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Beschreibung

Interpretieren gehört zu Recht zu den unhinterfragten Lehr- und Lernbereichen des Deutschunterrichts. Vermittlungswege, Gegenstände und Ziele dieser kulturellen Praxis schließen an alltägliche Deutungspraktiken an, in der Schule ist sie auch von didaktischen Routinen und Kompetenzerwartungen bestimmt. Werden dabei rezeptiv-analytische oder aber handlungs- und performanzorientierte Lektüren favorisiert – und welches Wissen ist dafür notwendig? Dieser Band gibt Einblick in die spannende fachdidaktische Diskussion, stellt neue Forschungsergebnisse zu Einstellungen und zur Modellierung von Interpretationsaufgaben vor und diskutiert Ansätze anhand zahlreicher Praxisbeispiele. So geht es um rassismuskritisches Interpretieren und dekonstruktive Lektüren, Aufgaben der Zentralmatura und verschiedenste interpretative Handlungen mit Gedichten und Geschichten, Bilderbüchern und Filmen. INHALT EDITORIAL Christina Misar-Dietz, Sabine Zelger: Wer was wie interpretiert MAGAZIN Kommentar: Hajnalka Nagy: Fragen der literarisch-politischen Bildung zu einem umstrittenen Gedicht ide empfiehlt: Beate Laudenberg: Artur R. Boelderl, Ursula Esterl, Nicola Mitterer (Hg., 2020): Poetik des Widerstands. Eine Festschrift für Werner Wintersteiner Neu im Regal ZUR EINFÜHRUNG Ulf Abraham: Man kann nicht nicht interpretieren. Deutungsvermutungen im Alltag und im Deutschunterricht INTERPRETIEREN WIE? KONZEPTE UND MODI Thomas Zabka: Interpretieren als Handeln – literaturdidaktische Reflexionen Juliane Köster: Interpretationsaufgaben in Lern- und Leistungssituationen. Kritik und Potenzial Herbert Staud: Literaturinterpretation – Griffe in die Praxiskiste INTERPRETIEREN WOZU? ZIELE UND GEGENSTÄNDE Sabine Zelger: Handlungsräume für Geschichten! Anregungen für eine Praxis des Interpretierens Clemens Tonsern: Die Interpretation eines Lernvideos als kulturelle Bedeutungsproduktion. Ein Bericht aus der unterrichtlichen Praxis mit DaZ-Lernenden Michael Baum, Emmanuel Breite: Jenseits der Interpretation. Ideologie und Rhetorik in Hans Christian Andersens Kunstmärchen "Des Kaisers neue Kleider" INTERPRETIEREN WER? ÜBERZEUGUNG UND ORIENTIERUNG Stefan Neuhaus: Literatur lesen und interpretieren. Ein kurzer Leitfaden am Beispiel von Wolf Haas' Roman Das Wetter vor 15 Jahren (2006) Daniela Matz: Literaturinterpretation in der Perspektive von Deutschlehrenden Heidi Rösch: Rassismuskritisches Interpretieren mit heterogenen Lerngruppen SERVICE Stefanie Schwandner: Lektüren zum Interpretieren und darüber hinaus. Bibliographische Notizen

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Seitenzahl: 250

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Editorial

CHRISTINA MISAR-DIETZ,SABINE ZELGER:Wer was wie interpretiert

Magazin

KommentarHAJNALKA NAGY:Fragen der literarisch-politischenBildung zu einem umstrittenenGedicht

ide empfiehltBEATE LAUDENBERG:Artur R. Boelderl, Ursula Esterl,Nicola Mitterer (Hg., 2020):Poetik des Widerstands.Eine Festschrift fürWerner Wintersteiner.

Neu im Regal

Zur Einführung

ULF ABRAHAM: Man kann nicht nicht interpretieren.Deutungsvermutungen im Alltag und im Deutschunterricht

Interpretieren wie? Konzepte und Modi

THOMAS ZABKA: Interpretieren als Handeln – literaturdidaktische Reflexionen

JULIANE KÖSTER: Interpretationsaufgaben in Lern- und Leistungssituationen. Kritik und Potenzial

HERBERT STAUD: Literaturinterpretation – Griffe in die Praxiskiste

Interpretieren wozu? Ziele und Gegenstände

SABINE ZELGER: Handlungsräume für Geschichten!Anregungen für eine Praxis des Interpretierens

CLEMENS TONSERN: Die Interpretation eines Lernvideos als kulturelle Bedeutungsproduktion.Ein Bericht aus der unterrichtlichen Praxis mit DaZ-Lernenden

MICHAEL BAUM, EMMANUEL BREITE: Jenseits der Interpretation.Ideologie und Rhetorik in Hans Christian Andersens Kunstmärchen Des Kaisers neue Kleider

Interpretieren wer? Überzeugung und Orientierung

STEFAN NEUHAUS: Literatur lesen und interpretieren.Ein kurzer Leitfaden am Beispiel von Wolf Haas’Roman Das Wetter vor 15 Jahren (2006)

DANIELA MATZ: Literaturinterpretation in der Perspektive von Deutschlehrenden

HEIDI RÖSCH: Rassismuskritisches Interpretieren mit heterogenen Lerngruppen

Service

STEFANIE SCHWANDNER: Lektüren zum Interpretieren und darüber hinaus. Bibliographische Notizen

 

»Interpretieren« in anderen ide-Heften

3-2020

Märchen

2-2018

Textmuster und Textsorten

1-2018

Literaturvermittlung

3-2017

Kultur des Performativen

3-2016

Sehnsuchtsort Mittelalter

1-2016

Schule in Literatur und Film

4-2012

Literaturgeschichte

4-2011

Österreichische Gegenwartsliteratur. 2000-2010

1-2010

Weltliteratur

4-1996

Texte interpretieren

 

Das nächste ide-Heft

ide 2-2021

Walderscheint im Juni 2021

 

Vorschau

ide 3-2021

Sprachbewusstsein

ide 4-2021

Global Citizenship Education und Deutschunterricht

 

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www.aau.at/germanistik/fachdidaktikBesuchen Sie auch die Webseite des Instituts für GermanistikAECC, Abteilung für Fachdidaktik an der AAU Klagenfurt:Informationen, Ansätze, Orientierungen.

