Internat der bösen Tiere, Band 5: Die Schamanin - Gina Mayer - E-Book

Internat der bösen Tiere, Band 5: Die Schamanin E-Book

Gina Mayer

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Beschreibung

Bist du gefährlich genug für diese Schule? Im Traum erscheint Noël eine weißgraue Wölfin: die legendäre Schamanin. Und sie hat eine beunruhigende Botschaft für ihn: Wenn er nicht in das Boot steigt, das am Ufer auf ihn wartet, wird ein großes Unglück geschehen. Noël traut der Wöfin nicht. Doch schon beim nächsten Flugunterricht auf den Felsen hoch über der Insel wird ihm klar, dass er damit einen folgenschweren Fehler begangen hat ... Entdecke alle Abenteuer im "Internat der bösen Tiere": Band 1: Die Prüfung Band 2: Die Falle Band 3: Die Reise Band 4: Der Verrat Band 5: Die Schamanin Band 6: Die Entscheidung

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2022Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2022 Ravensburger VerlagText: Gina MayerVermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, BerlinCover- und Innenillustrationen: Clara VathAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-51120-4www.ravensburger.de

Noëls Augenlider waren schwer wie Blei. Er brauchte seine ganze Kraft, um sie offen zu halten. Wenn sie erst einmal zufielen, war er rettungslos verloren, das wusste er. Nichts und niemand würde ihn aus dem Tiefschlaf zurückholen.

Noël atmete tief ein, massierte sich die Schläfen und drehte die Schultern nach hinten. Dann ließ er den Kopf im Nacken kreisen. Als er ihn wieder hob, fiel sein Blick auf Willy.

Das Flusspferd stand in der Mitte des Klassenzimmers, sein massiger Kopf hing so weit nach unten, dass er fast auf dem Boden auflag. Die speckigen Flanken hoben und senkten sich in ruhigem Wechsel. Hin und wieder stieß er ein wohliges Schnarchen aus.

Noël spürte, wie seine letzte Willenskraft in der stickigen Luft verflog. Seine Augen fielen zu, sein Kinn sank auf die Brust.

„Noël!“ Ein leichter Tritt traf ihn in die Seite. Er fuhr hoch und sah Rosy, die ihren schwarz-weiß gestreiften Hals zu ihm gedreht hatte und ihn tadelnd anschaute. „Du darfst nicht schon wieder …“

„Rosy und Noël!“ Die Stimme, die sich jetzt in Noëls Bewusstsein bohrte, war leise und heiser.

Noëls Blick schoss zu dem Marabu, der vorne im Raum auf einem Bein stand. Die runden glänzenden Vogelaugen waren auf ihn und Rosy, das Zebra, gerichtet.

„Letzte Warnung“, sagte Mr Ezekweseli. „Bei der nächsten Störung lass ich euch die Stunde wiederholen.“

Der spitze hornfarbene Schnabel des Marabus bewegte sich nicht, während er sprach. Mr Ezekweseli sandte seine Worte direkt in Noëls Kopf.

Im Internat der bösen Tiere, das Noël nun schon seit acht Monaten besuchte, kommunizierte man ausschließlich über die Gedankensprache. Allen, die hier lebten, war diese Fähigkeit angeboren, weshalb sie sich auch die Auserwählten nannten.

Leider musste man die Nutzung der Gedankensprache erst mühsam erlernen und ständig trainieren – und genau das taten sie im Unterricht bei Mr Ezekweseli.

In seiner früheren Schule hatte Noël sich unendlich schwer mit Englisch und Französisch getan. Heute sehnte er sich den Fremdsprachenunterricht fast zurück – Gedankenkommunikation war so viel schwerer.

Seit Wochen beschäftigten sie sich in den Sprachstunden mit den Vorübungen zur Distanzkommunikation – oder Telefonieren – wie die Schüler dazu sagten. Noël hatte lange gebraucht, bis er es geschafft hatte, Anrufe anzunehmen, aber trotz all der Büffelei hatte er bis heute keinen blassen Schimmer, wie man es machte, Auserwählte zu erreichen, die sich gerade nicht im selben Raum befanden.

Zumindest war er nicht der Einzige mit diesem Problem. Keiner in seiner Klasse konnte andere anrufen. Auch die Fortgeschrittenen, die zur selben Zeit im Nebenraum unterrichtet wurden, waren noch nicht so weit.

„Man lernt das eigentlich erst im dritten Jahr“, hatte Noëls Begleittier Kumo ihm erklärt.

Das war einerseits beruhigend, andererseits machte es alles noch viel frustrierender, wenn man wusste, dass man noch so weit vom Ziel entfernt war.

„Dann zeig uns mal die Übung, Noël“, sagte Mr Ezekweseli jetzt.

Der Marabu war das hässlichste Tier, das Noël kannte. Sein Vogelkopf war kahl, auch der Hals war nur von einem dünnen Flaum bedeckt und vor dem Körper baumelte ein großer Hautsack, wie ein riesiger Kropf.

„Äh, also …“ Hilfe suchend blickte Noël Rosy an, deren Nüstern sich weiteten. Das Zebra war genauso ratlos wie er selbst.

