Irgendwie EINSAM - Karin Mitschke - E-Book

Irgendwie EINSAM E-Book

Karin Mitschke

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Beschreibung

Einsamkeit ist ein Wort. Vielleicht ein Gefühl. Auf jeden Fall kann es sich sehr mächtig in unserem Leben einnisten. Wenn wir dann vollends daran glauben, einsam zu sein, erleben wir unsere Tage als beschwerlich. Das geht so lange, bis wir anfangen zu bemerken, was wir da tun. Wir benennen Momente als einsam und so erleben wir sie dann auch. Der empfundene Schmerz wird uns mit der Zeit immer bekannter und gräbt sich tief in unsere Zellen. Sind wir womöglich wirklich einsam? Karin Mitschke schreibt ernsthaft wie komisch über viele persönliche Lebenssituationen, in denen sie sich in Einsamkeit gefangen fühlt. Schlussendlich ergründet sie, in ersten feinen Schritten, einen Weg heraus aus dem empfundenen Gefängnis.

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Irgendwie EINSAM

Ein komisch-ernstes Buch

Karin Mitschke

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.papierfresserchen.de

www.herzsprung-verlag.de

© 2023 – Herzsprung-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Taschenbuchauflage erschienen 2018

Coveridee und -gestaltung: Annette Waurick

Grafik Design + Marketing

ISBN: 978-3-96074-032-2 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-418-4 - E-Book

Bearbeitung: CAT creativ - www.cat-creativ.at

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Inhalt

1. Urplötzlich auf Mallorca

2. Meditationserfahrung

3. Wir sind alle eins!

4. Der Irrsinn von geschlossenen Räumen

5. Schnitz dir doch einen!

6. Unterwegs sein

7. Bauchspecktrance

8. 40-Tage Meditation

9. Gemeinsam statt einsam

10. Einfachheit

11. Schwatzen über Dritte

12. Alkohol & Co

13. Freundschaft?

14. Der fetteste Spiegel von allen – WEIHNACHTEN!

15. Kurschatten

16. Stimmung oder Wahrheit?

17. Göttlicher Auftrag

18. Von ganzem Herzen

19. Small Talk

20. Ich verlasse mich nicht

21. Frohe Ostern

22. Erste feine Schritte

23. Das Mallorca danach

24. Bin das noch ich?

25. Ich begnadige mich

Alphabetisches Literatur- und Personenverzeichnis

Die Autorin

Unser Buchtipp

*

1. Urplötzlich auf Mallorca

Hauptsächlich schreibe ich dieses Buch natürlich nur, weil ich Single bin.

Die meisten Dinge erzähle ich mir selbst. Das ist auf Dauer irgendwie nicht dasselbe, wie mit jemandem zu sprechen. Ich muss halt alles selbst erledigen: mir zuhören, mir widersprechen, mir zustimmen, mich loben, mich kritisieren und mich in den Arm nehmen. Letzteres vergesse ich nur leider fast immer.

Ein Schüler hat mich neulich mitten im Unterricht beim Selbstgespräch erwischt. „Sagen Sie, sprechen Sie häufiger mit sich selbst?“

Das war mir dann doch schon etwas komisch, denn just dort hätte ich ja mal einige gehabt, mit denen ich hätte reden können oder sogar sollen. Ist vielleicht ein Beispiel dafür, wie sehr Gewohnheiten Macht über uns (zumindest über mich) gewinnen können.

Mit dem Schreiben habe ich mir immerhin ein Gegenüber erschaffen. In direktem Sinn kommunizieren wir wohl nicht miteinander, aber es fühlt sich allemal so an. Jedenfalls empfinde ich mich in Momenten des Schreibens weder als allein noch als einsam, obwohl ich natürlich nicht wirklich aus meinem Singlekokon auftauchen muss.

Mein Laptop stellt fast keinerlei Ansprüche. Neben Strom braucht er kein Frühstück, ist nicht schlecht gelaunt, flirtet nicht mit anderen, sagt JA, also reagiert, wenn ich ihn einschalte, und hat Zeit für mich, wenn mir danach ist. Allerdings nimmt auch er mich nicht in den Arm.

Dennoch ist unsere Begegnung nicht gefühllos. Während ich meine Gedanken so über die Tastatur auf die Seite bringe, fühle ich mich eher intensiv und lebendig, was das tiefe, alte Muster der Einsamkeit übertüncht.

