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Beschreibung

Geschlechtsbezogene Gewalt kommt jeden Tag vor, völlig unabhängig von Herkunft, Bildung oder Einkommen. Die Forschung zu Gewaltbetroffenheit zeigt, dass besonders vulnerable Gruppen strukturell von Schutz und Hilfe ausgeschlossen bleiben. Sie zeigt aber auch, dass Verhältnisse, die eine Verletzungsoffenheit herstellen und auf deren Grundlage Gewalthandeln erfolgen kann, selbst als Gewalt zu verstehen sind. Der vorliegende Sammelband, der auf aktuellen Forschungsergebnissen und der Auseinandersetzung mit queer-feministischen Theorien basiert, geht der Frage nach, wie die Verwundbarkeit marginalisierter Personen und die Ausschlüsse, die sie erfahren, sichtbar gemacht werden können und was zu tun ist, um auch diesen Gruppen diskriminierungsfreien Schutz zu gewähren. Die Beiträge dieses Buches richten sich gleichermaßen an Betroffene wie an alle Studierende, Lehrende, Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen, die willens sind, die aktuellen Arbeitsweisen zu diskutieren, weiterzudenken und schrittweise in die Praxis und Ausbildung einzuführen.

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Seitenzahl: 342

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Katja von Auer, Christiane Micus-Loos, Stella Schäfer, Kathrin Schrader (Hg.)

Intersektionalität und Gewalt

Verwundbarkeiten von marginalisierten Gruppen und Personen sichtbar machen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Katja von Auer, Christiane Micus-Loos, Stella Schäfer, Kathrin Schrader (Hg.):

Intersektionalität und Gewalt

1. Auflage, Juni 2023

eBook UNRAST Verlag, September 2023

ISBN 978-3-95405-160-1

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Katja von Auer · Christiane Micus-Loos · Stella Schäfer · Kathrin SchraderEinleitung

LEITARTIKEL

Mai-Anh BogerGewalt und In/Differenz – Eine Hommage an Simone Weil

Birgit SauerGeschlechtergewalt intersektional denken. Begriffliche Überlegungen

DIFFERENZLINIEN

Elena BartaRepression ist unsere Realität. Trans*feindlichkeit, Gewalt, Geschlechtergrenzen und das trans*formative Leben

Sabine FriesIntersektional wirkende Einflüsse auf die Gewaltbetroffenheit von Frauen* mit Behinderungen: Sozialisationsbedingungen, Geschlechtsidentität sowie körperliche und sexuelle Selbstbestimmung

Fabienne MahwaneEin sicherer Raum für wen? Rassismus im Hilfesystem gegen Gewalt an Frauen

Christine Kone · Katja von AuerSchwesternschaft in rassistischen Verhältnissen – Intersektionale Perspektiven auf Gewalt gegen Sintizze* und Romnja*

Ursula ProbstGewalt in der Sexarbeit: Zur Notwendigkeit intersektionaler Perspektiven auf ein umkämpftes Themenfeld

POLITIK, INSTITUTIONEN und RECHT

Sarah ElsuniGewaltschutz und Recht gegen Gewalt im Lichte der Intersektionalität

Ulrike LembkeFemi(ni)zide intersektional? Wie tödliche geschlechtsbezogene Gewalt in juristischen und rechtspolitischen Diskursen ignoriert, verharmlost oder rassifiziert wird

Christina ClemmGeschlechtsspezifische Gewalt und die Justiz

Martina PuschkeUmfassender Schutz vor Gewalt gegen Frauen mit Beeinträchtigungen

Sylvia Haller · Britta SchlichtingAutonome Frauenhäuser und die Umsetzung der Istanbul-Konvention

Melike EnginDie interdependente Dynamik zwischen Gewalt gegen Frauen mit unsicherem Aufenthaltsrecht und der Reproduktion von Rassismus

ZUGÄNGE und ANSÄTZE

Kollektiv Solidarische SozialarbeitGeschlechtsbezogene Gewalt auf der Straße

Gloria SchmidÜber die Schwierigkeit der Gleichzeitigkeit – Intersektionalität in der Praxis der Frauenhausarbeit

Sarah SobeczkoDoppelt geflüchtet – doppelt benachteiligt? Empiriebasierte Einblicke in die Erfahrungen geflüchteter Frauen* im Frauenhaus

Kathrin SchraderIntersektionalität und Taxonomie in der Sozialen Arbeit – ein ›praktisch‹ unlösbarer Widerspruch

Autor*innenverzeichnis

Anmerkungen

Katja von Auer • Christiane Micus-Loos • Stella Schäfer • Kathrin Schrader

Einleitung

Alle drei Tage wird in Deutschland eine Frau Opfer einer tödlichen Beziehungstat. Gewalt in Beziehungen oder im sozialen Nahraum gehört für viele Mädchen und Frauen zu ihrem Alltag. So kommt die Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zu dem Ergebnis, dass 40h % der befragten Frauen seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt haben (vgl. Schröttle/Müller 2004). Jede vierte Frau hat häusliche Gewalt durch den aktuellen oder einen ehemaligen Partner erlitten (vgl. ebd.). Mädchen werden, so die Studie, im familiären Umfeld dreimal so oft Opfer sexualisierter Gewalt wie Jungen (vgl. ebd.). Insofern ist der Zusammenhang zwischen Gewalt und Geschlecht offenkundig und wurde bereits vielfach diskutiert (Forschungsnetz Gewalt im Geschlechterverhältnis 2008). Auch wenn Gewalt unabhängig von Herkunft, Bildung und Einkommen auftritt, zeigt sich empirisch, dass für manche Menschen ein höheres Risiko besteht, in ihrem Leben Gewalt zu erfahren. Frauen mit Behinderungen sind im Laufe ihres Lebens doppelt so häufig von sexualisierter Gewalt betroffen als nicht-behinderte Frauen (vgl. Schröttle et al. 2013). Frauen mit Migrationsgeschichte suchen häufiger Schutz in Frauenhäusern, sind quantitativ und qualitativ in höherem Maße von Gewalt betroffen und tragen erheblichere gesundheitliche Folgen davon (vgl. Schröttle/Khelaifat 2007; Nägele/Mainusch 2019). Dies trifft ebenso auf Personen zu, die außerhalb der zweigeschlechtlichen Norm leben. Auch sie sind einem erhöhten Gewaltrisiko ausgesetzt. Trans*Menschen sind weltweit als Gruppe besonders vulnerabel und sehr oft das Ziel von gruppenspezifischen Diskriminierungen (vgl. Takacs 2006; Whittle et al. 2008; FRA 2014). Besonders Trans*Jugendliche leiden unter diesen Diskriminierungs- und Viktimisierungserfahrungen, wie aus Studien aus Europa (FRA 2014) und Deutschland hervorgeht (vgl. Schumann/Linde-Kleiner 2014; Krell/Oldemeier 2017; Sauer/Meyer 2016). Neben diesen drei Beispielen könnten weitere besonders vulnerable Gruppen aufgezählt werden. Sie alle eint, dass sie aufgrund ihrer sozialen Positionierung im besonderen Maße von Gewalt betroffen sind. Hinzu kommt, dass für diese Menschen häufig keine spezifischen Beratungs- und Schutzangebote existieren oder sie nicht über ihr grundlegendes Recht auf Gewaltfreiheit aufgeklärt sind (Helfferich/Kavemann 2012). Um vor geschlechtsbezogener Gewalt auch besonders vulnerable Gruppen und Personen, u.a. Trans*Personen, obdachlose Frauen, Sexarbeiter*innen, Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen, Frauen mit Psychiatrieerfahrung sowie women of color und migrierte und geflüchtete Frauen schützen zu können, müssen besonders die Differenzen innerhalb der Genusgruppe Frau in den Fokus gerückt werden.