„Hast du etwa nicht aufgepasst?“ Die heisere Stimme des Marabus bekam etwas Schnarrendes. Alarmstufe Dunkelorange hieß das. Danach kam Rot und das bedeutete Nachsitzen. Dann musste man am Unterricht der Nachttiere teilnehmen, den Mr Ezekweseli ebenfalls gab. Kein Wesen wusste, wann der Marabu eigentlich schlief.

Noëls Blick fiel auf Gwendolyn, die Haselmaus, die zwischen Willys kleinen Ohren saß und gleichzeitig das linke Vorderbein und das rechte Hinterbein hob. Erstaunlicherweise fiel sie trotz der Verrenkungen nicht um. Dabei zwinkerte sie Noël verstohlen zu. Aber was sollte er mit dem Hinweis anfangen? Er hatte nur zwei Beine, nicht vier.

„Lass den Unsinn, Gwendolyn“, schnarrte Mr Ezekweseli.

Die Haselmaus zuckte zusammen und nun verlor sie doch das Gleichgewicht. Sie plumpste von Willys Kopf und landete direkt vor dem Flusspferd im Rindenmulch, mit dem der Boden ausgelegt war.

Im Klassenzimmer erhob sich prompt ein lautes Wiehern, Piepsen, Zwitschern und Blöken. Nur Willy nahm das Ganze nicht zur Kenntnis.

Mr Ezekweseli hatte schon alles versucht, um das Flusspferd aus seinem Dauerschlaf zu holen. Er hatte Willy in die Nachtklasse geschickt – aber da war das Flusspferd gar nicht erst erschienen, weil es komplett verpennt hatte. Inzwischen ignorierte der Marabu Willy einfach, so wie es die anderen Lehrer bereits seit Langem taten.

Auch Gwendolyn, die sich jetzt wieder aufrappelte, streifte der Sprachlehrer nur mit einem abfälligen Blick.

„Distanzkommunikation beruht auf dem inneren und äußeren Gleichgewicht“, erklärte er. Zur Veranschaulichung zog er sein linkes Bein noch höher nach oben, reckte den kahlen Hals und streckte den hornfarbenen Schnabel zur Zimmerdecke.

„Mach das nach“, forderte er.

Noël, der bisher im Schneidersitz auf dem Boden gesessen hatte, erhob sich. Er hasste Gleichgewichtsübungen, besonders wenn ihn alle dabei anstarrten. Aber Widerspruch war hier zwecklos, das war ihm klar.

Noël schaffte es immerhin, seinen linken Fuß in Kniehöhe zu heben. Doch als er den Blick nach oben richten wollte wie der Marabu, war alles aus. Noël ruderte mit den Armen und kippte erst in Zeitlupe und dann sehr schnell zur Seite.

„Achtung!“ Etwas Kleines, leuchtend Rotes flog durch sein Gesichtsfeld und landete auf Rosys Rücken. „Ups! Grade noch mal gut gegangen“, piepste eine helle Stimme.

„Cedric.“ Mr Ezekweselis Stimme hörte man selten eine Emotion an, aber jetzt vibrierte sie vor Wut, das war unverkennbar. „Ein für alle Mal: Du setzt dich im Klassenzimmer nicht auf den Boden!“

„Geht klar.“ Der winzige knallrote Frosch hopste von Rosys Rücken auf ihren Kopf und schnellte von dort auf einen der Holzbalken, die sich unter der Decke durch den ganzen Raum zogen. „Sorry.“

Obwohl Noël inzwischen auf dem Boden saß, wurde ihm schwindlig. Cedric war ein Pfeilgiftfrosch, wenn Noël auf ihm gelandet wäre, hätte sein Kontaktgift ihn im Handumdrehen gelähmt und vielleicht sogar getötet.

„Ich weiß wirklich nicht, was heute mit euch los ist“, sagte Mr Ezekweseli. „Ihr seid höchst unaufmerksam und undiszipliniert. Zur Strafe werde ich die ganze Klasse …“

Doch nun unterbrach sich der Lehrer. Sein Schnabel klappte ein paarmal auf und zu. „Das ist sehr ungünstig“, sagte er. „Es stört den geplanten Ablauf ungemein.“

Der Marabu telefonierte, das wusste Noël genauso wie die anderen. Und was immer er gerade hörte, passte ihm überhaupt nicht.

„Planänderung“, verkündete er missmutig, als das Gespräch beendet war. „Ich habe gerade erfahren, dass Mrs Shatterton morgen schon ankommt, der Workshop wird vorgezogen.“

„Welcher Workshop?“, fragte Rosy.

Mr Ezekweseli ignorierte sie. „Die Teilnehmer aus dieser Gruppe sind Gwendolyn, Sinka und Noël.“ Sein Schnabel stach in die Luft, als wollte er jemanden aufspießen. „Ihr trefft euch morgen um sechs unten am Fluss.“

„Und dann?“, fragte Noël.

Natürlich gab es auch auf diese Frage keine Antwort. Mr Ezekweselis Schnabel hackte noch einmal ins Leere. Dann machte der Marabu einfach mit dem Unterricht weiter.