Das verwegene Projekt, mein erstes Buch zu schreiben, entsteht urplötzlich auf Malle. So sagen es jedenfalls einige, die mich dahin verabschiedet haben.

Aha, nach Malle. Ich glaub, auf Malle trinkt und feiert man, hat lange Nächte und Sex, kurze Morgen, wenn überhaupt welche, unternimmt keine Ausflüge, es sei denn zu trinkfesten Orten. Okay. Ich fliege also nach Mallorca. Möglichst wenig TUN ist mein erklärtes Ziel!

Fühle mich nach wenigen Monaten Lehrtätigkeit an einer Schule ziemlich ausgepowert. Möchte begreifen, warum der Burnout-Kreislauf wieder angesprungen ist.

Ich sage gleich, dass da noch wenig Antwort in mir schwingt. Das ist wohl das Gemeine an diesem Symptom, dass es für die Betroffenen so schwer greifbar ist. Versuche zunächst, mit meinem inneren Antreiber in Kontakt zu kommen und ihm nicht jeden Wunsch zu erfüllen.

Und nun tue ich aus heiterem Himmel doch etwas, nämlich ein Buch schreiben. Sollte ich so etwas besitzen wie eine Was-ich-in-diesem-Leben-auf-jeden-Fall-noch-tun-werde-Liste, dann stand Schriftstellerin da nicht drauf.

Angefangen zu schreiben hab ich am 11. April 2017. Da hatten wir übrigens Vollmond, an dem es ja gern mal mystisch zugeht. Und vorhin hab ich ein Horoskop in der Zeitschrift Brigitte gelesen, das bis zum 11.04. Gültigkeit hat und in dem es für mich, einen Steinbock, heißt, dass Merkur nun endlich wieder lockerlässt und geradewegs Verwegenheit verbreitet. „Und weil manche Projekte Öffentlichkeit brauchen, sollten Sie jetzt auf die Bühne und richtig trommeln.“ Na hör mal!

Ich buche also vor einer Woche als Single ein Hotel mit Halbpension in der Goldbucht Cala d’Or.

Obwohl ich eine Frau bin, muss ich bei Gold längst nicht mehr an Schmuck denken, sondern an die Worte eines spirituellen Lehrers, der darauf aufmerksam macht, gerade in schwierigen Situationen zu erkennen, was das Gold daran sein könnte.

Dennoch hoffe ich, dass meine Prüfungen in diesem Urlaub nicht zu herausfordernd werden. Schließlich bin ich doch schon so ein guter Mensch und außerdem komme ich bereits mit einigen Sorgen im Gepäck oder wie ist das gemeint mit dem Gold?

Ich habe mittlerweile eine leise Ahnung, wie viele Herausforderungen und lockende Erlebnisse ich links liegen lasse, um nicht in schwierige Situationen zu geraten. So bleibt alles vermeintlich glatt und unverletzt, aber eben auch einsam und größtenteils langweilig. Trotz meiner Bemühung, Schwierigkeiten auszulassen, verletzt es dann manchmal aber doch.

So wie bei der letzten Beziehung, die als solche gar nicht heranreifen wollte, da sich der Mann nur in homöopathischen Dosen auf gemeinsame Treffen einlassen konnte. Eventuell litt er ganz arg unter den Symptomen eines Verlassenen und wollte sich ebenfalls vor erneuten Verletzungen schützen. Da mir dieses Weh allzu bekannt ist und ich diesen Mann sehr mochte, habe ich mich länger, als ich es von mir gedacht hätte, auf diesen schmerzhaften Prozess eingelassen. Nun bin ich allerdings gewissermaßen die Verlassene, auch wenn er sich gar nicht erst eingelassen hat. Die Hoffnung auf Heilung hat mich wohl überredet auszuharren.

Ich buche also ein herkömmliches Hotel, nicht etwa einen Club. Ich weiß doch schließlich selbst etwas mit mir anzufangen! Beziehungsweise will ich ja gar nicht so viel anfangen und womöglich meinen inneren Antreiber nach außen verlegen und die Animateure auch noch dafür bezahlen müssen.

Leise Zweifel an meinem gewählten Konzept steigen jedoch in mir auf, als ich eine Bucht besuche, in der sich auch der Robinson Club befindet. Lustige Stimmung von gemeinsamen Aktivitäten weht auf meine Seite herüber und in mir entsteht das Bild, wie in Clubs gegessen wird. An großen Tischen rückt man kunterbunt zusammen oder sogar an organisierten Singletischen für jene, die sich so offensichtlich in diese Gruppierung begeben wollen. Ich muss mir nicht vorwerfen lassen, dass ich das nicht wage. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich über Weihnachten und Neujahr eine ganze Singlereise gebucht und bin tatsächlich mitgefahren.

