Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Mädchen ist neu an der Schule über die ihre Familie seit Generationen wacht. Ihr Bruder ist als ihr Schutz eingeteilt, wie es seit dem letzten Jahrhundert üblich ist. Während Jess an das Gute im Menschen glaubt, ist James das komplette Gegenteil. Gemeinsam sind sie ein unschlagbares und eingespieltes Team, was die ältere Generation sehr schätzt und die Jüngere mit eigenen Augen erlebt. Fehlentscheidungen wiegen schwer in deren Leben, daher ist Konzentration geboten. Was passiert, wenn sich zwischen diesen Beiden ein ein Meter neunzig großer Keil bildet, die Welt auf einmal nicht mehr die ist, die sie einst war, und die Zeit gegen sie arbeitet. Während sich James sein leben wieder einmal leicht macht, legt er Jess damit eine ungeheuerliche Last auf.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Jessica Schwarz
Ira deum
von Luxuria und Gula
Jessica Schwarz
Ira deum
von Luxuria und Gula
Fantasy, Erotik
(Trilogie)
Ira deum (Trilogie)
von Luxuria und Gula
von Superbia und Invidia
von Acedia und Avaritia
1. Auflage
Copyright: Jessica Schwarz, 2024, Deutschland
Bildmaterial: pixabay.com, schriftgenerator.eu
Design: Jessica Schwarz, Pia Franke, 2024, Deutschland
Jessica Schwarz
c/o IP-Management #16438
Ludwig-Erhard-Str. 18
20459 Hamburg
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Ich habe zu viel Hass gesehen, als dass ich selber hassen möchte.
Martin Luther King
Den Morgen so zu verschenken… das wirkt sich negativ auf unser Ansehen aus.
Selbst wenn ich jetzt hektisch durch die Gänge laufen würde, ändert es nichts daran, dass ich erst zur zweiten Stunde erscheine. Ich ärgere mich sehr über mich. Ich hätte es besser wissen können und vor allem müssen.
Obwohl ich in Eile, bin schaue ich mir genau die Gänge an. Der weiße Bodenbelag ist mit den Jahren beige geworden. Die Wände sind an mehreren Stellen mit Edding bemalt worden und mit Stickern beklebt. Teilweise wurden diese Stellen schon überstrichen, aber mein Auge sieht, dass da etwas drunter ist, für das menschliche Auge allerdings nicht sichtbar. Die Informationstafeln sehen auf den ersten Blick akzeptabel aus. Die Stundenpläne, Vertretungspläne und Artikel werde ich mir später genauer ansehen müssen.
Die Scheiben sollten vielleicht mal wieder geputzt werden, aber ansonsten sehen sie gut aus.
Durch die verglasten Türen schaue ich in die Klassenräume und sehe das Grauen. Schüler, die gelangweilt in ihren Stühlen sitzen und Lehrer, die nichts dagegen unternehmen und stattdessen von ihrem Kaffee trinken, um selbst wach zu werden.
Was ist nur aus dieser Schule geworden!
Leider ist den meisten Menschen der Krieg zwischen meinen Familienangehörigen, der seit tausenden von Jahren wütet, nicht im Gedächtnis und wird nicht als, immer noch, aktuelles Problem angesehen. Von den Schülern wird kaum einer im Stande sein, seine Liebsten und die Stadt zu schützen.
Wie konnte es sich in den letzten Jahren nur so entwickeln?
In den letzten Jahren gab es keinen Anschlag auf meinen Vater. Es ist still geworden. Für meinen Geschmack zu still, aber ich bin dennoch bereit, im Gegensatz zu den Menschen.
Am Ende des Hauptganges bleibe ich stehen. Vor mir die Tür der Abschlussklasse. Von anfangs vier Klassen haben über die letzten zehn Jahre nur dreißig Schüler, fünfzehn Paare, die Ambition entwickelt, sich der Familie zu versprechen. Eine traurige Zahl, wenn man es in absoluten Zahlen sieht, aber auf die letzten Jahre gesehen, ist es wieder schön, Verstärkung zu bekommen.
Nach links geht es zu den weitläufigen und verschiedenen Trainingsarealen und nach rechts zu den naturspezifischen Unterrichtsräumen. Auch diese werde ich in den nächsten Tagen unter die Lupe nehmen müssen. Auch wenn ich gerne in der Menschenwelt bin und meinen Vater, wo es nur geht, unterstütze, wäre es schön, auch mal nicht zu arbeiten. Ich schiebe meine Gedanken, bei Seite und schüttle meinen Kopf. Ich fahre mit meinen Händen durch meine Haare und richte meine Klamotten, lege ein freundliches Lächeln auf und klopfe drei Mal gegen die Tür. Immerhin ist dies nicht der richtige Moment, das ich mir den Kopf zerbreche. Ich muss einen starken Eindruck wahren. Für mich, meinen Vater, meine Familie, damit auch die nächste Generation der Menschen sich in Sicherheit wiegen kann.
Ohne auf eine Antwort zu warten trete ich ein und schließe die Tür unmittelbar hinter mir. Es schauen mich sechsundzwanzig leere Augenpaare an. Während die hinteren Reihen versuchen, so leise wie möglich miteinander zu reden, grübeln die Schüler in den vorderen Reihen. Im mittleren Gang des Hörsaals, auf der linken Seite, steht ein Mädchen, mit kurzen braunen Haaren und Augen, die nach geschmolzener dunkler Schokolade aussehen, schwungvoll auf, tritt neben ihr Pult und verbeugt sich so tief es geht. Katharina hat ihre Hausaufgaben gemacht, eine gute Schülerin, die dem Unterricht auch aktiv folgt. Durch ihre Größe von ein Meter siebzig und ihre schmale, gelenkige Art hat sie auch in den praktischen Fächern ihre spitze Stupsnase vorn.