„Alle gehen jetzt in die Gleichgewichtsposition“, befahl er. „Stellt euch dabei auf die Hälfte eurer Beine und wendet den Blick nach oben. Tiere ohne Beine richten den Oberkörper auf. – Achtung!“

Noël konnte gerade noch zur Seite springen, als Willy neben ihm mit einem entsetzlichen Krachen zu Boden ging. Das Flusspferd hatte Mr Ezekweselis Anweisung tatsächlich gehört und versucht, zwei seiner stämmigen Beine anzuheben. Es war sofort umgefallen und hatte dabei noch eine Bergziege und einen Flamingo mitgerissen.

Die schwarzen Augen des Marabus starrten ungläubig auf das Durcheinander im Klassenzimmer. Noël mochte den Sprachlehrer wirklich nicht besonders, aber auf einmal hatte er richtig Mitleid mit ihm.

Zwischen den glitzernden Sternen hing eine dünne Mondsichel. Es sah so aus, als hätte sie jemand in den dunklen Himmel gekratzt.

Bis zum Sonnenaufgang um halb sieben war es noch eine knappe Stunde.

Die geheimen Inseln lagen genau auf dem Äquator – deshalb blieb die Tageslänge das ganze Jahr über gleich und auch das Klima veränderte sich nicht.

Noël hauchte in seine klammen Hände und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. Er hatte seine Jacke oben im Zimmer gelassen. Später würde er sie nicht mehr brauchen, tagsüber kletterte das Thermometer regelmäßig auf über fünfundzwanzig Grad. Aber im Moment vermisste er sie sehr.

„Ich möchte bloß wissen, warum wir so früh aufstehen mussten“, sagte er.

„Ich auch.“ Sein bester Freund Taiyo, mit dem Noël sich ein Zimmer teilte, gähnte herzhaft. „Erst jagen sie uns ohne Frühstück hier raus und dann dürfen wir uns die Beine in den Leib stehen.“

„Morgen!“ Eine bullige Gestalt löste sich aus der Dunkelheit. Sie stemmte die Vorderarme auf den Boden und schwang die Beine darunter durch. „Ihr seid also auch in der Gruppe.“

„Hi, Tyson!“, begrüßte Noël den Pavian. „Weißt du, worum es hier geht?“

„Keinen blassen Schimmer.“ Der Affe kratzte sich unter der Achsel. „Mr Ezekweseli hat nur gesagt, dass wir um sechs hier sein sollen.“

Bei der Erwähnung des Sprachlehrers hob sich Noëls Laune sofort. Was auch immer ihn in den nächsten Tagen erwartete – immerhin blieben ihm einige Stunden Distanzkommunikation erspart.

Die Auswahl der Gruppe, die an dem Workshop teilnehmen sollte, war eigenartig. Aus Noëls und Taiyos Wohnturm waren die beiden Waschbären Ned und Ted und der Bergpuma Mirko erschienen. Das Stinktier Chloe musste ebenfalls mit von der Partie sein, auch wenn Noël es noch nicht gesehen hatte. Aber sein unverkennbarer Geruch lag in der Luft.

Außer Gwendolyn und dem Goldhamstermädchen Sinka, die beide in Noëls Klasse gingen, hatte sich ihnen noch eine Wildkatze namens Tamaris angeschlossen, die im ersten Turm wohnte und in Taiyos Klasse war.

„Guten Morgen zusammen.“ Die fremde Stimme, die nun in ihren Köpfen erklang, war laut und hell.

Noël drehte sich einmal um die eigene Achse, um zu sehen, wer da mit ihnen sprach. Das war der Nachteil an der Gedankensprache, man konnte niemals ausmachen, woher eine Stimme kam.

„Ich bin hier oben“, sagte die Stimme.

Als Noël den Kopf hob, sah er die Umrisse eines kleinen Pelztieres auf einem Ast des Agarbaums, unter dem sie sich versammelt hatten. Große runde Knopfaugen blitzten in der Dunkelheit. Das Tier sah sehr niedlich aus, mehr war nicht zu erkennen.

„Mein Name ist Molly Shatterton. Ich bin ein Kurzkopfgleitbeuteltier und werde euch in den nächsten Tagen unterrichten. Nachts hab ich auch noch einen Kurs, deshalb starten wir jeden Morgen recht früh und um Mittag ist dann Feierabend. Irgendwann muss man ja auch mal schlafen.“

„Ein Kurzkopf-was?“, fragte Tyson, und wie so oft war seine Stimme lauter, als er es beabsichtigt hatte.

„Ein Kurzkopfgleitbeuteltier“, wiederholte Mrs Shatterton. „Ich habe eine Liste von Namen bekommen, die ich nun der Reihe nach aufrufen werde. Ihr meldet euch bitte, damit ich weiß, dass alle hier sind. Und dann machen wir uns auf den Weg hoch zu den Klippen, da oben wartet nämlich mein Team schon auf uns.“

„Und was passiert dort?“, trompetete Tyson erneut los.

„Ach, hat man das euch noch nicht gesagt?“ Die Kurzkopfgleitbeuteltierdame legte überrascht den Kopf schief. „Ihr lernt fliegen.“

Fliegen. Noël war von der Antwort so von den Socken, dass er fast seinen Namen verpasste, als Mrs Shatterton ihn nannte. Erst als Taiyo ihm den Ellenbogen in die Seite stieß, brachte er ein hastiges „Hier!“ hervor.

