Invisible Sue - Plötzlich unsichtbar - Markus Dietrich - E-Book

Invisible Sue - Plötzlich unsichtbar E-Book

Markus Dietrich

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Beschreibung

Sue ist zwölf, hochintelligent und eine Einzelgängerin. Die Mädels-Clique um sie herum findet sie eher tussig. Viel lieber liest sie in ihrer Freizeit, und zwar gern Superheldencomics. Sues Mutter ist eine ehrgeizige Wissenschaftlerin, die jedoch nur ihre Arbeit im Kopf hat. Sues Vater ist ihr engster Vertrauter, ein Freund, mit dem sie davon träumt, als Superheldin die Welt zu retten. Als Sue im Labor ihrer Mutter mit einer geheimnisvollen Flüssigkeit in Kontakt kommt, kann sie sich plötzlich unsichtbar machen. Die neue Superkraft ist zunächst ziemlich cool, erweist sich jedoch bald als sehr gefährlich. Zumal ihre Mutter entführt wird und Sue diese mit ihren Freunden befreien will. Ein Plan muss dringend her. Doch dann ist auch Sue ist auf einmal nicht mehr sicher ...Das Buch zum gleichnamigen Film mit einer Superheldin als sympathische und emanzipierte Hauptfigur. Der Film wurde ausgezeichnet von der Initiative "Der besondere Kinderfilm", u.a. gefördert durch MDR, KiKA, HR und WDR, und mit mehreren internationalen Auszeichnungen.

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Inhalt

MEIN NAME IST SUE

Supermoon

Vergessen

Roboter

Dad-Mobil

Zombie-Dog

Überraschung

Happy Bi…

Schwarzwälder Kirsch

Blaues Licht

Ein Rucksack voll …

Laborratte

Gib mir ein Tee

Wir sehen uns

Auf Sue, lauf!

Mama

Forschungsobjekt

Alpenjodel

NT26D

Club der Loser

Jede Menge Cola

Die schlechteste Mutter der Welt

Entdeckt

Empfangskomitee

Hilfe

Ein Tee zu viel

Ein morgendliches Geschäft

Nebeltag

Blindfahrt

Im Feindesland

Ein Plan muss her

Wie Dornröschen

Flucht

Flux-Kompensator

Burger, Pommes und NT26D

Schlösschen im Wald

Alte Bekannte

Die rote Maske

Pizza

Die große Gefahr

Besuch

Kriegsrat

Eine Überraschung

Pancakes

Der geschlagene Riese

Ein Engel

Fliegende Pizza

Bruch

Papas Rückkehr

Hochexplosiv

Träume

Verwandlung

Gefunden

Superserum

Happy Halloween

Horrorpunsch

Autogeständnisse

Rettungsteam

Bauchschmerzen

Game Over

Umzingelt

Das Ende?

Erwachen

Der Schrei durch die Nacht

WIR SIND DIE FANTASTISCHEN DREI

Danksagung

INVISIBLE SUE – PLÖTZLICH UNSICHTBAR

DIE FILMCREW

DIE SCHAUSPIELER

Bilder zum Film

MEIN NAME IST SUE

– Aus meinem Tagebuch –

Mein Name ist Sue, ich bin zwölf Jahre alt, groß, also normal groß, schlank – aber nicht so übelst schlank wie Eileen oder all die anderen Barbies aus meiner Klasse. Für die bin ich wahrscheinlich eher fett. Na ja. Was soll’s. Schokolade ist nun mal ganz lecker.

Ich habe langes, rotbraunes Haar, leider viel zu dünn, keine Freunde und bin in der Schule mittelgut. Also so gut, dass niemand Fragen stellt. Aber auch nicht so gut, dass ich überall Einsen habe. Geschwister habe ich keine, was gut ist. Ich glaube, Papa wollte immer noch ein Kind, aber Mama ist ja nie da und arbeitet immer. Und wenn man nicht da ist, na dann kann das auch nichts werden mit den Babys. Es sei denn, sie werden doch vom Storch gebracht. Haha.

Was soll ich noch sagen? Was sagt man so, wenn man sich selbst vorstellt? Ich kann nicht singen, aber dafür ganz gut malen, ich mache keinen Sport. Zu anstrengend. Außerdem komme ich im Sportunterricht nicht mal die Stangen hoch. Und werfen kann ich auch nicht. Was aber an Papas Genen liegt, der ist da auch echt ’ne Niete. Ich lese gerne und viel, gehe ins Kino und schaue mit meinem Papa Filme, die ich eigentlich noch nicht sehen darf. Was Mama nicht weiß. Ansonsten … Ich bin ein Niemand. Die Lehrer können sich nicht mal meinen Namen richtig merken. Was egal ist, ich weiß zum Beispiel auch nicht, wie unser Mathe­lehrer heißt. Interessiert mich aber auch nicht. So wie Mode. Ich hasse einkaufen. Außerdem habe ich sowieso nur Pullis mit Kapuze. Die sind cool.

