Internat der bösen Tiere, Band 2: Die Falle - Gina Mayer - E-Book

Internat der bösen Tiere, Band 2: Die Falle E-Book

Gina Mayer

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Beschreibung

Bist du gefährlich genug für diese Schule? Noch nie war Schule so spannend! Bei einem Leoparden lernt Noël, zu kämpfen wie eine Raubkatze. Eine Gottesanbeterin bringt ihm alles über tödliche Gifte bei. Nur ausgerechnet beim Tauchtraining auf dem offenen Meer darf er nicht mitmachen. Denn Noël hat einen mächtigen Gegner und auf hoher See wäre er eine leichte Beute … Entdecke alle Abenteuer im "Internat der bösen Tiere": Band 1: Die Prüfung Band 2: Die Falle Band 3: Die Reise Band 4: Der Verrat Band 5: Die Schamanin Band 6: Die Entscheidung

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2020 Ravensburger VerlagText: Gina MayerVermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, BerlinCover- und Innenillustrationen: Clara VathAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-51082-5www.ravensburger.de

Die drei Paviane hockten auf den Holzbalken, die sich unter der hohen Decke kreuz und quer durch das Klassenzimmer zogen. Sie fraßen Erdnüsse, die Schalen spuckten sie aus und bewarfen damit die Mitschüler unter ihnen.

Noël bekam schon zum zweiten Mal eine Erdnussschale auf den Kopf. Sie rutschte in seinen Hemdkragen, er musste sich verrenken, um sie wieder aus seiner Schuluniform zu fischen.

„Diese Chaoten!“ Die Gazelle, die neben Noël stand, schnaubte verächtlich. „Die gehen mir echt …“

Der Rest ihrer Worte ging in dem Kreischen des bunten Papageis unter, der mit wildem Flügelschlag über sie hinwegflatterte. Jetzt landete der Vogel in einem der Ringe, die an langen Hanfseilen von den Balken baumelten. Er legte den Kopf schief und blickte neugierig auf Noël herab.

„Bist du der Neue?“, fragte er.

Noël nickte. „Ich heiße Noël.“

„Ich weiß.“ Die Stimme des Papageis war schrill und sehr laut. „Von dir hat man ja schon einiges gehört. Ich bin Cocolores!“

Noël lachte. „Das ist ja ein cooler Name.“

Der Papagei spreizte die Flügel. „Danke“, sagte er geschmeichelt. Eine Nussschale flog an ihm vorbei, sie verfehlte seinen himmelblauen Kopf um wenige Millimeter. „Verflixte Brut!“ Ungehalten blinzelte Cocolores hoch zu den Affen. „Hört auf mit dem Unsinn!“

Der größte der drei Affen kratzte sich unter den Achseln und gähnte. „Chill mal, Alter“, rief er Cocolores zu.

Seine beiden Artgenossen lachten laut und schnatternd, als wäre das ein grandioser Witz.

„Der Große mit der grauen Mähne ist Tyson“, sagte Cocolores zu Noël. „Die anderen beiden sind Geschwister, Brick und Chuck.“

Brick war offensichtlich ein Mädchen, sie war viel kleiner und zierlicher als die anderen Paviane.

„Auf jeden Fall sind alle drei gleich bescheuert“, mischte sich nun die Gazelle wieder ein. „Ich bin übrigens Eleni. Und ich find’s super, dass du in unsere Klasse gekommen bist, Noël!“

„Finde ich …“ Auch, wollte Noël sagen, aber nun prasselten die Schalen aus allen Richtungen auf ihn herab. Die drei Paviane schienen es auf ihn abgesehen zu haben.

„Nun lasst das doch mal!“ Eleni warf ihren schmalen Kopf nach oben, ihre geschwungenen Hörner sausten durch die Luft. „Das nervt!“

Höhnisches Gekreische war die einzige Antwort, die sie bekam. Die Affen schmissen jetzt nicht mehr nur mit den Schalen, sondern schleuderten ganze Erdnüsse auf ihre Mitschüler.

