Internat der bösen Tiere, Band 6: Die Entscheidung - Gina Mayer - E-Book

Internat der bösen Tiere, Band 6: Die Entscheidung E-Book

Gina Mayer

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Beschreibung

Bist du gefährlich genug für diese Schule? Der Endkampf rückt immer näher – Noël spürt es mit jeder Faser seines Körpers. Schon bald wird er auf seinen Erzfeind Uko treffen und es wird nur einen Überlebenden geben. Bis es so weit ist, bilden ihn die Besten der Besten unter den bösen Tieren aus: im Klettern, Tauchen, Anschleichen und in anderen überlebenswichtigen Fähigkeiten. Doch Noëls Chancen auf einen Sieg über Uko schwinden dramatisch, denn noch ehe seine Ausbildung abgeschlossen ist, wird er von den Inseln entführt … Entdecke alle Abenteuer im "Internat der bösen Tiere": Band 1: Die Prüfung Band 2: Die Falle Band 3: Die Reise Band 4: Der Verrat Band 5: Die Schamanin Band 6: Die Entscheidung

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2022Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2022 Ravensburger VerlagText: Gina MayerVermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, BerlinCover- und Innenillustrationen: Clara VathAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-51147-1ravensburger.com

„Ich frage mich, wer auf diese bescheuerte Idee gekommen ist.“ Taiyo nahm einen Kiesel vom Boden und schleuderte ihn ins Meer. „Das ist doch die absolute Folter.“

„Ich werde mich in den nächsten beiden Tagen darauf konzentrieren, mir den Magen zu verderben“, verkündete Tyson. „Vielleicht hab ich Glück und bin am Montag so krank, dass ich nicht mitmachen muss.“

„Was willst du denn fressen?“, fragte Noël. „Reißnägel und Schrauben? Du hast einen Magen aus Stahl. Selbst nach dem Eimer mit den vergammelten Aprikosen neulich ist dir nicht schlecht geworden.“

Die drei Freunde saßen in der Steinbucht neben den drei Türmen und blickten missmutig auf das Meer, das in der Sonne glitzerte wie auf einem kitschigem Foto in einer Reisewerbung. In der letzten Schulstunde hatte ihnen ihre Klassenlehrerin Mrs Styx mitgeteilt, dass ihre gesamte Stufe in der nächsten Woche keinen regulären Unterricht hätte. Es war kurzfristig ein Sprachworkshop mit Mr Ezekweseli angesetzt worden, der von Montag bis Freitag dauern sollte. Fünf Tage Sprachunterricht bei dem stets übellaunigen Marabu, das war nicht nur für die beiden Jungen und den Pavian eine Horrorvorstellung. Die ganze Klasse hatte aufgeschrien, als sie das gehört hatte.

Normalerweise duldete Mrs Styx keinen Aufruhr, schon bei der kleinsten Unruhe im Klassenzimmer griff die Gottesanbeterin entschlossen durch. Aber diesmal hatte sie einfach nur ihre Greifarme aneinandergerieben und abgewartet, bis es um sie herum wieder still geworden war. Noël hatte den absurden Eindruck gehabt, dass so etwas wie Mitleid in ihren großen Facettenaugen gelegen hatte.

Mr Ezekweseli war der unbeliebteste, strengste und miesepetrigste Lehrer der ganzen Schule. Er gab Sprachunterricht – eines der wichtigsten Fächer im Internat der bösen Tiere. Denn die Schülerinnen und Schüler und auch die Lehrer gehörten den unterschiedlichsten Spezies an. Ameisen, Flusspferde, Hornissen und Seeadler, Tintenfische und Schlangen verständigten sich mithilfe der Gedankensprache, bei der die Worte von Kopf zu Kopf gesendet wurden. Die Fähigkeit der Gedankenübertragung war jedem Bewohner der geheimen Inseln angeboren, deshalb nannten sie sich selbst ja auch die Auserwählten. Aber die Anwendung der Gedankensprache musste von allen erst mühsam erlernt und danach kontinuierlich geübt werden. Dafür war Mr Ezekweseli zuständig.

Noël war früher schon, als er noch auf eine normale Schule ging, nicht gut in Fremdsprachen gewesen. Der Unterricht bei dem Marabu war eine einzige Qual für ihn. Mr Ezekweseli war nicht nur äußerst streng, sondern auch entsetzlich langweilig. Noël schlief in den Stunden regelmäßig ein. Die Vorstellung, dass ihn die monotone Stimme des Marabus nun eine ganze Woche lang berieseln würde, war so furchtbar, dass er sie mit aller Macht verdrängte.

Zu allem Überfluss waren seine besten Freunde Taiyo und Tyson auch noch im Fortgeschrittenenkurs, den der Sprachlehrer parallel unterrichtete. Sie würden das Ganze also nicht mal gemeinsam durchstehen …

Vielleicht war Tysons Idee, krank zu werden, gar nicht so schlecht, überlegte Noël. Er zog sich das helle T-Shirt über den Kopf. „Ich geh noch mal ins Wasser. Vielleicht schaff ich es ja, mich zu erkälten.“

„Haha“, sagte Taiyo, ohne eine Miene zu verziehen. „Das Meer hat fünfundzwanzig Grad. Da musst du schon ein paar Tage drinbleiben, um auszukühlen.“

Obwohl Noël und er beide Menschen waren, verwendeten auch sie die Gedankensprache. Denn Taiyo kam aus Japan und Noël war Deutscher. Sie hätten sich höchstens auf Englisch verständigen können, doch Noëls Englisch war miserabel.

„Kommst du mit?“, fragte Noël seinen Freund.