„Bevor wir losgehen, noch mal was Grundsätzliches zum Ablauf“, sagte Mrs Shatterton, nachdem sie alle aufgerufen hatte. Die Liste, von der sie gesprochen hatte, existierte nur in ihrem Kopf, die meisten Auserwählten konnten weder schreiben noch lesen, hatten dafür aber ein exzellentes Gedächtnis. „Der Flugworkshop dauert fünf Tage – also bis einschließlich Samstag. Danach mache ich auf der dritten Insel weiter. Mit den Heilern, wenn ich richtig informiert bin. Dann kommen die Hüter und so weiter, bis alle Inseln durch sind. In der kurzen Zeit können wir euch natürlich nur die absoluten Basics beibringen. Ihr müsst das Erlernte regelmäßig üben, bis wir uns im nächsten Jahr wiedersehen, dann gibt es einen Fortgeschrittenenkurs. Hat jemand von euch Höhenangst?“

„Ich!“ Chloe reckte die spitze Schnauze in die Höhe. Wie immer, wenn sie aufgeregt war, verstärkte sich der Gestank, den sie verbreitete. Mrs Shatterton schien es ebenfalls zu riechen, Noël sah, wie ihre Nase zuckte.

„Chloe.“ Wow, dachte Noël, die Fluglehrerin hatte sich bereits ihren Namen gemerkt! „Schön, dass du so ehrlich bist. Wir werden daran arbeiten, mach dir mal keine Sorgen.“

„Boah, wieso hat sie Chloe nicht einfach zurückgeschickt?“, maulte Tyson, als sie sich kurz danach im Gänsemarsch an den Aufstieg auf die Klippen machten. „Mir ist jetzt schon übel von ihrem Gestank.“

„Sei bloß leise“, warnte Taiyo ihn. „Wenn sie dich hört, ist hier die Hölle los.“ Das Stinktier war furchtbar sensibel. Aber zum Glück befand es sich am anderen Ende der Reihe.

Als sie den Aufstieg etwa zur Hälfte bewältigt hatten, hob sich die Sonne über die Spitzen der hohen Bergkuppen und tauchte die Insel in ein unwirkliches rotes Licht. Jeder kleine Felsvorsprung, jeder Kiesel, jeder Grashalm schien plötzlich von innen heraus zu leuchten. Noël war jetzt nicht mehr kalt, der Pfad war so steil, dass er zu schwitzen begonnen hatte.

Die vierte Insel, auf der sie alle wohnten, war die kleinste der sechs Inseln, aber auch die vielfältigste. Es gab hohe Berge, einen reißenden Fluss und tiefe Seen, eine ausgedehnte Sumpflandschaft, den Mangrovenwald und eine weite sandige Ebene, in der es tagsüber sehr heiß wurde.

Obwohl Noël nun schon eine ganze Weile hier lebte und mit Taiyo und ihrem gemeinsamen Begleittier Kumo auch viel unterwegs war, hatte er es noch nicht geschafft, das gesamte Gebiet zu erkunden. Immer wieder entdeckte er Neues.

Manchmal hatte er das Gefühl, dass sich die Insel mit jedem Tag veränderte und ständig neue Landschaften entstanden.

„Geschafft!“, rief Taiyo, der vor Noël ging.

Als Noël um den Felsblock bog, hinter dem sein Freund gerade verschwunden war, sah er, dass sie das Ende des Pfades erreicht hatten. Sie waren oben auf den Felsen, die ihnen einen weiten Blick über das spiegelglatte Meer boten.

Mrs Shatterton saß auf einem Felsblock, im Gegensatz zu Noël und Taiyo war sie kein bisschen außer Atem.

Die Fluglehrerin war etwa so groß wie Noëls Hand. Ihr pelziger Rücken war graubraun, der Bauch sehr viel heller. Die Innenseiten ihrer großen Ohren leuchteten in einem zarten Rosa, genau wie die spitze Nase. Und ihre Augen waren riesig und tiefschwarz.

Mrs Shatterton war eine exzellente Kletterin. Während die beiden Jungen und die meisten anderen Tiere den gewundenen Pfad hochgestiegen waren, war die Fluglehrerin die steilen Felswände emporgehuscht. Tyson, der zuerst hinter Noël gelaufen war, war ihr nachgeturnt, jetzt hockte er neben ihr auf den Felsen.

Im Halbkreis um sie herum hatten sich ein paar riesige Seeadler verteilt. War das das Team, von dem Mrs Shatterton gesprochen hatte? Die Vögel starrten die kleine Gruppe an, ihre Blicke hatten etwas Bedrohliches. Noël fühlte sich unbehaglich. Er war froh, dass er keine Maus war.

„Darf ich vorstellen?“ Mrs Shattertons buschiger Schwanz wies auf die Vögel. In freier Wildbahn wäre die Lehrerin die ideale Beute für die Greifvögel gewesen, aber die Auserwählten verschonten sich gegenseitig. „Das sind Rocco, Manuel, Oliver, Sandro und Iwan. Meine Assistenten. Aber sie kommen erst morgen zum Einsatz.“ Sie stieß einen hellen Pfiff aus. „Danke, dass ihr hier wart, Jungs! Ihr habt den Rest des Tages frei.“

Die Seeadler spreizten sofort ihre Flügel, erhoben sich in die Luft und flogen über das Meer davon.