Wer was wie interpretiert

Interpretieren ist eine »Fertigkeit, die es erlaubt, aus einem Gedicht eine Keule zu machen« (Enzensberger 1988, S. 31). Mit dieser Metapher bringt Hans Magnus Enzensberger 1976 in seinem »[b]escheidene[n] Vorschlag zum Schutz der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie« seine Kritik an einer Praxis auf den Punkt, die einer »Wahnvorstellung«, der »idée fixe von der ›richtigen Interpretation‹« (ebd., S. 33) folgt. Angesichts der vielen die Lektüre bestimmenden Faktoren mangle ihr jegliche Plausibilität: »Die Lektüre ist ein anarchischer Akt. Die Interpretation, besonders die einzige richtige, ist dazu da, diesen Akt zu vereiteln. Ihr Gestus ist demzufolge stets autoritär, und sie ruft entweder Unterwerfung oder Widerstand hervor.« (Ebd., S. 34) Heute ist in der Literaturdidaktik eine Gegenüberstellung von Lektüre und Interpretation nicht mehr in Gebrauch, Lektüre- und Interpretationsprozesse werden anders gefasst. Interpretieren als »Verständigung übers Verständnis« (Spinner 1987, S. 17) setzt den Fokus auf sprachliche Aushandlungsprozesse, die Lektüren vorbereiten, begleiten und durch Anschlusskommunikation erweitern können. Unterschiedlichste Faktoren werden berücksichtigt und in rezeptiv-analytischen sowie handlungs- und produktionsorientierten Ansätzen angeeignet und umgesetzt.

Im Unterschied zur Literaturwissenschaft wird für den Kontext Deutschunterricht allerdings weniger von »einem selbständigen Handlungsimpuls« (Pieper 2015, S. 186) ausgegangen, als das Ziel verfolgt, »einen plausiblen Anlass der Klärung und Verständigung« (ebd.) über Texte zur Verfügung zu stellen. In der Literaturtheorie sind es nicht zufällig genau diese Rahmungen, die strittig sind, die Frage nach den Fragen also, die an Texte herangetragen werden und damit Bedeutung generieren – oder immer weiterfragend dekonstruieren. Verhandelt wird nämlich weniger die Aussage von Literatur, sondern wie lesend Wirklichkeit geschaffen wird. Denn auf welche Weise ermächtigt das Interpretieren dazu, Welt mit- und umzugestalten – oder sie so zu betonieren, wie sie ist?

Die Literaturdidaktik gibt sich oft bescheidener, fokussiert Voraussetzungen des Interpretierens, wie mentale Dispositionen und Teilkompetenzen, die miteinander verflochtenen Prozesse des Verstehens und Deutens sowie bewertbare Interpretationsprodukte. Andererseits bedarf es literaturdidaktischer Erweiterungen, wenn bei der Interpretation »einem Gegenstand – etwa: einem literarischen – […] im Rahmen sprachlicher Handlungen Bedeutungen zugewiesen« werden (Pieper 2015, S. 186). Denn was ist das, was interpretiert wird, und wie formieren und schulen sich die hinter der Passivkonstruktion verborgenen Akteure? Die SchülerInnen, die LehrerInnen, die Lehramtsstudierenden, die Lehrenden? Die Ordnung des Zuweisens und der Sprachhandlungen wird mit unterschiedlicher Autorität implementiert und immer wieder unterlaufen, die Positionen und Beliefs innerhalb und zwischen Lehrenden und Lernenden unterscheiden sich nicht unwesentlich.

Die Diskussion ist rege und wird auch in vorliegendem Heft entlang praktischer Fragen weitergeführt. Dabei geht es um Konzepte und Modi (Abschnitt 1), um Ziele und Gegenstände des Interpretierens (Abschnitt 2) und um das interpretierende Personal, dessen Zusammensetzung und Schulung (Abschnitt 3). Was wo nachgelesen werden kann, bezüglich literaturwissenschaftlicher Zugänge sowie didaktischer Konzepte und Methoden, hat Stefanie Schwandner1 sorgfältig in der Bibliographie zusammengetragen. Der luzide Kommentar von Hajnalka Nagy zu Michael Köhlmeiers Protestgedicht nähert sich der politischen Dimension von Texten und deren Interpretation anhand eines aktuellen Beispiels und fragt nach Handlungsmöglichkeiten im Deutschunterricht.

In seinem richtungsweisenden Beitrag »Man kann nicht nicht interpretieren« legt Ulf Abraham eine anthropologische Sicht auf das Interpretieren dar. In Anspielung auf Paul Watzlawicks Diktum »Man kann nicht nicht kommunizieren« fasst er das Interpretieren als alltägliches menschliches Verhalten, das »überall [stattfindet], wo etwas Wahrgenommenes oder Beobachtetes nicht spontan und aufwandslos zu verstehen ist« (Abraham, S. 11). Speziell wird das Interpretationshandeln bei Kunstwerken mit ihren Unbestimmtheiten und Vieldeutigkeiten. Bei deren Interpretation müssen Vorstellungen konkretisiert, Vermutungen angestellt, Hypothesen plausibel gemacht werden. Polyvalenz wird schließlich auf unterschiedliche Weise vereindeutigt. Den Weg von der analytischen Beschreibung zur Interpretation skizziert Abraham anhand von Beispielen aus Bilderbüchern, Kurzfilmen und Graphic novels und betont den interaktiven Charakter dieser Kompetenz. Letztlich gehe es um die »Fähigkeit, Literatur möglichst eigenständig zu verstehen und zu deuten, zu erleben und zu schätzen und mit andern in Austausch über all dies zu treten« (ebd., S. 18).