Ich liebe Comics, vor allem Superhelden-Comics, und meine Lieb­lings­figur ist Supermoon – kennt kaum jemand, ich weiß, aber Supermoon ist die beste Superheldin der Welt. Wer braucht schon Batman oder Superman? Immer wenn ich Zeit habe, also oft, lese ich in diesen Comics. Ich wäre so gern eine echte Superheldin. Dann würde sich endlich auch mal jemand für mich interessieren. Aber meine einzige Superkraft ist, dass ich Geschichten spinnen kann. Sagt mein Vater. Und dass sich niemand an mich erinnert. Oder an meinen Namen. Na ja … Eine Dose Mitleid. Zisch. Wird schon, sagt Papa immer.

Vielleicht auch nicht. Ich lese jetzt erst mal ’ne Runde Comic. Der Rest kann mich mal. Tschüß. Sue. Out.

Supermoon

Es schien beinahe so, als wäre sie unsichtbar. Als würde sie nicht existieren. Sogar die fleißigen Kellner stolperten beinahe über sie, konnten im letzten Moment die klirrenden Gläser geschickt auf dem Tablett ausbalancieren, drehten sich kurz um, sahen das weißäugige Mädchen irritiert an und huschten weiter.

Theodora Summers, das vierzehnjährige blasse Mädchen, das von allen immer nur abfällig T gerufen wurde, stand am Rand der Party und beobachtete das hektische Treiben am Ufer des Lake Parker. Es war wie jedes Jahr beim Abschlussfest der Markholm High. Die angesagtesten Schüler tanzten in der Mitte, riefen sich übertrieben laut Sätze wie »Ich bin ja so cool« oder »Mein Vater ist so reich« zu, schlürften alkoholfreie Cocktails und taten so, als würden sie mit ihren Fanta-Gläsern Gin Tonic oder Whiskey trinken. Die nicht so angesagten Schüler standen etwas verloren am Rand, nippten an ihrem Orangensaft und erweckten den Anschein, als hätten sie Spaß.

Theodora gehörte zur zweiten Gruppe. Aber selbst die Außen­seiter wollten mit dem schüchternen Mädchen mit dem ungewöhnlich silbern weiß leuchtendem langen Haar und den tollen Augen nichts zu tun haben. Einige hatten sogar Angst vor Theodora. Sie beschimpften sie als Hexe oder Missgeburt.

Eigentlich war sie nur wegen ihres Vaters hier, der nicht müde wurde, seiner Tochter zu erklären, wie wichtig Freunde sind. Sie hatte ihr Möglichstes getan, war einmal über den Platz gelaufen, hatte sogar gelächelt, was sie vorm Spiegel lange üben musste, und wollte gerade wieder gehen, als sie unten am Ufer des Sees ausgerechnet mit Matt zusammenstieß. Dem Jungen, in den fast alle Mädchen der Markholm High verschossen waren und der beim Basketballspiel für so lautes Gekreische und Herzrasen sorgte, dass die Schulleitung extra Sanitäter an das Spielfeld stellte, die sich nur um die »Matt-Fans« kümmerten.

Für einen Moment sahen sich beide übertrieben lange an, bevor Matt entschuldigend versuchte, seinen beim Zusammenstoß verkleckerten Kirschbananensaft von Theodoras Kleid zu wischen. Was die Sache allerdings eher verschlimmerte und den Fleck so richtig schön breit schmierte.

»Sorry … Theodora … ich hab dich nicht gesehen!«

Theodora blinzelte überrascht. Matt kannte ihren Namen. Er wusste, wie sie hieß, und hatte nicht T zu ihr gesagt. Sie wünschte sich, dass dieser Moment ewig dauern würde.

Aber genau das tat er natürlich nicht. Wild geifernd kam Carol, Matts Freundin, angerannt, die irgendwie aussah wie eine zum Leben erweckte Barbie. Carol genügte ein Blick aus ihren völlig überschminkten Augen, um die Situation einzuschätzen. Ohne weiter auf ihren Freund zu achten, der blitzartig seine Hände von Theodoras Kleid wegzog, ging sie auf das im Vollmondlicht leuchtende Mädchen zu. Es war schulbekannt, dass Carol und Theodora alles andere als beste Freunde waren. Carol nutzte jede sich ihr bietende Gelegenheit, um Theodora auflaufen zu lassen oder, was schlimmer war, um sie vor allen zu demütigen.

»Hände weg von Matt, du Freak!«

Carol schubste Theodora beiseite. Die wollte etwas erwidern, gab allerdings nur wirres Zeug von sich.

»Hast du was gesagt?« Carol grinste.

Theodora hörte Gekicher und Gelächter. Schweißperlen rannen über ihre Stirn. Natürlich hatten die anderen die Szene sofort bemerkt, sogar der öde DJ mit seinen 70er-Jahre-Schnulzen hatte seine schreckliche Musik leiser gedreht. Als würde jetzt der offizielle Teil beginnen und jemand eine Rede halten. Alle starrten fasziniert auf die beiden. Denn wenn Carol mal ein Opfer gefunden hatte, schienen alle auf seltsame Art vereint. Carol versprach einfach gute Unterhaltung.