Noël ging hinter einem großen Flusspferd in Deckung, das mit offenen Augen vor sich hin döste und die Attacke gar nicht zur Kenntnis nahm. Auch als gleich fünf Erdnüsse auf einmal auf seinen Rücken prasselten und an seiner ledrigen Haut abprallten, zeigte es keine Regung.

Das Streifenhörnchen, das neben ihm auf dem mit Rindenmulch und Moos bedeckten Boden hockte, freute sich über den leckeren Regen und stopfte sich eine Erdnuss nach der anderen ins Maul. Seine Backen waren schon ganz dick.

Es war Noëls erster Schultag. Vor einer Woche hatte er seine Prüfung bestanden und war ins Internat der bösen Tiere aufgenommen worden. Und nun teilte er sich mit Taiyo ein Zimmer im dritten Turm auf der Insel der Jäger.*

Vor einer Woche waren sie noch die schlimmsten Gegner gewesen, jetzt waren sie Freunde, und als Mrs Moa, die Direktorin, ihnen eröffnet hatte, dass sie in zwei verschiedene Klassen kommen würden, waren beide enttäuscht gewesen.

„Wir möchten, dass sich die Arten und Gattungen in der Schule vermischen und dass vielfältige Freundschaften entstehen“, hatte Mrs Moa ihnen erklärt. „Wenn jeder immer nur mit seinen eigenen Artgenossen zusammen ist, bringt das der Gemeinschaft überhaupt nichts.“

Und was ist dann mit Chuck, Brick und Tyson?, fragte sich Noël, während er sich noch tiefer hinter das Flusspferd duckte. Warum waren die drei Paviane nicht getrennt worden? Auch Eleni hatte eine Artgenossin in der Klasse, neben ihr stand nämlich eine weitere Gazelle.

Plonk! Nun hatte ihn doch wieder eine Erdnuss erwischt. Voll auf den Hinterkopf, es tat verdammt weh. Noël war kurz davor, laut zu fluchen, als ihm bewusst wurde, dass es um ihn herum mucksmäuschenstill geworden war.

Der Erdnussregen war versiegt, die Paviane hatten aufgehört zu kreischen, Cocolores war verstummt und das Streifenhörnchen saß sehr aufrecht da und starrte mit großen Augen und immer noch dicken Backen zum Fenster.

Noël reckte den Kopf und folgte seinem Blick. Am Ende des Raums stand ein hoher Holzpflock. Er sah aus wie der Landeplatz eines Greifvogels, aber er war leer.

„Was ist denn da?“, wisperte Noël Eleni zu.

„Mrs Styx“, flüsterte Eleni zurück.

Und nun bemerkte Noël den leuchtend grünen Stängel, der auf dem Pfahl lag. Oder vielmehr saß. Es war eine Gottesanbeterin.

Plötzlich musste er an ein Biologieprojekt denken, das sie in seiner früheren Schule durchgeführt hatten. Ihr Biolehrer hatte ein Terrarium mit Fangschrecken mitgebracht – eine weibliche Gottesanbeterin und vier Männchen –, die sie dann zwei Wochen lang beobachtet hatten. Am Ende war nur noch das Weibchen übrig gewesen, weil es alle anderen Insekten gefressen hatte. Mit einem Schaudern erinnerte sich Noёl daran, wie der zuckende Leib eines Männchens in den Kiefern des viel größeren Weibchens verschwunden war.

Noёl trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Das war ein Fehler, direkt hinter ihm hockte nämlich ein winziger knallroter Frosch, der sich gerade noch mit einem beherzten Sprung in Sicherheit bringen konnte.

„Pass doch auf, wo du hintrittst! Du hättest mich fast erwischt!“, quakte er empört.

„Sorry“, stammelte Noël. Er wurde fast genauso rot wie der Frosch, als ihm bewusst wurde, dass die ganze Klasse ihn anblickte. Die Paviane lachten laut.