1. Interpretieren wie? Konzepte und Modi

Doch wie wird die Fähigkeit, Texten Bedeutung zuzuweisen, im Rahmen des Deutschunterrichts aufgebaut? Welche Funktionen und Methoden der Interpretation sollten Berücksichtigung finden, mit welchen Aufgabenstellungen werden welche Teilkompetenzen geschult und wie werden sie in Prüfungsaufgaben abgebildet? Antworten auf diese Fragen bieten die Beiträge im ersten Teil des Bandes, der didaktischen Ansätzen des Interpretierens gewidmet ist. Sie loten das Feld der Interpretationshandlungen systematisch und symptomatisch aus und fördern dabei nicht zuletzt wichtige Aspekte zutage, die leicht aus dem Blick geraten.

Thomas Zabka, dessen Pragmatik der Literaturinterpretation (2005) die deutschdidaktische Beschäftigung mit Interpretationen nachhaltig geprägt hat, bietet in seinem Grundlagenbeitrag »Interpretieren als Handeln – literaturdidaktische Reflexionen« einen Überblick über die zentralen Funktionen (Verständlich-Machen, ästhetischperformative, Wertungs- sowie Welterschließungsfunktion) und Komponenten (Kontext, Modus, Code und Subjekt) des hermeneutisch gefassten Interpretierens und leitet Ansatzpunkte für die Unterrichtsplanung ab. Die Systematik, die anschaulich entlang eines Gedichts von Conrad Ferdinand Meyer entwickelt wird, bietet einen hervorragenden Rahmen für Projektierung und Reflexion der sprachlichen Handlung »Interpretation«, ganz besonders für das argumentierende Schreiben in der Oberstufe.

Die Anforderungen der Textsorte »Textinterpretation«, wie sie die österreichische schriftliche Reife- und Diplomprüfung Unterrichtssprache vorsieht, stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Juliane Köster. Sie analysiert Arbeitsaufträge des literarischen Themenpakets der Reifeprüfungen der letzten Jahre, stellt einzelnen Aufgabenstellungen Performanzen gegenüber und vergleicht die Anforderungsprofile mit beispielhaft ausgewählten Übungsaufgaben aus gängigen österreichischen Schulbüchern der Oberstufe. Die Ergebnisse zeigen – soviel sei an dieser Stelle schon verraten –, dass es aus Sicht der renommierten Forscherin durchaus Optimierungspotenzial gibt: sowohl für den Aufbau der notwendigen Teilkompetenzen durch entsprechende Lehrmittel als auch für die Weiterentwicklung dieser »Königsdisziplin« unter den literaturbezogenen Maturaaufgaben.

Unterschiedliche Herangehensweisen an das Interpretieren im Deutschunterricht sind im Beitrag von Herbert Staud versammelt, und zwar sowohl in methodischer als auch in thematischer Hinsicht. Neben Beispielen zu szenischen Verfahren finden sich Aufgabenstellungen zum Symbolverstehen, zum Überprüfen von Interpretationshypothesen aufgrund sprachlicher Analyse sowie kontrastive Übungen zu pragmatischen und literarischen Texten. Interpretieren wird dabei niemals als Selbstzweck gesehen, sondern soll in erster Linie Zugänge zur Literatur schaffen und individuelle Erkundungen bestärken.

2. Interpretieren wozu?Ziele und Gegenstände

Welche Ziele sind dem Interpretieren von Texten hinterlegt und welche wären darüber hinaus oder stattdessen opportun? Mit einem solchen Interesse am Bruch mit Gewohnheiten hinterfragen die Beiträge im zweiten Abschnitt des Bandes geläufige Begegnungen mit Geschichten und das Gegenstandsfeld selbst. Praxen des Autoritären in Kultur und Gesellschaft auf der Spur beleuchten und verändern sie den Rahmen, in dem Deutungen ausverhandelt werden. Texte werden gegen den Strich und in anderen Settings gelesen, die Anweisungen für das Herstellen von Bedeutung werden in und durch Lektüren exemplarisch vorgeführt und dekodiert.

Mit Sabine Zelger begeben wir uns auf die Suche nach »Handlungsräumen für Geschichten«. Wenn Interpretieren wie die Erzähltradition als kommunikative und soziale Handlung aufgefasst wird, muss der Gegenstand reizen, indem er, wie Walter Benjamin fordert, Merkwürdiges an sich hat. Mit Blick auf den Deutschunterricht lotet der Beitrag Raum für Interpretationshandlungen aus: sei es an den Grenzen von Bild und Text im Bilderbuch, von Faktischem und Fiktionalem in literarischen Sachtexten, in Dokumentationen, Theater und Fanfiction. Der Sinn gemeinsamen Deutens wird im Vergnügen an den Geschichten und ihrer Genese sowie der Öffnung von Denkräumen ausgemacht, die an Träumen und Herausforderungen der Gegenwart ansetzen.

An Erfahrungen aus dem Unterricht mit DaZ-Lernenden knüpft Clemens Tonsern in seinem Beitrag an, in dem er beschreibt, wie die Zielsetzung des kulturreflexiven Lernens mittels Aufgabenstellungen der Filminterpretation verfolgt werden kann. Als Beispiel fungiert ein Lernvideo mit Loriotähnlichem Szenario, das der Österreichische Integrationsfonds zum Thema »Sich vorstellen« zur Verfügung stellt. Wenn kulturelle Zuschreibungen im Rahmen analytischer und produktiver Interpretationsverfahren zur Sprache gebracht werden sollen, zeigen sich beim Zielpublikum Möglichkeiten, aber auch Hemmnisse.