Sie kann es weit schaffen, auch ohne die Hilfe der Götter.
„Kath…“, setze ich an. Ein weiteres Mädchen mit kastanienbraunen Haaren, die ihr aber bis über die Brust reichen, die eine Reihe hinter ihr sitzt, springt auf und verbeugt sich auch. Vanessas smaragdgrüne Augen leuchten, als sie realisiert wer soeben den Raum betreten hat. Ihre Pausbacken passen nicht zu ihrem schmalen, zierlichen ein Meter fünfundsiebzig großen Körper. Sie ist eine ebenso fleißige Schülerin wie Katharina, mit dem Unterschied, dass sie nicht so schnell kombinieren kann. Dieser kleine Unterschied bewirkt, dass Vanessa nur die zweitbeste Schülerin ist, gleich nach Katharina.
Das Raunen im Hörsaal wird lauter und der ein oder andere Schüler fängt an zu kichern. Tobias Müller, Ende dreißig, beendet seinen Satz an der Tafel, legt die Kreide weg und dreht sich zu seiner Klasse um. Einen einzigen, eiskalten Blick, der absolut keinen weiteren Mucks mehr zulässt, wirft er durch den Raum. Ich lächle nun nicht nur, da es so von mir erwartet wird, sondern, weil ich stolz auf ihn bin, dass er sich zu so einem wunderbaren Lehrer entwickelt hat. Er hat seine Schüler im Griff, sicherlich haben sie Angst vor den Konsequenzen, wenn sie nicht auf ihn hören würden.
„Tobi du hast dich unglaublich entwickelt und ich bin froh das gesehen zu haben. Ich bin sehr stolz auf dich. Die Familie kann froh sein, Jemanden wie dich an ihrer Seite zu wissen.“
Ruckartig dreht Tobias seinen Kopf in meine Richtung. Sein Blick wird warm und weich. Das größte Lächeln, das ich seit mehreren Jahren gesehen habe, ist ihm ins Gesicht geschrieben.
„Jess!“
Er kommt auf mich zu und wir umarmen uns innig. Es ist in etwa zwanzig Jahre her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Er ging damals in die Abschlussklasse, während ich in die Zehnte gekommen bin. Mittlerweile ist er noch viel größer, bestimmt ein Meter fünfundachtzig. Sein dunkelblondes Haar thront, mit kleinen Geheimratsecken, nicht mehr zerzaust auf seinem Kopf, sondern ordentlich gekämmt. Die Jahre haben ihm kleine Falten ins Gesicht gemalt und in seinen stahlgrauen Augen sieht man die Kämpfe, die er schon ausgetragen hat.
Er hat für uns einige Missionen absolviert, aber in den letzten zehn Jahren konnte er sich durchweg auf seinen Job als Lehrer konzentrieren. In den zehn Jahren hat er seine Frau kennen gelernt. Celeste, blond, nur vier Jahre älter als er und mit einer Menge Humor. Für mich persönlich zu viel Humor, aber ich finde es schön, dass er weiter ziehen konnte. Seine Anhänglichkeit vor zwanzig Jahren war teilweise furchteinflößend. Er wollte ständig Dates mit mir, hat mein ‚Nein‘ zum Abschlussball damals nicht akzeptiert. Er ist erwachsen geworden, kann mit seiner Energie umgehen und ist nun endlich in der Lage, das Leben zu akzeptieren wie es ist. Sein sterbliches Leben mit Frieden, Liebe und Sicherheit genießen. Und das, in einem Job, in dem er aufblüht. Es war eindeutig die richtige Entscheidung von der Schulleiterin ihn für die Abschlussklasse einzuteilen.
„Ich freue mich so dich zu sehen. Du siehst, wie immer, wunderbar aus!“, flüstert er mir mit einem sentimentalen Ton ins Ohr, damit die Schüler ihn nicht hören, „Und danke!“
Siebzehn Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen. Alles was ich über ihn weiß, habe ich aus der Ferne, aus unserem Haus heraus, beobachtet. Ich durfte nicht mit ihm in Kontakt treten. Mein Bruder hat meistens mit ihm über die Missionen gesprochen, seltener Vater. Bis jetzt. Ich lege eine Hand auf seine Brust und drücke ihn sacht von mir weg. Auch wenn ich Tobias sehr vermisst habe, ist er nun mein Lehrer.
„Katharina! Vanessa! Ich habe euch natürlich nicht vergessen. Ich fühle mich sehr geehrt, dass ihr wisst wer ich bin und wie ihr euch gegenüber der Familie verhaltet. Ich möchte euch aber als meine Mitschüler begrüßen und bitte euch, dasselbe zu tun. Ihr dürft aufstehen und braucht euch auch in Zukunft nicht mehr verbeugen.“
Kaum habe ich es ausgesprochen, merke ich, dass ich ein bisschen arrogant geklungen habe.
Sie weiß, wie ich heiße.
Wahnsinn! Ich wurde direkt von ihr angesprochen.
„Moment mal. Mitschüler? Du gehst wieder zur Schule?“, fragt Tobias.
