Internat der bösen Tiere, Band 3: Die Reise - Gina Mayer - E-Book

Internat der bösen Tiere, Band 3: Die Reise E-Book

Gina Mayer

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Beschreibung

Bist du gefährlich genug für diese Schule? Eigentlich ist Noëls neues Leben perfekt. Auf den geheimen Inseln ist jede Schulstunde ein Abenteuer und noch nie hatte er so tolle Freunde wie jetzt. Doch als einige Briefe seiner verschollenen Mutter auftauchen, merkt er, wie sehr er unter seiner unbekannten Herkunft leidet. Und plötzlich ist er bereit, für ein paar Antworten alles aufs Spiel zu setzen. Allein und wild entschlossen begibt er sich auf eine äußerst riskante Reise … Entdecke alle Abenteuer im "Internat der bösen Tiere": Band 1: Die Prüfung Band 2: Die Falle Band 3: Die Reise Band 4: Der Verrat Band 5: Die Schamanin Band 6: Die Entscheidung

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2021Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2021 Ravensburger VerlagText: Gina MayerVermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, BerlinCover- und Innenillustrationen: Clara VathAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47195-9www.ravensburger.de

Kampfkunst. Normalerweise war das Noёls und Taiyos Lieblingsfach. Sie freuten sich den ganzen Tag auf den Unterricht bei Kumo, dem Leoparden.

Aber heute war es eine einzige Qual. Seit einer Stunde hockten sie nun schon vor einem schmalen Mauerspalt und warteten darauf, dass sich eine der orangeroten Eidechsen blicken ließ, die hier wohnten.

„Fangt eine, ohne sie zu verletzen.“ Das war der Auftrag, den Kumo ihnen erteilt hatte, als sie sich nach dem Mittagessen hinter dem zweiten Turm getroffen hatten.

Eine Eidechse fangen. Mit bloßen Händen. Sollte das ein Witz sein? Natürlich nicht, Kumo machte keine Witze.

„Und kannst du uns auch einen Tipp geben, wie wir die kriegen?“, hatte Taiyo ihn gefragt.

„Mit viel Geduld“, war die Antwort des Leoparden gewesen. Dann hatte er sich auf seinen Lieblingsplatz zurückgezogen, auf einen breiten Ast des großen gelben Merantibaums oben am Fluss.

Noёl und Taiyo kauerten in gebückter Haltung vor der Mauer, spürten die Sonne im Nacken und wenn sich eine Eidechse hervorwagte, stürzten sie sich abwechselnd darauf.

Diesmal war Noёl an der Reihe. Er schnellte nach vorn, hechtete zu Boden und schloss die Hände um das kleine Tier.

„Hab dich!“, rief er.

„Echt?“ Taiyo richtete sich neugierig auf.

„Die Biester sind schnell, aber ich bin schneller“, erklärte Noёl, während er die Beute zu seinem Freund trug. Beim Hechtsprung hatte er sich das Knie aufgeschlagen. Es blutete, aber das war ihm egal. Hauptsache, er hatte die Eidechse.

„Lass mal sehen“, sagte Taiyo. Er sprach die Worte nicht aus, Noёl hätte sie sonst auch gar nicht verstanden, denn Taiyos Muttersprache war Japanisch.

Wie alle im Internat der bösen Tiere verständigten sich die beiden über die Gedankensprache, bei der die Sätze von einem Kopf zum anderen geschickt wurden. Es war eine Fähigkeit, die ihnen angeboren war und von der Noёl bis vor ein paar Monaten nichts geahnt hatte.

Als er zum ersten Mal eine fremde Stimme in seinem Kopf gehört hatte, war er überzeugt gewesen, den Verstand zu verlieren. Erst hier auf den geheimen Inseln war ihm klar geworden, dass er zu den wenigenAuserwählten gehörte, die diese Gabe besaßen.

Behutsam öffnete Noёl die Finger einen winzigen Spaltbreit. Nicht, dass ihm das Tier jetzt noch entwischte.

Taiyo guckte in die dunkle Höhle zwischen Noёls Händen. „Ich seh nichts.“

Noёl hob seine Hände an die Augen und spähte ebenfalls hinein. Aber auch er sah keine Eidechse. Und er spürte auch nichts. Wieso zappelte das Tier nicht? Ob es sich tot stellte? Er öffnete die Hände noch weiter. Sie waren leer. Seine Beute war ihm im letzten Moment doch noch entkommen.

Kurz darauf hatte Taiyo unglaubliches Glück. Als er eine Eidechse schnappen wollte, die an ihm vorüberhuschte, verlor er das Gleichgewicht, rutschte aus und landete direkt neben einer anderen Eidechse, die sie vorher beide nicht bemerkt hatten. Geistesgegenwärtig griff er zu und fing das Tier.

Danach vollführte er einen wilden Freudentanz. „Ich bin der König der Jäger!“, jubelte er.

„Der König der Jäger“, schnaubte Noёl. „Das war reines Glück, sonst gar nichts.“

„Nenn es, wie du willst. Ich hab jetzt auf jeden Fall Feierabend. Viel Spaß noch. Vielleicht fängst du ein paar Fliegen und lockst die Eidechsen damit aus dem Loch?“

„Danke für den Tipp“, knurrte Noёl.