Diese Erkenntnis führte seit einigen Jahrzehnten zu Debatten innerhalb der Frauen(haus)bewegung, der Wissenschaft sowie auf der Ebene der nationalen und internationalen Konstituierung von Menschenrechten. Dabei sind solche zentralen praktischen Fragen zu klären, wie potenziell Betroffene Schutzeinrichtungen, Beratungseinrichtungen und Aufklärungsangebote möglichst barrierearm erreichen (Rabe/Leisering 2018). Die aktuellen Debatten, die seit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention im Jahr 2017 geführt werden, zeigen, dass besonders vulnerable Gruppen nicht nur strukturell von Schutz und Hilfen ausgeschlossen werden, sondern dass auch die Verhältnisse selbst als Gewalt zu verstehen sind, die eine »Verletzungsoffenheit herstellen und auf deren Grundlage Gewalthandeln erfolgen kann« (Sauer in diesem Band). Alle Beiträge in diesem Buch votieren deshalb dafür, den Begriff »Geschlechtsbezogene Gewalt« intersektional zu öffnen und in Abgrenzung zu (moral)politischen Forderungen (in Kritik dazu Crenshaw 1991; hooks 2022; Brown 2002, 2017) und einem karzeralen Feminismus (weiterführend dazu Gruber 2020; Srinivasan 2021) die Verwundbarkeit von marginalisierten Gruppen und Personen und die Ausschlüsse, die sie immer wieder erfahren, sichtbar zu machen. Es geht nicht darum, Gewaltverhältnisse zu relativieren oder wegzuschreiben, sondern im Gegenteil darum, Herrschaftsverhältnisse und ihre Wechselwirkungen innerhalb von Gewalterfahrungen zu thematisieren. Damit plädieren die Herausgeberinnen für ein Verständnis von Gewalt, das nicht nur eindimensional auf Geschlecht fokussiert ist, sondern die Wechselwirkungen sämtlicher Herrschaftsverhältnisse, wie Rassismus, Klassismus und Bodyismus aufnimmt.

Die Istanbul-Konvention wurde in Kraft gesetzt, um Frauen vor Gewalt, insbesondere jedoch vor häuslicher Gewalt zu schützen. Sie verpflichtet alle Staaten, solche Gewalttaten zu verhindern, zu untersuchen, zu bestrafen und in jedem Fall dafür zu sorgen, dass die Opfer entschädigt werden. Die Fokussierung auf binäre Konstruktionen wie z.B. Frauen und Mädchen ist in den gegenwärtigen heteronormativen Diskursen notwendig, um geschlechtsbezogene Gewalt sichtbar zu machen und zu adressieren. Mittel- und langfristig fallen dadurch jedoch viele andere Gruppen durch dieses Raster, deren ›besondere‹ Vulnerabilität darin besteht, dass sie zu sogenannten Minderheiten gehören. Im Absatz 87 von Artikel 12 der Konvention wird unglücklicherweise nicht versucht, eine besondere Schutzbedürftigkeit neutral zu definieren, sondern diese über die Aufzählung von Gruppen festzuschreiben. Dies führt zwangsläufig zu ungewollten Ausschlüssen und einer Hierarchie der Opfer. Man könnte diese explizite Auflistung auch als toxisches Statusranking von Vulnerabilität bezeichnen. Dies ist besonders problematisch, weil ja eigentlich alle Opfer von Gewalt, die sich aus der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft legitimiert, gemeint sind (vgl. Istanbul-Konvention, Bündnis 2021, Absatz 1). So bleiben, wenn auch ungewollt, Gruppen unbenannt, die häufig aus Schutzeinrichtungen ausgeschlossen werden, wie zum Beispiel Frauen mit Söhnen über zwölf Jahren, Student*innen, psychiatriebetroffene Frauen oder trans*, inter und nicht-binäre Menschen.

Die Herausgeberinnen plädieren deshalb für eine konsequent intersektionale Analyse von Gewalt, um besonders vulnerable Menschen in ihrer spezifischen Lebenssituation angemessen unterstützen zu können.

In diesem Sammelband soll versucht werden, geschlechtsbezogene Gewalt im Sinne einer performativen Differenz postkategorial zu beschreiben, um für alle Menschen ein gewaltfreies Leben anzustreben. In der Auseinandersetzung mit queer-feministischen Forschungen plädieren die Herausgeberinnen in Anlehnung an Kimberlé Crenshaw, Judith Butler, Birgit Sauer und Mai-Anh Boger für einen »intersektionelle[n], kontextbezogene[n] und diskursive[n]« Gewaltbegriff (Sauer in diesem Band). Nur mit einem solchen intersektionellen Gewaltbegriff, so Sauer, könne ein nachhaltiger Gewaltschutz ermöglicht werden, ohne minorisierte Gruppen abzuwerten oder von Gewalt betroffene Frauen zu viktimisieren (Sauer in diesem Band). Boger bezeichnet die »in einer buchhalterisch anmutenden Liste aneinandergereiht[en] Differenzen« (Boger in diesem Band) als Nichtung von Komplexität und verweist darauf, dass bei genauerem Hinsehen »diese Auflistung die Wahrnehmung erschlägt und indifferent macht«(ebd.). Sie führe nicht dazu, dass sich alle gehört, gesehen und willkommen fühlten, sondern im Gegenteil zu Kälte, zu Sarkasmus oder zu Ohnmacht ob der Tatsache, dass man niemals der ganzen Liste auf einmal gerecht werden könne (vgl. ebd.). Boger schlägt vor, »die Wahrnehmung daher nicht mit fertigen Listen [zu] erschlagen […], sondern […] aus der Erste-Person-Perspektive […] [zu fragen], welche Differenzen relevant werden und gegenüber welchen Differenzen das Gegenüber oder man selbst indifferent ist« (ebd.).