Matt versuchte seine Freundin zu beruhigen. Zwecklos. Mit gesenktem Kopf trat Theodora zurück. So wie sie es immer tat. So wie sie es gelernt hatte, Problemen aus dem Weg zu gehen. Auch wenn ihr Vater anderer Meinung war.

Aber Carol wollte nicht aufhören. Sie kam gerade erst richtig in Fahrt. Dass ausgerechnet ihr Matt versuchte, sie von Theodora wegzuzerren, machte die Situation nicht besser. Immer mehr hässliche Worte prasselten auf Theodora ein, immer verletzender und gemeiner wurde Carol. Theodora spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Wie Wut in ihr aufbrannte. Ihr Atem wurde schneller, ihre zierlichen Hände ballten sich zu Fäusten, ihre Fingernägel bohrten sich in die Handflächen, bis Blut floss. Der Mond über dem Steg am Wasser schien augenblicklich größer und größer zu werden.

»Ja, hau nur ab, du Missgeburt. Dich hat hier niemand eingeladen … Weißauge!« Das war zu viel.

Eine Wasserfontäne schoss aus dem See. Dann eine zweite und eine dritte, bis zu vier Meter hohe Wellen folgten ihnen. Theodora bewegte ihre Hände und das dunkle eiskalte Wasser des Sees gehorchte ihr wie ferngesteuert, wie die Musiker eines Orchesters. In Zeitlupe drehte sie sich um, sah ihre Widersacherin mit funkelnden Augen an und das Wasser ging mit einem gigantischen Schwall über dem keifenden Mädchen nieder. Genau so, wie Theodora es wollte.

Das Schreien war verstummt, und da, wo Carol eben noch mit ihrem weinroten Kleid stand, war nur noch eine große nasse Pfütze. Ängstlich starrten alle anderen Theodora an, die am ganzen Körper leuchtete und doppelt so groß erschien wie zuvor.

Supermoon war geboren.

Vergessen

Sue, die eigentlich Susanne Hartmann hieß, aber unter keinen Umständen so genannt werden wollte, schreckte mit leisem Aufschrei hoch. Was für eine unfassbar entfesselte Kraft. Vor ihr lag der aufgeschlagene Supermoon-Comic, ein Sammlerstück mit Alternativcover, von dem es weltweit nur einhundert Exemplare gab. Theodora hatte soeben ihre schlimmste Widersacherin Carol vom Ufer weggefegt und blickte Sue nun mit ihren großen weißen Augen an. Irgendwo in der Ferne klingelte ein Handy.

Zu oft schon hatte Sue sich gewünscht, dass auch sie verborgene Superkräfte besitzen würde. Irgendwo, tief in ihr drin versteckt. Oder dass sie eines Tages auf der Straße von einem Unbekannten angesprochen würde, der ihr sagte, dass sie eigentlich eine Elfe sei, versteckt unter Menschen. Nur mit einem Zauber belegt, der ihr Gedächtnis manipulierte. Aber bislang war niemand aufgetaucht und ihr Körper war alles andere als der einer Elfe. Erneut klingelte das Handy. Diesmal lauter und länger.

Sue sprang auf, zog ihre dunkle Kapuze tiefer in die Stirn, riss den zerfledderten Schulrucksack hoch und kramte panisch zwischen den zerknitterten Schulheftern und Comics herum. Wie spät war es? Sie hatte keine Ahnung.

Noch im Rucksack aktivierte sie ihr Telefon und rief: »Ja?«

Eine tiefe männliche Stimme meldete sich ungeduldig. »Wo steckst du?« Sue sah sich um. Der Klassenraum war leer. Keine anderen Schüler, kein Lehrer, und das spärliche Licht, das von draußen durch die Fenster drang, verhieß nichts Gutes. Es war schon wieder passiert. Sie war im Unterricht über ihrem Lieblingscomic eingeschlafen.

»Äh … ich bin gleich da.« Sue klemmte ihr Telefon hastig zwischen Kopf und Schulter und verstaute ihren kostbaren Comic im Rucksack so, dass er keine Eselsohren bekam.

»Hast du das Paket?«, fragte die Stimme.

Sue erstarrte. Mist. Das Paket. Wo hatte sie es hingelegt?

»Ja«, log sie und sah in ihrem Rucksack nach, wo es augenscheinlich nicht war. Die Stimme trieb sie ungeduldig an: »Beeil dich. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Sue rannte los. Etwas zu schwungvoll, denn mit einem unangenehm lauten Knall schlug ihr Telefon auf den Boden. Fluchend hob sie es auf. Der Riss auf ihrem Display war wieder ein Stück größer geworden. Nicht mehr lange und das Glas würde in tausend Stücke zerspringen. Von wegen Spider-App. Diese teuren Dinger waren einfach nicht für den Alltag geschaffen.

Hastig steckte sie das Telefon in die Hosentasche, angelte sich im Vorbeigehen ihre Jacke von der Garderobe und drückte mit voller Kraft die Klinke der Tür herunter.

Nichts geschah.