„Keine Ursache.“ Taiyo hob grüßend die Hand mit der zappelnden Eidechse und zog in Richtung Fluss ab, um Kumo seine Beute zu zeigen.

Noёl hatte keine Uhr und im Gegensatz zu den meisten anderen Bewohnern der geheimen Inseln konnte er den Stand der Sonne nicht richtig deuten. Er war jedoch überzeugt, dass er schon stundenlang vor dieser Mauer hockte.

Wie lange sollte er noch hier ausharren? Inzwischen hatte sicher die gesamte Eidechsenpopulation der vierten Insel mitbekommen, dass hinter dem zweiten Turm Jagd auf sie gemacht wurde. Seit einer halben Ewigkeit hatte sich kein Tier mehr blicken lassen. Vielleicht sollte er Taiyos Rat befolgen und wirklich ein paar Fliegen als Köder fangen. Aber auch die waren zu schnell für ihn.

Wenn es bloß nicht so heiß gewesen wäre! Seine Augen schmerzten von dem grellen Sonnenlicht und obwohl er den Nachmittag mit Nichtstun verbracht hatte, war er total müde.

Warten konnte man allerdings auch im Liegen.

Noёl streckte sich lang auf dem Boden aus. Den Oberkörper auf die Ellenbogen gestützt, fixierte er den dunklen Mauerspalt. Er hatte das absurde Gefühl, dass eine ganze Eidechsenfamilie dahinter hockte und zu ihm herausstarrte. Vermutlich machten sie sich dabei über ihn lustig.

„Versteht mich da drin einer?“, fragte Noёl in Gedankensprache. „Falls ja, komm doch einfach raus. Ich tu dir nichts, es geht hier nur um eine Hausaufgabe.“

Keine Reaktion. Offensichtlich war unter den Eidechsen kein Auserwählter. Noёl ließ das Kinn auf die Unterarme sinken und seufzte genervt. Die Sonne blendete. Er schloss die Augen, nur ganz kurz.

Er musste eingeschlafen sein, denn er wurde von einem kühlen Luftzug geweckt, der durch seine Schuluniform drang.

„Guten Morgen.“

Als Noёl Kumos tiefe Stimme hörte, fuhr er wie der Blitz nach oben. Im selben Moment schoss die schwarz gesprenkelte Tatze des Leoparden an ihm vorbei und senkte sich auf eine Eidechse, die Noёls Schlummer für ein Sonnenbad genutzt hatte. Kumo warf jedoch nur einen kurzen Blick auf das kleine Tier, dann ließ er es wieder frei.

„So wird das nichts mit dem Jagen“, erklärte er, während er sich neben Noёl setzte.

Noёl rieb sich die nackten Arme. Sie hatten sich mit einer Gänsehaut überzogen, wie immer, wenn Kumo sich ihm näherte. Der Leopard mit den eisblauen Augen strahlte eine eigenartige Kühle aus, die Noёl unweigerlich zum Frösteln brachte. Allerdings verlor sich das Gefühl, wenn man eine Weile mit ihm zusammen war.

Nachdem Noёl und Taiyo die Aufnahmeprüfung im Internat der bösen Tiere bestanden hatten, war ihnen Kumo als gemeinsames Begleittier zugeteilt worden. Der Leopard war selbst Schüler auf der vierten Insel, er stand kurz vor dem Abschluss.

Noёl und Taiyo hätten keinen besseren Begleiter finden können, das war ihnen beiden klar. Kumo war klug, geduldig, erfahren und unglaublich stark.

Im Moment war er allerdings genervt, das spürte Noёl, auch ohne den Leoparden anzusehen.

Unbehaglich kratzte er sich am Kopf. „Ich hab’s echt versucht. Aber die sind einfach zu schnell.“

Kumo schwieg, dann machte er einen schnellen Satz nach vorn, seine Pranke sauste zu Boden. Er hatte schon wieder eine Eidechse gefangen.

„Du bist ein Leopard“, verteidigte sich Noёl. „Für dich ist es einfacher.“

„Wieso?“, fragte Kumo. „Meine Kraft nützt mir hier gar nichts.“ Er hob seine Tatze, deren Krallen eingefahren waren.

Die orangerote Eidechse verharrte für den Bruchteil einer Sekunde in Schockstarre, dann flitzte sie zur Mauer und verschwand in einer Ritze.

„Du musst auf die Dinge gefasst sein, bevor sie passieren“, sagte der Leopard.

„Wie soll das denn gehen?“, fragte Noёl. „Woher soll ich wissen, an welcher Stelle eine Eidechse zum Vorschein kommt?“

Kumo verlagerte sein Gewicht auf alle viere und dehnte den Körper nach hinten. „Das sagte ich ja gerade eben. Du musst auf alles gefasst sein. Aber das warst du nicht. Du warst gelangweilt und bist eingeschlafen.“

Noёl nickte betreten. Dabei fiel sein Blick auf eine Spalte, die sich waagerecht über die Mauer zog. Hatte sich dort etwas bewegt? Sein Körper spannte sich an, sein Herz schlug schneller. Er atmete flach, genau wie Kumo es ihm beigebracht hatte.