Wortlos schlüpfte auch Taiyo aus dem T-Shirt und der beigen Hose, die ihre Schuluniform bildeten. Tyson brauchten sie gar nicht zu fragen, ob er mit ins Meer wollte. Der Pavian schwamm nur, wenn es sich absolut nicht verhindern ließ.

Als sie eine halbe Stunde später wieder an den Strand wateten, verfärbte sich der Himmel bereits rosarot. Die Inseln der bösen Tiere lagen auf dem Äquator, dadurch ging die Sonne das ganze Jahr über immer um halb sieben unter und erhob sich genau zwölf Stunden später wieder aus dem Meer. Vom ersten Abendrot bis zur vollständigen Finsternis dauerte es keine Stunde – und da die Tagschüler nach Einbruch der Dunkelheit in ihren Türmen sein sollten, wurde es langsam Zeit, nach Hause zu gehen.

Tyson hatte die Wartezeit darauf verwendet, im seichten Wasser nach Muscheln zu suchen und sie zu verspeisen. Neben ihm lag ein Berg an leeren Schalen. Eigentlich war der Pavian Vegetarier, genau wie Noël und Taiyo. Wenn man mit anderen Tieren befreundet war, konnte man sie ja schlecht aufessen.

Doch heute hatte Tyson offenbar eine Ausnahme gemacht.

„Na, ist dir schon schlecht?“ Taiyo schüttelte das Wasser aus seinen pechschwarzen Haaren. Die Tropfen glitzerten im Licht des Sonnenuntergangs wie kostbare Perlen.

„Kein bisschen“, sagte Tyson betrübt. Dann streckte er Taiyo eine gefüllte Schale hin. „Auch eine? Die sind gar nicht übel.“

„Danke.“ Taiyo schüttelte angewidert den Kopf. „Obwohl ich jetzt auch einen ziemlichen Kohldampf …“

„Hierrr bist du!“ Aus dem rot glühenden Himmel schwirrte ein kleiner Vogel heran und ließ sich auf Tysons Schulter nieder, als wäre der Pavian ein Felsbrocken. Es war ein braun-weiß geschecktes Käuzchen, das die drei Freunde mit seinen großen runden Augen musterte. „Ich hab dich wie verrrückt gesucht.“

„Echt?“, fragte Tyson. „Was gibt’s denn?“

Die Käuzchen übernahmen auf den geheimen Inseln den Weckdienst und sie überbrachten Nachrichten für alle Schüler, die die Distanzkommunikation noch nicht beherrschten. Allerdings hatten Tyson, Noël und Taiyo inzwischen gelernt, wie man Anrufe von einem anderen auserwählten Wesen entgegennahm.

Das Käuzchen spreizte die Flügel. „Ich bin wegen Noël hierrr“, erwiderte es. „Bist du berrreit fürrr die Nachrrricht?“

„Klar.“ Noël war gerade damit beschäftigt gewesen, von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen, um sich einen Rest Meerwasser aus dem Ohr zu schütteln. Jetzt hielt er neugierig inne. „Schieß los.“

„Also.“ Das Käuzchen räusperte sich gewichtig. „Du wirrrst am Montag nicht an dem Sprrrachworrrkshop teilnehmen. Du bekommst eine Woche Sonderrrunterricht. Näherrre Inforrrmationen errrteilt dirrr dein Begleittierrr.“

„Was?“ Noël riss die Augen auf. Hatte er richtig gehört? Der Sprachworkshop würde ihm erspart bleiben? „Was ist das für ein Sonderunterricht?“

„Ende derrr Nachrrricht“, krächzte das Käuzchen. „Willst du sie noch einmal hörrren?“

„Nein danke“, sagte Noël. „Von wem kommt sie denn überhaupt?“

„Ach so.“ Der Kopf des Käuzchens ruckte um hundertachtzig Grad nach hinten, erst in die eine, dann in die andere Richtung. „Von Mrs Moa.“

„Wieso ruft sie mich nicht einfach an?“, fragte Noël.

„Hat sie verrrsucht“, erklärte der kleine Vogel pikiert. „Aberrr du gehst ja nicht rrran.“

„Oh.“ Eingehende Telefonanrufe registrierte jedes auserwählte Wesen mit einem anderen Körperteil. Noël schmeckte es auf der Zunge, wenn ein anderes Tier bei ihm anklopfte. Aber er hatte die letzte halbe Stunde hauptsächlich unter Wasser verbracht, vermutlich war ihm der Anruf einfach nicht aufgefallen.

„Die Nachrrricht wirrrd gelöscht.“ Das Käuzchen breitete die Flügel aus und schwirrte in den inzwischen dunkelroten Himmel davon.

„Sonderunterricht.“ Taiyo schob mit der Fußspitze ein paar Kiesel zu einem kleinen Hügel zusammen. „Das klingt ja …“

„Zu schön, um wahr zu sein“, beendete Noël den Satz.

„Wieso kriegst du Sonderunterricht?“, fragte Tyson.

Noël kaute an der Innenseite seiner Wange. Er sparte sich die Antwort, Tyson kannte sie so gut wie Taiyo und er selbst.

Noël war der Sohn von Sonya, die die Schule vor sechzehn Jahren zusammen mit der Bärin Orla gegründet hatte. Kurz nach der Gründung hatte Orla einen Sohn namens Uko bekommen und war von Menschen gefangen genommen und getötet worden. Sonya, die sich für den Tod ihrer Freundin verantwortlich fühlte, hatte ihren eigenen neugeborenen Sohn – Noël – bei ihrer Schwester untergebracht, um sich ganz um den Bären Uko kümmern zu können.