Für die Lektüre des Buches Intersektionalität und Gewalt. Verwundbarkeiten von marginalisierten Personen und Gruppen sichtbar machen möchten die Herausgeberinnen folgende Lesart vorschlagen: Was häufig als Schwäche, Verwundbarkeit und zusätzliche Herausforderung wahrgenommen wird, lässt sich mit einer Perspektivverschiebung neu verhandeln. Nach Butler entsteht Verwundbarkeit nicht aufgrund von spezifischen Eigenschaften, sondern sie ist eine Grundkonstante des menschlichen Zusammenlebens. Butler schließt ihre Überlegungen mit dem Gedanken, dass Verwundbarkeit wahrgenommen und anerkannt werden muss, um eine ethische Begegnung zu ermöglichen. Es gehe nicht darum, sie abzuschaffen, sondern durch eine Anerkennung die Macht, Bedeutung und Struktur der Verwundbarkeit selbst zu ändern (Butler 2005: 60 f.). Dementsprechend darf sie nicht »als etwas Defizitäres gesehen werden, gegen das es zu arbeiten gelte, sondern als eine Bedingung, die notwendig zum Menschsein dazugehört« (Janssen 2020: 42). Dieser Ansatz ist deshalb für feministisches Denken und auch für die Menschenrechtsprofession Soziale Arbeit so produktiv, weil er keine handlungsunfähige Opferperspektive einnimmt, sondern die Möglichkeiten widerständiger Praxen fokussiert. Für die Zukunft bedeutet das, diese Perspektive auch in der Mandatierung konsequent umzusetzen. Die Handlungsfähigkeit von gewaltbetroffenen Menschen wird nicht nur dadurch erweitert, dass sie durch die Soziale Arbeit beraten und begleitet werden, sondern auch dadurch, wie diese es praktisch umsetzt (Barta/Schrader 2021). Es gilt, die Betroffenen als handelnde Subjekte zu begreifen und zu beraten, ihr Recht auf Unterstützung anzuerkennen und dies stets in dem Bewusstsein und der Verantwortung dafür zu tun, dass Soziale Arbeit immer auch über menschliche Schicksale mitentscheidet.

Mit den Beiträgen in diesem Buch wollen wir einerseits zeigen, wie Verwundbarkeit entlang der Differenzlinien zunimmt und andererseits Konzepte vorstellen, wie Sichtbarkeit, Akzeptanz und Handlungsfähigkeit der Betroffenen erweitert werden könnten. Soziale Einrichtungen, Frauenhäuser und andere Anlaufstellen zum Gewaltschutz, aber auch Bildungsträger sollten solche Orte der Selbstermächtigung sein, aber durch die Ökonomisierung der Sozialen Arbeit und der Bildung sowie der jahrelangen Aushöhlung und Prekarisierung von Unterstützungsprojekten, sind sie dazu oft nicht mehr in der Lage und versuchen nur noch, ›den Laden am Laufen zu halten‹. Die Beiträge verdeutlichen, dass die Angebote für Betroffene von geschlechtsbezogener Gewalt und insbesondere für besonders vulnerable Gruppen nicht ausreichen. Solange die von heteronormativer Männlichkeit geprägte Gewalt nicht aus einer intersektionalen Perspektive beschrieben und als strukturelles Problem einer Gesellschaft anerkannt wird, sind Gewaltbetroffene weit davon entfernt, Zugänge zu adäquaten Schutzmaßnahmen und Handlungsmöglichkeiten zu finden. Die Herausgeberinnen begeben sich mit verschiedenen Autor*innen aus Praxis und Wissenschaft auf die Suche nach den Chancen, aber auch den Herausforderungen eines intersektionalen Gewaltbegriffes. Die Texte mit ihren unterschiedlichen Expertisen sollen einen Beitrag für Betroffene, Student*innen, Lehrende, Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen liefern, um die aktuellen Arbeitsweisen zu diskutieren, weiterzudenken und eine intersektionale Perspektive auf Gewalt schrittweise in die Praxis und Ausbildung zu integrieren.

Die Leitartikel sind von Mai-Anh Boger und Birgit Sauer verfasst.

Mai-Anh Boger verfasst eine Hommage an Simone Weil. Sie bezieht sich auf ein Poem von Weil, in dem diese die Ilias nutzt, um zu zeigen, welches Unglück den Menschen geschehen kann, wenn das Gemeinwesen durch böswillige und brutale Gewalt vernichtet wird. Im Mittelpunkt dieses Werkes steht die Einsicht, dass alle zugrunde gehen, wenn sie der Gewalt zu sehr vertrauen. Bogers Beitrag verdeutlicht die Nutzlosigkeit und Überflüssigkeit der Gewalt sowie ihre Macht, Menschen zu verdinglichen und zu versteinern. Sie verwendet Weils Poem, um zu zeigen, wie durch Gewalterfahrung das Denken bis zur Nichtung beschleunigt wird. Die Autorin veranschaulicht dabei gleichzeitig, wie auch das inflationäre Auflisten von Differenzen, zu einem kalten und gewaltförmigen Denken führen kann. Boger inspiriert uns zu fragen, wie viel und welche Gewalt erfahren werden müsste, wie viel oder wenig Frau* wir sein müssten oder dürften, um geschützt zu werden. Ihre Antwort ist deutlich. Es braucht die Zeit für gründliches Denken, eine herrschaftskritische Positionierung sowie einen differenzierten Blick, um die Gewalt als solche zu erkennen und ihr nicht zu dienen. Nur dann kann Intersektionalität im Sinne der ›Schwachen‹ umgesetzt werden.

Birgit Sauer fragt in ihrem Beitrag, was ein intersektionaler Gewaltbegriff leisten kann, um kulturalisierenden Fallen zu entkommen und nachhaltigen Gewaltschutz zu denken, ohne bestimmte minorisierte Gruppen abzuwerten und von Gewalt betroffene Frauen zu viktimisieren. Ein intersektionaler Gewaltbegriff, so Sauer, sollte erstens das Zusammenspiel von Gewaltstrukturen und -diskursen, zweitens die Interaktion von Ungleichheitsstrukturen zwischen Minderheitengruppen und der Mehrheitsgesellschaft sowie drittens die Interaktion von Ungleichheits- und Gewaltstrukturen an der Schnittstelle von Geschlecht, Kultur, Ethnizität/Nationalität, Religion und Klasse umfassen.

Im ersten Teil Differenzlinien der Gewalt setzen sich Fachfrauen* und Expert*innen damit auseinander, wie besondere Vulnerabilität in Bezug auf Gewalt entstehen kann.

Elena Barta erweitert das Verständnis geschlechtsspezifischer Gewalt, und rückt im vorliegenden Beitrag Geschlechtergrenzen und trans*formatives Leben in den Mittelpunkt. Dafür wird gleichzeitig die öffentliche und die unsichtbare sowie die strukturelle und die interpersonelle Gewalt, die Trans*Personen und geschlechtlich nichtkonforme Personen erfahren, in den Fokus genommen. Den Begriff ›Trans*‹ nutzt Barta als Überbegriff oder symbolischen Schirm für eine Vielzahl von Personen, deren Geschlecht nicht den normativen Vorstellungen von Mann-Frau entspricht. Am Beispiel der partnerschaftlichen oder elterlichen Gewalt im privaten Raum und sexualisierter Gewalt im öffentlichen Raum beschreibt Barta die Spezifitäten der Geschlechtsbezogenheit, welche sich in einer Ablehnung der Geschlechtsidentität, der (imaginierten) Sexualität und einer Verweigerung der Anerkennung äußern. Anschließend verdeutlicht Barta die Komplexität von Mehrfachdiskriminierungen, die schutzsuchende Trans*Personen erfahren, sowie auf der Subjektebene das Zusammenspiel von institutioneller Diskriminierung und verinnerlichter Negativität. Abschließend plädiert Barta dafür, dass Forschung und Schutzeinrichtungen die Mechanismen der trans*feindlichen Gewalt ernstnehmen.