Also nochmals, das Etikett Single nicht nur beim Dinner, nein, auf der gesamten Reise, jedenfalls auf meiner Stirn. Denn nach wenigen Stunden, spätestens aber den ersten drei Tagen, gab es auffällig viele verklärte Blicke während der Mahlzeiten, Menschen flanierten Händchen haltend umher, saßen eng umschlungen in der Lounge oder verschwanden in zuvor nicht gemeinsam gebuchten Zimmern.

Mein Etikett erfuhr ein neues Label. Nun war dort flirtunfähiger Gefühlstrottel zu lesen. Meine Güte, hab ich das verdient? Habe mich selten falscher gefühlt als in einer Gruppierung, zu der ich doch eigentlich gehörte. Zu meiner Ehrenrettung mag ich anfügen, dass ich schlussendlich auf dieser Reise eine sehr nette Bekanntschaft gemacht habe, wenn auch ohne Flirtcharakter. Ja, ja, immer schön Sicherheitsabstand halten. Ich könnte mich ja sonst verletzen.

Hier in Cala d’Or habe ich ein Ambiente gewählt, wo weit und breit keine Verzückung winkt. Ich bin umzingelt von Paaren und Familien. Dass es auch Alleinreisende (Frauen) gibt, blende ich wohl eher aus. Ich habe mir allerdings auch Ruhe verordnet. Möchte keine schnellen Kontakte knüpfen, um dann beschäftigt zu sein oder, schlimmer, wieder einmal gelangweilt. Außerdem hab ich seit ein paar Wochen ein Experiment laufen. Wer meldet sich eigentlich bei mir, wenn ich mich nicht melde?

Da mir gern hohe Ansprüche vorgehalten werden, möchte ich das hier gleich mal bestätigen. Ich meine mit Melden nämlich keineswegs mehr oder weniger belanglose WhatsApps (oder wie ist der Plural?), womöglich in Form eines Sammelvideos wie beispielsweise jetzt zu Ostern, sondern einen persönlichen Kontakt, der sich für mich interessiert und sich mit mir verabreden möchte.

Für Cala d’Or bedeutet das Experiment, keine Leute anzuquatschen. Einfach mal abzuwarten, ob mich jemand anspricht oder gar fragt, ob ich mit ihm/ihr/ihnen zu Abend essen möchte.

Fehlanzeige.

Außer dem einen Ober, der, glaube ich, ein Herz für allein reisende Damen hat, hat mich bisher keine einzige Person angesprochen. Ich hingegen habe geschwächelt und mit einigen wenige Sätze ausgetauscht.

Erstaunlicherweise komme ich aber auch immer mehr zur Ruhe und mein Rede- und Kontaktbedürfnis nimmt ab. Ich verspüre tatsächlich so etwas wie angenehme Stille in mir.

Manchmal weiß ich gar nicht mehr, in welcher Sprache ich eigentlich schweige, da ich um mich herum Deutsch, Spanisch, Holländisch, Französisch, viel Englisch und andere Kombinationen aus Vokalen und Konsonanten höre, denen ich keine Sprache zuordnen kann.

Seitdem nun so urplötzlich dieses Schreibprojekt über mich gekommen ist, scheint das Schweigen und Beobachten fast zu meinem professionellen Werkzeug zu gehören. Ich brauch ja schließlich Stoff für die nächsten Seiten. Falls ich irgendwann nicht mehr genug durch die Stille erfahre, werde ich wohl auch mal wieder sprechen, und zwar mit anderen Menschen.

An meinem letzten Tag hier auf Mallorca hab ich’s dann noch mal gewagt. Ich hatte da bereits eine Dame im Auge, die mir sympathisch vorkam und ein Buch mit einem äußerst interessanten Titel las. Lesen tat sie übrigens bei Tisch, denn auch sie reiste singulär. Immerhin klingeln oder brummen Bücher nicht so penetrant wie diese kleinen Geräte, die gerade wieder größer werden und von denen kaum jemand seinen Blick lassen kann.

Ich sprach die Dame an und bat sie, mir den Inhalt des Buches zu erzählen. Darüber hinaus erfuhr ich, dass auch sie mich im Visier gehabt und ebenfalls den Gedanken gehegt hatte, mich anzusprechen.