Die Sache war furchtbar schiefgegangen. Uko hasste Sonya, weil er ihr die Schuld am Tod seiner Mutter gab. Irgendwann war der Bär in die Wildnis geflohen. Seitdem setzte er alles daran, Orlas Tod zu rächen. Uko hatte schon mehrmals versucht, Noël zu entführen und umzubringen, weil er genau wusste, dass Noël für Sonya viel wichtiger war als ihr eigenes Leben.

Zum Internat der bösen Tiere hatte Uko keinen Zutritt, die geheimen Inseln wurden durch ein engmaschiges Netz an Spähern und Wächtern geschützt. Dennoch war Noël in den letzten Monaten mehrmals in Lebensgefahr geraten, weil sich Ukos Verbündete Zugang zum Schulgelände verschafft hatten. Mrs Moa, die Direktorin des Internats, hatte vor einigen Wochen angekündigt, dass man Noël auf den Entscheidungskampf mit Uko vorbereiten wollte. Und jetzt war es offensichtlich so weit.

„Vielleicht brauchst du ja einen Übungspartner für dein Sondertraining“, sagte Taiyo.

„Oder sogar zwei“, ergänzte Tyson.

„Das wäre bestimmt sinnvoll.“ Noël nickte begeistert. „Wir fragen Kumo einfach.“ Der Leopard mit den eisblauen Augen war das gemeinsame Begleittier von Taiyo und ihm. Vermutlich würde er auch Noëls Ausbildung übernehmen, warum hätte das Käuzchen Noël sonst zu ihm geschickt?

„Sollen wir das jetzt gleich machen?“, fragte Taiyo. „Kumo ist bestimmt auf seinem Baum.“

Noël blickte in den Himmel, der sich inzwischen dunkelblau verfärbt hatte. „Bis wir oben am Fluss sind, ist es stockfinster.“ Kumo wäre alles andere als begeistert, wenn sie die Regeln brächen und nach Sonnenuntergang noch durch die Berge streiften. „Wir warten lieber bis morgen früh.“

„Alles klar.“ Tyson schlürfte eine letzte Muschel aus und warf die leere Schale weg. „Ich weck euch auf.“

Noëls Kopf dröhnte vor Müdigkeit, als sie sich am nächsten Morgen auf den Weg zum Fluss machten. Tyson war noch vor Sonnenaufgang in der kleinen Dachkammer im dritten Turm aufgekreuzt, die Noël und Taiyo miteinander teilten.

Leider waren die beiden Jungen superspät ins Bett gekommen. Sie hatten bis tief in die Nacht mit Ted und Ned Murmelpuck gespielt, ein Spiel, das sie sich selbst ausgedacht hatten. Bei Murmelpuck ging es darum, eine Reihe von Kugeln möglichst schnell in ein mit Löchern versehenes Spielbrett zu befördern. Die Spielregeln waren ziemlich kompliziert, aber wenn man das Ganze einmal kapiert hatte, machte es echt Spaß.

„Hättest du uns denn nicht noch ein bisschen schlafen lassen können?“, murrte Taiyo. „Genügt doch, wenn wir schon unter der Woche so früh aufstehen müssen.“

„Wenn wir uns nicht beeilen, ist Kumo weg.“ Tyson turnte in großen, weiten Sprüngen vor ihnen her. „Er nutzt die Morgenstunden immer zur Jagd in den Bergen.“

Der Leopard war natürlich kein Vegetarier, sondern ernährte sich von Beutetieren, die er in den Hochebenen der vierten Insel erlegte. Wenn er einmal zur Jagd aufgebrochen war, konnte es Stunden dauern, bevor man ihn wieder zu Gesicht bekam, und keiner der drei Freunde hatte bisher gelernt, wie man einen Anruf absetzte.

„Dann mal schnell!“ Noël beschleunigte seine Schritte. Hinter den Bergkuppen zeichnete sich bereits ein rötlicher Schimmer am Himmel ab. Hoffentlich waren sie nicht schon zu spät.

Der Morgen war kühl und frisch. Obwohl sie fast rannten, fröstelte Noël, als sie den großen Gelben Merantibaum erreichten, auf dem Kumo seine Nächte verbrachte. Die Zweige waren dicht mit ledrig glänzenden Blättern belaubt, dennoch erkannten sie schon von Weitem, dass Kumos Lieblingsast leer war.

„Er ist schon weg.“ Taiyo ballte vor Ärger seine Hand zur Faust. „So ein verdammter Mist!“

„Alles nur, weil ihr nicht aus den Federn gekommen seid“, sagte Tyson.

Noël klapperte mit den Zähnen. Warum war ihm so kalt, fragte er sich und im selben Moment begriff er.

„Kumo?“, rief er. „Kannst rauskommen, ich weiß, dass du hier bist.“

Über ihnen raschelte es in den Zweigen eines anderen Baumes. Dann löste sich ein großer gefleckter Körper von einem Ast und landete mit einem eleganten Sprung direkt vor ihnen.

„Ihr seid solche Schlafmützen, alle drei.“ Kumo leckte seine linke Tatze, während seine eisblauen Augen die drei Freunde nacheinander fixierten. „Wieso passt ihr so wenig auf? Taiyo, Noël, hab ich euch denn gar nichts beigebracht?“

„Ich hab dich doch bemerkt!“, erwiderte Noël empört.

„Weil dir immer kalt wird, wenn ich in der Nähe bin“, sagte Kumo. „Aber selbst das hat nichts geholfen. Ich hätte dich zehnmal attackieren können.“

Noël schluckte betreten. Kumo hatte recht, er hätte viel früher reagieren müssen.