„Hallo, Noël“, sagte eine helle, leise Stimme.

Er wusste sofort, dass es die Gottesanbeterin war, die mit ihm sprach. Noël drehte sich schnell wieder nach vorn.

„Hallo“, sagte er nervös.

„Es freut mich, dich kennenzulernen“, sagte die Fangschrecke. „Ich bin Mrs Styx, deine neue Klassenlehrerin.“ Ihre Worte klirrten leise wie ein Löffel in einem Teeglas. Trotzdem hörte er sie klar und deutlich.

„Einige von euch kennen Noël ja vielleicht schon“, wandte Mrs Styx sich nun an die anderen. „Er geht ab jetzt in unsere Klasse.“

„Muttersöhnchen.“ Dieser Kommentar war so leise, dass Mrs Styx ihn nicht hörte. Er kam von Chuck oder Brick oder Tyson. Als Noël den Blick hob, feixten ihn alle drei Paviane mit breiten Mäulern an.

Natürlich wusste Noël, worauf die Bemerkung anspielte. Seine Mutter Sonya hatte das Internat der bösen Tiere vor fünfzehn Jahren gegründet. Ihre Vision war es, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen und Tiere sich begegnen und voneinander lernen konnten.

Kurz vor der Eröffnung der Schule war Sonya allerdings spurlos verschwunden. Keiner wusste, wo sie sich heute aufhielt. Ob sie überhaupt noch am Leben war.

Auch Noël hatte keine Ahnung, was mit seiner Mutter geschehen war. Er hatte sie nie kennengelernt. Er war bei seiner Tante Karin aufgewachsen, die ihm so gut wie nichts über ihre Schwester erzählt hatte. Dass es die Schule der bösen Tiere gab, hatte Noël erst vor ein paar Wochen erfahren.

Mrs Styx hob ihre Greifarme und rieb sie aneinander. „Ich hoffe, dass du dich bei uns gut einlebst, Noël“, sagte sie. „Wenn du irgendwelche Fragen hast, immer nur raus damit. Ich bin für dich da.“

„Danke.“ Noëls Stimme klang seltsam belegt. Dabei verwendete er die Gedankensprache, die Worte kamen gar nicht aus seinem Mund, sondern waren nur in seinem Kopf.

Auf diese Weise kommunizierte man auf den geheimen Inseln miteinander. Allen, die hier lebten, lernten oder lehrten, war die Fähigkeit angeboren, ihre Worte per Gedanken zu verschicken – von einem Kopf zum anderen. Diese Gabe war der Grund, warum sie sich selbst die Auserwählten nannten.

Allerdings war es nicht einfach, die Gedankensprache zu nutzen. Nachdem Noël im Internat angekommen war, hatte es eine ganze Weile gedauert, bis er gelernt hatte, sich mit den anderen zu verständigen.

Mittlerweile hatte er sich so daran gewöhnt, dass er sich manchmal fragte, wie lange es dauern würde, bis er die Menschensprache vergessen hätte. Auch mit Taiyo verständigte er sich ausschließlich über die Gedanken. Denn Taiyo kam aus Japan und sprach kein Wort Deutsch und Noël verstand kein Japanisch.

Mrs Styx’ dünner Körper richtete sich nun steil auf, sie sah aus wie ein grünes Ausrufezeichen. „So, dann wollen wir mal mit dem Unterricht beginnen. Wer von euch möchte uns eine kurze Zusammenfassung der letzten Lektion geben?“

„Hier!“ Elenis Kopf schoss in die Höhe, aber Mrs Styx ignorierte sie.

„Brick“, sagte die Lehrerin.

Das Affenmädchen hörte auf zu grinsen und kratzte sich ratlos am Bauch.

„Äh“, sagte sie. „Also, in der letzten Stunde … da ging es um …“ Sie räusperte sich laut. „Was war da noch mal dran?“

„Die Kontaktgifte.“ Mrs Styx’ Stimme klang jetzt eisig.