Auch Michael Baum und Emmanuel Breite demonstrieren ihr Anliegen an einem Beispiel und liefern unter Rückgriff auf Rhetoriktradition und Ideologiekritik keine Anleitung, sondern Einblicke in das »Problem der Interpretation«. Statt Modelle und Werkzeug für Deutungen auszulegen, führen sie mit dekonstruktiven Lektüren von Hans Christian Andersens Kunstmärchen Des Kaisers neue Kleider vor, wie sich »eine bestimmte Aufmerksamkeit gegenüber dem Text« (S. 85), gegen die Interpretation und ihre Realitätsansprüche sträubt. Mit dem Nachvollzug poststrukturalistischer und ideologiekritischer Textbegegnung lädt der Beitrag zum Bruch mit Lese- und Sehgewohnheiten ein und zeigt, wie Widerstand gegen die »idée fixe« der Interpretation (vgl. Enzensberger 1988, S. 33) aussehen kann.

3. Interpretieren wer?Überzeugung und Orientierung beim Lehren und Lernen

Statt vom Text auszugehen und seine Offenheit, Merkwürdigkeit oder Ideologie zu reflektieren und zu dekonstruieren, stehen im dritten Abschnitt die unterschiedlichen AkteurInnen im Mittelpunkt, die das Interpretieren lehren und lernen. Damit einher gehen Fragen der Gesellschaft, in der diese sprachliche und soziale Handlung geübt wird und ihre Macht entfaltet. Betrachtet werden Vorstellungen, Kanon und Lesarten, die an Universität und in Schule tradiert werden. In der Auseinandersetzung mit den Überzeugungen und Herausforderungen entfalten die AutorInnen sehr unterschiedliche Alternativen für das Lehren und Lernen von Interpretationen.

Der Beitrag von Stefan Neuhaus lässt sich als leidenschaftliches Plädoyer für ein vielfältiges Wissen von Theorie und Praxis lesen, das zusammen mit der Kenntnis vieler literarischer Texte aus der Literaturgeschichte die Basis der Lehramtsbildung bieten solle, damit Abweichungen von der Norm produktiv gemacht und Texte »zum Sprechen gebracht werden können« (S. 87). Nach einer Skizze von Eckpunkten für die Ausbildung zukünftiger DeutschlehrerInnen und einem Blick in die Vielfalt österreichischer Literatur führt Neuhaus anhand eines Romans von Wolf Haas vor, wie im Literaturunterricht auch die Interpretation nicht kanonischer, aber gewitzter Texte durchaus aufschlussreich sein kann.

Wie aber sieht die Praxis aus, welche Modellierungen von Literaturinterpretation nehmen LehrerInnen vor? Und inwieweit finden diese Niederschlag in den Vorstellungen und schriftlichen Textinterpretationen ihrer SchülerInnen? Diesen Fragen geht Daniela Matz in ihrem Beitrag nach, der auf Interviews mit Lehrpersonen und SchülerInnen einer gymnasialen Oberstufe und einer Untersuchung von Interpretationsaufsätzen basiert. Deutlich wird, dass schriftliche Interpretation meist auf Textanalyse (hier vor allem der Stilmittel) verkürzt wird und leserseitige Prozesse des Verstehens und Deutens vernachlässigt werden. Ob Enzensbergers »Gedicht-Keule« etwa doch noch geschwungen wird? Wie dies für künftige Generationen zu vermeiden ist, zeigen die Rückschlüsse für die LehrerInnenbildung, mit denen Daniela Matz‘ Beitrag endet.

Dringenden Handlungsbedarf ortet Heidi Rösch bei Interpretationshandlungen aus ganz anderen Gründen, wenn SchülerInnen der Unterstufe in den Blick genommen werden. Grundgelegt in Theorien der Rassismuskritik, Weißseinskritik, Farbenbewusstheit und Intersektionalität bietet die Autorin wie in anderen ihrer beeindruckenden Arbeiten zum Thema konkrete Möglichkeiten für »rassismuskritisches Interpretieren mit heterogenen Lerngruppen«. Mit Fokus auf soziale Positionierungen in literarischen Texten empfiehlt sie eine Reihe an Kinder- und Jugendbüchern oder skizziert »literaturinterne Alternativen« (S. 108) für problematische Perspektiven (wie in Herrndorfs Tschick), um in unserer Migrationsgesellschaft Diskriminierung sichtbar zu machen und zu bekämpfen. Inwiefern gegen Denk- und Sprechverbote angegangen, wie Kafkas Bericht für eine Akademie rassismuskritisch gelesen werden kann und warum mitunter ein Happy End zu begrüßen ist, wird wie viele andere Fragen praxisnah dargelegt.

4. Schlussbemerkung

»Literatur, die ohne rassistische Argumentationsmuster auskommt und dennoch nicht farbenblind agiert, ist bis heute eher selten«, schreibt Heidi Rösch in ihrem Beitrag (S. 112) und dies ist mit ein Grund, warum einige der empfohlenen Bücher in unserem ide-Heft auch als Abbildungen abgedruckt sind. Dezidiert zu Interpretationshandlungen einladen will unser Cover, für dessen Motiv – und Deutungskunst! – wir uns sehr herzlich beim Künstler Georg Vith bedanken. Das Bild mit dem Titel »Betrachtet die Fingerspitzen« ist selbst eine Interpretation von Literatur und eröffnet viel Raum für Gestalten, die über der Wiese schweben, und für die Wiese selbst. Im Zusammenhang mit dem Gedicht, das dem Bild den Titel gab, erweitern und dezimieren sich Möglichkeiten, dem Bild, aber auch dem gleichlautenden Text (Eich 2006, S. 164) Bedeutung zu geben.