Sabine Fries zeigt ausgehend von der Feststellung, dass ein Zusammenhang von Gewalt und gesundheitlicher Beeinträchtigung oder Behinderung im Leben von Frauen* besteht, welcher durch intersektional wirkende Einflüsse eine besondere Vulnerabilität hervorbringt. Zu den Wechselbeziehungen zählt sie die Sozialisationsbedingungen, Geschlechtsidentität sowie die körperliche und sexuelle Selbstbestimmung von Frauen* mit Behinderungen. Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen* mit Behinderungen haben komplexe und weitreichende Folgen, die die Lebensqualität dieser Frauen* mindern, so Fries. Auf Grundlage dieser Erkenntnis formuliert sie eine Kritik an dem Gesundheitsbegriff der WHO, welcher nicht ausreichend zwischen Gesundheit und Wohlbefinden differenziere und pathogenetische Aspekte fokussiert. Abschließend gibt die Autorin einen Ausblick auf Möglichkeiten, die Ziele der UN-BRK nach gleicher Qualität und gleichen Standards der gesundheitlichen Versorgung für Frauen* mit Behinderungen zu erreichen. Insbesondere zählen dazu eine Aufklärung und Sensibilisierung aller professionellen Kräfte im Gesundheitssektor und dem Abbau negativer Bilder von Behinderung.

Fabienne Mahwane gibt in ihrem Beitrag einen Einblick in den derzeitigen Umgang mit Rassismus innerhalb des Hilfesystems. Die Autorin stellt fest, dass Rassismus in das Hilfesystem gegen Gewalt an Frauen hineinwirkt und markiert eine Notwendigkeit der Auseinandersetzung, um zukünftig auch von Rassismus betroffenen Personen einen besseren Schutz zu bieten. Es fehle vor allem an einem Verständnis für Rassismus und seine Wirkungsweisen. Als größte Herausforderung sieht sie die mangelnde Reflexion der Mitarbeiterinnen im Hilfesystem über die Reproduktion rassistischer Stereotype und das Fehlen anti-rassistischer Arbeit. Detailliert arbeitet sie die Problematik heraus und skizziert, wie Diversität durch Mitarbeitende mit Rassismuserfahrungen und deren Vernetzung den Problemen entgegenwirken kann.

Christine Kone und Katja von Auer analysieren den Rassismus gegen Sintizze* und Romnja* mit einem intersektionalen Verständnis von Gewalt. Sie skizzieren das Spannungsfeld von Sicht- und Unsichtbarkeiten im Hinblick auf das damit verbundene Maß an Vulnerabilität. Dabei stellen sie die Frage, wie feministische Solidarität gelingen könnte und identifizieren mit Butler die Verletzbarkeit als konstitutives Moment von Schwesternschaft. Auf Basis einer strukturellen Verortung von Gewalt kritisieren sie die Rahmenbedingungen, unter denen anti- und contra_rassistische Hochschullehre stattfindet und beschreiben die Gefahr der damit einhergehenden Reproduktion diskriminierender Verhältnisse.

Die Gewalt in der Sexarbeit steht im Mittelpunkt des Beitrags von Ursula Probst. Sie zeigt, warum es notwendig ist, mit intersektionalen Perspektiven auf dieses umkämpfte Feld innerhalb feministischer Debatten zu blicken. Sexarbeit wird einerseits per se mit Gewalt gegen Frauen (sic!) gleichgesetzt und deshalb ihre Abschaffung gefordert. Andererseits betonen Aktivist*innen, die sich für die Rechte von Sexarbeiter*innen einsetzen, dass unterschiedliche Formen von (struktureller) Gewalt gegen sexarbeitende Menschen vonseiten staatlicher und rechtlicher Akteur*innen die vielfältigen Vulnerabilitäten von Sexarbeiter*innen erst bedingen. Die Autorin postuliert, dass gerade in den politischen Diskursen beiden Positionen ein pauschalisierender Gewaltbegriff zugrunde liegt. Sie kritisiert, dass dadurch die Differenzlinien und ihre Schnittpunkte innerhalb der Sexarbeit unsichtbar werden. Probst plädiert in ihrem Beitrag für eine differenzierende und vor allem auch situierende Analyse von Gewalt in der Sexarbeit, die nicht nur die Heterogenität von sexarbeitenden Menschen im Blick behält, sondern auch die unterschiedlichen Ebenen, Formen und Definitionen von Gewalt sowie ihre Überschneidungen benennt.

Im zweiten Teil Politik, Institutionen und Recht arbeiten die Expert*innen heraus, wie sich aufgrund von strukturellen Bedingungen die Verwundbarkeit von Menschen ganz unterschiedlich herausbilden kann.

Sarah Elsuni analysiert in ihrem Beitrag die juristischen Aspekte von Gewaltschutz und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit im Lichte der Intersektionalität. Sie fokussiert in ihrem Beitrag, wie schwierig es für vielfältig vulnerable Menschen ist, Zugang zum Hilfesystem zu bekommen. Vor dem Hintergrund des ersten Evaluierungsberichtes des Expert*innenausschusses zur Umsetzung der Istanbul-Konvention (GREVIO 2022) arbeitet Sarah Elsuni in zwei ausgewählten Bereichen – Gewalterfahrung und Sorgeverpflichtung sowie Gewalt- und Migrationserfahrung – exemplarisch heraus, welche Besonderheiten, Möglichkeiten und Herausforderungen, welche Lücken und Bedarfe beim Schutz sowie bei der Hilfe von geschlechtsbezogener häuslicher Gewalt bestehen.

Ulrike Lembke wirft in ihrem Beitrag einen intersektionalen Blick auf den Begriff Femi(ni)zide in juristischen und rechtspolitischen Diskursen. Sie zeigt, wie der Diskurs aus der internationalen feministischen Debatte spät nach Deutschland kam und in einen spezifischen deutschen Diskurs zwischen einer Privatisierung und Rassifizierung von Gewalt interveniert. Weiterführend setzt sie sich mit den Fragen auseinander, wann eigentlich ein Femi(ni)zid vorliegt, was die Tötung eines Menschen verursacht, nur weil dieser eine Frau ist und wie konzeptuell die Heterogenität der Opfer und Betroffenen (und nicht nur der Täter) abgebildet und verarbeitet werden kann. Charakteristisch für den Begriff des Femi(ni)zids sei die Kontingenz der beschriebenen Gewalt, weshalb eine vertiefte Erforschung sowie einer Kenntnisnahme der Ergebnisse notwendig sei. Abschließend argumentiert Ulrike Lembke, warum das Konzept des Femi(ni)zids über das Strafrecht hinaus angewendet werden sollte und geschlechterbasierte Gewalt somit zu einer umfassenden Staatsaufgabe werden würde.