Sue drückte nochmal. Die Tür war abgeschlossen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte Panik zu unterdrücken. Im Klassenzimmer eingeschlafen, die Tür verschlossen – das war der absolute Tiefpunkt dieser Woche. Hatten die Lehrer keine Auf­sichts­pflicht? Kraftlos klopfte sie gegen die Tür und rief: »Hallo? Hört mich jemand?«

Natürlich nicht. Die Schule musste zu diesem Zeitpunkt beinahe leer sein. Wenn sie Glück hatte, kam irgendwann der Haus­meister vorbei, bevor sie hier drinnen verhungert war. Wieder donnerte sie mit den Fäusten gegen die Tür.

»Hallo??? Ich bin hier drinnen eingesperrt …«

Schritte näherten sich. Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben. Sue trat einen Schritt zurück und Frau Gunnarson, Sues junge Klassenlehrerin, öffnete.

»Susanne?«, fragte sie überrascht.

»Ich heiße Sue«, erwiderte Sue genervt.

Doch Frau Gunnarson ignorierte das wie immer.

»Ich hab dich überhaupt nicht gesehen. Warst du noch hier drin?«

Wo denn sonst?, dachte Sue. Scheinbar war sie auch für ihre Lehrerin wie für viele in der Schule einfach nur Luft. Egal ob sie hier war oder krank zu Hause, für die meisten existierte sie einfach nicht. Mal wurde sie im Sportunterricht einfach nicht aufgerufen, ein anderes Mal vergaß man sie bei der Klassenfahrt an der Rast­stätte. Angeblich hatte man ihr Fehlen nicht bemerkt. Auf jeden Fall blieb sie so das Hauptgesprächsthema auf der Rückfahrt, und sie musste sogar ganz vorn neben der Lehrerin sitzen, damit sich so etwas nicht wiederholte. Als wäre es ihre Schuld gewesen.

Sue hatte jetzt keine Zeit, um mit ihrer Wollpullover tragenden Lehrerin über Aufsichtspflicht zu diskutieren. Sie schob Frau Gunnarson sanft, aber bestimmt beiseite und sagte im Vor­bei­gehen: »Danke. Aber ich hab’s eilig.« Ausgerechnet heute komme ich mal wieder viel zu spät, dachte sie.

Hastig rannte sie den Gang entlang und verschwand im Trep­pen­haus.

Roboter

Wie Sue richtig vermutet hatte, war die Schule um diese Uhrzeit so gut wie ausgestorben. Der lange, hohe Kreuzgang im Erdgeschoss, wo vor zweihundert Jahren noch schweigend Mönche flanierten, war zur Hälfte in dunkle Schatten getaucht. Irgendein Putzmann schob seinen quietschenden Wagen müde und gedankenversunken Richtung Feierabend.

Wieder klingelte Sues Handy. Sie ignorierte es und legte einen Schritt zu. Bei den grauen Spinden in der Haupthalle blieb sie abrupt stehen.

Das konnte doch nicht wahr sein. Was war heute los? Aus­ge­rech­net vor ihrem Schrank wartete der schlimmste Alptraum ihres Lebens. Na gut, der zweitschlimmste, gleich nach ihrer Mutter.

Evil Eileen, das scheinbar beliebteste Mädchen der Schule mit ihrer lauten und affektiert lachenden Clique. Eileen war in etwa so schlimm wie Carol. Für einen Moment wünschte sich Sue, Super­moon zu sein. Dann könnte sie Eileen und diese gackernden Hühner mit einem Wimpernschlag und einer kräftigen Welle einfach aus dem Weg räumen. Bei dem Gedanken musste sie kurz grinsen.

Aber sie war eben nur Sue, oder Susanne, das graue unschein­bare Mäuslein aus der vierten Reihe, das am liebsten dunkle Pullis trug, ihre langen rotbraunen Haare unter einer großen Kapuze versteckte, Lippenstift und Make-up hasste, keine Freunde hatte und jede freie Minute nutzte, um sich mit Superhelden-Comics in wilde Abenteuer zu stürzen.

Sue atmete kurz durch. Es half ja alles nichts, dieser Haufen geballter Mädchendummheit in Plüsch musste den Weg freiräumen. Jetzt!

»’tschuldigung?«

Die Mädchen zuckten nicht mal mit den Augen. Eileen verteilte irgendwelche grünschwarzen Flyer und sagte: »DJ Goblin wird ebenfalls auflegen. Ist das nicht mega? Mein Vater ist mit seinem Manager befreundet. Die kennen sich noch von der Schule. Er hat das alles für uns geregelt. Wir müssen nur noch die Flyer für die Halloween-Party …« Sie fand es einfach supercool, unablässig zu reden.

Sue entschied sich, diesmal nicht klein beizugeben. »Ent­schul­digung«, sagte sie laut und eindringlich, »Dürfte ich kurz an meinen Schrank?« Sie wartete kurz und ergänzte dann: »Bitte!«

Eileen, wie immer viel zu stark geschminkt, drehte sich langsam um und blickte Sue an. Also nicht wirklich. Sie sah durch Sue hindurch, so als wäre die eine graue Wolke Nichts und fragte: »Kennen wir uns?«

Was für eine dämliche Frage. Natürlich taten sie das.

