zum Chemieraum gekommen waren?

Ist ja auch egal, dachte Noël. Er saß hier fest und musste raus. Das war alles, was zählte.

Er musste diese verdammten Fenster aufbekommen. Ob Lennart und Ben die Schlüssel abgezogen und mitgenommen hatten? Eher unwahrscheinlich, dachte Noël. Sie waren irgendwo hier im Raum. Und er würde sie finden.

Dazu brauchte er allerdings Licht. Aber wenn er die Deckenbeleuchtung anschaltete, konnte man das in den Wohnhäusern hinter dem Schulhof sehen. Was, wenn sich einer der Nachbarn über den nächtlichen Besucher wunderte und die Polizei rief?

Bloß das nicht. Nach dem Vorfall im Skilager war Noël angezählt, wenn jetzt noch irgendwas passierte, flog er von der Schule.

Auf dem Labortisch stand ein Bunsenbrenner, der war fast so gut wie eine Taschenlampe. Vorausgesetzt, man hatte Feuer.

Herr Meuser, ihr Chemielehrer, schmiss das Feuerzeug immer in die Schublade darunter. Noël zog sie auf und tastete darin herum. Bingo!

Er steckte den Gasschlauch in den Anschluss an der Wand, drehte den Hahn auf und öffnete dann das Ventil des Brenners. Als er das Feuerzeug darüber hielt, loderte eine blaugelbe Stichflamme auf. Er drehte das Ventil nach unten. Die Flamme wurde kleiner. Perfekt. Jetzt musste er nur noch die Schlüssel finden.

Noël öffnete den Schubladenschrank neben dem Fenster. Im obersten Fach waren Stifte und Notizzettel. Er schob es wieder zu und widmete sich dem Fach darunter.

Im selben Moment ließ ihn ein dumpfer Schlag gegen die Fensterscheibe zusammenfahren. Draußen auf dem Fenstersims, nur einen halben Meter von ihm entfernt, saß die Eule und starrte aus gelben Augen zu ihm herein.

Vor Schreck machte Noël einen Satz nach hinten. Dabei stieß er den Bunsenbrenner um. Er fiel vom Tisch direkt in den Papierkorb, der sofort in Flammen stand. Und noch bevor Noël reagieren konnte, sprang das Feuer auf die Vorhänge über.

Es fraß sich durch den Stoff, wanderte zu den Regalen und fiel über die Bücher her, die dort standen. Zwei Minuten später stand alles um ihn herum in Flammen.

Qualm füllte das Zimmer. Er stach in Noëls Augen, drang ihm in Mund und Nase und kroch bis in seine Lunge.

Hustend wich er zurück zur Tür, überlegte einen Moment lang, ob er dagegentreten sollte, aber dann sparte er sich die Mühe. Die Tür kriegte er so nicht auf. Und Ben und Lennart waren mit Sicherheit abgehauen.

Sein Blick schoss durch den Raum, in dem es nun nicht mehr dunkel war, die Flammen tauchten alles in ein flackerndes orangerotes Höllenlicht. Die Bücherregale loderten hell. Bald wäre das Papier verbrannt, aber das Feuer war hungrig, es züngelte, knisterte, knackte, es wollte mehr.

Der Qualm brannte in seinen Augen. Er zwang sich, sie offen zu halten.

Das Waschbecken neben dem Lehrerpult. Vielleicht war das seine Rettung. Um es zu erreichen, musste er an dem brennenden Regal vorbei. Noël hielt die Luft an und rannte mit geducktem Kopf durch das Zimmer. Spürte die sengende Hitze in seinem Gesicht.

Im Flur ging endlich der Feueralarm los – ein schrilles, durchdringendes Heulen. In Filmen plätscherte jetzt immer Wasser von der Decke, aber in der Schule gab es offensichtlich keine Löschanlage. Hoffentlich war die Sirene wenigstens direkt mit der Feuerwehr verbunden. Aber bis die Löschwagen hier einträfen, wäre es zu spät für Noël.

Er hatte nun das Waschbecken erreicht und wollte den Hahn aufdrehen. Doch als seine Hand das Metall berührte, zog er sie mit einem Aufschrei wieder zurück. Es war glühend heiß.