Welche Gesprächsanlässe könnte dieses Gedicht anbieten? Auf welche Weise ließe es sich lesen? Und wie könnte eine solche Lesefähigkeit gelehrt und gelernt werden? Für diese Fragen finden sich ebenso viele Hinweise und Anregungen in diesem Heft wie dafür, wie eine Interpretation nicht angeregt oder angeleitet werden sollte. Je nachdem, ob Interpretieren aus dem Gedicht eine Keule macht oder ein anarchischer Akt ist (Enzensberger), ob Interpretieren als sprachliche Handlung (Zabka) verstanden oder in einer Aufgabe einer Zentralmatura formuliert ist (Köster), ob die Didaktik durch einen Griff in die Praxiskiste (Staud) oder die Reflexion von Unterrichtserfahrungen (Tonsern) angeleitet, ob die Literaturgeschichte (Neuhaus) oder die Aufmerksamkeit dem Text gegenüber (Baum/Breite) zentral gesetzt wird, ob dessen Merkwürdigkeit ausgelotet (Zelger) oder die Tropen extrahiert (Matz), ob die Fragen anthropologisch gesehen werden (Abraham) oder Ideologie (Baum/Breite) und Gesellschaft betreffen (Rösch u. a.): Die extreme Bedeutungsoffenheit wird unterschiedlich reduziert (Abraham) und Wirklichkeit je anders hergestellt.

CHRISTINA MISAR-DIETZ

SABINE ZELGER

Betrachtet die Fingerspitzen, ob sie sich schon verfärben!

Eines Tages kommt sie wieder, die ausgerottete Pest.

Der Postbote wirft sie als Brief in den rasselnden Kasten,als eine Zuteilung von Heringen liegt sie dir im Teller,die Mutter reicht sie dem Kinde als Brust.

Was tun wir, da niemand mehr lebt von denen,die mit ihr umzugehen wußten?

Wer mit dem Entsetzlichen gut Freund ist,kann seinen Besuch in Ruhe erwarten.

Wir richten uns immer wieder auf das Glück ein,aber es sitzt nicht gern auf unseren Sesseln.

Betrachtet die Fingerspitzen! Wenn sie sich schwarz

färben,

ist es zu spät.(Eich 2006 [1948], S. 164)

Literatur

EICH, GÜNTER (2006): Betrachtet die Fingerspitzen. In: Ders.: Sämtliche Gedichte. Hg. von Jörg Drews. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 164.

ENZENSBERGER, HANS MAGNUS (1988): Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie. In: Ders.: Mittelmaß und Wahn. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 23–41.

PIEPER, IRENE (2015): Zur spezifischen Rahmung des Interpretierens in der Schule: Willkommen und Abschied als Unterrichtsgegenstand in der Mittelstufe. In: Lessing-Sattari, Marie u. a. (Hg.): Interpretationskulturen: Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft im Dialog über Theorie und Praxis des Interpretierens. Frankfurt/M.: Peter Lang, S. 185–217.

SPINNER, KASPAR H. (1987): Interpretieren im Deutschunterricht. In: PD, Nr. 81, S. 17–23.

ZABKA, THOMAS (2005): Pragmatik der Literaturinterpretation. Theoretische Grundlagen – kritische Analysen. Tübingen: Niemeyer.

1 Ganz herzlichen Dank an Stefanie Schwandner auch für ihre Unterstützung bei Lektorat und Korrektorat!

CHRISTINA MISAR-Dietz ist Universitätsassistentin am Institut für Germanistik der Universität Wien und Lehrerin an der AHS Rahlgasse. E-Mail: [email protected]

SABINE ZELGER ist Hochschulprofessorin an der KPH Wien/Krems. Forschungsschwerpunkte sind österreichische Literatur und Unterrichtsprinzipien im Literaturunterricht.

E-Mail: [email protected]

Ulf Abraham

Man kann nicht nicht interpretieren

Deutungsvermutungen im Alltag und im Deutschunterricht

Dass die Interpretation literarischer Texte, erweitert um diejenige anderer Medien (z. B. Spielfilme), zum Kerngeschäft des Deutschunterrichts gehört, dürfte Konsens in der Deutschdidaktik sein und ist auch unter Lehrkräften weniger kontrovers als manch anderes, was im Fach geübt, geleistet und überprüft werden soll: Es hat Tradition. Indessen ist das Interpretieren ästhetischer Texte/Medien aber sozusagen die Spitze eines Eisbergs; die meisten Interpretationsleistungen fallen im Alltag an – überall, wo etwas Wahrgenommenes oder Beobachtetes nicht spontan und aufwandslos zu verstehen ist. Dann werden Deutungsvermutungen angestellt, mit vorhandenem oder zu erwerbendem Wissen abgeglichen, bestätigt oder widerlegt. Auf Literatur angewendet, legt eine solche anthropologische Sicht auf das Interpretieren einen offeneren Umgang mit der Tradition nahe.

1. Was gibt es da zu interpretieren? Ein Beispiel

Jan Wagner

giersch

nicht zu unterschätzen: der giersch

mit dem begehren schon im namen – darum

die blüten, die so schwebend weiß sind, keuschwie ein tyrannentraum.

kehrt stets zurück wie eine alte schuld,schickt seine kassiberdurchs dunkel unterm rasen, unterm feld,bis irgendwo erneut ein weißes wider-

standsnest emporschießt, hinter der garage,beim knirschenden kies, der kirsche: gierschals schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch

geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis gierschschier überall sprießt, im ganzen garten gierschsich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.