Noël sah ihnen nach, wie sie in Richtung der Hauptinsel verschwanden. Wie mühelos sie über das Wasser glitten! Noël hatte sein Leben lang davon geträumt, fliegen zu können. Doch er hatte nun mal keine Flügel und auf den Inseln der bösen Tiere gab es keine Flugzeuge.

„So wie die Jungs werden wir leider nie fliegen können“, sagte Mrs Shatterton, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Aber ich werde euch beibringen, wie ihr von hier oben runter zum Strand kommt.“

Ein ungläubiges Raunen lief durch die Gruppe. Das Riff, auf dem sie standen, war bestimmt dreißig Meter hoch. Die Felsen ragten direkt aus dem Meer, das heute ruhig und glatt war, denn es war ein windstiller Tag. Der Sandstrand, den sie erreichen sollten, lag hinter einer kleinen Bucht. Sollten die Adler sie auf ihre Rücken nehmen? Bei den kleineren Tieren funktionierte das bestimmt gut, aber Noël und Taiyo waren viel zu schwer für die Vögel.

Ned oder Ted – Noël konnte die beiden Waschbären einfach nicht auseinanderhalten – war zum Rand des Kliffs gegangen und spähte skeptisch in die Tiefe.

„Klar kommen wir da runter“, sagte er. „Aber nur einmal.“

Mrs Shatterton ignorierte die Bemerkung. Ihre kleine Nase begann heftig zu zucken. „Ich merke gerade, dass auch der Rest des Teams endlich angekommen ist. Wunderbar, dann können wir anfangen!“

Der Rest des Teams?

Noël blickte sich suchend um, doch außer den Workshopteilnehmern und der Fluglehrerin war weit und breit niemand zu sehen.

„Ihr werdet jetzt erst mal nacheinander vermessen“, erklärte ihre Lehrerin. „Danach machen sich meine Leute an die Arbeit und nähen los. Es wird ganz schön heftig, zwischendurch findet ja auch noch der Nachtkurs statt, aber bis morgen früh müssten wir es schaffen. Dann wird das Ganze angepasst und danach geht’s ab in die Lüfte!“

„Äh, wo ift denn daf Team?“, fragte Mirko, der Puma, dessen Gedankenstimme einen Sprechfehler hatte. „Ich fehe keinen.“

„Schau mal da drüben.“ Wieder benutzte Mrs Shatterton ihren buschigen Schwanz, um damit zu einem flachen großen Stein zu zeigen, der in der Morgensonne glänzte.

Und nun sah Noël, dass die Oberfläche von unzähligen kleinen Wesen besiedelt war. Er trat einen Schritt näher, um sie besser betrachten zu können.

„Was sind das denn für Käfer?“, fragte er.

„Das sind keine Käfer, sondern Spinnen“, korrigierte ihn die Lehrerin. „Oder, um präzise zu sein, Pseudoskorpione.“

Der Name passte perfekt. Die Tiere waren nur ein paar Millimeter groß, hatten einen runden braun gestreiften Panzer und sehr lange Vorderbeine, die wie die Scheren von Skorpionen geformt waren.

„Ich kann euch die Jungs und Mädels leider nicht im Einzelnen vorstellen“, sagte Mrs Shatterton. „Es sind einfach zu viele. Achttausendsiebenhundertdreiundsiebzig waren es bei der letzten Zählung, aber das ändert sich natürlich stündlich. Wollen wir dann mal loslegen?“ Der letzte Satz war offensichtlich an die Spinnen gerichtet, die jetzt im Chor ein helles Säuseln ausstießen.

„Gwendolyn“, sagte Mrs Shatterton. „Wir beginnen mit dir.“

„Also … äh …“ Die kleine Haselmaus war überhaupt nicht erpicht darauf, den Anfang zu machen, das war unverkennbar, doch Mrs Shatterton ließ sich davon nicht beeindrucken. Gwendolyn musste sich auf der Steinplatte ausstrecken, worauf die Pseudoskorpione allesamt über sie herfielen. Es sah aus, als wollten sie sie bei lebendigem Leib auffressen.

„Huch, das kitzelt“, kicherte Gwendolyn. Es kostete sie sichtlich Mühe stillzuhalten, aber zumindest schien sie keine Schmerzen zu haben.

„Fertig!“, ertönte nach wenigen Minuten eine silberhelle Stimme.

„Na, das ging ja flugs“, sagte Mrs Shatterton.

Gwendolyn huschte zu ihnen zurück.

„Noël“, sagte die Fluglehrerin.

Noël spürte ein nervöses Flattern im Magen, als er sich mit dem Rücken auf den großen Stein legte.

„Keine Angst, tut gar nicht weh“, piepste die Haselmaus.