Als die kleine Eidechse ins Freie schlüpfte, schoss Noёl nach vorn und schnappte nach ihr. Und er bekam sie auch zu fassen. Er fühlte den schmalen, glatten Körper schon zwischen seinen Fingern. Aber bevor er die Hand schließen konnte, entwich die Echse und rettete sich in ihr Versteck.

Frustriert ließ Noёl den Kopf auf die Brust fallen. So ein Mist!

„Das war nicht schlecht“, erklang die leise Stimme des Leoparden, die immer wie ein leichtes Fauchen klang.

„Bullshit“, erwiderte Noёl, ohne aufzusehen. „Ich hab sie nicht gekriegt.“

„Du hast es fast geschafft. Beim nächsten Mal klappt es.“ Kumo streckte die Vorderpfoten und dehnte den Körper erneut, dann stand er auf. „Der Unterricht ist beendet. Gut gemacht, Noёl.“

Gut gemacht, Noёl. Die Worte hallten durch Noёls Kopf, als er auf den letzten der drei Türme zuging, in dem Taiyo und er wohnten. Er hatte zwar keine Eidechse gefangen, dennoch war er sehr zufrieden mit sich. Kumo hatte ihn gelobt, das machte ihn stolz.

Mit dem Sensor auf dem Boden öffnete er die breite Eingangstür und stieg die Treppe hoch. Neben den Stufen führte eine Rampe nach oben, die von all den Bewohnern genutzt wurde, die keine Treppe gehen konnten. Und im hinteren Bereich gab es auch noch einen Lift für besondere Fälle.

Aus der Mensa, die sich im Erdgeschoss befand, drang ein köstlicher Curry-Geruch ins Treppenhaus. Noёls Magen knurrte. Er würde Taiyo abholen und gemeinsam mit ihm zum Abendessen gehen.

Er beschleunigte seine Schritte, lief am zweiten Stock vorbei, dann am dritten. Ihr Zimmer lag in der fünften Etage, gleich unter dem Turmdach.

„Da bist du ja endlich!“ Im vierten Stock lehnte Taiyo an einer offenen Zimmertür, den Blick zur Treppe gerichtet. „Ich dachte schon, du willst bei den Eidechsen übernachten.“

Jetzt kam der große schlanke Junge mit den pechschwarzen Haaren auf Noёl zu. Hinter Taiyo hasteten die Waschbären Ned und Ted aus dem Raum, gefolgt von Chloe, dem Stinktier, die wie immer einen müffelnden Geruch verströmte.

„Ist er da?“ Aus dem Nachbarraum flatterten zwei Tauben heraus und dann tauchte auch noch ein kleiner Bergpuma auf.

„Was ist das denn für ein Auflauf?“, fragte Noёl. „Ist was passiert?“

„Mrs Moa war hier und wollte mit dir sprechen.“ Wie immer, wenn Chloe aufgeregt war, wurde ihr Stinktierduft noch intensiver.

„Fie wollte dir auch waf geben.“ Mirko, der Puma, stieß bei den s-Lauten mit der Zunge an. Eine Gedankenstimme mit Sprechfehler – das war eigentlich absurd, aber seit er auf den Inseln der bösen Tiere lebte, hatte Noёl längst aufgehört, sich über solche Dinge zu wundern.

„Komm, wir gehen nach oben.“ Taiyo marschierte mit großen Schritten an Noёl vorbei. Die anderen Turmbewohner setzten sich ebenfalls in Bewegung. Taiyo warf einen hastigen Blick über die Schulter. „Nee, ihr bleibt hier unten! Die Sache geht nur Noёl was an.“

„War Mrs Moa wirklich hier?“, fragte Noёl atemlos, als er Taiyo vor ihrer Zimmertür eingeholt hatte.

Ihre Mitbewohner waren ihnen nicht gefolgt, aber sie drängten sich allesamt auf dem Treppenabsatz des vierten Stockwerks und guckten neugierig zu ihnen empor.

Mrs Moa war die Direktorin der geheimen Inseln, wie das Internat der bösen Tiere offiziell genannt wurde. Die Riesenschlange hatte ihr Büro im großen Kuppelbau auf der Hauptinsel. Manchmal kam sie auf die vierte Insel und besuchte Mrs Jaja, die Hyäne, die die Leitung der Jäger innehatte. Aber hier in ihrem Wohnturm hatte Noёl die Direktorin noch nie gesehen.

„Sie hat sich extra rüberrudern lassen, um dir was zu geben“, sagte Taiyo, während er die Tür öffnete und eintrat. „Ich bin echt neugierig …“ Er unterbrach sich mitten im Satz und schnappte nach Luft.

Das kleine Dachzimmer sah aus, als ob einer der Wasserbüffel aus dem Chaotenturm hier Amok gelaufen wäre. Der Boden war bedeckt von losen Blättern, Kleidern und den Bananenchips, die in einer Schale auf dem Tisch gestanden hatten. Beide Betten waren durchwühlt, die kleinen Schränke standen auf, jemand hatte den gesamten Inhalt nach draußen befördert.