»Ja. Wir sind …«, setzte Sue an. Aber wie immer beendete jemand anderes ihren Satz. In diesem Fall Chrissi, Eileens beste Freundin – wobei das Wort beste und Freundin nur oberflächlich zusammenpassten.

»… in der gleichen Klasse. Wir sind in der gleichen Klasse.« Chrissi hatte die unschlagbare Begabung, nicht nur grammatikalisch falsche Sätze zu sagen, sondern zudem auch noch alle In­for­ma­tionen immerfort zu wiederholen. Vielleicht dachte sie, dass ihre Sätze dadurch an Bedeutung gewannen.

Sue konnte es sich nicht verkneifen, sie musste das arme Mädchen verbessern. »Korrekt müsste es heißen: In derselben Klasse. Nicht der gleichen.« Sie grinste kurz und überlegte, ob sie diese Feststellung ebenfalls wiederholen sollte, ließ es dann aber sein.

Die Clique starrte Sue an, als hätte die gerade die Urformel für die Entstehung des Universums vorgetragen. Ein schmalziger Pop­song unterbrach die peinliche Stille. Eileen hob ihr rosa Plüschhandy ans Ohr und säuselte mit zuckersüßer Stimme »Hi Gwen«. Dabei gab sie den anderen Mädels ein Zeichen zum Abgang. Wie Roboter, deren Programmierung eben das Wort EXIT verstanden hatte, drehten sich alle zeitgleich um, setzten ein künstliches Lächeln auf und folgten ihrer Meisterin Eileen.

Sue blickte der Gruppe noch kurz hinterher, verdrehte die Augen, öffnete dann ihren Schrank und fand in dem Chaos das gesuchte schwarze Paket. Ihre Mission konnte beginnen und würde hoffentlich ihr Leben verändern. Zumindest heute.

Dad-Mobil

Christoph Hartmann, Sues Vater, wartete schon ungeduldig im alten VW-Bus vor der Schule. Als er Sue kommen sah, zeigte er auf seine Uhr. Ja, ihr Vater besaß noch eine altmodische Arm­band­uhr. Dann hupte er auch noch, als würde das jetzt irgendeinen Unterschied machen oder die Zeit beschleunigen.

Sue öffnete die knarzende Autotür. Der Rost hatte schon die Scharniere angegriffen. Papa hatte zwar versprochen, sich um ein neues Auto zu kümmern, aber Geld war im Hause Hartmann Mangelware. Irgendwie hing sein Herz an dieser alten Schrottlaube mit der er, diese Geschichte wiederholte er immer, wenn Sue es wagte, seinen geliebten Bus zu kritisieren, schon mit Mama um die halbe Welt gefahren war.

»Ich habe unsere Zielperson lokalisiert. Die Mission kann beginnen«, raunte Christoph seiner Tochter mit übertrieben mysteriöser Stimme zu, während Sue erst einmal den großen Kontrabass, der den halben Bus versperrte, beiseiteschieben musste, um überhaupt einsteigen zu können.

Ihr Vater liebte Rollenspiele. Sue im Prinzip auch. Aber ihr Vater vergaß dabei leider, dass Sue nicht mehr acht war. Und mit zwölf war es eben nicht mehr cool, wenn der eigene Vater mit so einer Rostkarre vor der Schule stand und so tat, als wäre er ein Geheimagent.

»Hast du das Paket?«

Sue nickte. Sie hielt es doch offensichtlich in den Händen und nach dem Aufeinandertreffen mit Eileen hatte Sue nicht wirklich Lust, das Spiel ihres Vaters mitzuspielen.

»Schlechte Laune?«, fragte der.

Sue nickte erneut und zeigte zu Eileen und ihrer Clique hinüber, die gerade kichernd das Schulgebäude verließen.

»Na sieh einer an. Evil Eileen. Aber wir haben etwas, dass sie nicht hat …« Er machte eine lange Pause, und Sue wusste nur zu gut, was jetzt kam.

»… ein Dad-Mobil.« Christoph grinste und streichelte sein Lenk­rad.

»Papa, ich glaube, wir sollten …« Aber es war schon zu spät. Mit einer erhobenen Augenbraue drehte Christoph den Schlüssel seines Dad-Mobils und es passierte genau das, was Sue befürchtet hatte. Der Bus stotterte, spuckte eine große schwarze Rußwolke aus, machte einen leichten Satz nach vorn und erstarb kläglich. Sue rutschte tiefer in ihren Sitz.

»Vielleicht sollte ich einen Tarnmechanismus installieren«, sagte ihr Vater.

Ja. Vielleicht solltest du genau das tun, dachte Sue. Denn in diesem Moment liefen Eileen und die Mädchen lachend am Bus vorbei und stiegen in die blitzenden SUVs ihrer Eltern, die natürlich sofort ansprangen und leise surrend schnell verschwanden.

Christoph drehte den Schlüssel noch weitere drei Mal im Schloss, bis der steinzeitliche Motor endlich knatternd ansprang. Immerhin, dachte Sue.