Christina Clemm thematisiert in ihrem Beitrag anhand unterschiedlicher Beispiele misogyne Phänomene in der Justiz. Sie zeigt, dass geschlechtsspezifische Gewalt in den Justizbehörden weder benannt noch ihr angemessen begegnet wird. Die Autorin legt dar, dass es durch fehlende Ausbildung und Sensibilisierung, aber auch durch mangelnde personelle und sachliche Ausstattung der Ermittlungsbehörden zu Fehleinschätzungen von Tatmotiven kommen kann, was eine (Re-)Traumatisierung der Betroffenen auslösen kann. Der Beitrag kritisiert nicht nur den Status quo, sondern eröffnet auch die Perspektive eines anderen Umgangs bei besserer Fortbildung, mehr Wissen und besserer Ausstattung der Ermittlungsbehörden. Die Autorin ordnet ihre Analyse in den europäischen Kontext der Istanbul-Konvention ein und zeigt die verheerenden Folgen auf, wenn die deutsche Justiz von Phänomenen wie Frauenhass, Frauenverachtung und der Verzahnung mit anderen menschenverachtenden Praktiken wie Rassismus, LGBTIQ-Feindlichkeit oder Ableismus keine Notiz nimmt. Clemm plädiert deshalb für eine fundiertere und intersektionale Wissensvermittlung in der Ausbildung.

Martina Puschke befasst sich mit den Gewalterfahrungen von Frauen mit Beeinträchtigung und mit den Hürden des Hilfesystems, durch welche ein diskriminierungsfreier Schutz erschwert oder verhindert wird. Puschke beschreibt in ihrem Beitrag, dass Frauen* mit Beeinträchtigung erheblich mehr von Gewalt betroffen sind als Frauen* ohne Beeinträchtigung und gleichzeitig viel weniger Schutz bekommen, da die Anlaufstellen nicht barrierearm sind und auch Mitarbeitende im Hilfesystem als Teil einer durch Differenzlinien strukturierten Gesellschaft ableistische Denkmuster reproduzieren. Die Autorin verortet die Ursache für die erheblich höhere Gewaltbetroffenheit in gesellschaftlichen Strukturen, die Menschen mit Beeinträchtigungen aussondert, indem sie sie »in ein flächendeckendes, lebensphasenübergreifendes Sondersystem« (Puschke in diesem Band) einsortiert, was auch in Zeiten der Inklusion nicht überwunden sei. Für einen intersektionalen Gewaltschutz fordert sie partizipativ erarbeitete Konzepte und eine angemessene Finanzierung.

Britta Schlichting und Sylvia Haller führen anhand der Leitlinien Autonomer Frauenhäuser aus, wie sich Parteilichkeit, eine feministische Grundhaltung, Partizipation, Inklusion und Empowerment (u.a.) in der praktischen Arbeit widerspiegeln. Sie verweisen auf die Bedeutung der Istanbul-Konvention für die Untermauerung von politischen Zielen. Dabei liegt es im Grundverständnis Autonomer Frauenhäuser zwar jede Gewaltbetroffene individuell zu schützen, aber geschlechtsspezifische Gewalt nicht zu individualisieren, sondern eingebettet in und befördert durch patriarchale Strukturen wahrzunehmen. Daraus entwickeln die Autorinnen u.a. die Forderung einer subjektunabhängigen Finanzierung, damit nicht die »einzelne gewaltbetroffene Frau als Problemträgerin identifiziert« (Haller/Schlichting in diesem Band) wird. Stattdessen sollen systembedingte Ursachen von Gewalt und die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, misogyne Verhältnisse und Heteronormativismen zu überwinden, in den Blick genommen werden.

Melike Engin verbindet in ihrem Beitrag theoretische Ansatzpunkte mit ihren eigenen Erfahrungen und Beobachtungen als Mitarbeiterin in einem Frauenhaus. Sie benennt den Widerspruch zwischen formalen Rechtsansprüchen auf diskriminierungsfreien Schutz und den Ausschlüssen, die in der Realität bestehen. Dabei wirken die Reproduktion von Rassismen innerhalb der Hilfesysteme, die Vermittlung von Normen und strukturell gewaltvolle Verhältnisse ineinander und verstärken sich gegenseitig. Anhand der Citizenship Debatte und den gravierenden Auswirkungen, die ein unsicherer Aufenthaltsstatus auf den Zugang zu Schutz- und Hilfeeinrichtungen haben kann, verdeutlicht sie die heterogenen Positionierungen von (migrantisierten) Gewaltbetroffenen und stellt den Zusammenhang zwischen kulturalisierter Gewalt und formellem Recht her.

Im dritten Teil Zugänge und Ansätze werden unterschiedliche Praxen des Gewaltschutzes fokussiert. Die Autor*innen blicken mit ihren Expertisen als Forscher*innen und Praktiker*innen für Gewaltschutz auf Probleme und Lösungsansätze in diesem Feld.

Das Kollektiv Solidarische Sozialarbeit beschreibt ausgehend von subjektiven Wahrnehmungen die Lebenssituationen von drogengebrauchenden Frauen* auf der Straße und ihren hohen Grad an Verwundbarkeit bezüglich sexualisierter Gewalt. Neben einer Einordnung in fachspezifische Diskurse sowie einer Darstellung der Repräsentation der Problematik in den Medien wird in dem Beitrag deutlich, wie sich die (Gewalt)Erfahrungen der Frauen* in die Wahrnehmung und Weltsicht der Sozialarbeiter*innen einschreiben. Damit zeigt das Kollektiv die tiefe Verflechtung von patriarchalen Machtverhältnissen mit dem gesellschaftlich und politisch marginalisierten Bewusstsein für die Notwendigkeit von Schutz einer besonders vulnerablen Gruppe.

Gloria Schmid schreibt über die Schwierigkeit und Möglichkeiten, Intersektionalität in der Frauenhausarbeit umzusetzen. Beispielhaft dafür ist die Ambivalenz, einen unbedingten Gewaltschutz für alle Personen umsetzen zu wollen, aber gleichzeitig an Grenzen zu stoßen, z.B. ein Denken in starren, hierarchisch geordneten Kategorien. Mittels ihrer intersektional-analytischen Perspektive auf die Praxis zeigt sie, wie Rassismus, Staatsbürger*innenschaft, Bildung, sogenannte Behinderung oder Fluchterfahrung von Frauen zu Ausschlüssen führen. Laut Schmid ist Gewalt gegen Frauen* ein gesamtgesellschaftliches Thema unabhängig von Herkunft, Bildung und Einkommen. Jedoch verdeutlicht sie auch, dass mehrfach-diskriminierte Frauen* eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, Gewalt zu erfahren. Wichtig ist der Autorin auch, die Ressourcen der Frauen* anzuerkennen und sie als Betroffene in die Konzeption und Organisation der Frauenhausarbeit einzubinden.

Sarah Sobeczko gibt in ihrem Beitrag Einblicke in die Erfahrungen geflüchteter Frauen* im Frauenhaus. Sie stellt sich der komplexen Problematik, der die Frauen* ausgesetzt werden, die aus der Gewaltsituation in ihrem Herkunftsland geflüchtet sind und dann mit dem bundesdeutschen Hilfesystem konfrontiert werden. Auf der Basis von Ausschnitten aus Gruppendiskussionen mit geflüchteten Frauenhausbewohner*innen analysiert sie deren besondere Verwundbarkeit und reflektiert die Verwobenheit von Gewalt- und Ungleichheitsstrukturen sowohl hinsichtlich gesamtgesellschaftlicher Diskurse als auch in Hinblick auf die konkrete Praxis von Frauenhäusern. Die Ergebnisse setzt die Autorin nicht absolut, sondern weist darauf hin, dass die Aussagen der Frauen* nur mit einer Diversitätssensibilität zu problematisieren seien. Sobeczko resümiert, dass eine intersektionale Perspektive in der Arbeit mit geflüchteten Frauenhausbewohner*innen notwendig sei, um der Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung gewaltbetroffener Frauen* gerecht zu werden.