„Mach die Augen zu“, forderte ihn das silberhelle Stimmchen auf. „Und bitte ganz flach atmen. Es geht los!“

Im selben Moment begann Noëls Körper zu kribbeln, als wären ihm sämtliche Glieder gleichzeitig eingeschlafen. Gegen das Verbot öffnete er die Augen einen winzigen Spaltbreit und sah, dass Tausende Pseudoskorpione auf ihm herumkrabbelten.

„Augen zu!“, befahl eine Spinne, die über seine Wange krabbelte. Hastig kniff er die Lider wieder zusammen. „Du bist ein Mensch, oder?“

„Stimmt“, sagte Noël.

„Ich liebe Menschen“, zirpte das Stimmchen. „Ihr baut diese wunderbaren Häuser voller Papier.“

„Häuser voller Papier?“, fragte Noël verständnislos, während das Kribbeln immer stärker wurde. „Meinst du Büchereien, oder was?“

„Keine Ahnung, wie die Dinger bei euch heißen“, erwiderte der Pseudoskorpion. „Wir nennen sie Rxxhåy¿mnmnsç¿jâ. Einer meiner Vetter wohnt in einem.“

„Da gibt es herrlich viele Staubmilben! Mmmmh!“, schwärmte eine andere Spinne.

„Ich muss ihn unbedingt mal wieder besuchen“, sagte die erste Stimme.

„Unbedingt“, sagte Noël. „Wieso vermesst ihr uns denn eigentlich?“

„Jetzt labert nicht so viel“, schimpfte ein dritter Pseudoskorpion. „Konzentriert euch lieber auf eure Arbeit. Jeder Nanometer zählt, sonst ist das Gejammer hinterher groß.“

Bei Noël dauerte die Vermessung länger als bei Gwendolyn, er war ja um einiges größer. Aber nach einer Viertelstunde konnte auch er wieder aufstehen.

Jetzt war Tyson an der Reihe, der während der ganzen Aktion ein hysterisches Kreischen ausstieß. Der Pavian war furchtbar kitzelig.

Chloe wurde als Letzte aufgerufen.

„Ganz ruhig“, sagte Mrs Shatterton. Ihre Gedankenstimme klang gepresst, das Stinktier verströmte nämlich einen so beißenden Gestank, dass allen schwindlig wurde. „Die Pseudoskorpione tun dir nichts, du brauchst keine Angst zu haben.“

„Ich habe aber eine schreckliche Spinnenphobie“, sagte Chloe.

Tyson, der neben Noël kauerte, schlug seine großen Hände über Nase und Augen. Chloe machte ihn fertig.

Doch dann war auch sie vermessen und die Pseudoskorpione verschwanden genauso schnell und lautlos, wie sie vorher aufgetaucht waren.

Inzwischen war es Mittag, die Teilnehmer zogen sich in den Schatten der Felsen zurück und verzehrten ihren Lunch. Während der Vermessungsaktion hatten nämlich zwei Adler ein paar Essenspakete auf die Klippen gebracht.

Noël kaute sein Sandwich und ließ den Blick über das Meer schweifen, das sich in der hellen Mittagssonne ausbreitete. Drei der sechs Inseln, auf denen das Internat der bösen Tiere untergebracht war, konnte man von hier aus sehen. Links lag die Insel der Heiler, die von hohen, schroffen Felsen mit schneereichen Gipfeln bedeckt war.

Daneben war die Hauptinsel. Auf einer Anhöhe stand ein großes Gebäude mit einer goldenen Kuppel, in der sich die Sonnenstrahlen brachen. Hier befanden sich die Versammlungsräume des Internats, die Aula und das Direktorat. Auch die anderen Verwaltungsgebäude und die Krankenstation waren auf der ersten Insel untergebracht.

Und rechts davon erblickte er die fünfte Insel, die geheimste der geheimen Inseln. Tagsüber durften sich die Schüler frei im ganzen Internat bewegen, aber um diese Insel zu betreten, brauchte man eine Sondererlaubnis. Hier wohnten und lernten die Späher.

Noëls Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als er den dichten Dschungel betrachtete, der die Insel bedeckte. Er hatte Katókwe, die dort lebte, schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.

„Langsam muss ihr Arrest doch mal rum sein“, sagte Taiyo, der neben ihm saß. Wie so oft sprach sein Freund aus, was Noël dachte.

Mit der schönen Späherin Katókwe waren sie beide befreundet – und Noël wusste, dass Taiyo genau wie er selbst mehr als Freundschaft für sie empfand.

Aber Katókwe dachte gar nicht daran, einem von ihnen den Vorzug zu geben – und vermutlich war das auch ganz gut so. Noël hätte sich ja auch nicht zwischen ihr und Taiyo entscheiden können.

Noël und Taiyo konnten Katókwe nicht besuchen, sie durfte ihre Insel jedoch verlassen, wann immer sie wollte. Normalerweise kam sie jedes Wochenende auf die vierte Insel, um sich mit Noël, Taiyo und Tyson zu treffen. Manchmal kreuzte sie auch unter der Woche bei ihnen auf.

Weil sie sich solche Sorgen um ihre Freundin machten, hatten Noël und Taiyo Kumo dazu gebracht, sie anzurufen. Aber die Späherin hatte die Anrufe nicht angenommen – Telefonieren war einfach nicht Katókwes Ding.