Er riss das Handtuch vom Haken an der Wand und wickelte es um seine rechte Hand. So drehte er das Wasser auf. Zischend schoss es aus dem Hahn und durchtränkte das Tuch, das er unter den Strahl hielt.

Gleichzeitig bemerkte er die Flammenspur, die an der Wand entlangkroch, auf den hohen Metallspind zu, in dem die Lehrer die Chemikalien aufbewahrten. Noël hatte keine Ahnung, was genau darin gelagert wurde. Aber wenn der Schrank Feuer fing, flog alles in die Luft, das war ihm klar.

Er presste sich das nasse Handtuch vor Mund und Nase und rannte los. In die Flammen hinein, auf den einzigen Ausweg zu, der sich ihm bot. Das abgeschlossene Fenster.

Noël ließ das Tuch fallen, ballte die Hand zur Faust und stieß sie mit aller Kraft in die Scheibe. Er fühlte den Schmerz nicht, als das Glas unter dem Aufprall zersplitterte. Hastig vergrößerte er das Loch, indem er die Scherben zur Seite stieß. Einige scharfe Splitter bohrten sich in seine Haut, auch davon spürte er nichts.

Durch die Öffnung strömte kühle Nachtluft in den Raum, Nahrung für das Feuer, das begeistert aufbrüllte.

Noël sprang aufs Fensterbrett und hechtete nach draußen.

Im selben Moment explodierte hinter ihm der Chemieschrank.

Als Noël sich über den Pausenhof schleppte, bog mit flackerndem Blaulicht ein Feuerwehrwagen in den Schulhof ein. Das Martinshorn gellte durch die Nacht. Zwei weitere Löschwagen schossen ebenfalls auf das Schulgelände und kamen vor dem brennenden Seitenflügel zum Stehen. Aus dem kaputten Fenster des Chemielabors schlugen riesige Flammen, weißer Rauch stieg in den dunklen Himmel.

Noël hatte inzwischen die Büsche vor der Turnhalle erreicht. Erst jetzt fiel ihm die Eule wieder ein. Trotz seiner Panik blickte er sich nach ihr um. Sie war nirgends zu sehen. Aber das musste nichts bedeuten, es war schließlich Nacht. Der Vogel konnte sich überall verstecken. Vielleicht war er ganz in seiner Nähe, hockte dort oben in den Zweigen der Büsche oder auf dem Turnhallendach.

Ich sollte verschwinden, dachte Noël.

Aber es ging nicht.

Er hatte das Gefühl, dass sein ganzer Körper in Flammen stand. Ihm war furchtbar schwindlig und er bekam keine Luft. Im Schatten der Büsche ging er hustend in die Knie, dann sackte er zu Boden.

Seine rechte Hand blutete und auch sein rechtes Hosenbein war schwarz verfärbt vom Blut. Beim Sprung aus dem Fenster musste er sich den Oberschenkel aufgerissen haben.

Seine Handflächen fühlten sich an, als ob er sie auf eine heiße Herdplatte gelegt hätte. Er presste sie gegen das kalte, feuchte Gras unter ihm und ließ den Kopf nach hinten sinken.

Dieser Druck in seinem Schädel, dieses Dröhnen und Hämmern und Brennen, das war das Schlimmste. Als ob sein Gehirn kurz vorm Schmelzen wäre.

Die Martinshörner waren verstummt, die Feuerwehrleute hatten ihre Schläuche angeschlossen und versuchten zu retten, was zu retten war.

Noël spähte in die Dunkelheit über ihm. Von der Eule fehlte jede Spur. Vielleicht existierte sie gar nicht und Noël hatte sie sich nur eingebildet.

Ich muss hier weg, dachte er wieder. Aber er wusste genau, dass er nicht aufstehen konnte. Der Schwindel, die Kopfschmerzen, die höllischen Schmerzen. Er musste sich ausruhen, wenigstens ein paar Minuten lang.

Noël sog die kühle, frische Nachtluft ein und dachte an Ben. Der offensichtlich die ganze Zeit vorgehabt hatte, sich an Noël zu rächen. Und Lennart hatte ihm geholfen, weil es ihm Spaß machte, andere zu quälen. Wahrscheinlich war die fiese Aktion sogar auf seinem Mist gewachsen.