Kathrin Schrader führt den Begriff der Taxonomie in die Debatte um Kategorisierungen in der Sozialen Arbeit ein. Sie macht deutlich, dass hierarchisch aufgebaute Klassifikationsschemata, die aus verwaltungstechnischer Perspektive Effizienz versprechen und deshalb die Praxis bestimmen, intersektionale Ansätze zwangsläufig unterlaufen und auch eine Verfeinerung von Kategorien dieses Dilemma nicht auflösen kann. Dabei geht sie davon aus, dass die Einführung von betroffenenorientierten und intersektionalen Ansätzen nicht am Unwillen der Praktiker*innen, sondern an den Strukturen scheitert, die von Organigrammen und formalen Prozessen definiert werden. An einem Beispiel zeigt sie, wie die Taxonomien die Entscheidungen der einzelnen Akteur*innen beeinflussen und legitimieren, aber zu Ausschlüssen mit gravierenden Folgen führen. Schrader stellt ein dynamisches Modell vor, welches ausgehend von Subjektkonstruktionen und auf Basis einer intersektionalen Mehrebenenanalyse die taxonomischen Hierarchien überwindet und den Kategorien so ihre Macht nimmt. Dadurch können im Ergebnis betroffenenorientierte statt zielgruppenoptimierte Hilfsangebote entwickelt werden.

Die Herausgeberinnen hoffen, mit diesem Buch eine weiterführende Diskussion anzustoßen.

Ihr Dank gilt den Autor*innen aus Praxis und Wissenschaft, die den Auftakt der Diskussion ermöglichen. Außerdem danken die Herausgeberinnen Nadine Ott, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik, Abteilung Sozialpädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel für ihre große Unterstützung beim Lektorat.

Literatur

Barta, Elena / Schrader, Kathrin (2021): Die Dritte Option. Uneindeutigkeit im Fadenkreuz von Macht und Herrschaft. In: Melanie Groß / Katrin Niedenthal (Hg.): Geschlecht: divers. Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit. Bielefeld: transcript 2021. S. 149–172.

Brown, Wendy (2002): Suffering the Paradoxes of Rights. In: Wendy Brown / Janet Halley (Hg.): Left Legalism / Left Critique. Durham/London: Duke University Press 2002. S. 420–433.

Brown, Wendy (2017): Die Paradoxien der Rechte ertragen. In: Christoph Menke / Francesca Raimondi (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017. S. 454–476.

Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Butler, Judith (1993): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Butler, Judith (2015): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Crenshaw, Kimberlé (1991): Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color. In: Stanford Law Review 43/6. S. 1241–1299.

European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) (2014): Being Trans in the European Union: Comparative analysis of EU LGBT survey data. Wien.

Forschungsnetz Gewalt im Geschlechterverhältnis (GiG-Net) (Hg.) (2008): Gewalt im Geschlechterverhältnis. Erkenntnisse und Konsequenzen für Politik, Wissenschaft und soziale Praxis. Forschungsnetz Gewalt im Geschlechterverhältnis. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich.

Gruber, Aya (2020): The Feminist War on Crime: The Unexpected Role of Women’s Liberation in Mass Incarceration. Berkeley: University of California Press.

Helfferich, Cornelia / Kavemann, Barbara (2012): Bericht der Bundesregierung zur Situation der Frauenhäuser, Fachberatungsstellen und anderer Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder. Hrsg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Bundestagsdrucksache 17/10500. https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93350/e8f90d2446d01af18a3c88a110200457/bericht-der-bundesregierung-zur-situation-der-frauenhaeuser-data.pdf (12.11.2022).

hooks, bell (2022): Männer, Männlichkeit und Liebe. Der Wille zur Veränderung. München: Elisabeth Sandmann Verlag.

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Krell, Claudia / Oldemeier, Kerstin (2017): Coming-out – und dann …?! Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Opladen: Barbara Budrich.

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Schröttle, Monika / Khelaifat, Nadia (2007): Gesundheit – Gewalt – Migration. Eine vergleichende Sekundäranalyse zur gesundheitlichen und Gewaltsituation von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). https://www.bmfsfj.de/blob/jump/93964/gesundheit-gewalt-migration-langfassung-studie-data.pdf (03.12.2019).

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LEITARTIKEL

Mai-Anh Boger

Gewalt und In/Differenz – Eine Hommage an Simone Weil

Gewalt beschleunigt das Denken. Wir vertrauen unseren Reflexen in dem Versuch, wehrhaft zu werden, zu bleiben. Schnell und instinktiv gilt es zu reagieren. Es ist ein animalisches Denken – und daher vielleicht auch keines mehr. Diese Überlegung gehört zu jenen, mit denen Simone Weil ihr Werk »Ilias – Oder das Poem der Gewalt« (2011) bzw. im französischen Original »L‘Iliadeou le poème de la force« (1941/2014) eröffnet. Umso wichtiger erscheint – ob dieser gewaltigen Reduktion des Denkens auf die reflexhafte Verarbeitung von Sinnesreizen – die Poesie als Form der Verlangsamung des Denkens durch Verdichtung. Simone Weil lässt uns in Zeilen verweilen. Die Gewalt hingegen treibt uns fort und weiter, sie tötet die Reflexion, die Meditation, gibt uns mitunter sogar das Gefühl, es sei unangebracht oder moralisch fragwürdig, in Ruhe zu denken, müsste man doch schließlich handeln – und zwar sofort; nein, besser noch wäre es gewesen, jemand hätte vorgestern schon gehandelt. Gewalt, Angst und Eile gehen in der Nichtung des besonnenen Denkens eine intime Verbindung ein. Ganz langsam soll sich daher im Folgenden durch das Poem der Gewalt bewegt werden.

Ich wurde gefragt, was ich über Intersektionalität sagen könne – vor einem Publikum, das für, mit und in Frauenhäusern und ähnlichen Anlaufstellen arbeitet, das also sehr viel über die besagte Beschleunigung bis Nichtung des Denkens unter Bedingungen der Gewalt weiß. Das hier ist die verschriftlichte Form dieses Vortrags.

Intersektionalität als phänomenologischer Begriff: Zur Vorgehensweise

Wie Klinger (2012) verstehe auch ich Intersektionalität als einen phänomenologischen Begriff. Im Folgenden wird daher von der Erste-Person-Perspektive ausgehend gefragt, welche Differenzen in einer Situation bedeutsam sind: Welche Differenzen nehme ich wahr? Welche will ich auf keinen Fall wahrnehmen, muss ich verdrängen, verleugnen, verwerfen? Welche springen mir hingegen regelrecht ins Auge?