„Was soll das denn?“, fragte Noёl.

Sein Freund antwortete nicht. Taiyo war ganz bleich geworden. Nun eilte er zu dem kleinen Tisch, der unter dem bullaugenförmigen Fenster stand, und ließ sich davor auf die Knie sinken. Er spähte in die offene Schublade, in der sie ihre Schulsachen aufbewahrten.

„Sie ist weg“, hörte Noёl ihn murmeln. „Die Kiste ist weg.“

„Ich verstehe einfach nicht, wie das passieren konnte“, sagte Taiyo. Er hatte sich auf sein durchwühltes Bett sinken lassen und saß mit hängendem Kopf da, den Blick zu Boden gerichtet.

„Was war das für eine Kiste?“, fragte Noёl.

„Sie war flach und aus Silber, wie eine Schmuckschatulle.“

„Und was war drin?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Taiyo. „Das Ganze war mit einem Siegel verschlossen. Aber ich hätte auch so nicht reingeguckt.“

„Hat Mrs Moa denn nichts dazu gesagt?“

Taiyo schüttelte den Kopf. „Nein, nur dass ich dir die Schatulle geben soll. Sie hat mir mehrmals eingeschärft, dass sie allein für dich bestimmt ist.“

„Aber anstatt auf sie aufzupassen, bist du nach unten gegangen und hast mit den anderen gequatscht.“ Noёl zog eine Grimasse.

„Ich weiß auch, dass das verkehrt war“, sagte Taiyo zerknirscht. „Aber du hast so verdammt lange gebraucht, da wollte ich nachsehen, wo du bleibst. Ich bin nur bis zum vierten Stock gekommen, dort haben mich die anderen aufgehalten. Vor allem Chloe.“ Er wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. „Die kann echt penetrant sein.“

„Der Dieb muss sich hier hochgeschlichen haben, während ihr euch unterhalten habt.“

„Nein“, sagte Taiyo. „Ganz bestimmt nicht. Ich bin im Flur geblieben und hab die Treppe nicht aus den Augen gelassen. Da war niemand.“

Noёl starrte auf das kleine Fenster in der Wand. Es war geschlossen – oder etwa nicht? Er ging zu dem Bullauge und als er an dem Fenstergriff zog, schwang der runde Flügel nach innen auf.

„Der Dieb kam von draußen“, sagte er.

Taiyos Kopf schoss nach oben, seine Augen wurden groß vor Erstaunen.

„Das Fenster war aber zu, als ich das Zimmer verlassen habe“, sagte er.

„Bist du sicher?“

„Hundertpro. Ich hab das sogar noch mal gecheckt.“

„Das bedeutet, dass der Typ doch übers Treppenhaus rein ist und durchs Fenster wieder raus.“ Noёl trat an den Schreibtisch und schaute hinaus. Durch das Bullauge konnte man das Meer sehen und dahinter einen Teil der fünften Insel, auf der die Späher lebten. „Es war bestimmt ein Vogel. Und zwar kein allzu kleiner, sonst hätte er die Schatulle nicht tragen können.“

„Es kann auch irgendein anderes Tier gewesen sein, das eine Strickleiter hinabklettern kann.“

Taiyo hatte recht. Erst vor wenigen Tagen hatte Mrs Squat, die Hausmeisterin, die Strickleiter reparieren lassen, die jetzt vom Boden zum Dach des dritten Turms hinaufführte. Ein einigermaßen geschickter Kletterer konnte sie von ihrem Fenster aus ohne Mühe erreichen.

„Verdammt!“ Noёl ließ sich nun ebenfalls auf sein Bett sinken.

Was hatte Mrs Moa ihm geben wollen?

Vielleicht hatte der Inhalt der Kiste etwas mit seiner Mutter zu tun. Der Gedanke durchfuhr ihn wie ein Blitzschlag, hell und schmerzhaft. Die Mutter, die er niemals kennengelernt hatte.

Im Grunde kannte er nur ihren Namen: Sonya.

Nachdem sie Noёl vor fast fünfzehn Jahren am Heiligen Abend geboren hatte, hatte sie ihn zu ihrer Schwester Karin gebracht. Noёl war in dem Glauben aufgewachsen, dass Karin seine Mutter war. Bis diese ihn vor einem Jahr darüber aufgeklärt hatte, dass seine echte Mutter ihn bei ihr abgeladen hatte wie ein paar alte Kleider, die einem nicht mehr gefielen.

Dass etwas nicht stimmte, hatte Noёl allerdings schon viel früher gespürt. Er sah nicht nur ganz anders aus als Karin und ihr Mann Michael, er passte auch sonst nicht zu ihnen. Es war eine Erleichterung für ihn gewesen, als er endlich die Wahrheit erfahren hatte. Na ja, zumindest einen kleinen Teil der Wahrheit.