Schönen Gruß an Sandrine.

Sandrine war eine Klasse unter ihnen, sie war blond und hatte niedliche Sommersprossen und grüne Augen. Ben war seit einem halben Jahr total verknallt in sie, er hatte alles versucht, um an sie ranzukommen. Leider wollte Sandrine nichts von Ben wissen, Sandrine interessierte sich nur für Noël.

Noël fand Sandrine nett, aber mehr auch nicht. Er hätte niemals was mit ihr angefangen, allein schon wegen Ben. Doch dann kam Bens Geburtstagsparty, zu der Sandrine natürlich eingeladen war. Den ganzen Abend lang war Ben hinter Sandrine hergelaufen und Sandrine hinter Noël. Irgendwann war es Noël zu blöd geworden, er beschloss abzuhauen.

Das schmale Gästezimmer neben der Tür diente als Garderobe. Noël hatte seine Jacke gerade aus einem riesigen Klamottenstapel befreit und wollte sie anziehen, als Sandrine in den Raum trat.

„Hi!“, sagte sie und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür.

„Hi“, sagte Noël. „Oder eher: tschau. Ich verschwinde jetzt.“

„Sicher?“, flüsterte Sandrine. Ihre grünen Augen schimmerten.

„Ja.“ Noël griff nach der Türklinke, aber Sandrine machte keine Anstalten, zur Seite zu treten. Im Gegenteil, jetzt schob sie sich direkt vor Noël. Sie war ein ganzes Stück kleiner als er. Ihre blonden Haare rochen nach Apfel-Shampoo. Er sah, dass sie ein bisschen zitterte.

„Warte mal“, flüsterte sie und dann schlang sie ihre Hände um seinen Hals und küsste ihn. Und anstatt sie wegzuschieben, küsste Noël sie zurück.

Hinterher versuchte Noël sich einzureden, dass er den Kuss nur deshalb erwidert hatte, weil er Sandrine nicht verletzen wollte. Und weil er total verwirrt und überwältigt war. Immerhin war es sein erster richtiger Kuss. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Er küsste Sandrine auch, weil sie sich wunderbar weich und warm anfühlte.

Auf jeden Fall war die Sache schnell beendet, denn plötzlich wurde hinter Sandrine die Tür aufgerissen. Auf der Schwelle stand Ben und starrte sie ungläubig an.

„Du Scheißkerl!“, hörte Noël ihn ausstoßen, dann knallte die Tür wieder zu.

Sandrine verdrehte die Augen.

Noël fuhr sich verlegen durch die Haare. „Ich muss jetzt wirklich los“, sagte er.

Eine Minute später stürzte er aus dem Haus. Leider machte sich auch Sandrine sofort auf den Heimweg und das entging Ben natürlich nicht. Er war überzeugt, dass die beiden nur verschwunden waren, um irgendwo anders in Ruhe weiterzuknutschen.

Am nächsten Tag hatte Noël versucht, Ben alles zu erklären, aber der hatte ihm das nicht abgenommen. Sonst hätte er Noël ja nicht mitten in der Nacht in die Schule gelockt und ins Chemielabor gesperrt.

Und jetzt saß er hinter den Büschen an der Turnhalle und sah dabei zu, wie die Feuerwehrleute auf der anderen Seite des Hofes den Brand löschten. Im Scheinwerferlicht der Wagen glänzten die großen Pfützen, die das Löschwasser auf dem Schulhof gebildet hatte.

Sie werden mich suchen, dachte Noël. Es war schließlich offensichtlich, dass das Feuer nicht zufällig ausgebrochen war. Wahrscheinlich war die Polizei längst alarmiert worden und auf dem Weg. Oder bereits hier.

Abflug, dachte Noël und zog sein Bein an, um sich hochzurappeln. Ein Stich durchfuhr ihn, so jäh und schrecklich, dass er fast aufgeschrien hätte. Im letzten Moment biss er die Zähne zusammen.

Noch ein Versuch. Diesmal schaffte er es, sich aufzurichten. Sein Bein fühlte sich an, als ob jemand mit einem Messer darin herumstocherte.