„Ach ja“, sagte Brick.

Danach fing sie wieder an, sich zu kratzen, und Mrs Styx schwieg ebenfalls.

„Ich warte“, sagte sie nach einer Weile.

„Also … äh …“ Brick zupfte an ihrem langen Brusthaar. „Da gibt es dieses Krötengift …“ Nun hatte sie sich aus Versehen ein Büschel Haare ausgerissen. Sie betrachtete es ratlos und ließ es dann fallen. Die Haare landeten auf dem tonnenartigen Körper des Flusspferdes, das sie genauso wenig zur Kenntnis nahm wie vorhin die Erdnüsse.

„Chuck“, sagte Mrs Styx. „Kannst du deiner Schwester helfen?“

Der zweite Pavian stemmte sich auf dem Sitzbalken in die Höhe, sodass sein Körper durch die Luft schwang. „Da gibt es dieses Krötengift“, sagte er.

„So weit waren wir bereits“, erklärte Mrs Styx.

„Mehr weiß ich nicht“, gab Chuck zu.

Mrs Styx seufzte. „Tyson“, sagte sie dann.

Der dritte Pavian gähnte, wodurch Noël seine spitzen Eckzähne sehen konnte. „Tetrodotoxin, Pumiliotoxin und Batrachotoxin sind die drei wichtigsten Substanzen“, erwiderte er in gelangweiltem Ton. „Batrachotoxin – auch Pfeilgift genannt – ist eines der tödlichsten Gifte der Welt. Ein einziger Pfeilgiftfrosch könnte mühelos zwanzigtausend Mäuse töten. Und eine kleine Dosis des Giftes genügt …“, Tyson reckte den Kopf nach vorn und fixierte Noël mit seinen großen dunklen Augen, „um einen Menschen zu töten.“

„Wenn er so blöd ist, auf ihn draufzutreten“, ergänzte Brick höhnisch.

Noël sah sich nervös nach dem kleinen roten Frosch um. War das ein Pfeilgiftfrosch gewesen? Er kannte sich mit Tieren leider nicht sehr gut aus.

„Ich tu niemandem was“, rief der rote Frosch, der inzwischen an einem der dünnen Hanfseile klebte, die von den Deckenbalken baumelten. Er war nur wenig größer als Noëls Daumennagel und sah total harmlos aus. „Solange man mich nicht angreift.“

„Du weißt genau, dass du dich im Klassenzimmer nicht auf den Boden setzen darfst, Cedric“, sagte Mrs Styx streng. „Hoffentlich lernst du es jetzt endlich!“

„Man darf aber auch nicht rückwärtsgehen, ohne sich vorher umzusehen“, bemerkte Tyson.

„Noël ist neu hier. Er kennt die Regeln noch nicht“, wandte Mrs Styx ein. Wieder rieb sie ihre Greifarme aneinander. „Willy! Kannst du uns etwas über die pflanzlichen Kontaktgifte erzählen?“

Schweigen im Klassenzimmer. Man hörte nur das laute Schnarchen des Flusspferdes, dessen massiger Kopf nach unten gesunken war.

„Willy!“, zischte Eleni und stieß mit dem Kopf gegen seine Flanke. „Du bist dran.“

„Was?“ Der große Schädel hob sich. Willy riss die Augen auf. „Entschuldigung. Ich bin gerade ein bisschen eingenickt.“

„Wenn du tagsüber ständig einschläfst, musst du in eine der Nachtklassen wechseln“, erklärte Mrs Styx.

„Da schläft er auch immer“, rief Cocolores.

Mrs Styx seufzte erneut. „Also, weißt du etwas über die Pflanzengifte, Willy?“

Das Flusspferd schüttelte unglücklich den Kopf. „’tschuldigung. Ich hab das irgendwie nicht mitgekriegt. Aber jetzt pass ich auf.“

Mrs Styx seufzte ein drittes Mal. „Eleni“, sagte sie dann. „Bitte rette mich!“

Auf Eleni war offensichtlich Verlass. Sie ratterte die schwierigen Namen der pflanzlichen Kontaktgifte nur so herunter und erläuterte all ihre Wirkungsweisen.