„Ja Herr Müller. Ab heute bin ich Ihre Schülerin. Ich entschuldige mich hiermit aufrichtig für meine Verspätung.“
Herr Müller ist ganz perplex. Er runzelt die Stirn. Auch ohne seine Gedanken lesen zu können, weiß ich, dass er die Anrede ‚Herr Müller‘ überhaupt nicht gut findet und diese plötzliche Distanz zwischen uns sein Herz bricht.
„Und dein Bruder?“
„James sollte ab heute auch wieder zur Schule gehen. Ebenfalls in diese Klasse, leider weiß ich nicht wo er ist. Lucy und Lisa sind auch verschwunden. Und Vater war nicht im Büro. Ich habe nach ihnen gesucht, vergeblich. Deshalb bin ich zu spät gekommen.“
Herr Müller geht ein paar Schritte zurück und dreht sich zu seinen Pult. Im Klassenbuch trägt er unsere Namen ein. Mit sentimentalem Blick trägt er meinen Namen ein, seine Mundwinkel verkrampft, er als er James‘ Namen einträgt.
„Lucy und Lisa… Ich habe nie den Nachnamen erfahren.“
„Sie haben keinen.“
Herr Müller versteht und nickt.
„Weißt du wirklich nicht wo sie sind?“
Ich schüttle den Kopf. Herr Müller legt eine Hand auf meinen Kopf, wie er es früher gemacht hat um mich zu necken, dieses Mal jedoch versucht er mich zu beruhigen. Nach einem winzigen Augenblick, in dem wir so verweilten, streichelt er mit dem Rücken seines Zeigefingers über meine Wange, räuspert sich und setzt ein Lächeln auf.
„Jess… Jessica. Ich werde deine Verspätung eintragen. Bitte achte in Zukunft besser auf die Zeit. Nimm Platz, damit wir mit dem Unterricht fortfahren können.“
Sollte ich sie kennen?
Herr Müller deutet auf einen freien Platz in der zweiten Reihe auf der rechten Seite des Hörsaals.
Die ist mit Sicherheit arrogant.
Ich nehme Platz und breite meine Unterlagen aus.
Was stimmt denn nicht mit ihren Klamotten?
Auf meinem Laptop öffne ich die entsprechenden Dateien, die ich zur Bewertung der Schüler, Lehrer, Hörsäle und des Unterrichtsmaterials brauche.
Was hat die mit Herrn Müller am Stecken, dass sie sich umarmt haben?
Die ersten Mängel, die ich im Gang gefunden habe, schreibe ich bereits auf, bevor ich es vergesse. Während Herr Müller sich wieder dem Unterricht widmet, wird es im Raum immer lauter. Ich drehe mich um, aber keiner spricht. Die Gedanken der Mitschüler verwirren sich immer weiter und werden lauter bis sie in meinem Kopf ein Wollknäul aus Gedankengängen hinterlassen. Natürlich bin ich an die lauten Gedanken der Anderen gewöhnt, aber es ist Unterricht. Und kaum einer folgt diesem. Ich schaue in meine Mails und auf mein Handy um mich abzulenken, aber ich habe keine Nachricht von meinem Bruder.
Habe ich etwas übersehen? Hatte Vater gestern Abend noch etwas zu einem Auftrag gesagt?
Vater sprach vor einiger Zeit über eine Kirche in Spanien. Ein altes Gemäuer, das renoviert werden soll und daher neu gesegnet werden muss, aber die Menschen schaffen es niemals in fünf Wochen so ein großes Gebäude zu sanieren. Ich öffne den Browser und suche nach wichtigen Nachrichten aus der vergangenen Nacht.
Na sieh mal einer an.
Jetzt surft die auch noch im Unterricht. Warum darf sie überhaupt einen Laptop mit Internetzugang hier in der Schule haben?
Und da ist meine Schlagzeile, die ich gesucht habe. In der vergangenen Nacht wurde in Südafrika ein Gotteshaus in Brand gesetzt, da der Priester die Türen auch für Atheisten geöffnet hat, um sie bei heftigen Regenfällen zu beherbergen. Deshalb ist auch Vater nicht zuhause gewesen. Er kümmert sich mit Sicherheit um Priester Jamal. Da ich mir zu den ganzen Gedanken hier im Raum auch noch selbst Sorgen mache, bekomme ich Kopfschmerzen. Ich hebe meine Hand und räuspere mich.
„Herr Müller?“
Herr Müller dreht sich wieder von der Tafel weg und ist, obwohl er meine Stimme erkannt hat, sichtlich genervt eine Pause einzulegen. Er schaut mich an und signalisiert mir mit einer Handbewegung, dass ich fortfahren soll.
„Herr Müller ich weiß, dass es nicht Ihr Themenbereich ist, aber ich fände es den Umständen entsprechend hilfreich, wenn Sie die heutige Unterrichtszeit nutzen könnten um die Mitschüler aufzuklären. So ist es mir gerade nicht möglich, alles zur Zufriedenheit meines Vaters zu bewerten. Des Weiteren würde ich gerne an dieser Stelle den Unterricht für mich beenden und mich mit dem Lehrer für Heimat- und Weltkunde zusammensetzen.“
Nun fängt das Getuschel wieder an. Herr Müller schaut mit eisigem Blick durch die Reihen.
„Ich verstehe.“
Ohne zu zögern dreht sich Herr Müller erneut um und fängt an die Tafel zu reinigen. Ich packe meine Materialien zusammen.