Ignorier den Schmerz! Weiter, weg hier!

Er humpelte im Schatten der Büsche zur Turnhalle. Links davon führte ein Trampelpfad am Sportplatz entlang und dann zur Straße. Wenn er die erreicht hätte …

Doch plötzlich schlug ihm grelles Licht ins Gesicht und riss seine Gedanken auseinander. Da stand jemand mit einer Taschenlampe und leuchtete ihm direkt in die Augen.

„Wen haben wir denn da?“, fragte eine barsche Männerstimme.

Noël wollte antworten, aber er brachte keinen Ton heraus. Seine Zunge klebte am Gaumen, sein Herz hämmerte, sein Bein tat so entsetzlich weh.

„Was machst du hier?“, bohrte der Typ weiter. Er war groß und bullig, mehr konnte Noël nicht erkennen, die Taschenlampe blendete ihn viel zu sehr.

Noëls Herzschlag dröhnte jetzt in seinen Ohren, es war, als ob dort eine mächtige Glocke hin und her schwang. Das Spiel war aus, er hatte verloren. Und es war ihm vollkommen egal. Er schloss die Augen und spürte, wie seine Beine unter ihm wegsackten und er nach vorn kippte.

Als er aufwachte, war alles weiß und hell.

Er lag in einem hohen Bett und neben ihm saß Karin. Seine Tante, die er vor einem halben Jahr noch für seine Mutter gehalten hatte.

Ihre Augen waren knallrot und geschwollen, sie leuchteten in ihrem blassen Gesicht.

„Was machst du bloß für Sachen, Christian?“, fragte sie vorwurfsvoll und knetete das nasse Papiertaschentuch in ihren Händen.

Christian. Das war der Name, den Karin und Michael für ihn gewählt hatten. Nur er selbst nannte sich Noël, seit er erfahren hatte, dass das sein wahrer Name war.

„Wo bin ich hier? Im Krankenhaus?“, fragte Noël zurück. Seine Stimme klang total fremd.

Er hatte keinen blassen Schimmer, wie er vom Schulhof hierhergekommen war. Das blendende Licht in seinen Augen war seine letzte Erinnerung, danach hatte er einen kompletten Filmriss.

„Warum hast du die Schule angezündet?“, fragte Karin.

So kamen sie nicht weiter. Wenn sie sich die ganze Zeit nur gegenseitig Fragen stellten und keiner eine beantwortete.

Noël überlegte kurz, ob es irgendeine Chance gab, sich aus der Sache rauszureden. Mit der Wahrheit brauchte er es gar nicht erst versuchen, das war ihm klar.

Dafür, dass Ben und Lennart Noël ins Chemielabor gesperrt hatten, gab es keinen Beweis. Und die beiden hatten sich garantiert abgesprochen und gaben sich gegenseitig ein Alibi.

Außerdem war das Feuer ja wirklich allein Noëls Schuld. Wenn er einfach abgewartet hätte, wäre überhaupt nichts passiert. Na ja, außer dass er am nächsten Morgen ziemlichen Ärger bekommen hätte.

„War eine bescheuerte Aktion“, sagte er deshalb. Das war zumindest keine Lüge.

„Ist das alles, was dir dazu einfällt?“ Karin tupfte sich mit dem Taschentuch über die Augen. „Du hast einen Riesenschaden angerichtet. Das Feuer hat den halben Seitenflügel zerstört, das Chemielabor kann man vermutlich abreißen. Es wird Unsummen kosten, das zu reparieren.“

„Das zahlt doch die Versicherung, oder?“, fragte Noël.

Karin lachte bitter. „Bei Brandstiftung greift die Haftpflicht nicht. Wenn wir Glück haben, zahlt die Feuerversicherung der Schule, du bist schließlich noch minderjährig. Aber das ist ja gar nicht das Problem.“ Ihre Stimme brach und ihre großen hellblauen Augen füllten sich mit Tränen. Schon löste sich der erste Tropfen und rann über ihre Wange.