Doch dann wurde ihr Vortrag unterbrochen, weil auf den oberen Etagen ein Tumult ausbrach. Chuck hatte Brick eine Ohrfeige gegeben, worauf seine Schwester ihn ins Ohr gebissen hatte.

Mrs Styx gab ein helles Zirpen von sich, das augenblicklich wieder für Ruhe im Klassenzimmer sorgte.

„Noch einmal so ein Auftritt“, erklärte sie eisig, „und ich lasse euch beide eine Nacht lang nachsitzen.“

„Mrs Styx hat die zwei echt gefressen“, flüsterte Eleni Noël zu, den dieses Wortspiel sofort wieder an die Gottesanbeterin in seinem Bioprojekt erinnerte. „Du musst aber keine Angst vor ihr haben“, fuhr die Gazelle hastig fort. „Mrs Styx ist megastreng, aber auch richtig cool. Wir haben echt Glück, dass sie unsere Klassenlehrerin ist.“

* Eine Karte mit allen Inseln des Internats findest du hinten im Buch.

In der Nacht fand Noël keinen Schlaf. Er suchte nach Argumenten, mit denen er Mrs Jaja überzeugen konnte, dass er doch an dem Tauchkurs teilnehmen durfte.

Ich will und kann mich nicht mein Leben lang verstecken, dachte er. Irgendwann werden mich Kumos Helfer finden und dann will ich gewappnet sein. Ich muss unbedingt tauchen lernen und klettern und kämpfen und jagen.

Aber selbst wenn Noël es schaffte, Mrs Jaja auf seine Seite zu ziehen – er wusste, dass die wichtigen Entscheidungen im Rat einstimmig getroffen wurden. Es kam also auf jedes einzelne Mitglied an. Bis zu Beginn des Kurses waren es noch vier Tage, vielleicht sollte er die Zeit nutzen und auch mit den übrigen Ratsmitgliedern sprechen.

Als vor dem Fenster die Dämmerung einsetzte, schlug er seine Decke zurück und stand auf. Es war noch zu früh, um die Leiterin der vierten Insel aufzusuchen, aber er hielt es nicht mehr länger im Bett aus.

Taiyo schlief noch und bekam nicht mit, wie Noël sich anzog. Das Zimmer, das sich die Freunde teilten, war winzig. Es bot kaum Platz für zwei Betten, die beiden kleinen Schränke und einen Tisch. Es war ja eigentlich auch nur für eine Person gedacht, vor ihnen hatte es Katókwe bewohnt.

Der Raum lag oben unter dem Dach des dritten Turmes – dem niedrigsten der drei Türme. Als Noël auf Zehenspitzen zur Tür schlich, fiel sein Blick durch eines der runden, bullaugenartigen Fenster. Über dem Meer ging gerade die Sonne auf und tauchte die Insel der Späher, die in der Ferne zu sehen war, in ein seltsames glühendes Licht. Er hatte plötzlich den Eindruck, dass am Waldrand, vor den schlingpflanzenumwucherten Stämmen, eine Gestalt auftauchte, die zu ihm herüberschaute. Ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen.

Noël riss die Augen auf und trat näher ans Fenster. Aber jetzt war die Gestalt verschwunden. Wahrscheinlich hatte er sich getäuscht.

Er ging ein Stück am Fluss entlang, versuchte, seine Gedanken zu ordnen, doch das Chaos in seinem Inneren war zu groß. Da war die Sehnsucht nach Katókwe, die ihn fast zerriss. Die Angst vor Uko, aber auch die Wut auf den Bären, der Noël für etwas verantwortlich machte, mit dem er nichts zu tun hatte.