»Bereit?«, fragte ihr Vater. Sue setzte sich wieder aufrecht hin, nickte und sagte: »Hol alles aus dieser Schrottkarre raus, was geht.«

Ihr Vater zuckte zusammen. »Nicht so laut!« Er streichelte sanft das staubige Armaturenbrett des Busses. »Er ist sehr sensibel.«

Sue sah ihren Vater verblüfft an. »Er?«

Aber ihr Vater gab schon Gas, wenn man das so nennen konnte, und fuhr mit lächerlicher Geschwindigkeit den Berg hinauf. Hinter ihnen schwarzer Ruß.

»Wenn du Hunger hast … im Handschuhfach sind Hotdogs.«

Sue öffnete vorsichtig das Fach, und tatsächlich, da lagen zwei Pappkartons mit lecker duftenden Hotdogs.

»Im Handschuhfach? Echt jetzt?«

Ihr Vater nickte. »Da bleiben sie schön warm!«

Zombie-Dog

Die Sonne war bereits untergegangen und ein kühles herbstliches Nass legte sich über die Stadt Markholm. Lange Schatten lagen auf den Häusern, die dicht gedrängt an den bewaldeten Hügeln standen. In der Ferne leuchteten, zwischen den riesigen alten Schorn­steinen, die gläsernen Türme der DEC, der Drill Energy Corporation. Genau die Firma, in der Sues Mama an geheimen Forschungen arbeitete und seitdem kaum noch Zeit für ihre Familie hatte. Ge­schweige denn für Sue.

Christoph schaltete das Radio an. Er musste die Lautstärke fast völlig aufdrehen, damit bei dem Lärm des Motors überhaupt etwas zu hören war.

»Einen wunderschönen guten Abend, Markholm«, sagte eine stadtbekannte Stimme. »Mein Name ist Lisa Wells von News24, und ich berichte heute live aus der DEC, wo Direktor Dr. Jonas Drill zu einer Pressekonferenz eingeladen hat.« Applaus im Hintergrund.

Christoph sah auf seine Uhr. »Sie haben anscheinend mit Ver­spätung angefangen. Das gibt uns einen kleinen Vorsprung. Aber die Zeit arbeitet gegen uns.« Er machte das Radio noch einen Tick lauter, sodass die Lautsprecher anfingen, zu knarzen und die kleinen Star-Wars-Actionfiguren auf dem Armaturenbrett hin und her hüpften.

Dann war die Stimme eines Mannes zu hören, den Sue nur allzu gut kannte und den sie überhaupt nicht mochte. Dr. Jonas Drill, Mamas Chef, immer unfreundlich, immer schwitzend immer schlecht gelaunt. Er hasste Kinder und machte daraus auch keinen Hehl.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren. Liebe Kollegen und Kolleginnen, werte Gäste. Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer Welt ohne Schwäche. Einer Welt, in der es keine Krankheiten mehr gibt …«

Christophs Bus bog nun in eine langgezogene Straße ein, die an einer Schranke endete, die zum DEC-Forschungskomplex gehörte. Überall standen schwer bewaffnete Sicherheitsbeamte herum, und Kameras filmten jede noch so kleine Bewegung. Rote flackernde Laserzäune flankierten sirrend die Einfahrt. Christoph drehte das Radio leiser und kurbelte die Scheibe herunter. Ein uniformierter junger Mann mit ernstem Gesicht trat aus seinem schmalen Wachhäuschen.

»Ähm … Ihre Ausweise bitte.«

Der glattrasierte Sicherheitsmann war offensichtlich nervös. Sue hatte ihn hier noch nie gesehen. Vielleicht war er neu und wollte keine Fehler machen. Sues Vater war bei den Wachleuten kein Unbekannter.

Christoph hatte wie immer seinen Besucherausweis, den Sues Mama ihm besorgt hatte, vergessen. Ohne den kam man nicht auf das Gelände. Und Ordnung gehörte nicht zu Papas Stärken. Dafür war er nie um irgendwelche Ausreden verlegen.

»Es tut mir unendlich leid«, sagte er und schielte leicht grinsend zu Sue hinüber, »aber meine Tochter … Wir wollten gerade etwas essen gehen, als sie plötzlich … also sie hat mit diesem blauen Zeug gespielt. Wissen Sie? Das, was meine Frau, also Maria Hartmann, gestern mitgebracht hat. Und dann fing sie plötzlich an zu bluten. Mein Gott. Bitte …«

Sue musste sich zusammenreißen, um nicht gleich loszulachen, und versuchte ihr Gesicht hinter ihrer Hand zu verbergen. Dem Sicherheitsmann war allerdings nicht zum Lachen zumute. Nervös schaut er von Christoph zu Sue und wieder zurück.

Christoph nutzte diesen Moment und kam jetzt erst recht in Fahrt. Als Schüler hatte er in der Theater-AG der Schule die ganz großen Rollen gespielt.

»Sie müssen mich durchlassen. Bitte. Bevor es schlimmer wird. Meine Frau weiß sicher, was zu tun ist. Meine Güte … Vielleicht stirbt sie.«

Das war zu viel. Dem armen Sicherheitsmann stand der Schweiß jetzt auf der Stirn und unsicher leuchtete er mit seiner Taschen­lampe ins Innere des Wagens. Sue hob schwerfällig ihren Kopf und röchelte in den Schein der Lampe. Der Sicherheitsmann wich vor Entsetzen einen Schritt zurück und ließ die Lampe fallen.