Noël starrte unbehaglich an die Wand, an der ein Fernseher hing und daneben ein Kreuz. Was immer er jetzt sagte oder tat, wäre verkehrt, das wusste er aus jahrelanger Erfahrung. Wenn er seine Hand auf die von Karin legte, würde sie ihre zornig wegziehen, wenn er sie zu trösten versuchte, bekäme sie einen hysterischen Anfall, und wenn er schwieg, würde sie ihn für kalt und herzlos halten.

Er schwieg.

Karin weinte.

„Die Schule gibt jetzt natürlich mir die Schuld“, brachte sie nach einiger Zeit mühsam hervor. „Ist ja klar, wenn irgendwas schiefläuft, hat immer die Mutter versagt. Aber jetzt erklär mir doch mal, was ich falsch gemacht habe!“ Den letzten Satz stieß sie laut hervor.

Noël zuckte mit den Schultern. „Nichts.“

Es stimmte ja auch. Karin hatte ihr Bestes gegeben, genau wie Michael, sein Vater.

Es war nicht ihre Schuld, dass Noël ständig in Schwierigkeiten geriet. Dass er aus dem Skilager abgeholt werden musste und die halbe Schule niederbrannte. Dass ihn eine Eule verfolgte und er Stimmen hörte.

Karin und Michael hatten alles versucht und geopfert – sogar ihre Ehe. Vor anderthalb Jahren hatte Michael kapituliert und war ausgezogen. Jetzt wohnte er mit seiner neuen Frau in einer anderen Stadt und war vor Kurzem Vater geworden. Und zwar ein richtiger Vater.

Denn Noël war nicht Karins und Michaels echter Sohn, seine leibliche Mutter war Karins Schwester Sonya, die nach Noëls Geburt einfach verschwunden war. Ohne Noël.

Das hatte Michael ihm eröffnet, kurz bevor er sie verlassen hatte. „Wir wollten es dir eigentlich erst an deinem achtzehnten Geburtstag erzählen“, hatte Michael gesagt, „aber nun erfährst du es eben jetzt schon. Wer dein Vater ist, wissen wir nicht. Vielleicht weiß Sonya es ja selbst nicht. Auf jeden Fall war sie mit der Schwangerschaft damals total überfordert. Sie hatte keinen Bock auf ein Leben mit Kind, sondern wollte ihre Freiheit und ihren Spaß.“ Er schüttelte missbilligend den Kopf. „Karin wollte dagegen unbedingt ein Kind, aber sie ist nicht schwanger geworden. Also haben wir dich aufgenommen.“

„Warum habt ihr mir das nie erzählt?“, fragte Noël.

„Ist ja nun nicht so schön, wenn man erfährt, dass einen die eigene Mutter nicht wollte“, sagte Michael. „Nachdem Sonya abgehauen ist, hat sie nie mehr was von sich hören lassen. Sie hat sich kein einziges Mal nach dir erkundigt.“

„Vielleicht ist sie tot“, sagte Noël.

„Davon hätten wir ja wohl erfahren. Oder zumindest deine Großeltern“, sagte Michael.

Nach der Trennung war der Kontakt zu Michael abgerissen. An Noëls Geburtstag überwies er Geld, der Unterhalt kam pünktlich. Aber er rief ihn niemals an oder holte ihn ab.

Karin fand das erbärmlich und egoistisch. Sie hätte sich auch gerne aus der Affäre gezogen und wäre abgehauen, das war Noël klar. Einer musste sich jedoch um Noël kümmern, für ein adoptiertes Kind gab es ja leider kein Rückgaberecht.

Noël sah vieles klarer, seit er wusste, dass Karin und Michael nicht seine echten Eltern waren. Er verstand jetzt, warum er so vollkommen anders aussah als sie. Michael war rothaarig und sommersprossig, Karin hellblond und blass, und beide waren eher klein. Noël hatte ziemlich dunkle Haut, braunes Haar und fast schwarze Augen. Er war mit dreizehn schon eins siebzig groß und wuchs und wuchs.

Vom Wesen her passte er noch weniger zu ihnen. Seine Adoptiveltern waren sehr gesprächig, quirlig und hatten viele Freunde. Noël war verschlossen und still. Ein Einzelgänger.

„Ich weiß überhaupt nicht, was in ihm vorgeht“, hatte Karin neulich zu Harald gesagt, ihrem neuen Freund.