Es hatte keinen Sinn, dachte er schließlich, er musste darauf vertrauen, dass ihm im entscheidenden Moment die richtigen Worte einfallen würden.

Als die Sonne gelb und strahlend am Himmel stand, marschierte er mit großen, entschlossenen Schritten zum zweiten Turm.

Nach dem Nachtunterricht wurden die Türen abgeschlossen, sodass man von außen nicht mehr ins Gebäude kam.

Noël setzte sich auf einen Felsbrocken in der Nähe des Eingangs und wartete. Er trug keine Uhr, aber er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Schultür geöffnet wurde. Die anderen Türme waren bereits zum Leben erwacht, überall quiekte, zwitscherte, flatterte und raschelte es.

Noëls Magen knurrte leise. Taiyo war jetzt bestimmt beim Frühstück. Vermutlich fragte er sich, wo Noël steckte.

Nun ging drüben die Turmtür auf. Mrs Squat, die riesige, stets mürrische Krähe, die auf der vierten Insel als Hausmeisterin arbeitete, streckte ihren grauen Schnabel nach draußen. Sie pickte ein welkes Blatt von der Türschwelle und schleuderte es geschickt in die Büsche.

„Was willst du denn schon hier?“, rief Mrs Squat, als Noël sich näherte.

„Ich muss zu Mrs Jaja“, sagte Noël. „Ist sie schon im Büro?“

„Woher soll ich das wissen? Bin ich ihre Sekretärin? Wenn du mit Mrs Jaja reden willst, musst du schon selbst nachsehen.“

Noël nahm die Treppe nach oben in den Verwaltungstrakt, in dem sich die Lehrerzimmer und Büros befanden. An den Stufen entlang führte eine breite Rampe in die oberen Stockwerke, für all die Tiere, die nicht Treppen steigen konnten. Für die kleinen Wirbeltiere und Insekten ohne Flügel gab es außerdem noch einen Aufzug an der Außenseite des Turms.

Noël spürte ein nervöses Flattern im Magen, als er am Büro der Leiterin anklopfte.

„Herein!“, ertönte eine laute Stimme.

Er öffnete die Tür mithilfe des Sensors neben der Schwelle.

Wie ihr Klassenzimmer war auch der Boden des Büros mit einem Teppich aus weichem Mulch bedeckt. Gräser und Stauden wucherten daraus empor. Am Fenster rankten sich Schlingpflanzen nach oben und zogen sich an der Decke entlang. Dicke Luftwurzeln baumelten aus dem Pflanzengewirr nach unten.

„Guten Morgen, Noël.“ Mrs Jaja lag auf dem Fensterbrett und ließ sich die Morgensonne auf das graue Fell scheinen. „Wenn das keine Gedankenübertragung ist. Ich wollte heute auch noch mit dir sprechen.“

„Wegen dem Tauchkurs?“ Noël trat in den Raum und sog den Geruch ein, den die Hyäne verströmte. Kein scharfer Zoogestank, wie er ihn hier vermutet hätte, sondern ein zugleich würziger und fruchtiger Duft.

„Du weißt also schon Bescheid.“ Mrs Jaja dehnte ihre Vorderbeine und sprang mit einem eleganten Satz vom Fensterbrett. „Hat Taiyo dir davon erzählt? Ich hatte ihn eigentlich gebeten, dir noch nichts zu sagen.“

„Ich weiß es von Kumo“, sagte Noël.

„Aha. Nun, dann hat er dir bestimmt auch erklärt, warum wir beschlossen haben, dass du nicht an dem Kurs teilnimmst.“

„Ja“, sagte Noël. „Aber ich will unbedingt auch tauchen lernen. Ich finde es nicht gut …“ Weiter kam er nicht, denn nun hob Mrs Jaja ihre rechte Pfote.