Der Autor (Jahrgang 1971) dieses Gedichts gehört zu den profiliertesten Lyrikern des deutschen Sprachraums. Neben vielen anderen Auszeichnungen hat er 2011 den Friedrich-Hölderlin-Preis und 2017 den noch renommierteren Georg-Büchner-Preis erhalten. Das Sonett giersch (Wagner 2014, S. 7) ist »ein gelungenes Beispiel für die Aktualisierung der traditionellen romanischen Gedichtform« (Pieper/Rohowski 2016, S. 202). Der Doldenblütler Giersch, dessen »wuchernde Rhizome jeden ordnungsliebenden Gärtner herausfordern« (ebd.), wird literarisch gebändigt von der streng strukturierten Gattung, deren Gegenstand er ist (vgl. ebd.). Wortschatz aus dem Kontext des politischen Widerstands (tyrannentraum, schuld, kassiber, widerstands-/nest) bringt das »unausrottbare Unkraut«, dem gleichwohl Heilkräfte nachgesagt werden (vgl. ebd., S. 204), in einen unerwarteten Zusammenhang mit »Subversion und Opposition« (ebd.).

Diese Bemerkungen zum Text mögen aus Raumgründen die eigentlich angezeigte ausführliche Form- und Inhaltsanalyse (vgl. Pieper/Rohowski 2016, S. 202–205) ersetzen. Wichtiger ist seine Eignung im Kontext einer literaturdidaktischen Problematisierung des Interpretationsbegriffs: Auf den ersten Blick ein Naturgedicht, angesiedelt in der imaginierten Szene eines unkrautüberwucherten, mutmaßlich alten Gartens, ist der Text zunächst ein Alltagsgedicht der Gegenwart in der Tradition, der Hans Bender (1978, S. 95–138) ein Kapitel seiner einflussreichen Anthologie In diesem Lande leben wir gewidmet hat: In gewisser Hinsicht steht giersch in einer Reihe mit Texten von Rolf Dieter Brinkmann oder Erich Fried. Gleichzeitig aber scheint das Sonett ein politisches Gedicht zu sein, was literarische Ahnen wie Bert Brecht oder Hans Magnus Enzensberger aufriefe. Wie passt das zusammen? Das Unkraut, das gleichzeitig ein Heilkraut ist und dessen Zähmung oder Ausrottung keine Notwendigkeit, sondern nur die fixe Idee einer gärtnerischen Ordnungsmacht zu sein scheint, fungiert auf zwei Sinnebenen als Symbol. Die Glätte der geschliffen wirkenden Form, die ihrerseits bekanntlich eine lange Geschichte aufweist, ist nur scheinbar gefällig, vielmehr widerständig, indem sie ein Naturgedicht politisiert.

Für den Deutschunterricht bietet sich Jan Wagners Gedicht, neben anderen aus dem Gedichtband Regentonnenvariationen von 2014 (Abb. 1), geradezu an; drei Genres der Lyrik (Natur-, Alltags- und politisches Gedicht) lassen sich damit erschließen. Wie viel Interpretation indessen ein solcher Unterricht nötig hat, ist eine damit noch nicht beantwortete Frage. Genügt es nicht, die »uneigentliche Bedeutung« des Unkrauts beiläufig wahrzunehmen und es ins Belieben der Lernenden zu stellen, wie viel Bedeutung sie der Sinnebene des politischen Widerstands beimessen wollen? Erfahrungen mit Maturaaufsätzen, in denen Gedichte hemmungslos überinterpretiert werden, weil Prüflinge, die ihrem eigenen literarischen Verstand nicht trauen, einfach nichts unversucht lassen, was von ihnen vielleicht erwartet werden könnte, mahnen die Lehrkraft zur interpretatorischen Zurückhaltung. Diese würde von einem Blick in Wagners Biografie1 eher noch verstärkt; ein politischer Dichter ist er nicht.

Abb. 1: Jan Wagner (2014): Regentonnenvariationen (München: Hanser)

2. Man kann nicht nicht interpretieren:Interpretation, anthropologisch

Sie sitzen in einem Café und sehen auf der anderen Straßenseite einen Mann gehen – nicht ziellos schlendernd, sondern so, als müsse er zur Arbeit oder zu einem Termin. Aber dann macht er unvermittelt kehrt und geht denselben Weg zurück. Der Mann kann Ihnen eigentlich egal sein. Und doch überlegen Sie über Ihrem Cappuccino, was sein Verhalten bedeutet. Hat er etwas vergessen? Aber man hat ihn vorher weder sein Smartphone noch seine Brieftasche suchen sehen. Oder ist ihm gerade etwas klargeworden, was sein Leben ändert, geht er nun einer Frau einen Heiratsantrag machen oder seine Stelle kündigen? Aber das ist doch wahrscheinlich stante pede nicht realisierbar! Wie auch immer, keine der Deutungsvermutungen, die Ihnen durch den Kopf gehen, überzeugt Sie wirklich und nachdem Sie das Café verlassen haben, spüren Sie noch eine kleine Weile ein merkwürdiges Unbehagen: Wir ertragen es schwer, keinen Sinn in dem zu finden, was wir wahrnehmen. Menschen verhalten sich gewöhnlich so, dass man verstehen kann, was sie tun. Überhaupt ist die Welt normalerweise erklärbar! Das gilt zwar nur, wenn man genügend über einzelne Personen oder die Welt im Ganzen weiß, um beobachtete Abläufe deuten zu können. Aber das Bedürfnis der Sinnfindung haben wir immer. Manchmal erschließt sich der Sinn eines Vorgangs spontan (wir verstehen sofort, welches Problem einer hat, der auf der Straße stehenbleibt und all seine Taschen durchsucht); ansonsten beginnen wir, wir können gar nicht anders, mit dem Interpretieren. Vermutlich hat homo sapiens das getan, seit es ihn gibt; Bedürfnis und Fähigkeit, Abläufen aller Art Sinn zu unterstellen, Zusammenhänge zu finden und daraus mentale Modelle von »Welt« zu konstruieren, dürfte einer der für seine weitere Entwicklung maßgeblichen genetischen Vorteile vor anderen Primaten gewesen sein.