„Das Käuzchen hat uns zu dir geschickt“, wechselte Taiyo schnell das Thema. „Wegen diesem … äh … Sonderunterricht.“

„Was?“ Der Leopard ließ die Pfote sinken und sah ihn verwundert an. „Da habt ihr was falsch verstanden. Die Nachricht war nur für Noël …“

„Schon klar“, fiel Tyson ihm ins Wort. „Aber wir haben gedacht, dass wir vielleicht auch an dem Sonderunterricht teilnehmen könnten.“

„In einer Gruppe kann man doch viel besser trainieren“, ergänzte Taiyo.

Kumo streckte sich auf dem Boden aus und legte den mächtigen Schädel auf seine Vorderbeine. „Eine gute Idee. Ehrlich gesagt, ist sie mir auch schon gekommen.“

„Super.“ Tyson fletschte die Zähne, während er seine großen Hände auf den Boden stemmte und den gedrungenen Körper zwischen den Armen hin und her schwingen ließ. „Wir sind dabei.“

„Aber leider geht es nicht“, fuhr Kumo fort.

„Was?“ Tyson ließ sich zu Boden plumpsen.

„Wieso denn nicht?“, fragte Noël.

„Eure Klassenstufe hat nächste Woche diesen Sprachworkshop bei Mr Ezekweseli. Die Teilnahme ist Pflicht.“

„Das können wir doch nachholen“, sagte Taiyo. „Tyson und ich sind beide im Fortgeschrittenenkurs und gehören zu den Besten. Vielleicht redest du einfach mal mit Mr Ezekweseli …“

„Das ist schon geschehen“, unterbrach ihn Kumo. „Er besteht auf eurer Teilnahme. Es tut mir wirklich leid.“

Seine Stimme war weich vor Mitgefühl. Kumo hatte seine Ausbildung ebenfalls im Internat der bösen Tiere absolviert und hatte genauso unter Mr Ezekweseli gelitten.

„Verfluchte Termitenkacke!“ Tyson trommelte mit beiden Fäusten auf den Boden. „Das darf doch nicht wahr sein.“

„Aber allein kann man nicht richtig trainieren“, sagte Noël. „Das muss Mr Ezekweseli doch einsehen.“

Kumo seufzte. „Du bist ja auch nicht allein. Ich hab einen anderen Partner für dich organisiert.“ Er streckte sich noch länger auf dem Boden aus. „Oder vielmehr eine Partnerin.“

Noëls Herz begann sofort schneller zu schlagen. „Wer ist es?“, fragte er.

„Katókwe. Sie kommt ab Montag rüber auf unsere Insel“, sagte Kumo, ohne den Blick von seinen Vorderpfoten zu heben. „Sie wird die ganze Woche mit uns arbeiten.“

Noëls Herz machte einen riesigen Freudensprung.

Er hatte sich direkt nach seiner Ankunft auf den geheimen Inseln in seine schöne Mitschülerin verliebt. Katókwe war ursprünglich auch eine Jägerin gewesen und hatte hier auf der vierten Insel gelebt. Aber dann war sie zu den Spähern gewechselt, damit Noël und Taiyo beide in der Schule aufgenommen werden konnten.

Leider war die fünfte Insel, auf der Katókwe seitdem wohnte und lernte, die geheimste der geheimen Inseln. Noël und die anderen Schüler durften sich tagsüber frei im ganzen Internat bewegen, aber um die Insel der Späher betreten zu können, brauchte man eine Sondererlaubnis.

Noël hatte keine Ahnung, ob Katókwe seine Gefühle erwiderte. Sie mochte ihn, da war er sich sicher. Falls sie jedoch ebenfalls Herzklopfen bekam, wenn sie an ihn dachte, dann versteckte sie das sehr geschickt. Wie vieles andere auch. Katókwe war einfach undurchschaubar.

Auf jeden Fall durfte Noël nun eine ganze Woche mit ihr verbringen. Die Vorstellung war atemberaubend.

„Wenn das emotional jedoch zu viel für dich wird, brechen wir das Experiment ab und machen zu zweit weiter“, bemerkte Kumo trocken, der ihn genau beobachtet hatte. „Nicht dass dir aus Versehen das Herz stehen bleibt.“

„Nein, nein“, sagte Noël hastig. Im selben Moment fiel sein Blick auf Taiyo, der den Kopf gesenkt hatte und mit großer Konzentration auf seine Fußspitzen starrte. Auch wenn die beiden Freunde nie darüber redeten, wusste Noël schon lange, dass Taiyo genauso verrückt nach Katókwe war wie er selbst.

Er sah, wie Taiyo tief durchatmete, bevor er den Kopf hob. Sein Lächeln war ein bisschen schief, aber ohne eine Spur von Neid. Er war echt der beste Freund, den man sich vorstellen konnte.

Während Taiyo und Tyson am Wochenende immer trübsinniger wurden, zählte Noël die Stunden bis Montagmorgen. Diesmal hatte er keine Schwierigkeiten, frühmorgens aufzustehen. Er schlüpfte in seine Schuluniform und die Sandalen und putzte sich rasch die Zähne. In der Mensa, die im Erdgeschoss ihres Turms untergebracht war, machte er sich drei belegte Brote und schlug sie zusammen mit ein bisschen Obst in ein Tuch ein, das er um einen Stock knotete und über der Schulter trug.

Auf dem Weg zu Kumos Baum überlegte er, wann er Katókwe das letzte Mal gesehen hatte. Normalerweise besuchte sie ihn, Taiyo und Tyson immer am Wochenende, aber in den vergangenen Wochen hatte sie sich rar gemacht. Das war grausam, Noël und Taiyo hatten ja keine Möglichkeit, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Anrufen konnten sie sie nicht und die fünfte Insel war tabu für sie.

Diesmal bemerkte er Kumo sofort, als er sich der Flussaue näherte, in der der Merantibaum stand. Der Leopard lag im Halbschatten eines großen Busches, seine Augen waren nur einen Spaltbreit geöffnet. Dennoch war er hellwach, das wusste Noël aus Erfahrung.