„Die Sache ist entschieden, Noël. Wir werden unseren Entschluss nicht mehr ändern.“ Die Hyäne zögerte einen Moment. „Wir könnten aber hier auf der Insel etwas organisieren“, fuhr sie dann fort. „Einen Tauchlehrer, der dir Privatunterricht gibt. Ich werde das veranlassen.“

Die Sache ist entschieden. Ohne dass einer aus dem Rat auch nur ein Wort mit Noël gesprochen hatte. Seine Meinung spielte offensichtlich überhaupt keine Rolle.

Von einer Sekunde zur anderen kochte eine Welle heißer Wut in ihm hoch. „Ich will keinen Privatlehrer!“, sagte er laut. „Ich will mit auf dieses Schiff. Der Tauchkurs ist für alle Menschen. Also hab ich ein Recht, dabei zu sein.“

„Das ist zu riskant“, sagte Mrs Jaja. „Wirklich, Noël …“

Doch nun war es Noël, der die Hyäne unterbrach. „Wissen Sie, wie die mich in meiner Klasse nennen?“, fragte er zornig. „Muttersöhnchen. Alle wissen, dass ich Sonyas Sohn bin. Und alle denken, dass ich mir was darauf einbilde. Dass ich mich irgendwie für was Besseres halte.“ Er holte tief Luft. „Ich will genauso sein wie alle anderen. Ohne Sonderrechte. Ohne Ausnahmestatus.“

„Wer nennt dich Muttersöhnchen?“, fragte Mrs Jaja scharf.

„Meine Klasse eben“, wich Noël ihr aus. Er würde Tyson ganz bestimmt nicht verpetzen, auch wenn er den Affen nicht ausstehen konnte.

„Diese Paviane“, murmelte Mrs Jaja.

„Es spielt doch überhaupt keine Rolle, wer sich das ausgedacht hat“, rief Noël. „Wenn alle Menschen zum Tauchkurs fahren und ich als Einziger auf der Insel bleiben muss, dann halten die mich doch zu Recht für ein Weichei, dem man nichts zutraut. Aber das bin ich nicht. Ich will auch keine Extrawurst.“

„Du liebe Zeit. Ja, ich verstehe, was du meinst. Ich sehe nur keine Möglichkeit …“ Mrs Jaja unterbrach sich, hob den Kopf und schaute zur Decke, als erwartete sie von dort eine Antwort.

Und die kam auch. In Noëls Kopf erklang plötzlich eine vertraute zischelnde Stimme.

„Eine vertrackte Situation“, sagte sie.

Noëls Blick schoss nun ebenfalls nach oben. In dem Schlingpflanzengewirr erblickte er einen großen gelb-weiß geschuppten Schlangenkörper.

„Mrs Moa“, stieß er überrascht hervor. „Was machen Sie denn hier?“

Die Direktorin des Internats schob ihren schmalen Kopf hinter einem großen Blatt hervor und linste zu ihm herunter. „Ich wollte mal nachhören, wie ihr beiden euch so eingelebt habt, du und Taiyo. Und wie es scheint, bin ich genau zur rechten Zeit am richtigen Ort.“

„Allerdings“, rief Noël. „Sie müssen die Entscheidung wieder zurücknehmen! Ich will mit zum Tauchen.“

„Wir könnten die Wache verstärken“, überlegte Mrs Jaja laut. „Wenn das Segelschiff Tag und Nacht von einer Eskorte begleitet wird, müsste es doch eigentlich …“

„Hier und jetzt wird gar nichts entschieden“, unterbrach Mrs Moa ihre Kollegin. „Aber ich verstehe deine Einwände ebenfalls, Noël. Ich werde den Rat zu einer Sondersitzung einberufen und wir besprechen die Sache noch einmal.“

„Echt?“ Noël wurde vor Erleichterung ganz schwindlig. „Danke, Mrs Moa!“

„Ich kann dir nichts versprechen“, dämpfte die Direktorin seine Begeisterung. „Es hängt von den anderen ab.“

„Wann wird sich der Rat denn treffen?“, fragte Noël.