Als er ins Internat der bösen Tiere aufgenommen worden war, hatte Mrs Moa ihm erzählt, dass seine Mutter Sonya die Schule einst gegründet hatte. Zusammen mit der Bärin Orla, ihrer engsten Vertrauten. Orla war inzwischen tot und ob Sonya noch lebte, wusste keiner. Nach Noёls Geburt war sie spurlos verschwunden.

Aber im Gegensatz zu Noёl hatte Mrs Moa Sonya vorher noch kennengelernt. Die Direktorin hatte ihm allerdings so gut wie nichts über sie erzählt.

Auch von seiner Tante Karin, die Noёl aufgezogen hatte, hatte Noёl kaum etwas über seine Mutter erfahren. Karin war fünfzehn Jahre älter als Sonya, die beiden hatten auch als Kinder nur wenig Kontakt zueinander gehabt. Karin hatte Noёl ein paar Fotos von Sonya gegeben, die aber alle total verblichen und verwackelt gewesen waren. Er hatte sie auch nicht mitgenommen, als er damals so überstürzt in sein neues Leben aufgebrochen war.

Plötzlich stieg ihm wieder der strenge Stinktiergeruch in die Nase und als er den Kopf hob, sah er Chloe an der noch immer offenen Zimmertür stehen. Hinter ihr drängten sich die übrigen Bewohner der vierten Etage, zu denen sich nun auch noch Tiere aus den anderen Stockwerken gesellt hatten. Neben Chloe stand eine langbeinige Antilope, auf deren Rücken zwei Blässhühner hockten.

„Und?“, fragte Chloe.

„Nichts und“, erwiderte Noёl. „Hier ist jemand eingebrochen.“

„Ach, du meine Güte!“, rief Chloe. „Ist was gestohlen worden?“

„Eine silberne Kiste“, sagte Noёl.

„Eine filberne Kifte?“, wiederholte Mirko, der Puma. „Mit waf drin?“

„Das weiß ich nicht. Sie wurde ja gestohlen.“ Noёl musterte die Tiere nachdenklich. „Hat einer von euch vielleicht irgendwas beobachtet? Ist euch jemand aufgefallen, der nach oben gegangen ist?“

„Ich hab nur Mrs Moa gesehen, als sie zu eurem Zimmer hoch ist“, sagte die Antilope.

„Die haben wir alle gesehen“, bestätigte Ned oder Ted. Noёl konnte die beiden Waschbären einfach nicht auseinanderhalten.

„Der Dieb muss die Treppe genommen haben“, beharrte er. „Er muss doch jemandem aufgefallen sein!“

Bedauerndes Kopfschütteln, betroffenes Gemurmel.

„In der Kiste war bestimmt was Wertvolles drin“, piepste eins der Blässhühner und spreizte die Flügel.

„Miffef Moa wird echt fauer fein, wenn fie hört, daff fie weg ift“, sagte Mirko.

Taiyo sah den Puma ärgerlich an. „Danke für den Hinweis.“

„Bitte fehr.“ Mirko hatte keinen Sinn für Ironie.

Noёl stand auf.

„Was hast du vor?“, fragte Taiyo.

„Ich fahr rüber zur ersten Insel“, sagte Noёl. „Ich muss mit Mrs Moa reden.“

Taiyo schoss ebenfalls in die Höhe. „Ich begleite dich.“

Als sie zu dem Anleger kamen, an dem die Ruderboote vertäut waren, verfärbte sich der Horizont über dem Meeresspiegel bereits rosa.

Die Inseln der bösen Tiere lagen genau auf dem Äquator, die Tage waren das ganze Jahr über immer gleich lang. Um halb sieben ging die Sonne auf und abends ging sie um dieselbe Zeit wieder unter. Das Ganze ging ziemlich schnell vonstatten, nachdem die Dämmerung einmal eingesetzt hatte, dauerte es keine Stunde, bis es stockfinster war.

Tagsüber konnten die Schüler nach Belieben von einer Insel zur anderen übersetzen, der rege Austausch zwischen Jägern, Heilern, Künstlern und Hütern wurde von der Schulleitung sogar ausdrücklich begrüßt. Nur die fünfte Insel, auf der die Späher lebten, war für den Rest der Schule tabu. Nach Einbruch der Dunkelheit sollte jedoch jeder auf seiner Insel bleiben.

„Vielleicht wäre es besser, wenn ich allein rüberfahre“, sagte Taiyo mit Blick auf die blasse Mondsichel, die schon am Himmel zu sehen war. „Ich sag Mrs Moa Bescheid, dass sie dich anrufen soll …“

„Quatsch!“, fiel Noёl ihm ins Wort. „Ich komm auf jeden Fall mit.“

Seine Stimme klang schärfer, als er es beabsichtigt hatte. Er hasste es, wenn man ihn wie ein rohes Ei behandelte. Dabei verstand er gut, warum die anderen so besorgt waren.

Noёl hatte einen mächtigen Feind. Uko, der Sohn der Bärin Orla, gab Noёls Mutter die Schuld an Orlas Tod. Seit der riesige Bär erfahren hatte, dass Noёl am Leben war, setzte er alles daran, ihn zu töten.