„Guten Morgen“, rief er seinem Begleittier zu, während sich auf seinen nackten Armen wie üblich eine Gänsehaut ausbreitete.

Kumo gab keine Antwort. Er hob nur den Schwanz und kringelte die Spitze grüßend hin und her. Inmitten der Sonnenflecken, die durch das Blattwerk des Busches fielen, war er mit seinem gepunkteten Fell kaum zu erkennen. Ein klarer Vorteil gegenüber Noël, der mit seiner hellen Schuluniform jedem sofort ins Auge fiel.

Katókwe war noch nicht da, stellte Noël voller Enttäuschung fest. Hoffentlich hatte sie nicht im letzten Moment doch noch abgesagt.

Kumo erwähnte sie jedenfalls mit keinem Wort, obwohl er Noëls suchende Blicke mit Sicherheit bemerkt hatte. Der Leopard machte keine Anstalten, sich zu erheben, also ließ Noël sich neben ihm in den Schneidersitz sinken.

„Du wirst ab sofort keinen regulären Unterricht mehr bekommen“, begann Kumo.

„Was? Ich soll überhaupt nicht mehr in die Schule?“ Die Vorstellung gefiel Noël nicht. Er mochte seine Klasse und die Lehrerinnen und Lehrer – na ja, abgesehen von Mr Ezekweseli vielleicht.

Der Leopard zuckte ungeduldig mit den Ohren. „Wir haben in den letzten Wochen ein spezielles Ausbildungsprogramm entwickelt, um dich auf die große Herausforderung vorzubereiten. Wenn du Uko gegenübertrittst – und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis das geschieht –, brauchst du Techniken und Strategien, um ihn zu besiegen.“

Uko. Beim Klang dieses Namens richteten sich die Härchen auf Noëls Armen auf. Zweimal war er dem Bären schon begegnet und beide Male war er dem Tod nur in allerletzter Sekunde und mit großem Glück entkommen. Aber er konnte sich nicht für immer vor ihm verstecken.

Noël hob den Kopf und straffte seinen Körper. „Was für Techniken und Strategien?“, fragte er.

Und wo blieb eigentlich Katókwe? Diese Frage schluckte er allerdings hinunter. Kumo hatte ihn ja gewarnt. Wenn der Leopard den Eindruck gewann, dass Noël sich nicht richtig auf das Training konzentrierte, weil die Späherin ihm den Kopf verdrehte, würde er ihm sofort einen anderen Übungspartner besorgen.

„Ganz unterschiedliche. Du wirst eine Vielzahl an Lehrern bekommen“, sagte Kumo. „Jeder von ihnen wird dir seine speziellen Fähigkeiten und Kenntnisse vermitteln. Es wird hart und anstrengend werden, das kann ich dir versprechen.“

„Das macht mir nichts aus“, sagte Noël.

„Unser größtes Problem ist die Zeit“, fuhr Kumo fort. „Eine gute Kampfausbildung erfordert Jahre.“

„Und wie viel Zeit haben wir?“, fragte Noël. „Was glaubst du?“

Kumo antwortete nicht. Die Frage war ja auch bescheuert, es konnte jederzeit so weit sein. Nicht einmal hier auf den geheimen Inseln war Noël sicher vor der guten Sache – dem Geheimbund, den Uko gegründet hatte, um die Menschen zu bekämpfen.

Kumos Blick durchdrang Noël, der prompt wieder zu frösteln begann. Im selben Moment stieg ein fremder und zugleich höchst vertrauter Duft in seine Nase.

Er fuhr herum und konnte einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken. Direkt hinter ihm stand Katókwe und schaute spöttisch auf ihn herab.

„Ein perfektes Anschleichmanöver“, kommentierte Kumo. „Gut gemacht, Katókwe.“

Die Späherin ließ sich neben Noël in die Hocke sinken. „Nicht gut genug.“ Sie wischte unwillig einen der schmalen Zöpfe aus ihrem Gesicht, zu denen sie ihre schwarzen Haare geflochten hatte. Er hatte sich aus dem komplizierten Dutt gelöst, den sie auf ihrem Oberkopf zusammengeschlungen hatte.

Ihre dunklen Augen musterten Noël kritisch. „Wie hast du mich bemerkt?“

Er schluckte. „Hab ich ja gar nicht.“ Seine Gedankenstimme klang ein bisschen heiser. Katókwe raubte ihm immer den Atem.

„Hast du doch. Sonst hättest du dich nicht umgedreht.“

„Ich hab dich … gerochen“, gab er zu.

„Gerochen?“ Katókwe hob einen Arm und schnüffelte an ihren Achseln. „Echt?“

„Nicht so“, sagte Noël. „Du riechst nach einem Gewürz aus meiner Kindheit.“ Tante Karin hatte es immer in der Weihnachtsbäckerei verwendet, aber Noël kannte den Namen nicht.

„Die Salbe“, murmelte Katókwe und wickelte dabei einen ihrer langen Zöpfe um ihren Zeigefinger. „Ich nehm sie für meine Haare.“

„Das ist außerordentlich!“ Diesmal galt Kumos Lob Noël. Sein Gesicht wurde rot vor Freude. „Ich hätte nicht gedacht, dass eine menschliche Nase den Geruch wahrnehmen kann.“

„Ihr hättet mir schon früher sagen müssen, dass man es riecht.“ Katókwe sah den Leoparden vorwurfsvoll an. „Dann hätte ich das Zeug nicht mehr verwendet.“

„Das wäre schade“, sagte Kumo. „Der Duft ist sehr angenehm. Aber nun sind wir mittendrin in der ersten Lektion. In dieser Woche geht es um Tarnung und Anschleichen. Geruchsvermeidung ist da sehr wichtig. Die meisten Tiere haben eine äußerst feine Nase und wittern euch schon von Weitem. Mich übrigens auch. Nähert euch immer gegen die Windrichtung. Und versucht, euren Geruch in der Umgebung zu verstecken.“

„Wie soll das denn gehen?“, fragte Noël.