Schon irgendwie eine komische Sache mit uns Menschen.

Wenn denn die überwiegende Tiefe meines Schweigens dazu beigetragen hat, meine Schreiblust an die Oberfläche zu bringen, sag ich nun doch mal was, und zwar: Reden ist Silber und Schweigen Gold – Cala d’Or eben.

*

2. Meditationserfahrung

Falls Sie auch manchmal lesen, was Sie denken, und nicht etwa, was wirklich geschrieben steht, verweise ich nochmals auf den Titel des Kapitels. Ich bezeichne mich nicht etwa als meditationserfahren. Ich möchte lediglich über einige Erfahrungen aus sogenannten Meditationen berichten und darüber, wie sich Verhaltens- und Sichtweisen ändern können oder eben leider auch nicht.

Zum Beispiel morgens in Cala d’Or. Der Ort könnte ein direkter Verweis auf das Sprichwort „Morgenstund hat Gold im Mund“ sein. In Bezug auf Meditation bietet sich da angeblich am allerbesten so was wie sechs Uhr oder für weiter Fortgeschrittene 4.30 Uhr an. Zu welcher Gruppierung ich gehören könnte, überlasse ich nun Ihnen. Jedenfalls hab ich mich so gegen 8.30 Uhr in der Bucht eingefunden. In der Hand die erste Tasse Kaffee, weshalb ein viel früherer Start auch gar nicht infrage kam, da es erst ab kurz vor acht Uhr Frühstück gab und damit Zugang zur Kaffeemaschine.

Ich glaube, ich erwähnte es schon. Mein Anliegen in diesem Urlaub war, möglichst wenig zu tun. Immerhin hatte ich nun vor, überhaupt eine Art von Meditation zu experimentieren, jedoch wollte ich von einem strammen Programm absehen. So gab ich mir weder eine Zeitspanne noch eine Technik vor. Offen gestanden, ist das bereits länger so der Fall.

Vielleicht animiert von den Yoga Praktizierenden, die bereits fleißig waren, als ich kam, und noch, als ich ging, balancierte ich mich auf porösem und spitzem Gestein aus, um einige Körperstreckungen in fast alle Richtungen zu unternehmen. Dann kramte ich meine unempfindliche graue Decke hervor, die schon einiges er- und überlebt hat und als Gesäßschutz auf dem scharfen Gestein dienen sollte.

Als ich gut gebettet in die sogenannte Meditation eintauchen möchte, bemerke ich, dass ich mich bereits jetzt sehr wohlfühle. Aha, meditiert zu haben, scheint keine Voraussetzung für ein Wohlgefühl zu sein. Ich erinnere mich an die Worte eines weiteren Meditationslehrers, die er eindrücklich des Öfteren wiederholte: „Praxis ist immer jetzt!“

Wow, sollte ich beim Treppensteigen, den Kaffee balancierend, die morgendliche Schönheit der Bucht bestaunend, und beim simplen Atmen etwa auch schon praktiziert haben?

Oder bin ich glücklich und zufrieden, einfach so?

Dennoch schließe ich die Augen und bekomme folgendes Erleben geschenkt. Obwohl ich mich, wie ich dachte, in einige Abgeschiedenheit hinausgewagt hatte, nahm ich mit dem Schließen der Augen und einem weit gestellten Gehör sehr viele verschiedene Geräusche wahr: den Zementmischer von der Finca gegenüber, Bruchteile der Anleitungen der Yogalehrerin, das Schlagen der Wellen auf den Strand, das Glucksen des Wassers, das weit unter die ausgewaschenen Felsen vordrang, diverses Vogelgezwitscher, Hundegebell, Herrchenrufe, Bootsmotoren, leisen Wind in den Pinien und Stille.

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich sonst umgehend versucht habe, mich auf die Stille hinter den Geräuschen zu fokussieren, um irgendwie Ruhe und Frieden zu finden. Jetzt bemerke ich, dass ich dadurch sehr viel getan habe, nämlich etwas in den Griff bekommen wollte, also im Tun war, was wiederum Anstrengung bedeutet hat. Wenn ich wirklich alles da sein lasse, fühlt es sich freier und leichter und natürlicher an. Vielleicht so, wie die Welt eben wirklich ist. Und das Tollste dabei: Ich muss nichts tun.