„Katharina! Vanessa! Seid so gut und holt die Bücher aus dem Lehrbuchraum. Jess macht euch die Tür auf.“
Beim Verlassen des Raumes streiche ich über Tobias’ Schulter als Zeichen meiner Dankbarkeit.
Was Neues von deinem Bruder?
Es kann sein, dass er mit Vater in Südafrika ist. Dort wurde eine Kirche in der letzten Nacht angezündet.
Tobi atmet schwer aus und wirft mir einen Blick hinterher. Katharina und Vanessa folgen mir schnell und leise aus dem Raum. Sobald die Tür hinter mir ins Schloss gefallen ist, sinkt die Lautstärke rapide und ich kann endlich aufatmen. Wir nehmen den Gang in Richtung Fachräume, gehen an Lehrerzimmern und diversen Pausenräumen vorbei. Ich versuche mir soweit alles einzuprägen. Die Dellen der Schließfächer, die Aufkleber an den Handläufen der Treppen. Ich spüre das Unbehagen der Beiden. Sie sind darauf bedacht, sich ordentlich zu benehmen und keinen Fehltritt zu machen. Generell scheinen sie ziemlich zurückhaltend zu sein. Wir laufen weiter in die Schule hinein und nehmen die Abzweigung in Richtung Keller, wo die Materialräume zu finden sind.
Wer auch immer die Idee hatte, den Bücherraum am Ende des Ganges einzurichten, wird sicherlich in der Hölle dafür brennen.
Ich grinse über meinen Gedanken. Ja Christopher, er war damals der erste Schuldirektor. Er hat seine Aufgaben damals sehr gewissenhaft abgearbeitet. Diese Schule existiert bereits seit mehreren Generationen und er hat diese Schule mit meinem Urururgroßvater aus dem Nichts aufgebaut. Mein Urururgroßvater lebt mittlerweile nicht mehr, aber er hat diese Schule und diese Stadt errichtet. Am Anfang gab es mehr praktische Fächer. Mit der Zeit kamen immer mehr Bücher dazu. Es ist nur logisch, dass diese dann in den einzigen noch freien Raum eingelagert wurden.
Ohne zu stoppen lasse ich die Tür aufschwingen und laufe durch die Gänge mit den deckenhohen Regalen, um nach den Büchern zu suchen. Der Raum besitzt kein Tageslicht und hat die Ausmaße einer mittelgroßen Bücherei. Es ist dunkel, stickig und kühl. Zwischen den Stützpfeilern stehen in Reih und Glied Tische und Regale.
Die Sortierung in diesem Raum lässt zu wünschen übrig.
Genauer gesagt herrscht hier überhaupt keine Ordnung. Naturkunde steht neben Weltgeschichte und Klassische Literatur wurde auf Algebra gestapelt.
„Wisst ihr… wenn ich Lehrerin an dieser Schule sein würde… wüsste ich genau, welche Strafarbeit ich als erstes verteilen würde.“
Ich bleibe stehen und stütze meine Hände genervt auf meine Hüften. Ich habe schon High Heels an und dennoch komme ich nicht an die Bücher. Katharina und Vanessa sind zwar viel größer als ich, aber auch sie schaffen es nicht an das oberste Regalfach.
„Ihr dürft auch ruhig mit mir sprechen, ich beiße nicht“, lache ich.
Die Beiden sind immer noch still. Ich sehe ihnen an, dass sie nicht wissen, wie sie mit mir umgehen sollen.
„Prinzessin. Es tut mir unendlich leid! Ich habe ehrlich gesagt nie damit gerechnet, dass ich mal die Ehre habe Ihnen so nahe zu kommen.“
Vanessa ist den Tränen nahe. Es muss sie eine Menge Überwindung gekostet haben. Vielleicht ist sie auch einfach nur glücklich. Katharina legt einen Arm um sie, damit sie sich beruhigt.
„Wisst ihr was. Lasst uns Montag einfach nochmal von vorne anfangen. Wir lassen den ganzen Prinzessin- und Verbeugungsquatsch. Katharina, Vanessa wie ich bereits sagte, ich bin jetzt eine von euch… im weitesten Sinne. Eine einfache Schülerin, die Ärger bekommt, wenn sie zu spät kommt. Eine Schülerin, die Hausaufgaben machen muss und eine Schülerin, die vom Sportlehrer übers Feld gehetzt wird. Ich verstehe, dass ihr nicht damit gerechnet habt, jemals einen von uns kennen zu lernen. Es ist nun wirklich ein Jahrzehnt her, dass wir unter den Menschen gewandelt sind, Vater hat auch erst gestern Abend beschlossen, dass es wieder an der Zeit, in die Schule zu gehen, aber versucht euch dran zu gewöhnen, schlaft eine Nacht drüber und ab Montag früh bin ich Jessica… oder Jess, wie ihr wollt.“
Ich nehme jeweils eine Hand und lege sie an ihre Arme.
„Damit Tobi… Herr Müller nicht noch länger warten muss, beschleunigen wir das Ganze etwas.“
Ich drehe mich um und lasse einen Bücherwagen her rollen. Das vordere linke Rad klemmt etwas.
Auch etwas, das wir erneuern müssen.
Mit einfachen Handbewegungen lasse ich die Bücher hinunter schweben und staple sie ordentlich auf den Wagen.
Ohh… mein … Gott!