„Erkundet die Gegend, in der ihr euch befindet, mit der Nase. Gibt es einen vorherrschenden Geruch? Salzwasser, Blütenstaub, Mist, Heu? Macht es euch zunutze und reibt euch damit ein. Dadurch verdeckt ihr euren Eigenduft.“

„Mit Mist?“ Katókwe rieb sich mit dem Zeigefinger über die Nase und dann über die seltsamen Einkerbungen auf ihren hohen Wangenknochen. Noël wusste nicht, ob es Narben oder Tätowierungen waren. Auf persönliche Fragen gab Katókwe grundsätzlich keine Antworten. „Lecker.“

„Bitte wartet damit, bis es wirklich nötig ist.“ Kumos Schnurrhaare sträubten sich. „Hier auf den geheimen Inseln müsst ihr euch nicht in fremden Ausscheidungen wälzen.“

Den ganzen Vormittag übten Kumo und Katókwe mit Noël das lautlose Anschleichen. Sie zeigten ihm zuerst die verschiedenen Fortbewegungsarten.

Noël lernte, die nackten Fußsohlen wie Katzenpfoten auf den Boden aufzusetzen, er kroch auf allen vieren, ohne mit den Knien den Boden zu berühren, und schlängelte sich wie eine Schlange durch das Unterholz. Er lernte laubbedeckte Wege, Büsche und trockene Untergründe zu meiden.

„Wo Laub und Zweige sind, knackt und raschelt eigentlich immer was“, sagte Katókwe. „Am besten sind Sand oder Wasser zum Anschleichen.“

Sie brachten Noël die richtige Atmung bei. Am Anfang hielt er unwillkürlich die Luft an, um kein Geräusch von sich zu geben.

„Das lässt sich auf Dauer jedoch nicht durchhalten“, bemerkte Kumo. „Irgendwann musst du Luft holen. Pass deinen Atem an deine Bewegungen an. Atme ein, während du einen Schritt machst oder dich umdrehst. Bleib vor allem entspannt, das ist das Wichtigste.“

Es klang so einfach und es sah auch einfach aus. Katókwe glitt wie ein Schatten durch das dichteste Gebüsch. Doch wenn Noël ihr folgte, schien der ganze Wald in Bewegung zu geraten.

„Gleichmäßige Bewegungen sind das A und O“, sagte Kumo. „Alles, was plötzlich passiert und abrupt verläuft, fällt sofort ins Auge.“

Er ließ Noël wieder und wieder von vorn beginnen.

Das Schwierigste aber waren nicht die Bewegungen. Das Schwierigste war das Innehalten.

Am Nachmittag sollten Noël und Katókwe eine halbe Stunde bewegungslos hinter einem Busch verharren. Während Noël sich auf den Boden setzte, ging Katókwe neben ihm in die Hocke, das ganze Gewicht auf ihre beiden Fußballen verteilt.

„Perfekt“, sagte Kumo, als er ihr Versteck inspizierte. „Katókwe ist sprungbereit, sie kann jederzeit angreifen oder fliehen. Du dagegen musst im Ernstfall erst mal auf die Füße kommen und verschwendest unter Umständen wertvolle Sekunden, Noël.“

Das Kauern auf den Fußballen war jedoch unglaublich anstrengend. Nach wenigen Minuten begannen Noëls Waden zu brennen, dann schliefen seine Beine ein. Kurz darauf verlor er das Gleichgewicht und plumpste wie ein Sack zur Seite.

„Mist.“ Verlegen rieb er sich den Kopf, während er sich wieder hochrappelte.

„Ging mir am Anfang genauso“, tröstete ihn Katókwe. „Mit der Zeit lernst du es.“

Kumo schwieg, aber Noël wusste genau, was der Leopard dachte. Sie hatten alles, nur keine Zeit.

Der nächste Tag begann wieder mit einer praktischen Übung. Noël sollte unten am Fluss darauf warten, dass Katókwe sich anschlich. Sein Gesicht war auf eine Felswand gerichtet, er durfte sich erst umdrehen, wenn er sie in seiner Nähe wahrnahm.

Wie am Vortag kauerte er auf seinen Fußballen. Auf diese Weise trainierte er beim Warten wenigstens seine Beinmuskeln. Aber vielleicht hätte er sich lieber ganz auf die Geräusche in seiner Umgebung konzentrieren sollen. Er bemerkte Katókwe erst, als sie die Hand auf seine Schulter legte und mit ihrer normalen Stimme „Buh!“ in sein Ohr brüllte.

„Verdammt.“ Er drehte sich kopfschüttelnd um.

Sie hatte die Hand sofort wieder zurückgezogen. Berührungen waren echt nicht Katókwes Ding.

„Ich hab mir gestern Abend die Haare viermal mit Essig gewaschen“, erklärte sie zufrieden. „Jetzt bist du an der Reihe.“

Während Katókwe vor der Felswand in Stellung ging, sollte Noël sich anschleichen.

Diese zweite Übung misslang ihm genauso gründlich wie die erste. Dabei hatte er zum Anschleichen eine Route durch den Fluss gewählt, der an dieser Stelle besonders seicht war. Das Wasser rauschte so laut und Noël bewegte sich so vorsichtig vorwärts, dass ihn selbst Kumo mit seinen Superohren nicht gehört hätte. Dennoch schoss Katókwe zu ihm herum, kaum dass er in Sichtweite war.