„Wir sind hier sicher“, fügte Noёl in versöhnlicherem Ton hinzu. „Die Wächter passen doch auf uns auf.“

Die geheimen Inseln wurden schließlich rund um die Uhr bewacht. Ein Bataillon aus Haien, Seeschwalben, Möwen und Quallen schirmte das Internat gegen feindliche Eindringlinge ab.

Taiyo ließ die Schultern hängen. „Das hat Katókwe aber nichts genützt. Sie wurde trotzdem entführt. Und dich hat es ebenfalls fast erwischt.“

Noёl zuckte die Achseln, während er das Boot losband. Kein Schutzschirm war perfekt, jedes Netz hatte Löcher – so war das nun mal. Aber wenn Noёl sich deshalb vor Angst in ein Mauseloch verkroch, hatte Uko gewonnen.

Auf der Überfahrt wechselten die beiden Jungen kaum ein Wort. Während Noёl ruderte, wanderte Taiyos Blick unablässig über das Meer, das spiegelglatt und ruhig dalag.

„Da draußen segelt die Liberty.“ Taiyo deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Zweimaster, der gerade in der Abendsonne verschwand. Auf diesem Segelschiff hatten Noёl und er vor wenigen Wochen einen Tauchkurs gemacht.

Am Ufer der ersten Insel jagten ein paar Möwen in den Wellen nach Fischen. Ihre schrillen Schreie gingen Noёl durch Mark und Bein. Er mochte keine Möwen, seit ein paar der Vögel über ihn hergefallen waren und versucht hatten, ihm mit ihren spitzen Schnäbeln die Augen auszustechen. Die Möwen am Strand nahmen jedoch überhaupt keine Notiz von ihrem Boot.

Noёl atmete dennoch auf, als im Wasser die dreieckigen Rückenflossen einiger Haie auftauchten. Die Wächter blieben in ihrer Nähe, bis Noёl und Taiyo den Steg der Hauptinsel erreicht hatten und an Land geklettert waren. Dann erst machten sie kehrt und glitten in Richtung Horizont davon.

Noёl sah ihnen dankbar nach. Haie hatten ihm früher immer Angst gemacht, heute waren sie für ihn der Inbegriff von Geborgenheit und Sicherheit.

Taiyo hatte das Boot inzwischen vertäut. Nun beschattete er die Augen mit der Hand und blickte zu dem großen tempelähnlichen Gebäude empor, das in der Mitte der Insel auf einer Anhöhe stand. Die riesige goldene Kuppel funkelte in der Abendsonne. Eine breite Treppe aus Holzstufen führte vom Strand zu dem majestätischen Bau.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mrs Moa noch in ihrem Büro ist“, sagte er. „Sie hat doch bestimmt schon Feierabend und ist zu Hause.“

„Und wo ist das?“ Noёl wurde erst jetzt bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wo die Direktorin des Internats eigentlich wohnte.

„Irgendwo hier unten.“ Taiyo deutete auf die kleinen schlichten Häuser, die am Meeresufer verstreut lagen. „Aber wo genau, weiß ich auch nicht.“

„Wir können um diese Zeit doch nicht überall anklopfen.“ Noёl drehte sich einmal um die eigene Achse. Leider war der Strand vollkommen verlassen, weit und breit war kein Tier zu sehen, das sie hätten fragen können. Aber dann fiel sein Blick auf einen schilfgedeckten Bungalow, neben dessen Eingangstür ein rotes Kreuz prangte. Die Krankenstation.

„Schwester Liubu kann uns bestimmt helfen“, sagte Noёl.

In dem kleinen Büro neben dem Eingang der Krankenstation saß ein riesiger Gorilla, eine große Tasse in den Pranken, aus der weißer Dampf nach oben stieg. Die Leiterin der Krankenstation war eine begeisterte Kaffeetrinkerin, die Kaffeemaschine in ihrem Büro brodelte Tag und Nacht.

„Hallo, Schwester Liubu.“ Noёl hob die Hand, als er über die Schwelle trat.

„Hallo, ihr beiden!“ Der Gorilla fletschte die Zähne. Es sah Furcht einflößend aus, war in Wirklichkeit aber ein warmes Lächeln, das hatte Noёl längst gelernt. „Was wollt ihr denn so spät noch hier? Seid ihr etwa krank?“

„Nee, alles okay.“ Noёl winkte ab.

Neben der Kaffeemaschine stand ein gut gefüllter Obstkorb mit Bananen, Datteln, Ananas, Papayas und den leckeren feigenähnlichen Früchten, die nur hier auf den Inseln wuchsen. Beim Anblick des Obstes begann Noёls Magen laut zu knurren. In der Aufregung über den Einbrecher hatte er das Abendessen ganz vergessen.

„Na, das klingt ja gefährlich.“ Schwester Liubu reichte ihm einen Stängel mit Datteln und warf Taiyo eine Banane zu. „Hat euch der Hunger hierhergetrieben?“

„Wir müssen dringend mit Mrs Moa sprechen“, sagte Taiyo, während er die Banane schälte.