Nun möchte ich gleich wieder zurück auf den Teppich kommen. Ich nehme nämlich an, dass dieses Alles-da-sein-Lassen eine erste zarte Spur dessen ist, was tatsächlich alles da ist. Bisher habe ich nur einige äußere Geräusche erwähnt. Von dem, was sich in mir abspielt, also innerlich hörbar wird, ganz zu schweigen. Die Töne, Stimmen und Bilder in meinem Inneren sind wohl gegen das bisschen Gesumm und Gebrumm im Außen unerschöpflich und, ich sag’s gleich, manchmal auch unerträglich. Einiges davon bekommen sie ja hier zu lesen, ob es sie amüsiert oder nicht.

Es ist Ostersonntag. Ich wache von intensivem Glockengeläut auf. Um so richtig in Osterstimmung zu kommen, stehe ich auf, öffne die Fenster und werde noch kräftiger beschallt von dem Glockenschlag der beiden Kirchen, evangelisch und katholisch, in deren unmittelbarer Nähe ich wohne. Ist das gut oder schlecht oder zumindest geborgen und gut aufgehoben, so dicht an Gotteshäusern zu wohnen? Wieso eigentlich Häuser? Gibt es auch verschiedene Götter?

Wenn ich jetzt mal kurz in die Zukunft springe, in eines der nächsten Kapitel übers Wohnen, möchte ich sagen, dass ich in keinem der Häuser wohnen möchte. In dem einen noch weniger als in dem anderen. Sie sind groß, eher kalt und haben häufig einen Geruch an sich, der mich veranlasst, nur schmal zu atmen. Glockengeläut mag ich aber gern, vielleicht speziell, wenn ich es von daheim mit einem dampfenden und wohlriechenden Becher Kaffee in der Hand genießen kann.

Obwohl ich gar nicht drüber nachdenken wollte, bemerke ich plötzlich, wie gern ich jetzt etwas Bedeutsames spüren möchte. So in etwa, dass Ostern schließlich ein großer Feiertag ist und meinen Bezug dazu.

Etwas erschrocken stelle ich fest, dass ich nichts spüre. Zumindest steigt kein Jesusbild in mir auf oder Freude über sein Sein und sein Tun oder gar sein Auferstehen. Was in mir aufsteigt, ist eher die alte Bekannte mit dem Namen Einsamkeit. Was ich nämlich mit Ostern verbinde, ist eine feierliche, fröhliche, familiäre Zusammenkunft. Es gibt einen frisch gebackenen Osterzopf, von meiner Mutter gezaubert, und die Kinder suchen bei Sonnenschein Ostereier im Garten. Im Übrigen gab es tatsächlich Ostereier, nicht etwa Smartphones, iPhones oder elektronische Spiele, mit denen sich die Kinder dann für den Rest des Osterfestes in die Ecke verkrümeln. Der Sonnenschein war wohl nicht immer garantiert, gehört aber zu meinem verklärten Bild von Ostern dazu.

Butter bei die Fische, wie sieht mein Ostersonntagmorgen heute aus? Wie schon erwähnt waren die Glocken glücklicherweise verlässlich. Ansonsten regnet es wie aus Eimern. Ostereier habe ich mir gestern selbst gekauft und immerhin noch nicht alle aufgegessen. Eventuell gibt es ein paar Oster-WhatsApps (die ich dann in der Not doch annehme), und wenn ich jetzt gleich noch die Kurve kriege, gibt es sogar einen Osterzopf. Die Zutaten hätte ich jedenfalls da.

Jetzt mal im Ernst. Ich spiele lediglich gern mit Ironie. Blasphemie ist hier in keiner Weise mein Anliegen. Es ist wohl lediglich so, dass ich, warum auch immer, zur Tiefe des Christentums über den Weg des Christentums keinen Zugang finde. Ich glaube (oder eben eher weniger), dass ich Worte und Abbildungen schlicht nicht verstanden habe.

So auch nicht zu dem heutigen Thema, vom Kreuze auferstanden. Mich schüttelt es einfach beim Anblick des gekreuzigten Jesu, und das mittlerweile immer häufiger, seit ich nach Süddeutschland gezogen bin, wo diese Abbildungen wesentlich zahlreicher meinen Weg kreuzen.