Danach hatte Kumo es bei Corazón versucht, Katókwes Begleittier. Die Schlange hatte ihm erzählt, dass Katókwe wegen einer Regelverletzung Inselarrest hatte. Warum sie bestraft worden war und wie lange sie noch auf der fünften Insel festsaß, hatte Corazón nicht verraten.

„So.“ Mrs Shatterton sprang auf und dehnte ihren Rücken wie eine Katze. „Ihr könnt gerne in Ruhe aufessen, aber ich mache mich jetzt auf den Weg. Ich brauche dringend eine Pause, bevor der Nachtkurs beginnt.“

„Ich bin auch ein Nachttier“, jammerte Chloe. „Ich sollte eigentlich in den anderen Workshop, aber der war schon so voll, dass sie mich in den Tagkurs gesteckt haben. Das ist total gemein.“

„Wir sind ja jetzt fertig“, tröstete Mrs Shatterton das Stinktier. „Du kannst dich den ganzen Nachmittag ausruhen.“

Tyson lag ein fieser Kommentar auf den Lippen, Noël sah es ihm an. Aber bevor der Pavian loslegen konnte, versetzte er ihm einen Fußtritt.

„Aua!“, sagte Tyson. „Was soll das?“

„Schluck’s runter“, raunte Noël ihm zu.

„Ich würde euch zum Abschluss gerne noch was zeigen.“ Mrs Shattertons große Augen waren auf Noël und seinen Freund gerichtet.

Noël nickte hastig. Daraufhin stellte die Kursleiterin sich auf ihre Hinterfüße und reckte die Vorderbeine hoch zum Himmel. Und nun erkannten sie, dass eine zarte Haut ihre Glieder miteinander verband. Sie umgab Mrs Shattertons Körper wie ein rechteckiger Schirm.

„Das ist mein Fluganzug“, erklärte sie. „Er ist angeboren und funktioniert hervorragend, wie ihr gleich sehen werdet.“

„Und fo waf kriegen wir auch?“, fragte Mirko, der Puma. „Wurden wir defhalb vermeffen?“

„Ganz genau.“ Mrs Shatterton ließ sich wieder auf alle viere fallen.

„Jetzt weiß ich, was Sie vorhaben“, rief Taiyo aufgeregt. „Wingsuitgliding! Ich hab das früher mal auf YouTube gesehen. Da springen Leute von hohen Bergkuppen und fliegen einfach so zwischen Felsspalten durch.“

„Wo ist denn YouTube?“, fragte Mrs Shatterton. „Da war ich noch nie. Aber in Australien gibt es auch Menschen, die so tun, als könnten sie fliegen. Das ist allerdings ziemlich stümperhaft, tut mir leid, wenn ich das so offen sage. Sie schaffen es nicht mal, ohne Fallschirm zu landen. Wir machen das professioneller.“

Noël und Taiyo warfen sich einen schnellen Blick zu. Die Vorstellung, dass sie sich morgen in einem von Spinnen genähten Fluganzug vom Felsrand werfen sollten, war ziemlich gruselig. Aber auch sehr aufregend.

„Nun seid doch mal still!“, sagte Mrs Shatterton streng, obwohl keiner aus der Gruppe einen Ton gesagt hatte. „Ich mach ja jetzt Feierabend.“ Dann richteten sich ihre schwarzen Augen wieder auf die Schüler. „Verzeihung. Aber meine Kinder drehen ein bisschen durch. Sie brauchen dringend Ruhe.“

„Welche Kinder?“, fragte Noël verwirrt.

„Na, die hier.“ Mrs Shatterton klopfte zärtlich auf ihren Beutel. „Ein Junge und zwei Mädchen, allesamt sieben Wochen alt. Das Leben als alleinerziehende Mutter ist anstrengend, aber was will man machen? Der Nachwuchs muss ja ernährt werden.“

Noël hätte zu gerne einen Blick auf die Kinder der Fluglehrerin geworfen, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Mrs Shatterton stand bereits am Rand der Klippen.

„Wir treffen uns morgen um Punkt sechs Uhr hier oben. Geht früh schlafen, damit ihr fit seid. Ich empfehle euch, einen anderen Rückweg zu nehmen als ich.“

Sie kicherte leise, dann ließ sie sich einfach fallen und verschwand in der Tiefe. Die ganze Gruppe hastete nach vorn.

Noël sah gerade noch, wie das Kurzkopfgleitbeuteltier Arme und Beine weit auseinanderspreizte und in einem eleganten weiten Bogen durch die Luft segelte.

Nach ein paar Minuten landete Mrs Shatterton unten am Strand. Ihr buschiger Schwanz winkte zu ihnen herauf, bevor sie über die Felsen weghuschte.

„Wenn es doch nur schon morgen wäre“, sagte Noël.

Taiyo, Tyson und er saßen am Strand, die Füße im warmen Sand vergraben. Noël und Taiyo trugen Badehosen, sie waren gerade schwimmen gewesen. Tyson, der das Meer verabscheute, hatte am Ufer auf sie gewartet.