„Im Wasser!“, rief sie laut.

„Wie hast du bemerkt, dass ich komme?“, fragte er frustriert.

„Die Enten haben es mir verraten.“ Katókwe grinste.

„Die Enten?“ Noël folgte ihrem Blick und sah die beiden hellbraunen Wasservögel, die ein paar Meter von ihm entfernt am Ufer entlangwatschelten.

„Wieso könnt ihr nicht den Schnabel halten?“, rief er ihnen mit seiner Gedankenstimme zu. „Das ist nicht fair!“

Die Enten ignorierten ihn und Katókwe lachte. „Das sind keine Auserwählten. Die verstehen dich nicht.“

„Aber du hast doch gesagt …“ Noël brach ab und kratzte sich verwirrt am Kopf.

„Als du den Fluss betreten hast, hast du die beiden vertrieben“, erklärte Katókwe. „Sie sind unter Protest weggeflogen. Das war nicht zu überhören.“

„Verdammt!“ Noël kickte mit dem Fuß gegen ein Schilfrohr. Die Enten waren ihm nicht mal aufgefallen, weil er so auf seine Bewegungen fixiert gewesen war.

„Jede Kleinigkeit ist entscheidend“, sagte Kumo, der die Szene schweigend beobachtet hatte. „Noch mal von vorn, Noël.“

Noël versuchte den ganzen Tag lang, sich Katókwe zu nähern. Es gelang ihm kein einziges Mal.

Am Abend schaffte er es immerhin, bis auf fünf Meter an sie heranzukommen, bevor ihn ein winziger Kieselstein verriet, der unter seinem Fuß ins Rutschen geriet.

„Wird doch“, sagte Kumo.

Noël hatte jedoch den Eindruck, dass der Leopard ihn damit bloß aufbauen wollte. Nachdem Noël Katókwe zum Bootsanleger begleitet hatte und sie weggerudert war, ging er ziemlich verdrossen zu seinem Wohnturm. Er war hungrig und begab sich direkt in die Mensa, wo gerade das Abendessen ausgegeben wurde.

In dem hohen, großen Raum, der das gesamte Erdgeschoss des dritten Turms einnahm, gab es keine Stühle und Tische. Die meisten Tiere hätten damit ja auch nichts anfangen können. Durch den Saal zogen sich niedrige Mauern und Holzzäune, auf denen sich die kleineren Wesen niederlassen konnten. Heu und andere Futtermittel wurden von den Küchenhilfen direkt auf den Boden gekippt, aber Noël musste sich sein Essen an der Ausgabe holen.

Ein Pelikan schob ihm einen Teller über die Theke, auf dem ein großes Fladenbrot, Süßkartoffelpüree und ein Avocadoaufstrich zusammen mit etwas Obst angerichtet waren. Um ein solches Gericht hätte Noël in seinem früheren Leben einen weiten Bogen gemacht, aber wie so vieles hatte sich auf den geheimen Inseln auch sein Essensgeschmack verändert.

Am Ende des Saals erspähte er Taiyo, der auf einer der Mauern saß, seinen Teller auf dem Schoß balancierend. Er war allein und seine Miene war ähnlich düster wie Noëls Stimmung.

„Dieser Workshop ist schrecklicher als alles, was ich je erlebt habe“, jammerte er, nachdem Noël sich neben ihm niedergelassen hatte. „Heute mussten wir uns einen Vortrag über den Gesang der Buckelwale anhören. Mr Ezekweseli hat sechs Stunden in einer Tour gelabert, er brauchte nicht mal eine Trinkpause.“

„Und wie klingt er?“

„Wer? Mr Ezekweseli?“ Taiyo runzelte die Stirn.

„Nee, der Gesang der Buckelwale.“

„Ach so.“ Taiyo füllte ein Stück Fladenbrot mit Avocadopaste und schob es sich in den Mund. „Keine Ahnung“, sagte er mit vollem Mund. „Der Gesang ist für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar. Zumindest nicht ohne Hilfsmittel.“

„Aber Mr Ezekweseli kann ihn hören? Oder worüber hat er so lange gesprochen?“

„Er sagt, dass man den Walgesang in seinem Körper spüren kann, wenn man sich darauf einlässt. Angeblich kann es jeder lernen. Morgen beginnen wir mit den Vorübungen und am Donnerstag besuchen uns dann Mega und Nova und singen uns ein Lied vor. Das wir dann hoffentlich auch alle verstehen.“

„Mega und Nova?“, wiederholte Noël. „Wer ist das denn?“

„Zwei Buckelwale von der dritten Insel.“

„Puh“, machte Noël. „Das klingt echt fürchterlich.“

„Ist es auch.“ Taiyo stopfte sich den Rest des Brotes in den Mund. „Und bei dir so?“

Noël verzog das Gesicht. „Könnte besser laufen.“ Er erzählte seinem Freund von seinen vergeblichen Bemühungen, sich unbemerkt an Katókwe anzuschleichen. „Die hat Ohren wie ein Luchs. Wahrscheinlich würde sie auch die Buckelwale hören, ohne sich groß anzustrengen. Und wenn sie sich im Gelände bewegt, kriegst du nicht das Geringste davon mit. Es ist, als ob sie sich in Luft auflöst.“

„Kat ist eine Späherin“, sagte Taiyo. „Auf der fünften Insel lernen sie die ganze Zeit nichts anderes, als sich anzuschleichen. Du kannst dich nicht mit ihr messen.“

„Ich muss mich aber mit ihr messen.“ Noël seufzte tief. „Ich muss in all diesen Dingen so gut werden wie die Besten von uns. Sonst hab ich keine Chance gegen Uko.“

„Was zieht ihr denn für Fressen?“ Tyson schwang sich auf die Mauer neben Taiyo und stibitzte eine Litschi von seinem Teller.