„Mit Mrs Moa?“ Die hohe Stirn der Krankenschwester legte sich in wulstige Falten.

Noёl verdrückte gierig ein paar Datteln. „Können Sie uns sagen, wo sie wohnt?“, fragte er mit vollem Mund.

„Das geht leider nicht“, sagte Schwester Liubu betrübt.

„Es muss gehen“, sagte Taiyo. „Wir wissen auch, dass sie längst Feierabend hat. Aber es ist ein Notfall.“

Die Leiterin der Krankenstation stellte ihre Tasse weg und strich mit beiden Händen über das dunkle Fell, das ihren runden Bauch bedeckte. „Setzt euch.“ Sie klopfte auf die Holzbank an der Wand. „Wollt ihr einen Kaffee?“

„Nein danke.“ Taiyo blieb stehen. „Es ist echt dringend.“

„Setzt euch!“ In der Stimme des Gorillas lag jetzt etwas Drohendes. Widerspruch war zwecklos, also nahmen sie beide auf der Bank Platz.

Noёl schob sich noch eine Dattel in den Mund, aber zur gleichen Zeit spürte er, wie sich sein Magen zusammenzog. Irgendetwas stimmte hier nicht.

„Worum geht es denn?“ Die Krankenschwester nahm ihre Tasse wieder auf. Sie pustete über den Kaffee, der längst nicht mehr dampfte, dann spitzte sie die Lippen und nahm umständlich einen Schluck.

„Mrs Moa war vorhin drüben bei uns auf der vierten Insel“, sagte Noёl. „Sie hat mir eine Kiste gebracht …“

Der Gorilla sah ihn überrascht an. „Was für eine Kiste?“

„Das wollen wir ja gerade von Mrs Moa erfahren. Die Kiste wurde gestohlen, bevor ich sie öffnen konnte.“

„Weil ich nicht darauf aufgepasst habe“, sagte Taiyo kleinlaut. Als ob das jetzt eine Rolle spielte.

„Das ist allerdings schlecht.“ Nun starrte Schwester Liubu wieder in ihre Tasse, als gäbe es darin etwas ungeheuer Wichtiges zu sehen.

„Was ist los, Schwester Liubu?“ Noёl beugte sich ein Stück nach vorn, sodass er in ihre großen schwarzen Augen blicken konnte.

Die Lippen des Gorillas verzogen sich zu einem unbehaglichen Lächeln. „Ihr habt doch mitbekommen, was in der letzten Zeit geschehen ist. Mrs Moa stand ganz schön in der Kritik wegen diesem … Vorfall.“

„Aber der geheime Rat hat beschlossen, dass sie unsere Direktorin bleiben kann“, sagte Taiyo.

Die Entscheidung des höchsten Gremiums war in der letzten Woche gefallen und im gesamten Internat mit großer Erleichterung zur Kenntnis genommen worden. Die Direktorin war in der Schule beliebt wie kein anderer Lehrer. Mrs Moa war gerecht, besonnen, großzügig und erfahren.

Es stand außer Frage, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Einen sehr gravierenden Fehler sogar, der Noёl und seiner Freundin Katókwe beinahe das Leben gekostet hätte. Aber es war ja alles gut gegangen und die Direktorin bereute ihre Verfehlung aus ganzem Herzen.

Wieder pustete Schwester Liubu auf den erkalteten Kaffee. Warum sagte sie nichts?

Noёl legte die restlichen Datteln auf den Tisch. Das Ziehen und Rumoren in seinem Magen war noch stärker geworden und diesmal war es nicht der Hunger.

Er zuckte zusammen, als der Gorilla die Tasse plötzlich auf den Tisch knallte, so schwungvoll, dass der Kaffee über den Rand schwappte. „Ich darf darüber nicht reden. Morgen findet eine Schulversammlung statt, in der ihr informiert werdet.“

„Sie ist weg“, flüsterte Noёl. „So ist es doch, oder?“

Taiyos dunkle Augen weiteten sich erschrocken. „Die Liberty! Sie war da drauf.“

Schwester Liubu seufzte schwer. „Was soll’s“, brummte sie. „Ihr erfahrt es morgen ja ohnehin. Es stimmt. Der geheime Rat hat zwar beschlossen, dass Mrs Moa Direktorin bleiben kann, aber sie hat die Entscheidung nicht angenommen.“ Die riesigen runden Augen der Krankenschwester begannen auf einmal verdächtig zu glänzen. Sie wandte den Kopf ab, sodass Noёl ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte. „Mrs Moa hat die geheimen Inseln heute Abend verlassen.“

Noёl und Taiyo starrten sich ein paar Sekunden lang fassungslos an.

„Wo ist sie hin?“, brachte Taiyo schließlich mühsam hervor.

„Das weiß keiner.“ Schwester Liubu bleckte die Zähne. Sie stand auf und schüttete den kalten Kaffee in das Waschbecken neben der Tür, um sich sofort danach frischen einzuschenken. „Aber es ist für immer. Sie wird nicht mehr hierher zurückkommen.“

„Das gibt’s doch nicht!“ In Noёls Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wie ging es jetzt weiter mit der Schule? Wer sollte die Direktorin ersetzen? Mrs Moa war schon bei der Gründung des Internats dabei gewesen, vermutlich kannte niemand die geheimen Inseln so gut wie sie.