Ich schaue die Mädchen an und ziehe eine Augenbraue nach oben.
Immer das Gleiche mit den Menschen.
„Das waren alle Bücher. Richtet Herrn Müller bitte aus, dass die beiden Schwänzer am Montag nach dem Unterricht alle Zeit haben, die sie brauchen werden, um diese Bücher wieder an ihren Platz zu stellen.“
Katharina schiebt den Wagen an und wir laufen raus in den Flur. Vanessa streicht sich ein letztes Mal über die Augen und atmet tief aus.
„Die Lehrer haben das Nachsitzen abgeschafft“, sagt Katharina zögerlich.
Vanessa nickt zustimmend und richtet dann auch das Wort an mich: „Hatte Herr Müller vorhin nicht von drei fehlenden Schülern geredet?“
„Daran habe ich nicht gedacht“, sage ich zu Katharina „Allerdings, da die Beiden schwänzen, haben sie Minusstunden auf ihrem Konto, also dürfen sie die auch wieder einarbeiten. Und ich bin gerne bereit, sie dabei zu beaufsichtigen.“
Das ist richtig. Es hat sich gezeigt, dass Fehlverhalten von Menschen durch Bestrafung sich kaum zum Besseren wendet. Zumindest nicht, wenn sie nicht die Konsequenzen vor Augen haben. Sonst würde die Hölle nicht funktionieren. Vor dem Lehrerzimmer bleibe ich stehen.
„Mein Bruder und seine Waffen sind für heute entschuldigt, sie sind im Namen meines Vaters unterwegs. Denen, die ich im Sinn habe, könnt ihr das gerne zuhause ausrichten. Ich wünsche euch ein schönes Wochenende.“
„Danke dir auch“, murmeln die Mädchen vor sich hin. Ich lege meine Hand auf die Klinke des Lehrerzimmers, drehe mich aber noch mal um.
„Wenn es nach mir geht, könnt ihr die Bücher abgeben und nach Hause gehen. Aber Herr Müller soll das entscheiden. Und erinnert mich Montag bitte an diesen Wagen. Den muss ich in meinem Bericht mit aufführen.“
Ich nehme auf dem Stuhl im Büro meines Vater Platz. Ich bin schockiert über die letzte Stunde.
Es ist kurz vor halb zwölf und ich bin ehrlich gesagt mit dem Tag durch.
„Der Lehrer muss ausgetauscht werden!“
„Jess ich kann nicht einfach die Lehrer hin und herschieben.“
„Vater. Herr Franke ist seit vierzehn Jahren an der Schule. Er hat unter anderem die Klasse unterrichtet, in die ich heute gekommen bin. Es wussten nur zwei Schülerinnen, wer ich bin. Die Abschlussklassen der letzten Jahre haben weniger Kämpfer hervorgebracht, als die Klassen, die von der Welt- und Heimatkundelehrerin davor unterrichtet worden waren. Sicherlich ist es für jeden Schüler freiwillig die elfte Klasse zu besuchen, aber wenn die Schüler gar nicht wissen, warum es eine elfte Klasse gibt, warum sollten sie sich auch dafür anmelden. Frau Bischoff hingegen hat die Schüler noch ernsthaft informiert.“
Vater seufzt und stützt sein Kinn auf die zusammengefalteten Hände. Neben ihm ein Stapel unbearbeiteter Missionen. Sein Büro wurde schon länger nicht mehr aufgeräumt, es liegen mehrere Stapel an Akten auf den mattgrauen halbhohen Regalen zu meiner Rechten. Die hohen schwarzen Regale und Vitrinen, die für Bücher und Andenken auf meiner linken Seite stehen, sind dafür so ordentlich wie immer. Die Vitrine, die gleich an der verglasten Front steht, ist gefüllt mit Fotos von Familienangehörigen. Das Bild meiner Mutter und die von meinem Bruder James, hat Vater wieder aufgestellt. Es freut mich sehr und ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Lange Zeit lagen sie verdeckt im Regal.
„Was schlägst du vor?“
Mein Vater wird den Lehrer nicht kündigen, aber mir liegen das Wohl und die Zukunft dieser Stadt am Herzen. Und das weiß er, daher werden er und ich eine andere Lösung finden müssen. Ich bleibe eine Weile ruhig, damit ich eine sinnvolle Alternative finden kann.
„Vater… ich denke, dass Herr Franke sich vielleicht noch mal mit Frau Bischoff oder sogar mit uns zusammen setzen sollte. Als ich im Lehrerzimmer auf ihn gewartet habe, hat er mich nach meinem Namen gefragt. Herr Franke braucht dringend Auffrischung. Als er mir seine Unterlagen zum Thema Krieg gegeben hat… Dieses Thema wird kaum behandelt. Die Schüler, die momentan die Schule besuchen, sind nicht auf einen Angriff vorbereitet. Sicherlich trainieren sie im Unterricht verschiedene Kampftechniken, ich befürchte allerdings, dass sie nicht wissen weshalb. Ich glaube, wenn wir ihnen nahelegen, wie aktuell der Krieg ist wird ihnen vielleicht bewusst, dass sie auch den restlichen Unterrichtsfächern mehr Achtung schenken sollten. Nicht umsonst liegt der Unterrichtsschwerpunkt der ersten beiden Schuljahre auf Welt- und Heimatkunde. Alle anderen Unterrichtsfächer bauen darauf auf. Aus meiner Sicht ist es absolut kein Wunder, dass die…“
Vater hebt die Hand. Ich schlucke. Ich habe mich sehr in Rage geredet, obwohl Vater eine sachliche Beurteilung haben wollte.