Noël war früher von der Schule nach Hause gekommen und als er durch den Garten zur Hintertür gegangen war, hatte er gemerkt, dass die beiden auf der Terrasse saßen. Er wollte sie nicht belauschen, aber als er Karin diesen Satz sagen hörte, blieb er unwillkürlich stehen und hielt den Atem an.

„Er ist halt in der Pubertät“, sagte Harald, der ebenfalls in Trennung lebte und zwei Töchter hatte.

„Das ist es nicht“, sagte Karin. „Da ist etwas Komisches in ihm. Etwas …“, sie senkte die Stimme zu einem Flüstern, „Böses.“

Noël spürte, wie ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Und genau wie damals, als Michael ihm eröffnet hatte, dass er adoptiert worden war, spürte er auch jetzt keine Überraschung oder Enttäuschung. Karin hat recht, dachte er. Da war etwas Seltsames in ihm. Etwas, das sich nicht kontrollieren ließ und einfach aus ihm ausbrach.

Vielleicht war er wirklich böse.

„Ihr macht es euch alle so leicht.“ Karin sprang von ihrem Stuhl auf und ging mit großen Schritten durchs Zimmer. „Aber wenn du erwartest, dass ich jetzt den Kopf für dich hinhalte und alles wieder zurechtbiege, dann hast du dich geschnitten. Diesmal wirst du die Suppe selber auslöffeln, die du dir eingebrockt hast.“

Ihr hübsches Gesicht war nicht mehr blass, sondern rot vor Wut. Sie ging zum Fenster und drehte Noël den Rücken zu. Einen Moment lang starrte sie schweigend nach draußen, während Noël seine Hände betrachtete, die auf der Bettdecke lagen. Auf den Innenflächen klebten große weiße Pflaster. Er hob die Decke an, linste darunter und sah, dass sein rechtes Bein ebenfalls mit einem weichen weißen Verband bedeckt war.

Als Karin sich zu ihm umwandte, hatte sie sich wieder unter Kontrolle.

„Ich habe vorhin mit dem Arzt gesprochen“, sagte sie. „Du hast eine leichte Rauchvergiftung und Verbrennungen zweiten Grades. Und dein Bein musste genäht werden. Vermutlich lassen sie dich übermorgen schon nach Hause. Du hast enormes Glück gehabt.“

Ihr Gesicht sah aber nicht so aus, als ob sie das wirklich als Glück empfand.

„Und dann?“, fragte Noël. „Was passiert dann?“

„Du darfst erst mal nicht zur Schule.“ Karin lachte laut und bitter auf und schüttelte den Kopf. „Was heißt hier erst mal. Die Schule kannst du vergessen. Jetzt schmeißen sie dich auf jeden Fall raus. Aber vermutlich ist es genau das, was du wolltest.“

Noël ballte seine Hände zu Fäusten und spürte den Schmerz, der sich von den Handinnenflächen in Richtung Ellbogen zog. Ein guter Schmerz. Er lenkte ihn von all den offenen Fragen ab, die durch seinen Schädel rasten.

Karin stemmte ihre Hände in die Hüften. „Wenn ich nur wüsste, was du jetzt denkst. Warum redest du nicht mit mir? Was habe ich dir denn getan?“

Diesmal wartete sie seine Antwort nicht ab. Sie griff nach ihrer Handtasche, die über der Stuhllehne hing, wandte sich ab und rannte aus dem Raum, ohne sich von Noël zu verabschieden.

Noël hieß Weihnachten, das passte perfekt. Noël war nämlich am Heiligen Abend geboren worden. Einen Tag später war Sonya bei Karin und Michael aufgekreuzt und hatte ihnen Noël übergeben. Als Weihnachtsgeschenk, sozusagen. Noch am selben Tag hatte sie die Adoptionspapiere unterschrieben und danach war sie aufgebrochen und auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Sie hatte ihn Noël genannt.

Aber Karin und Michael hatten ihn auf den Namen Christiangetauft. Den Namen Noëlfanden sie nämlich affig. Auch das hatte ihm Michael erzählt, bevor er sie verlassen hatte.