„Ihr Menschen seid komisch“, sagte der Pavian, während er eine Handvoll Sand durch seine kraftvollen Finger rieseln ließ. „Ihr seid ganz versessen darauf, Dinge zu machen, für die ihr nicht geboren seid. Kein Affe käme je auf die Idee, sich freiwillig ins Wasser oder von einem Felsen zu stürzen. Schwimmen ist was für Fische und Fliegen für Vögel.“

„Wie bist du denn drauf?“, fragte Noël. „Das ist doch ein echtes Abenteuer!“

„Hast du etwa Schiss?“, erkundigte sich Taiyo.

„Schiss?“, fragte Tyson zurück. „Das ist die Stimme der Vernunft, die sich in mir meldet.“

„Komm schon, Tyson.“ Noël legte einen Arm um die haarigen Schultern seines Freundes. „Das wird super morgen!“

„Was wird super?“, fragte eine raue Stimme in seinem Kopf.

Noëls Körper registrierte noch vor seinem Gehirn, wer sich da genähert hatte. Seine Arme und Beine überzogen sich mit einer Gänsehaut, sein Magen krampfte sich zusammen und sein Herz begann zu rasen. Alles gleichzeitig.

„Kat“, sagte Taiyo. Seine Stimme klang, als hätte er gerade einen Fünfhundertmeterlauf hinter sich.

Katókwe war vollkommen lautlos hinter sie getreten. Hoch aufgerichtet stand sie da. Ihr Gesicht schimmerte wie schwarzer Samt. Die langen Haare, die sie zu unzähligen schmalen Zöpfen geflochten hatte, glänzten in der Sonne, als wären sie lackiert.

„Lange nicht gesehen“, sagte Noël. Auch seine Stimme klang gepresst.

„Stimmt“, sagte Tyson. „Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“

Katókwe presste die schönen Lippen aufeinander, während sie sich neben dem Pavian in den Sand sinken ließ. Sie trug ihre Schuluniform – ein weißes T-Shirt zu beigen Hosen, die allerdings ziemlich schmutzig waren.

„Vier Wochen Stubenarrest“, erwiderte eine leise, zischelnde Stimme an ihrer Stelle. Corazón hatte es sich oben auf Katókwes Cornrows gemütlich gemacht. Auf den pechschwarzen Zöpfen wirkte die hellgrüne Viper wie eine kostbare Schmuckspange. „Katókwe durfte ihr Baumhaus nur für den Unterricht verlassen.“

„Wow!“, sagte Tyson beeindruckt. „Wie hast du das denn geschafft?“

Katókwe verdrehte missmutig die Augen. „Kleiner Zusammenstoß mit Leif.“

Corazón lachte. „Klein? Du hast dem Jungen fast das Ohr abgebissen!“

„Ich bin mir sicher, er hat es verdient“, sagte Tyson.

Der Pavian mochte Katókwes Mitschüler genauso wenig wie Noël, Taiyo und der Rest der Schule. Der Späher war falsch und verlogen. Er versuchte, sich bei seinen Lehrern einzuschmeicheln, indem er seine Mitschüler verpetzte oder austrickste.

Noël hatte zufällig mitbekommen, dass Leif etwas über Katókwe wusste, was sie sogar vor ihren Freunden geheim hielt. Mit seinen fiesen Andeutungen über ihre Herkunft und ihr unreines Blut schaffte ihr Mitschüler es immer wieder, Katókwe zum Explodieren zu bringen. Körperliche Gewalt war im Internat jedoch absolut tabu und es war nicht das erste Mal, dass Katókwe hart dafür bestraft wurde, dass sie auf Leif losgegangen war.

„Wieso lässt du dich von dem Typen so auf die Palme bringen?“, fragte Noël. Er war überzeugt, dass der Späher es darauf anlegte, Katókwe so zu reizen, dass sie irgendwann von der Schule flog. „Du ziehst jedes Mal den Kürzeren, siehst du das nicht?“

„Genau meine Worte“, zischelte Corazón. „Aber auf mich hört sie ja nicht.“

Katókwes volle Lippen wurden ganz schmal und hell, weil sie sie noch fester aufeinanderpresste. Sie hasste es, zurechtgewiesen zu werden.

„Die beiden haben recht, Kat“, sagte Taiyo, den Blick aufs Meer gerichtet. „Leif provoziert dich und anstatt ihn zu ignorieren, gehst du ihm auf den Leim.“

Innerhalb eines Sekundenbruchteils schnellte Katókwe aus dem Schneidersitz nach oben.

„Was ist denn jetzt los?“ Tyson blickte verwundert zu ihr hoch. „Hat dich was gestochen?“

„Ich hau wieder ab“, zischte Katókwe. „Ich hab keinen Bock auf eure Moralpredigten.“

„Bleib cool, Kat.“ Der Pavian bleckte die Zähne zu einem breiten Grinsen. „Ich find es gut, dass du dem Kerl eine reingesemmelt hast. Eine muss es doch tun.“

„Tyson!“, sagte Corazón vorwurfsvoll. „Nun bestärk sie nicht auch noch in diesem Unsinn.“

„Hast du schon von unserem Workshop gehört?“, fragte Noël hastig, bevor Katókwe wieder wütend wurde. „Wir lernen jetzt fliegen.“

„Hä?“ Katókwe sah ihn misstrauisch von oben herab an. „Das ist ein Witz, oder?“