„Herr Franke wusste nicht wer du bist?“
Ich schüttle den Kopf. Auch wenn er sein Gesicht durch seine andere Hand noch bedeckt hält, schafft er es nicht seine Gesichtszüge zu kontrollieren. Seine Regungen, die gerunzelten Augenbrauen, der sich bewegende Kehlkopf, sind zwar in Bruchteilen einer Sekunde wieder verschwunden, aber es reicht, damit ich wahrnehmen konnte, dass er sehr verärgert ist. Wahrscheinlich hauptsächlich meinetwegen. Seit damals war ich nicht wieder in der Menschenwelt und gleich am ersten Tag lasse ich mich so gehen.
„Wann hat er bemerkt, dass du meine Tochter bist?“
Vater lehnt sich zurück in seinen Bürostuhl aus schwarzem Leder. Er versucht gelassen zu bleiben, aber er brodelt innerlich. Es steht jedem Menschen frei, woran oder an wen er glauben möchte, aber die Menschen, die in dieser Stadt wohnen und arbeiten, haben sich bewusst für uns, für meinen Vater, entschieden. Die Unwissenheit ist demnach ein schwerwiegendes Problem, weshalb er sich nur umso mehr ärgert.
„Als die anderen Lehrer ins Zimmer gekommen sind und sich vor mir verbeugt haben. Und dennoch musste ich ihm meinen Namen nennen.“
Nach längerem grübeln richtet er seinen Blick auf seinen Stapel Arbeit.
„Okay. Das ist wirklich ein außerordentliches Problem, das umgehend geklärt werden muss, da gebe ich dir Recht. Es war richtig, dass du damit gleich zu mir gekommen bist.“
Mein Vater fährt sich mit einer Hand durch die Haare. Er steht auf und läuft durch sein Büro. Er geht zu einem weiteren Papierstapel und hebt drei Akten auf, die er dann an mich überreicht.
„Ich versuche die Schulleiterin zu kontaktieren, dass Frau Bischoff so schnell wie möglich wieder an die Schule kommen soll und sich mit Herrn Franke das Unterrichtsmaterial anschaut. Für den Fall, dass Frau Bischoff sich nicht wohl fühlt bei ihrem Krankheitsverlauf, werde ich mich dann persönlich um Herrn Franke kümmern. Wahrscheinlich muss ich mich doch öfter in der Stadt blicken lassen.“
Vater stellt sich vor das Fenster, fasst sich hinterm Rücken an die Hand und lässt seinen Blick über die Stadt gleiten.
„Vater… vielleicht wäre es besser, wenn ich zusammen mit Herrn Franke seine Materialien durchgehe für den Fall, dass Frau Bischoff, aus verständlichen Gründen, absagt. Es ist schon eine Zeit lang ruhig geworden, ich bin mir sicher, dass die Familie nur darauf wartet, dass du unbeaufsichtigt bist. Es wäre unklug, sich draußen aufzuhalten.“
„Mag sein. Dennoch fühlt es sich nicht richtig an, euch in so einem jungen Alter schon damit zu konfrontieren.“
„Wir sind keine Kinder mehr. Wir kennen unsere Rollen und unseren Platz in dieser Welt.“
Vater nickt dankend und bleibt eine Weile still, bevor er mit kräftiger Stimme fortfährt.
„Das sind die Namen der Menschen, die letzte Nacht gestorben sind.“
„Bei dem Brand?“
Vater wirft mir einen Blick über seine Schulter zu. Es überrascht ihn nicht, dass ich schon informiert bin, er sieht vielmehr stolz aus, sodass er gleich das Thema weiterführen kann.
„Akte eins ja. Akte zwei und drei sind die Namen des Bombenanschlags in Japan. Er ist vor einer guten halben Stunde passiert. Es war ein Selbstmordanschlag in einem mehrgeschossigen Bürogebäude. Beim Zusammenfall wurden der benachbarte Supermarkt und die Einkaufsgasse verschüttet. In den nächsten Tagen kommen sicherlich noch ein paar Namen dazu. Momentan liegen noch einige schwerverletzte im Krankenhaus.“
Ich runzle die Stirn und öffne die zweite Akte. Ich blättre ein wenig herum, um den Menschen zu finden, der das zu verantworten hat. Frau Park, vierundvierzig, Chemie Doktorandin. Aus Korea wegen ihres Jobs nach Japan gezogen. Ihrem Arzt ist aufgefallen, dass sie möglicherweise an Depression mit einer leichten Persönlichkeitsstörung erkrankt ist. Die Überweisung zum Therapeuten hat sie nie eingelöst. Zu ihrem Medikamentenkonsum kam noch übermäßiger Alkoholmissbrauch mit resultierender Wahrnehmungsstörung.
Eine Therapie wäre wirklich die bessere Wahl gewesen.
Ich nicke vor mich hin und spüre die Anwesenheit von James.
„Die Liste bleibt genauso, wie sie ist. Ich habe keinen Neuzugang bekommen.“
Ich rolle mit den Augen und atme schwer.
„Ich wünschte, es wäre anders!“, neckt James mich.
Mein Bruder legt seinen Arm auf meinen Schultern ab.