Blut quoll aus Sues Augen und lief ihr über die Wange. Sue gab sich extrem Mühe, wie ein Zombie zu grunzen. »Bitte …«, krächzte Sue sehr überzeugend. »Sie müssen mir helfen.«

Der Sicherheitsmann hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund, wahrscheinlich aus Angst sich anzustecken, und winkte seinen Kollegen im Wachhäuschen hastig zu. Die Schranke hob sich augenblicklich.

»Haben Sie tausend Dank«, sagte Christoph und kämpfte innerlich gegen einen Lachanfall. Der Sicherheitsmann nickte nur kurz und erleichtert. Christoph und Sue fuhren los und konnten sich kaum mehr halten vor Lachen. Sue wischte sich den Ketchup aus dem Gesicht und biss genüsslich in ihren inzwischen kalt gewordenen Hotdog.

»Ich glaube, ich leide an Ketschupritis«, kicherte sie.

»Hoch ansteckend. Hab ich gelesen«, sagte ihr Vater. Wieder mussten sie lachen. Manchmal war es dann doch lustig, auf Papas Spiele einzugehen, dachte Sue.

Die erste Hürde hatten sie also genommen. Im Radio war noch immer Direktor Drills Stimme zu hören. Monoton und gelangweilt. Christoph drehte die Lautstärke wieder hoch, während der Bus zwischen den modernen Stahlglasfassaden ins Herz der DEC vordrang.

»Stellen Sie sich vor, Ihr Körper reagiert mit einem eigenen, nennen wir es Schutzschild«, referierte Drill. »Um das allerdings genauer zu erklären, habe ich Ihnen heute einen Experten, wenn nicht sogar den Experten mitgebracht. Bitte begrüßen Sie mit mir eine der erfolgreichsten Genetikerinnen und Mutations­forsche­rinnen, Dr. Maria Hartmann.«

Sues Lächeln erstarb. Da war sie. Ihre Mutter. Gleich würde sie reden und nicht mehr aufhören, wie immer, wenn sie über ihre Forschung sprach. Applaus war zu hören und Drill fuhr fort: »Maria, man könnte Ihre Erfindung in einem Satz zusammenfassen: Der Mensch 2.0.«

Vielleicht sollten sie mal eine Mutter 2.0 erfinden. Dann hätte Sue ein Problem weniger. Dafür eine Mutter, die sich um ihre Kinder und die Familie kümmerte und nicht dauernd in der Welt herumflog und Vorträge hielt.

Überraschung

Die DEC war eine der modernsten Forschungseinrichtungen des Landes. Gebaut auf dem Gelände eines alten stillgelegten Stahl­werks, von dem es rund um Markholm Dutzende gab. Jonas Drill hatte mit ihnen ein gigantisches Vermögen angehäuft. Als allerdings die Nachfrage nach Stahl eingebrochen war, entschied sich Drill, einen riesigen Forschungscampus zu errichten, was ein sehr cleverer Schachzug gewesen war. Hunderte der besten Wissen­schaftler der Welt kamen nach Markholm, um hier an supergeheimen Forschungen zu experimentieren. So wie Sues Mutter. Aber was genau in diesen Laboren geschah, das wusste Sue nicht. In den wenigen Momenten, in denen ihre Mutter mit ihr sprach, erklärte sie ihrer Tochter nur, dass es geheim sei und sie zudem noch viel zu jung war, um das alles zu verstehen. Und Sue hatte sich nicht die Mühe gemacht, weiter nachzufragen.

Ihre Mutter sah sie, wenn überhaupt, nur am Wochenende, und auch dann saß sie meistens vor ihrem Computer. Im Urlaub waren sie schon lange nicht mehr, und seit ihre Eltern dieses furchtbar alte Haus in einem Vorort von Markholm gekauft hatten, war ihr Vater hauptsächlich damit beschäftigt, es bewohnbar zu machen. Aber alles, was ihr Vater, der im wahren Leben Vollblutmusiker war und Kontrabass spielte, zustande brachte, waren oberflächliche Schön­heits­repara­turen. Wie oft war sie ­morgens schon aufgewacht, weil Regentropfen ihre Stirn herunter­liefen, da das Dach undicht war.

»Beeil dich. Sie wird jeden Moment kommen. Und wenn wir dann nicht fertig sind, war alles umsonst.« Die Stimme ihres Vaters holte Sue zurück in die Gegenwart.

Sie hatten endlich das Labor der Mutter im vierten Unter­geschoss erreicht. Keine Fenster, nur eiskaltes blaues Licht. High­tech-Computer und Messgeräte surrten mit permanentem leisen Piepen. An der Decke riesige, silbern folierte Lüftungskanäle, und zwischen den Schreibtischen beleuchtete Glaswände mit Formeln und Zahlen in roter Leuchtschrift. Das Licht war gedämpft, einzelne Arbeitsplätze kühl beleuchtet. Alles wirkte wie die Brücke eines gigantischen Raumschiffs.