Interpretieren ist sowohl ein Bedürfnis als auch eine Fähigkeit von anthropologischer Bedeutung. Als Menschen können wir gar nicht nicht interpretieren. Keineswegs beschränkt auf den Umgang mit literarischen oder anderen Kunstwerken, kennzeichnet das unser Verhältnis zu der Welt, in der wir leben und die wir verstehen und gestalten wollen. Deutungsvermutungen zu entwickeln, wann immer wir etwas wahrnehmen, was wir nicht gleich verstehen, ist der allgemeine Fall; der Spezialfall ist, wenn es ein Kunstwerk ist, das eine solche Sinnfindung herausfordert. Für Swantje Ehlers

ist Interpretieren ein Handeln, das dann einsetzt, wenn Verstehen sich nicht automatisch einstellt wie bei zeitlich oder kulturell fernen Texten, deren Welten und Sprache dem gegenwärtigen Leser fremd sind, bei dunklen Stellen, unerklärlichen Ereignissen oder hintergründigen Figuren, deren Absichten und Beweggründe nicht auf Anhieb erkennbar sind. (Ehlers 2017, S. 162)

Nun geben literarische Texte die Wirklichkeit nie »komplett« wieder; sie weisen Unbestimmtheitsstellen auf, halten Informationen zurück und lassen den Leser*innen Raum für eigene Mitarbeit am Aufbau und der Erklärung der dargestellten Textwelt. Damit begünstigen und hintertreiben sie interpretatorisches Handeln. Nach Markus Nussbaumer (1991, S. 136) umfasst der »Text im Kopf« (»Text II«) stets mehr als der Text auf dem Papier bzw. Bildschirm (»Text I«). Um aus »Text I«, der gewissermaßen die Arbeitsgrundlage für alle Leser*innen bildet, einen individuellen »Text II« zu entwickeln, muss man das nur Angedeutete durch Vorstellungsbildung vervollständigen, Fehlendes ergänzen und damit zwangsläufig Mehrdeutigkeit vereindeutigen. Das Sonett giersch sagt nicht ausdrücklich, der Doldenblütler sei eine Guerilla und das Anliegen eigentlich ein politisches; »Text I« begnügt sich damit, gleichsam Spuren zu legen, denen jeder »Text II« dann mehr oder weniger weit folgen kann.

Beschrieben ist damit nun eine aktive Suchbewegung; Interpretieren »ist eine hermeneutische Tätigkeit, die zielgerichtet ist, aus einer Folge von Handlungsschritten besteht, um ein Ziel zu erreichen, von einem Subjekt durchgeführt wird und von Annahmen über das Verstehen, die Literatur, das Zustandekommen von Bedeutungen eines literarischen Textes und die jeweilige Gattung geleitet ist« (Ehlers 2017, S. 161). Im Unterschied zur Analyse, die gleichsam ein Programm abarbeitet, kann die Interpretation nicht beginnen ohne eine Anfangsvermutung über mindestens eine möglicherweise zuweisbare Bedeutung. Es geht dann darum, Indizien und Belege für die Richtigkeit von Vermutungen zu sammeln und eine Argumentation zu deren Gunsten zu entwickeln. In einer aktuellen literaturwissenschaftlichen Anleitung zur Analyse und Interpretation (Pitz-Klauser 2019, S. 83) ist die dafür nötige »Entscheidung für eine Deutungsmöglichkeit« ein wichtiger Schritt, dem die Sammlung aller denkbaren Deutungsmöglichkeiten vorauszugehen habe (vgl. ebd., S. 84).

Die Annahme erreichbarer Vollständigkeit von Deutungsvermutungen ist allerdings so verführerisch wie uneinlösbar; widerspräche sie doch der unendlichen Anzahl denkbarer »Texte II«, in Bezug auf die mit Hilfe von »Text I« eine Angemessenheitsprüfung durchzuführen wäre (gibt er diese Deutung her?). Nicht einmal unter Literaturwissenschaftler*innen, geschweige denn in einer Schulklasse, wäre Einigkeit darüber herzustellen, wann die Liste der Vermutungen zu schließen sei.

3. Interpretieren ist Interaktion: Modi und Anlässe des Interpretierens im Unterricht

Gewöhnlich wird die rezeptiv-analytische Lektüre, die an der Beschreibung und Deutung eines Textes interessiert ist, einer handlungs- und performanzorientierten Lektüre entgegengesetzt, die dem Text Bedeutung(en) auf andere Weise zuspricht – indem sie ihn benutzt, verändert, inszeniert und zum Ausgangspunkt kreativer Verfahrensweisen macht. Orientiert sich jene an einer philologischen Praxis der Textbeschreibung, -erklärung und -deutung, so nimmt sich diese die gesamte kulturelle Praxis Literatur zum Vorbild und wählt aus der Vielfalt inszenatorischer und medialer Umgangsweisen solche aus, die alters- und gegenstandsspezifische Lernpotenziale haben (vgl. Abraham/Brendel-Perpina 2017).

So unterschiedlich damit diese beiden Lektüremodi sind, so ähnlich sind sie sich doch in einem Punkt: Sie basieren auf Interaktion, und zwar auf zwei Ebenen. Zum einen findet Interaktion zwischen Text und Leser*in statt (vgl. Ehlers 2017, S. 165). Nicht nur der »klassische« Interpretationsaufsatz, sondern auch die ihn erweiternden oder ersetzenden Formen des Schreibens, auch des materialgestützten, sind Formen der Interaktion mit dem Text. Zum anderen jedoch interagieren im Unterricht Leser*innen, zu denen auch die Lehrkraft gehört, miteinander im Prozess des Interpretierens; oft übernimmt das Gespräch »die Funktion, Lesarten, Fragen, Hypothesen wechselseitig infrage zu stellen und zu relativieren, um im Abgleichen von Bedeutungszuweisungen zu einer intersubjektiven Verständigung zu gelangen« (ebd.). Nach Thomas Zabka (2020, S. 7) kann das Gespräch den literarischen Text beschreiben, strukturieren, einordnen, zusammenfassen, vergleichen und befragen, und zwar als Kleingruppengespräch oder als gelenktes Lehr-Lerngespräch (vgl. ebd., S. 98 f.).