„Lügner!“, sage ich lachend, als ich zu ihm hochschaue „Genieße lieber die Zeit, in der du dich nicht um die Hölle kümmern musst“, ich zwinkere ihm zu und werfe wieder einen Blick in die Akten, bevor ich sie schwungvoll zusammen klappe, „Ich mach mich an die Arbeit. Schönes Wochenende.“
Ich öffne ein Portal zu meiner Rechten und ein warmer Wind weht mir entgegen, Rufe der Verzweiflung und Nebel des Schmerzes hängen in der Luft. Hier bin ich zuhause, in meinem eigenen Königreich.
„Jess?“
„Ja Vater?“
„Beruhige dich da unten!“
Ich schaue peinlich berührt auf den Boden vor James Füßen.
„Ja Vater!“
Ich schaue in James besorgtes Gesicht. Es schmerzt, die beiden enttäuscht zu haben. Ich habe selbst gedacht, dass ich nach zehn Jahren wieder bereit dafür wäre. Bevor ich das Portal schließe, richte ich mein Wort noch mal an Vater.
„Oder der Faulpelz trifft sich mit Herrn Franke“, necke ich meinen Bruder zurück.
Ich würde gerne ins Bett fallen. Meinen Laptop lege ich auf den Schreibtisch in meinem Zimmer. Ich ziehe mir eines meiner längeren schwarzen Hauskleider an und weiche Kniestrümpfe mit Noppen an der Sohle. Das Gemütlichste, das ich auf die Schnelle in meinem Schrank finden konnte. Dann schnappe ich mir die Akten und schleppe mich durch das Haus. Das Lachen von Lucy und Lisa hallt durch den Flur. Sie sind im Badehaus und entspannen in der Sauna. Vielleicht lege ich mich, wenn ich fertig bin, in den Whirlpool und lasse das Wochenende entspannt ausklingen. Ich biege in die entgegengesetzte Richtung, vorbei an der Abzweigung zu James’ Flügel, vorbei am gemütlichen Wohnzimmer, vorbei am offenen Wohnbereich mit geräumiger Küche.
„Im nächsten Haus ist das Büro näher an meinem Zimmer!“, knirsche ich lachend mit den Zähnen. Natürlich wird es kein nächstes Haus geben. Das nächste Haus, in das ich ziehen werde, wird kein Büro brauchen. Als ich endlich im Büro angekommen bin, sitzt Vater in seinem Bürostuhl und schaut nachdenklich über die Stadt.
„Ich bin wieder da.“
Ich gehe zum Scanner und lege die Akten ein. Nachdem ich die Dateipfade eingegeben habe, fängt die Maschine an zu arbeiten. Danach lege ich die Akten ordnungsgemäß in das Archiv, das gleich neben an ist. Nachdem ich das erledigt habe, trete ich wieder ins Büro meines Vaters. Er sitzt immer noch auf seinem Stuhl und denkt nach. Ich wüsste wirklich gerne, was ihn gerade beschäftigt, aber es steht mir nicht zu, in seinen Kopf zu schauen. Das wage ich mich gar nicht. Ich laufe um seinen, kürzlich auf Hochglanz polierten, ebenhölzernen Schreibtisch und setze mich auf die Kante.
„Jess? Es kann losgehen!“
Ich starre gedankenverloren hinunter auf die Stadt.
„Ich werde gleich damit anfangen.“
„Du weißt, dass ich dich nicht drum bitten würde, wenn es nicht absolut notwendig wäre. Wie du sagtest… es ist einfach zu ruhig.“
„Mach dir keine Sorgen Vater.“
Das war es mit meinem entspannten Abend.
Ich gehe den Weg zurück zu meinem Zimmer. Laptop, Papier, Handy und meine Brille. Ich bin einfach zu lange wach, ich brauche meine Brille, damit ich nun keine Kopfschmerzen bekomme, wenn ich noch eine Nacht durcharbeite. Ich trage alles in das Wohnzimmer, richte mich auf der Couch ein.
„Prinzessin! Willkommen zuhause. Darf ich Ihnen einen Tee zubereiten?“
Kornelia, unsere Hausdame, kümmert sich um uns. Sie kocht Essen, räumt unsere Zimmer auf, putzt und bewirtet uns. Es war Kornelias größter Wunsch, der Familie zu dienen. Sie wollte nicht ihre eigene Kirche, sie wollte nicht die Botin Gottes werden, sie wollte uns das Leben erleichtern und etwas zurückgeben. Das tut sie mittlerweile seit fast fünfzig Jahren. Ihre Noten in der Schule waren damals überwältigend, sie hat ein nahezu fotografisches Gedächtnis. Eine großartige Zukunft hätte Vater ihr schenken können und dennoch wollte sie zu uns. Ihre stahlblauen Augen sind müde und erschöpft, langgezogene Augenringe und Lachfalten ziehen sich durch ihr Gesicht. Jedes Mal, wenn Vater sie auf Rente anspricht, verzichtet sie. Und ich habe sie nicht ein einziges Mal beim Lügen erwischt. Ich habe sie sehr ins Herz geschlossen über die vergangen Jahre. Ich will sie wirklich nicht missen müssen, aber auch sie wird demnächst bei mir in einer Zelle landen. Ich wünschte, sie würde bei James einziehen können, aber das liegt nicht in meiner Hand.