Mrs Moas gespaltene Zunge schnellte aus ihrem Maul und war genauso schnell wieder verschwunden. „Sobald unsere Entscheidung gefallen ist, bekommst du Bescheid.“

Als Noël das Büro der Schulleiterin verließ, hallte ein lauter Gong durch das Gebäude. Der Unterricht würde in wenigen Minuten beginnen. Dennoch nahm er die Treppe ins Erdgeschoss mit ruhigen Schritten. In seinen Schläfen hämmerte das Blut. Mrs Moa und Mrs Jaja waren auf seiner Seite, das war offensichtlich. Aber wie würde der Rest des Rats entscheiden?

Als er im Flur vor dem Klassenzimmer ankam, verschwand gerade das dicke Hinterteil des Flusspferdes in der Tür. Noël witschte als Letzter in den Raum.

„Das war knapp“, begrüßte ihn Cocolores, der sich mit den Krallen an einem der Hanfseile festklammerte. „Ich dachte schon, du kommst zu spät zum Sprachunterricht. Mr Ezekweseli hasst Unpünktlichkeit wie die Pest.“

Neben dem Pflock, auf dem gestern Mrs Styx gesessen hatte, stand ein großer Marabu auf einem Bein. Der Vogel reckte den kahlen Hals nach vorn, sodass der Hautsack vor seinem Körper hin und her baumelte. Aus kleinen schwarz glitzernden Augen starrte er die Klasse ausdruckslos an.

Mr Ezekweseli. Noël unterdrückte ein tiefes Seufzen. Er kannte den Sprachlehrer bereits. Nach seiner Ankunft auf der Insel hatte der Marabu ihm die Grundlagen der Gedankensprache beigebracht. Der Sprachunterricht war so entsetzlich langweilig gewesen, dass Noël eine bleierne Müdigkeit überkam, wenn er nur daran dachte. Und nun hatte er den Lehrer also wieder am Hals.

„Wen haben wir denn da?“, hörte er jetzt die leise, heisere Stimme des Marabus in seinem Kopf. „Guten Tag, Noël. Ich befürchte, du bist in der falschen Gruppe.“

„Wirklich?“, fragte Noël erleichtert. „Wo muss ich denn hin?“

„Die Anfänger werden im Nebenraum unterrichtet.“ Der kahle Kopf mit dem hornfarbenen Schnabel hackte ruckartig nach vorn. „Das betrifft auch dich, Willy. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du ins andere Zimmer musst?“

„Chchchrrrrrchchch!“ Das Flusspferd hatte es in der kurzen Zeit tatsächlich geschafft, wieder einzuschlafen.

„Ist doch egal, ob Willy hier bei uns oder nebenan schläft“, piepste das Streifenhörnchen, das es sich auf Willys breitem Rücken gemütlich gemacht hatte.

Mr Ezekweseli zögerte einen Moment lang, dann nickte er. „Meinetwegen, er kann hierbleiben. Aber du gehst nach drüben, Noël.“

Frohgemut verließ Noël das Klassenzimmer. Eine andere Gruppe, das bedeutete vor allem, ein anderer Lehrer. Und das war in jedem Fall ein echtes Plus.

Im Nachbarraum begrüßten ihn Chuck und Brick mit lautem Gejohle. Tyson war dagegen nirgends zu sehen. Offenbar war er bei den Fortgeschrittenen.

Noch ein Vorteil, dachte Noël. Ohne ihren Anführer waren die beiden Paviane zwar immer noch laut und rüpelhaft, aber nicht halb so bedrohlich.

„Ist unser Lehrer noch nicht da?“, fragte Noël das Zebra, das neben ihm stand.

„Mr Ezekweseli?“ Das Zebra schüttelte schnaubend seine Mähne. „Der ist noch bei den anderen. Aber er kommt bestimmt gleich.“

Mr Ezekweseli, das war die grausame Wahrheit, unterrichtete beide Klassen abwechselnd. Noël ließ sich resigniert zu Boden sinken. Wenn er wenigstens gefrühstückt hätte!