„He, was soll das?“, protestierte Taiyo. „Die wollte ich noch essen.“

„Litschis sind meine Lieblingsfrüchte“, sagte Tyson, der sich die Frucht mitsamt der Schale ins Maul gesteckt hatte. Er schmatzte genüsslich, dann spuckte er die Schale auf den Boden. „Kommt ihr noch mit raus? Pfotenball am Strand?“

Noël winkte ab. „Ohne mich. Ich bin total fertig.“

Taiyo schnappte sich die zweite Litschi, bevor Tyson auch die noch klauen konnte. „Natürlich kommst du mit, Noël“, sagte er, während er die Frucht schälte. „Sport ist das beste Mittel gegen Frust.“

„Aber nur, solange du nicht gegen mich spielst“, sagte Tyson. „Das wäre nämlich richtig frustrierend.“

Der Rest der Woche verging wie im Flug. Wenn das Training besonders anstrengend wurde oder Noël sich besonders bescheuert vorkam, dachte er an Taiyo und Tyson und Mr Ezekweselis entsetzlichen Workshop und fühlte sich sofort wieder besser. Aber das Beste war, dass er die ganze Woche mit Katókwe zusammen sein konnte.

„Machst du nächste Woche wieder mit?“, fragte er die Späherin, nachdem sie am Freitagabend die letzte Übung beendet hatten.

„Das geht leider nicht“, erwiderte Kumo, bevor Katókwe selbst antworten konnte. „In der nächsten Woche findet Mr Ezekweselis Sprachworkshop bei den Spähern statt. Daran muss Katókwe natürlich teilnehmen.“

„Was?“ Katókwe riss die Augen so weit auf, dass sie fast aus ihrem Gesicht kullerten. „Ich wusste gar nicht, dass uns das auch noch blüht. Da mach ich auf keinen Fall mit!“ Noël hatte ihr immer wieder von Taiyos und Tysons schrecklichen Erfahrungen erzählt.

Trotz der ausgiebigen Vorübungen, die Mr Ezekweseli mit der Klasse gemacht hatte, war es keinem der Schüler gelungen, auch nur einen Ton des Walgesangs wahrzunehmen. Selbst die Gazelle Eleni, der sonst immer alles gelang, war an dieser Herausforderung gescheitert.

„Es wird dir nichts anderes übrigbleiben“, sagte Kumo. „Du kennst doch Mr Ezekweseli.“

„Eben“, sagte Katókwe. Sie verabscheute den Marabu und seinen Sprachunterricht aus tiefsten Herzen. So geschickt sie beim Anschleichen, Ausspähen und Kämpfen war, so erbärmlich stellte sie sich in den theoretischen Fächern wie Fremdsprachen, Tiergeschichte und Dokumentation an. Im Vergleich zu ihr war Noël geradezu ein Überflieger.

Katókwe hatte es als Allerletzte in ihrem Jahrgang gelernt, Anrufe entgegenzunehmen, und sie war komplett aufgeschmissen, wenn es darum ging, Geräusche zu imitieren oder Gesten zu entschlüsseln. Ihre Ungeduld gepaart mit ihrer fürchterlichen Schlamperei trieben den pedantischen Mr Ezekweseli in den Wahnsinn. Noël war sich ziemlich sicher, dass der Marabu mindestens genauso unter Katókwe litt wie sie unter ihm. Dennoch – oder gerade deshalb – würde er darauf bestehen, dass sie wie alle anderen an dem Workshop teilnahm.

„Aber wir sind hier doch noch lange nicht fertig!“, protestierte Katókwe verzweifelt. „Noël hat gerade mal die Grundlagen des Anschleichens gelernt.“

„Unser Training ist ja auch noch nicht beendet“, sagte Kumo. „Ich würde gerne noch ein paar Übungen in der Dunkelheit mit euch machen.“

„Wann?“, fragte Noël.

„Heute Nacht. Ist das okay für dich, Katókwe?“

„Na klar“, sagte Katókwe. „Wann soll ich kommen?“

„Kannst du um neun unten am Steg sein?“, erkundigte sich der Leopard.

Katókwe nickte. „Noch mal zurück zu dem Workshop nächste Woche“, begann sie dann. „Ich finde …“

Kumo hob seine Tatze und brachte sie damit zum Schweigen. „Ich kann dir da nicht helfen, Katókwe.“ Er seufzte leise. „Du kannst ja noch mal mit Mr Ezekweseli reden. Aber ich befürchte, es wird dir nichts bringen.“

Noël liebte die Nacht. Selbst als er noch ein kleiner Junge war, hatte ihm die Finsternis keine Angst eingeflößt. Und auch heute fühlte er sich im Dunkeln auf eine seltsame Weise geborgen und beschützt.

Allerdings hatte er die totale Dunkelheit erst hier auf den geheimen Inseln kennengelernt. In der Stadt, in der er aufgewachsen war, war es ja Tag und Nacht einigermaßen hell gewesen. Überall leuchteten Laternen, Scheinwerfer, Ampeln und andere Lichter.

Heute war eine besonders finstere Nacht. Die zarte Mondsichel, die über dem ersten Turm stand, war kaum zu erkennen. Und ein Großteil des Himmels war mit Wolken bedeckt, sodass fast kein Stern zu sehen war.

Deshalb hatte Noël vorgesorgt und die Leuchtqualle Medusa mitgenommen. Medusa schwamm in einem großen Einmachglas, ihr bläulicher Schein erhellte den Weg, der von ihrem Turm hinunter zum Bootsanleger führte, wie eine Taschenlampe.