„Konni. Eine Kanne Ingwertee wäre nun wirklich erfrischend, aber ich bräuchte auch dringend einen Kaffee.“
Kornelia geht in die offene Küche. Es war mal gedacht, dass diese Küche für Partys mit Buffet bereitgestellt wird, aber seitdem meine Familie sich im Krieg, im Zwiespalt befindet, wurde die Küche für alles freigegeben. Konni klimpert in der Küche, während ich das grand ciel doré anrufe. Die Telefonnummer des benachbarten Hotels muss ich wieder im Internet nachschauen, da sich im vergangenen Jahr der Eigentümer geändert hat. Während ich die Suiten reserviere, stelle ich mir ein Leben vor, in dem dieses Haus gefüllt mit Freunden und Verwandten ist. In der Küche würde gebacken werden, an der langen Tafel angestoßen, ich müsste nicht dauerhaft Gedankenlesen um meinen Vater zu schützen und auf der Welt wäre mehr Frieden.
„Ah James… Lucy, Lisa schön euch endlich mal kennen zu lernen“, Tobias reicht ihnen nacheinander die Hände, um sie zu begrüßen, „Und du siehst wie immer bezaubernd aus!“
Ich lächle müde vor mich hin. Auch wenn ich mir bei meiner Kleidung und Makeup Mühe gegeben habe, sieht man mir dennoch das Wochenende an. Eine schwarze Bluse, an der Taille mit einem Perlengürtel zusammengebunden, mit einer weißen Jeans dazu mattschwarze Plateau High Heels, die zu meiner Handtasche passen, die groß genug für meinen Laptop ist, lenken leider nicht von meinen Augenringen ab. Ich gab mein Bestes, sie zu überschminken, ich habe versucht meine Haare dynamisch aussehen zu lassen, stattdessen fallen heute einzelne Strähnen in mein Gesicht, weil ich mich schlussendlich doch für meine natürlichen Locken entschieden habe.
„Du willst mich verarschen?“
Je näher wir an das Klassenzimmer kommen, desto lauter wird es.
„Maria, beruhige dich. Es ist ja nicht so, dass ich Schluss mache. Wir waren nie zusammen“, spricht eine ruhige Jungenstimme. Auf dem Gang hallen weitere verschiedene Stimmen. Es scheint so, als würden einige Mitschüler tuscheln, andere jedoch lachen.
„Bekomme ich bitte die Packung Taschentücher?“, Herr Müller atmet schwer, als er seine Hand in meine Richtung streckt. Er hat sich einiges über mich und meine Gewohnheiten gemerkt. Ich gebe ihm die Packung und wir treten in das Klassenzimmer. Katharina und Vanessa schütteln ihre Köpfe, Benjamin ist vom Schauspiel am frühen Morgen sichtlich genervt, die hinteren Reihen reichen sich Geldscheine hinüber und die vorderen Reihen quatschen über das Wochenende und spekulieren was passiert sein könnte.
„Simon ich bitte dich. Du kannst doch nicht…“, Maria, circa ein Meter achtzig groß, weißblonde, lockige Haare, kraus auf ihrem Kopf zusammengesteckt, schluchzt zum Schluss kaum hörbar. Herr Müller tritt an sie heran und reicht ihr die Packung Taschentücher. Er redet in Ruhe mit ihr und bittet sie, sich auf dem Gang ein wenig zu beruhigen, bevor sie in ihren Klassenraum gehen soll. Nach einer Weile geht sie auch wütend aus dem Zimmer heraus, nachdem sie mehrere Taschentücher benutzt hat und wie ein bockiges Kind auf dem Boden gestampft hat. Als Simon ihr einen Blick hinterher wirft, treffen sich unsere Augen.
Simon, hellblonde Haare, an den Seiten kurz rasiert kaum länger als einen halben Zentimeter, der Rest sitzt frisch gewaschen und zerzaust locker, mit einer Länge von zehn Zentimetern, auf seinem Kopf. Er hat graue Augen, nicht dieses normale grau, das so viele haben, sein grau ist wirklich etwas Besonderes, seine Augen sind dunkel, beinahe schwarz. Fast schon wie ein schwarzes Loch ziehen sie mich an. Ich werde immer weiter in die Tiefen der Galaxie hinter ihnen gezogen. Ich fühle mich verloren und gleichzeitig so aufgehoben wie noch nie.
Oh Wow.
Tobias dreht sich um, um zu seinem Schreibtisch zu gehen und bricht somit den Blickkontakt. Er rollt seine Augen. Offensichtlich war es nicht das erste Mal, dass er so etwas mitbekommt. Mir bleibt der Atem weg und ich klammere mich notgedrungen an meinen Bruder, in der Hoffnung wieder auf diesem Planeten zu landen. In meinem Kopf dreht sich alles, aber das Gefühl von James Nähe und der bekannte Geruch von Tobias’ After Shave beruhigen mich. Auf meiner heiß pulsierenden Halsschlagader spüre ich James analysierenden Blick, aber ich kann mich mit ihm nicht beschäftigen.
„Simon und Benjamin, es freut mich, dass ihr es heute geschafft habt, zum Unterricht zu erscheinen. Da ihr den außerplanmäßigen Unterricht am Freitag verpasst habt, habt ihr heute Nachmittag genug Zeit, diesen Stoff wieder aufzuholen. Und ich muss sagen, ihr könnt wirklich von Glück reden, dass ihr den Stoff unter Aufsicht von Frau Deus, also aus erster Hand, erlernen könnt.“
Ich lächle Tobias an und schaue danach zurück ins Klassenzimmer.
Warum nur habe ich das angeboten?