Die Freude über das Weihnachtsgeschenk hatte nicht allzu lange angehalten. In dreizehn Jahren hatte Noël seinen Adoptiveltern im Grunde nichts als Kummer bereitet. Sie verstanden einander einfach nicht, das war das Problem.

Noël starrte wieder auf den Fernseher neben dem Kreuz. In dem schwarzen Bildschirm spiegelte sich das Krankenzimmer. Noël selbst war ebenfalls zu sehen, ziemlich verzerrt am untersten Rand. Was würde jetzt aus ihm werden? Karin würde eine neue Schule für ihn suchen. Es gab kein anderes Gymnasium in ihrer Nähe, sein Schulweg würde auf jeden Fall länger werden. Es war ihm total egal, stellte er fest.

Noëls Gedanken wanderten zu der Eule, die ihn nun schon zum zweiten Mal aufgesucht hatte.

Es geht in wenigen Tagen los, hatte die Eule gesagt. Halt dich bereit.

„Wofür?“, murmelte Noël.

Ich verliere den Verstand, dachte er. Das ist die einzige Erklärung.

Ab heute war die Schonzeit zu Ende, die die Ärzte Noël eingeräumt hatten. Die Fäden waren gezogen, die Wunden verheilt, und um ein Uhr hatten er und Karin einen Termin beim Direktor in der Schule. Seine Klassenlehrerin, der Vertrauenslehrer, die Schulpsychologin und die Elternvertreter wären ebenfalls anwesend.

Sie alle wollten noch mal persönlich mit Noël reden, um sich ein Bild von der Sache zu machen.

„Das ist deine letzte Chance, irgendwas geradezurücken“, hatte Karin zu ihm gesagt, nachdem sie den Brief der Schulleitung gelesen hatte. „Vielleicht kriegst du ja vor dem Direktor den Mund auf, wenn du mit mir schon nicht sprechen willst.“

Noël seufzte, während er seine Jacke vom Haken neben der Tür nahm. Was sollte er denn geraderücken? Es war doch alles klar, er hatte die Schule angezündet und würde die Konsequenzen tragen.

Das Ganze tat ihm wirklich leid. Aber davon wurde das Labor auch nicht wieder heil.

Er zog die Haustür hinter sich zu und ging zum Fahrradständer im Vorgarten. Er war ziemlich früh dran. Es war zwanzig vor eins und mit dem Rad wäre er in fünf Minuten an der Schule.

Karin würde von der Arbeit aus direkt zur Schule fahren und ihn um fünf vor eins am Haupteingang treffen.

„Ich kann mir deswegen keinen Urlaub nehmen“, hatte sie gesagt. „Hab wegen dem ganzen Mist schon viel zu oft im Büro gefehlt.“

Gestern hatte sie nach dem Abendessen Schulprospekte studiert, das hatte Noël mitbekommen. Bunte Broschüren, auf denen gut aussehende, lachende Jugendliche zu sehen waren.

Lernen auf Spiekeroog, Ganzheitliche Erziehung in der Schweiz. Die Schulen sahen teuer aus. Aber sie waren alle weit weg und damit wäre auch sichergestellt, dass Karin Noël nur noch in den Ferien am Hals hätte.

Und noch mieser als bisher würde Noël sich auch dort nicht fühlen.

Es war gut, dass er sich früher auf den Weg gemacht hatte, denn an der ersten Kreuzung stellte er fest, dass sein Hinterreifen platt war. Im Mantel steckte ein spitzer Nagel.

Ärgerlich schloss er das Rad an einen Laternenmast und setzte den Weg zu Fuß fort. Das fing ja gut an. Zu Fuß brauchte er mindestens doppelt so lange zur Schule.

Wie immer, wenn er es eilig hatte, nahm er die Abkürzung durch den Supermarkt. Möglichst unauffällig schlenderte er an der Käsetheke vorbei und blieb vor der Seitentür in der Getränkeabteilung stehen. Zutritt nur für Mitarbeiter!, erklärte das Schild daneben. Noël schaute sich verstohlen um.

Es waren kaum Kunden im Laden und weit und breit war kein Mitarbeiter zu sehen. Blitzschnell drückte er die Klinke nach unten und schob sich durch die Tür ins Lager.