Wir sagten, dass die Gewalt das Denken tötet. Sie macht in-different im strengsten Sinne des Wortes: vernichtet werden zunächst und zuerst die Differenzierungen, die dem Leben Reichtum, Komplexität und Fülle geben, aber auch Ambivalenz, Ambiguität und Bedeutungsoffenheit. In der Intersektionalitätsforschung schleicht sich gelegentlich (und zumeist aus Versehen) ebenso eine Spur dieser monströsen Indifferenz ein, und zwar gerade dadurch, dass verschiedenste Differenzen in einer buchhalterisch anmutenden Liste aneinandergereiht werden. Hört, sieht, fühlt man genau hin, spürt man jedoch, dass diese Auflistung die Wahrnehmung erschlägt und indifferent macht. Sie führt entgegen der bewussten Intention nicht dazu, dass sich alle gehört, gesehen und willkommen fühlen. Häufig führt das Listen eher zu Kälte, verführt zu Sarkasmus (›Minderheitenquartett‹) oder entführt in eine Welt der Ohnmacht ob der Tatsache, dass man niemals der ganzen Liste auf einmal gerecht werden kann. Es gibt da diesen Kipppunkt: Listen an Differenzen machen ab einem bestimmten Punkt indifferent. Intersektionale Ansprüche an sich selbst und andere lösen sodann Überforderungsgefühle aus, statt im Sinne eines Empowerments zu wirken. Es kommt zu Übersprungshandlungen: Von einem willkürlichen Element auf der Liste der Differenzen wird gesagt, dies wäre nun aber wirklich zu viel, zu abstrus, zu überfordernd, nicht mein Problem! Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen der Kette der Gewalt und der Kette an gelisteten Heterogenitätsdimensionen und indifferent gereihten Differenzkategorien. Dieser soll erhellt (statt re-inszeniert) werden.

Bei einer phänomenologischen – zumal einer von Simone Weil inspirierten – Perspektive auf Intersektionen, auf Unfälle und Zwischenfälle auf den Kreuzungen von Lebenswegen, soll die Wahrnehmung daher nicht mit fertigen Listen erschlagen werden, sondern es soll aus der Erste-Person-Perspektive gefragt werden, welche Differenzen relevant gemacht werden und gegenüber welchen Differenzen das Gegenüber oder man selbst indifferent ist.

Das Subjekt (der) Gewalt

Das Poem der Gewalt beginnt mit der Feststellung, dass der »eigentliche Held« (Weil 2011: 161), das einzige Subjekt dieser Erzählung (im frz. Original: »le vrai sujet«; Weil 1941: 39) namens Ilias die Gewalt selbst ist. Damit sind zwei Dinge zugleich gesagt:

Es gibt in der Ilias keine Helden, auch wenn viele in ihr ›Helden‹ genannt werden. Wer aber genau liest, wer langsam liest, erkennt in der Ilias wie in jeder anderen gut verstandenen Geschichte der Gewalt keine Helden mehr. Da ist nur menschliches Irren; ein Menschsein, das seiner Subjektivität beraubt ist. Die erste Person, aus deren Perspektive erzählt werden könnte, ist – egal, auf welche (erste) Person man sich fokussiert – kein Subjekt. Sie ist vielmehr Objekt des einzigen wahrhaften Agens der Geschichte, Objekt der Gewalt. Dies aber, so Simone Weil, will der Mensch nicht verstehen. In einem kläglichen Versuch, Subjekt zu bleiben, konstruiert er sich eine Differenz, die ihm die Möglichkeit geben soll, etwas zu sein – im Idealfall stark, ein Held eben, ein Täter und kein Opfer. Aber auch jene, die sich für schwach halten, sich zu den Opfern zählen, verkennen die Tatsache, dass es die Gewalt ist, die handelt und die alle diese Positionen verteilt:

»Wenn es allen von Geburt an beschieden ist, Gewalt zu erleiden, so ist dies eine Wahrheit, vor der die Macht der Umstände den Menschen die Augen verschließt. Der Starke ist nie ganz und gar stark, der Schwache nie ganz und gar schwach, aber beide wissen es nicht. Sie glauben nicht von der gleichen Art zu sein.« (Weil 2011: 170)

Der Schmerz selbst ist es, der das Denken unklar macht: Wie viel leichter ist es, sich menschlich zu fühlen, wenn man die Welt in Menschen und Unmenschen unterteilt! Sodann erscheinen einem die Dinge so zu liegen, dass es Subjekte der Gewalt gibt – jene nämlich, die (einem) Gewalt antun, die ›Starken‹ – und Objekte der Gewalt dieser Subjekte – nämlich die ›Schwachen‹. Die Erzählung der Ilias aber begehe diesen Fehler nicht. Vielmehr zeige sie in großer Klarheit, dass es nur noch Objekte gibt und dass auch jene, die man für stark halten mag, vom Gewaltsubjekt objektiviert werden:

»Diese mit geometrischer Strenge erfolgende Bestrafung für den Missbrauch der Macht war der erste Gegenstand des griechischen Denkens. Sie ist die Seele des Epos; als Nemesis ist sie das Grundmotiv der Tragödien […].« (ebd.: 171)

Alles kehrt wieder heim und zur Gewalt zurück, die als einziges Agens bestehen bleibt. Eine religiöse Komponente zieht hier ein: ein Drittes, von dem aus sich der ganze Kosmos organisiert und reguliert. Nemesis ist so etwas wie Kharma (vgl. ebd.: 172), aber sie ist eben nicht Rache. Sie hebt ein Unrecht auf, stellt ein Gleichgewicht wieder her, jedoch ohne die Kette der Gewalt zu unterbrechen, da sie nur die vermeintliche Subjektivität jener aufhebt, die glauben, nicht das Objekt der Gewaltordnung zu sein. Daher ist sie eine Heimsuchung. Gespenstisch ruft sie die Angst jener wach, die unter dem Schleier des unklaren Denkens Rache durch einen Anderen – einen Menschen – fürchten, doch wird es kein menschliches Wesen sein, das sie heimsucht.

Wir finden hier einen Subjektbegriff, der unsprechbar schwach ist; noch ein bisschen schwächer, als man sich in poststrukturalen Kreisen angewöhnt hat; tragisch schwach – nur, dass man auf diese Schwäche nicht hereinfallen darf, da das Schwache – wie oben zitiert – nie ganz schwach ist.

Sujet bedeutet im Französischen aber nicht nur Subjekt, es bedeutet auch schlicht Thema. Die Objekte der Gewalt haben in Wahrheit nur noch ein Thema: »das wahre Thema, das Zentrum der Ilias, ist die Gewalt« (ebd.: 161). So könnte man diesen ersten Satz auch übersetzen. Aus der Position jener Objekte, die sich für schwache Subjekte halten, dominiert in der Ersten-Person-Perspektive daher die Differenz ›gefährlich – ungefährlich‹ als oberste Differenzierung, die alle anderen Differenzierungen und Differenzen unter den Menschen gewaltvoll erschlägt. Wirst du mich töten oder nicht? ist die stumme oder ausgesprochene erste Frage an jeden Anderen, der da weilt; ob Mann oder Frau, versklavt oder befreit, von hier oder dorther, ist sekundär bis irrelevant. Würde man eine der besagten Listen an Differenzkategorien schreiben, sähe diese aus der Perspektive einer Person unter Bedingungen der ubiquitären Gewalt also so aus: 1. Gefährlich oder ungefährlich? Dann kommt lange nichts. Und nach diesem jede Subjektivität negierenden Nichts reiht sich alles nach der Frage, welche Differenz in der gegebenen Situation mit welcher Gefahr einhergeht: Besteht die Gefahr der Vergewaltigung? Dann muss Geschlecht weiter nach oben auf der Prioritätenliste. Besteht die Gefahr eher in grobschlächtigem Zweikampf? Dann soll es die Differenz an körperlicher Kraft sein, welche die Wahrnehmung regiert.