Menschen waren nicht zu sehen. Anscheinend lief die Presse­konferenz noch. Ihre lang geplante Überraschung konnte also durchaus noch gelingen. Sue stellte das schwarze Paket und die noch nicht ganz aufgetaute Schwarzwälder Kirschtorte auf einem der Tische ab. Während ihr Vater die Kerzen aus der Tasche zauberte und sie in die Torte steckte, holte Sue einen Lappen und wischte die Formeln und Zahlen von der Glaswand ab.

»Ich glaub, das ist keine so gute …«, Christoph sah zu Sue hinüber, die aber bereits die halbe Wand leer gewischt hatte, »… äh … Idee!«

Sue hatte ihn überhaupt nicht gehört und war voll darauf kon­zen­triert, dass ihre Überraschung klappte. Sie liebte ihre Mutter, auch wenn sie das niemals laut sagen würde. Und sie hasste es, dass Maria – sie weigerte sich eigentlich, das Wort Mutter zu benutzen –sie einfach ignorierte oder, wenn sie sie wahrnahm, wie ein Kleinkind behandelte. Aber diese Überraschung heute war ihre Idee gewesen. Sie hatte alles bis ins kleinste Detail geplant und freute sich auf den Gesichtsausdruck ihrer Mutter, wenn die zurückkam und das hier sah.

Mit einem roten Stift wollte sie gerade die Worte »Happy Birthday« an die gläserne Wand schreiben. Sie kam allerdings nur bis »Happy Bi…«, da zündete ihr Vater bereits die Kerzen an. Wobei der Begriff Kerze nicht ganz richtig war.

»Die sieht aber komisch aus, Sue.« Christoph beäugte den großen blauen Gegenstand in der Mitte der Torte argwöhnisch. Vielleicht hätte er auf seine Tochter warten sollen. Vielleicht. Doch sein Feuer­zeug war schneller. Eine Stichflamme schoss aus der vermeintlichen Kerze in die Höhe und Christoph konnte im letzten Moment gerade so ausweichen, sonst wären seine Augenbrauen dahin gewesen. Silberner Rauch und bunte Funken schossen an die Decke und hüllten das Labor augenblicklich in einen dunstigen Schleier.

»Was zum Henker ist das?«

»Ein bengalisches Feuer.« Sue ließ den Stift fallen und rannte zum Tisch hinüber. Ihr Vater sah sie entsetzt an. »Ein was???«

»Von Silvester! Hab ich aufgehoben.« Beide waren hilflos. Mit ohrenbetäubendem Lärm sprangen die Feuermelder an. Das Echo ihres lauten Heulens hallte im Raum.

»Sie wird uns umbringen«, sagte Sue panisch.

Ihr Vater nickt nur. Das würde sie, in der Tat.

Happy Bi…

Zur selben Zeit, als Christoph und Sue das Labor betraten, lief der Abend für Maria Hartmann außerordentlich gut. Das, was sie heute den Wissenschaftlern und Experten in dem viel zu großen Saal der DEC zu sagen hatte, war eine kleine Sensation. Tag und Nacht hatte sie die letzten Wochen daran gearbeitet, Messreihen ausgewertet, immer und immer wieder die Daten überprüft, sich mit ihrer Assistentin Lenia gestritten und wieder vertragen. Insgeheim träumten sie schon vom Nobelpreis.

Und nun stand es direkt vor ihr. In dem gut gekühlten Schutz­behälter aus Metall. Die kleine Ampulle mit der blau schimmernden Flüssigkeit. Das Superserum: NT26D.

Applaus war zu hören. Maria trat auf die Bühne, räusperte sich kurz und schaute in den dunklen Zuschauerraum. Das Licht der Scheinwerfer blendete sie. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Alle warteten auf die angekündigte Sensation.

Jonas Drill lächelte ihr aufmunternd zu und Maria sagte ins Mikro: »NT26D, wie wir unser Projekt etwas nüchtern nennen …«

In dem Moment brach der Alarm los. Der Ton war so grell, dass sich einige die Ohren zuhielten. Eine Stimme bat monoton, sich sofort zu den Ausgängen zu begeben. Ein Feuer musste ausgebrochen sein. Alle liefen durcheinander und hasteten nach draußen.

Nur Maria überlegte nicht lange, schnappte sich Lenia und den Behälter mit der blauen Flüssigkeit und rief: »Wir müssen die Daten retten. Schnell!« Lenia wollte protestieren, aber Maria ließ das nicht zu. Sollten die Daten zerstört werden, wäre ihre Forschung um Jahre zurückgeworfen.

Währenddessen kämpften Sue und Christoph noch immer mit dem bengalischen Feuer. Vielleicht hätten sie wegrennen sollen. Jetzt war es zu spät …

Die Tür flog auf. Maria und Lenia betraten das Labor und blieben wie angewurzelt stehen.

Christoph winkte ihnen verlegen zu und sagte: »Hi!«

»Christoph …« Maria fehlten die Worte.