Weitere Formen der Interaktion sind szenische Verfahren, in denen Lesarten des literarischen (oder filmischen) Textes bzw. einzelner Szenen, Motive oder Figuren daraus in Form von Rollenspielen oder Standbildern umgesetzt werden (vgl. Schau 1996 und Scheller 2019 für die Literatur sowie Krämer 2006, S. 267–383 für den Film; zusammenfassend Abraham 2017). Szenische Darstellungen im Anschluss an ästhetische Texte und Medien aktivieren die Vorstellungsbildung der Lernenden und bringen Varianten der Bedeutungszuweisung hervor, die selbst auf Interpretation beruhen und im Auswertungsgespräch das Aushandeln von Gültigkeitsbedingungen für konsensfähige Deutungen ermöglichen. Jede Inszenierung ist eine Art gespielter »Text II«, der diskutiert, mit anderen verglichen und für das weitere Interpretationsgespräch genutzt werden kann. Viele szenische Verfahren sind dabei kollaborativ und setzen die Interaktion der Spieler*innen voraus.

In einem Unterricht über das Sonett giersch könnten beispielsweise zwei Gärtner*innen, deren Parzellen nebeneinander liegen, darüber streiten, ob man ihn nun wachsen lassen oder bekämpfen soll. Das im Zug der Analyse gefundene Vokabular des Widerstands wäre von beiden Spieler*innen für ihre Ziele zu nutzen und zu erweitern.

4. Interpretation reduziert Bedeutungsoffenheit und Mehrdeutigkeit: Interpretieren literarisch-ästhetischer Texte/Medien

Es ist ein Gemeinplatz der Literaturwissenschaft und -didaktik, dass Bedeutungsoffenheit ein Merkmal literarischer Texte und überhaupt ästhetischer Medien ist, also auch der bilddominierten Print- und Nichtprintmedien (Comic, Film). Ralf Köhnen (2001, S. 127) betont in einem Lexikonartikel die interpretatorische Unabschließbarkeit jeden Textverstehens; er steht damit in der Tradition Schleiermachers und bereitet den achten der später von Kaspar H. Spinner formulierten »elf Aspekte literarischen Verstehens« vor: »sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen« (Spinner 2006, S. 12). In einer späteren Publikation führt Spinner diesen Gedanken so weiter: »Der subjektive Anteil an Interpretationen ergibt sich vor allem durch die Mehrdeutigkeit literarischer Texte und die damit verbundene unabschließbare Sinnbildung.« (Spinner 2017, S. 194)

Damit ist gerade nicht gemeint, vor dieser Unabschließbarkeit zu kapitulieren und jede (oder keine) Bedeutungszuschreibung gelten zu lassen, sondern auf der Basis eigenen Wissens über und der damit verbundenen Sicht auf die Welt aktiv Sinnfindung zu betreiben. Um das tun zu können, muss man auf eigene Ressourcen zurückgreifen: Tobias Stark nennt die Interpretation »eine willentlich gesteuerte Operation der Bedeutungszuweisung unter Verwendung von verschiedenartigem Wissen« (Stark 2016, S. 87). Erwünschte Wirklichkeitsbezüge müssen allerdings »im Unterricht erst verfügbar gemacht werden« (ebd., S. 88), und zwar durch Bereitstellen von Kontextwissen zum betreffenden Werk. Stark warnt in diesem Zusammenhang vor der Gefahr »einer einseitigen und vorschnellen Fixierung auf einen Kontext« (ebd.) und legt damit die steuernde Funktion jedes von der Lehrkraft im Deutungsprozess angebotenen Wissens offen. Interpretation basiert, auch wenn uns das nicht immer bewusst ist, auf Wissen, das teils dem Werk entnommen, teils zu ihm hinzugebracht werden muss, besonders bei »zeitlich oder kulturell fernen Texten« (Ehlers 2017, S. 162).

Doch gerade weil das Interpretieren als Form der Sinnzuschreibung ein menschliches Grundbedürfnis ist (vgl. den zweiten Abschnitt), sollte man es nicht als eine anscheinend rein kognitive Operation ausspielen gegen imaginative, einfühlende und handelnde Zugänge. In Begegnungen mit Kunstwerken stellen wir (auch außerhalb von Kunst-, Musik- oder Deutschunterricht) doch immer wieder fest, dass erst das gedeutete Werk »uns etwas sagt«, also unsere eigene Erinnerung, Vorstellungsbildung oder Empathiefähigkeit anregt; »manchmal findet man erst durch das Interpretieren einen erlebenden Zugang zu einem Text«, gibt Spinner (2017, S. 194) zu bedenken. Und er fügt hinzu: »Es spricht sogar viel dafür, darin einen Hauptzweck des Interpretierens zu sehen.« (Ebd.)

So viel indessen Interpretation ästhetischer Texte und Medien auch mit eigener Lebenserfahrung und subjektiver Sinnsuche zu tun hat, so wenig kann sie gelingen ohne die bereits angedeutete Intentionalität der Suche nach plausiblen Deutungen: Sobald ein Text wie giersch als literarischer bzw. poetischer erkannt ist (es ist kein Beitrag aus der Postille für Schrebergärtner zum Umgang mit Unkraut), setzt das von Ehlers so beschriebene Interpretationshandeln ein. Der Gattung nach ist das ein Gedicht, also ist mit Mehrdeutigkeit verstärkt zu rechnen; gleichzeitig ist es aber die botanisch richtige Beschreibung eines in Gärten anzutreffenden Gewächses. Um das zu erkennen, müssen Lernende das ihnen womöglich unbekannte Wort Giersch