Die desubjektivierte Person als Ding: Leben vs. Tod als Indifferenzlinie

Fragt man nun aus der Erste-Person-Perspektive nach sich selbst, liest sich das so: Erfahre ich diese Gewalt als Frau? Oder als Frau of Color? Oder erfahre ich sie als Mensch? – Nichts von all dem! Ich erfahre sie als Ding:

»[E]s sind nicht etwa Menschen, die ein härteres Leben haben, die sozial tiefer gestellt sind; es ist eine andere Menschengattung, eine Mischung von Mensch und Leichnam. Dass ein Mensch ein Ding ist, ist ein logischer Widerspruch; wenn aber dieses Unmögliche Wirklichkeit wird, wird der Widerspruch in der Seele zu einer Zerrissenheit. Immer wieder will dieses Ding ein Mann oder eine Frau sein und kann es nicht. Das ist ein Tod, der das ganze Leben durchzieht, ein Leben, das der Tod, lange bevor er es ausgelöscht hat, erstarren lässt.« (ebd.: 165)

Nun bin ich also in eine Geschlechtslosigkeit eingetreten, aber diese ist weder freiwillig noch subversiv. Sie ist schlicht eine Überlebenstechnik. Ich zeige meine Weiblichkeit nicht mehr, wenn mir dies gefährlich werden kann. Und andersherum: Wenn ich mein Leben schützen kann, indem ich eine bestimmte weibliche Form zeige, werde ich es tun. Diese Weiblichkeit ist enteignet; sie gehörte niemals mir, geschweige denn war sie eine Eigenschaft von mir. Differenz ist nicht mehr an Begehren gekoppelt (›Ich will, ich habe Lust, Frau zu sein‹), sondern an Angst (›Ich muss, ich sollte mich jetzt dringend weiblich gebaren, sonst …‹).

In einer anderen Formulierung könnte man auch sagen: Es gibt Differenzlinien und es gibt Indifferenzlinien. In der Nähe der Gewalt regiert stets die Indifferenzlinie; und alle Differenzen jenseits jener von Leben und Tod erscheinen als sekundär; sie werden zu strategisch-instrumentellen Nicht-Eigenschaften.

Alsbald stehe ich ihnen gleichgültig gegenüber. Sie bedeuten (mir) nicht mehr, als sie den Herrschenden bedeuten. Ob diese Nicht-Eigenschaften ihnen gefällig sind, sie besänftigen, das Sterben hinauszögern oder verlängern, wird zum einzigen Maß, nach dem die Dinge überhaupt Gültigkeit beanspruchen können. Das ist die Logik der Gewalt: Extension und Intensität des eigenen Werdens und Vergehens wird über das Maß der Gefahr bestimmt.

»Zudem ist auch Mäßigung nicht ohne Gefahr, weil das Prestige, aus dem die Macht zu mehr als drei Vierteln besteht, vor allem aus der ungeheuren Gleichgültigkeit des Starken für die Schwachen entspringt, einer Gleichgültigkeit, die so ansteckend ist, dass sie sich auch auf jene überträgt, denen sie gilt.« (ebd.: 175)

Doch was bringt das Ding dazu, nicht gegen diesen Objektstatus aufzubegehren? Was bewegt mich dazu – erneut in der ersten Person gesprochen – mich der Indifferenz dermaßen hinzugeben, dass ich mir egal werde, meinem Sosein gleichgültig gegenüberstehe?

Sich töten, um nicht getötet zu werden

Gezeichnet wurde ein konsequent negativer Bezug zur Frage der Differenz. Dieser steht im Zeichen des Todestriebs. Doch wo Thanatos weilt, so lehrt uns die Psychoanalyse über jede der viel diskutierten Variationen der Trieblehre hinweg, da ist stets auch ein Moment des Eros – zumindest ein Rest an (Über-)Lebenswille, an Selbsterhaltungstrieb. Dieser lichte Moment ist es also, der mich dazu bewegt, in einer symbolischen Vorwegnahme des Todes jene Nichtung meiner Subjektivität einzuleiten, die mir die Verlängerung des Lebens meines organischen Körpers verspricht. Das ist, als würde man sich (symbolisch) töten, um nicht (im organischen Sinne) getötet zu werden. So schreibt Simone Weil über die Beziehungen zu und zwischen jenen Untoten:

»Die Anderen verhalten sich vor ihnen so, als gäbe es sie nicht; und sie selbst machen sich angesichts der Gefahr, mit einem Schlag vernichtet zu werden, zu einem Nichts.« (ebd.: 165)

Ich stehe da wie ein Blumentopf, tot und doch lebendig, unbelebt im Raum. Wie fähig ist der Mensch unter dem Zeichen der Gewalt, seine Präsenz zu nichten, sich unsichtbar zu machen! So sehr niemand zu werden, sich so sehr zu einem gegenüber den eigenen menschlichen Eigenschaften und Leidenschaften indifferenten Objekt zu machen, das ist es, was den Kreislauf der Gewalt, die Spirale des Thanatos vollendet: Ding werden, bevor man zum absoluten Ding gemacht wird.

»Die Gewalt macht jeden, der sie erleidet, zum Ding. Wird sie bis zur letzten Konsequenz ausgeübt, macht sie den Menschen zum Ding im wörtlichsten Sinne, sie macht ihn zum Leichnam. Da war jemand, und mit einem Mal ist da niemand.« (ebd.: 161)

Sichtbar wird in dieser Struktur der Vorwegnahme zweierlei: Erstens wird die Eingangsüberlegung leichter verstehbar, die davon ausging, dass die Gewalt das einzige Agens in dieser Situation ist, während die Übrigen, die Objekte der Gewalt, sich nur vormachen können zu handeln. Sich zum Ding zu machen, kommt einer nicht-handelnden Handlung, einer Un-Handlung gleich. Zweitens bildet die Struktur der Vorwegnahme des Todes das Ubiquitäre dieser dunklen Ahnung in der Zusammenfaltung von Raum und Zeit ab, die das Denken tötet.

Über die Einfaltung zeitlicher und räumlicher Differenz

Eigenschaftslos, in-different, das heißt auch herkunftslos: »Seiner Heimatstadt und seinen Ahnen treu zu bleiben, steht dem Sklaven nicht zu« (ebd.: 166). Vielleicht mag er versucht sein, sich an Zeiten zu erinnern, in denen er jemand war – sofern er solche erlebt hat. Doch kann ebendiese Erinnerung ihm zum Verhängnis werden: ein gefährliches Aufbegehren könnte daraus entflammen oder schlicht ein unaushaltbarer Schmerz über den Verlust dieser Vergangenheit.