War das das Ende? Nein, diese Frage verdrängte Noёl sofort wieder.

„Können Sie Mrs Moa bitte anrufen?“, fragte Taiyo. „Dann kann sie Noёl wenigstens sagen, was in der Kiste drin war.“

Schwester Liubu zog ein Taschentuch aus der Packung, die auf dem Tisch stand, und wischte sich damit über Augen und Nase. „Ja“, sagte sie. „Sicher, das kann ich machen.“

Sie nahm einen großen Schluck Kaffee, dann räusperte sie sich und schloss die Augen.

Noёl hatte keine Ahnung, wie die Distanzkommunikation – so wurde das Telefonieren von Kopf zu Kopf nämlich offiziell genannt – funktionierte. Seit einiger Zeit war er immerhin in der Lage, Anrufe anzunehmen, aber er schaffte es nicht, mit anderen Auserwählten Kontakt aufzunehmen, solange sie sich nicht im selben Raum befanden. Das war eine Übung für Fortgeschrittene wie Kumo oder Schwester Liubu.

Die Krankenschwester konnte mit jedem beliebigen Wesen auf der Welt telefonieren, das die Gedankensprache beherrschte. Im Moment klopfte sie bei Mrs Moa an, das wusste Noёl, auch wenn sie dabei keinen Laut von sich gab. Schwester Liubu saß eine Weile einfach nur da, die Kaffeetasse in der Hand, und lauschte in sich hinein. Schließlich schüttelte sie den Kopf. „Tut mir leid.“

„Was ist?“, fragte Taiyo.

„Ich kann keine Verbindung zu ihr aufnehmen“, sagte der Gorilla.

„Und woran liegt das?“, wollte Noёl wissen.

Schwester Liubu schob ihre dicke Unterlippe nach vorn. „Vielleicht schläft Mrs Moa.“

„Um diese Zeit?“ Taiyo schüttelte den Kopf. „Es ist noch nicht mal acht Uhr.“

Schwester Liubu starrte gedankenverloren vor sich hin. Ihre breite Nase mit den riesigen Nasenlöchern spiegelte sich in der pechschwarzen Flüssigkeit in ihrer Tasse. „Tja, vielleicht will sie einfach nicht mit mir sprechen.“ Nun hob sie den Kopf und sah die beiden Jungen mit ernstem Blick an. „In den letzten Wochen war sie sehr aufgewühlt und traurig, aber als ich mich vorhin unten am Pier von ihr verabschiedet habe, wirkte sie ganz gelassen. Fast heiter. Als ob sie mit allem abgeschlossen hätte.“

Der Gorilla holte tief Luft. „Ich werde weiter versuchen, mit ihr in Kontakt zu kommen. Und falls ich es schaffe, bitte ich sie, dich anzurufen, Noёl. Aber wenn du meine ehrliche Meinung hören willst …“ Schwester Liubu zögerte kurz. „Mach dir nicht allzu viele Hoffnungen“, sagte sie dann leise.

Als die Krankenschwester hörte, dass Taiyo und Noёl in der Dunkelheit zurück auf die vierte Insel rudern wollten, protestierte sie entschieden.

„Nur über meine Leiche“, erklärte sie. „Das fehlt gerade noch, dass euch auf dem dunklen Meer etwas passiert. Ihr schlaft heute Nacht hier in der Krankenstation. Morgen ist Samstag, da ist keine Schule. Nach dem Frühstück könnt ihr in aller Ruhe zurückrudern.“

Vor dem Schlafengehen ließ Schwester Liubu ihnen noch ein üppiges Abendessen bringen.

Noёl war eigentlich überzeugt, dass er viel zu durcheinander war, um auch nur einen Bissen hinunterzubekommen. Aber als ihm der leckere Duft des Reisgerichts in die Nase stieg, musste er sich beherrschen, um nicht wie ein Wolf über seinen Teller herzufallen. Er verschlang zwei große Portionen und aß danach noch einen Teller Obst. Taiyo verdrückte sogar drei Teller von dem Reis.

Sie putzten sich die Zähne und zogen die Schlafanzüge an, die Schwester Liubu ihnen gegeben hatte. Danach spielten sie ein paar Runden Karten mit ihr. Es hätte Noёl nicht gewundert, wenn der Gorilla jedem von ihnen noch einen Gutenachtkuss gegeben hätte, bevor er sie ins Bett schickte, aber das passierte dann doch nicht.

Da zurzeit nur eine einzige Patientin in der Station war – eine Stabheuschrecke, die sich einen Fühler gebrochen hatte –, bekamen sie beide ein eigenes Zimmer.

Noёl übernachtete in demselben Raum, in dem er nach seiner Ankunft auf den geheimen Inseln untergebracht worden war. Ein kleines Zimmer mit dunklem Holzboden, in dem abgesehen von einem Bett, einem Nachtschränkchen und einem Stuhl keine Möbel standen.