Dennoch scheint es mir eindeutig, dass auch ich nicht ohne Leitfaden sein kann. So erkläre ich mir meine Begegnung mit der buddhistischen Lehre. Hier erfuhr ich im Außen zunächst Schönheit. Altäre mit Buddhastatuen, die in ihrer gesamten Erscheinung Frieden ausdrücken. Das, was ich inhaltlich hören durfte, waren Worte von westlichen Lehrern, die mit ganzer Hingabe die buddhistische Lehre für uns Westler verständlich vermittelt haben, sodass ihr Inhalt für unseren Alltag hilfreich sein möge.

So nahm ich denn auch nach relativ kurzer Zeit Zuflucht in Buddha, Dharma und Sangha. Das verstehe nun, wer mag. Lax ausgedrückt heißt das, dass ich, die sich sonst lieber in fast nichts festlegen will, einem Verein beitrete und mit den Statuten einverstanden bin.

Bis heute habe ich meinen Entschluss nicht bereut, was ich besonders erwähnenswert finde, da ich gern Themen wechsele, wenn es langweilig oder schwierig wird. Vielleicht weil es schwieriger im Sinne von herausfordernd wurde, ist es mir noch nicht langweilig. Die Schönheit und der Frieden im Inneren sind dann häufig nicht ganz so leicht herzustellen, wie einen Altar im Außen fein zu schmücken und herrlich aussehen zu lassen. Dennoch kann der Blick auf Gegenstände durchaus auch unser Inneres berühren, abhängig davon, ob wir es hineinlassen.

Okay. Okay. Und stopp. Möchte nicht in Formulierungen verfallen, die sich so anhören, als wüsste ich, wie es ist oder wie es geht. Wesentlich spannender, und das wünsche ich mir auch von anderen zu erfahren, finde ich nicht reproduzierte angelesene Weisheiten, sondern selbst Erlebtes, Erfahrenes und Erspürtes.

Ab und zu besuche ich Retreats, die in sogenanntem edlen Schweigen stattfinden und zu deren Praxis auch Gehmeditationen im Freien gehören. Während eines Retreats hat mich folgendes Erleben wachgerüttelt. Mir war zwar bereits bekannt und, wie ich dachte, auch eingehend verständlich, dass unser Weg an Krankheit, Alter und Tod nicht vorbeiführt. Als ich aber nun so am x-ten Tag schweigend auf dem Feld meine Schritte voreinander setze, durchfährt es mich aufs Heftigste wie aus dem Nichts, dass ich auf gar keinen Fall altern möchte, von Krankheit und Tod mal ganz zu schweigen.

Es gibt Situationen in meinem Leben, in denen ich gern wüsste, wie weinen und lachen zugleich funktioniert. Zum einen war ich schockiert und traurig, dass auch ich von dem Verfall des Körpers betroffen sein soll. Zum anderen hätte ich mich ausschütten können vor Lachen, dass ich groteskerweise tatsächlich annahm, nicht an der Unversehrtheit meines Körpers anzuhaften. Und ob ich das tue! Und ja, natürlich vergeht mein Körper und das dokumentiert mir der Spiegel täglich. Und wenn ich gerade nicht in den Spiegel schaue, dann sind es Schmerzen oder Leistungsabfall, was schmerzhafte Auswirkungen derselben Wahrheit sind. Das nenne ich Aufwachen. Von der unbewussten Annahme in die gefühlte Wahrheit zu wechseln, ohne sie sogleich wieder schönzureden. Wie? Jetzt nicht zackig alle möglichen Ratgeber konsultieren? Wie bleib ich jung, schön, gesund, attraktiv, geschmeidig, unversehrt, erfolgreich oder wie werde ich es zumindest endlich?

Wie gesagt, die Erkenntnis, dass die Theorie auch in meinem Leben und an mir Wirklichkeit wird, ist schockierend, aber nicht abwendbar.

2009 wurde ich in ein Meditationszentrum in Berlin berufen. Es war drei Wochen nach dem Begräbnis meiner Mutter, als ich auf einmal mitten in Berlin in diesem Zentrum lebte, arbeitete und buddhistische Praxis kennenlernte. Hatte ich als Ersatz für meine Mutter eine Sangha geschenkt bekommen, also eine Gruppe von Menschen, die gemeinsam praktiziert, sich dabei unterstützt und damit auch mich? In deren Mitte ich einen Anker finde, um nicht in dieser Welt unterzugehen, schwer enttäuscht, wie ich war, von dem Wie des Ablebens meiner Mutter? Wenn ich „berufen“ schreibe, will ich damit ausdrücken, dass mich etwas dahin geführt hat. Anders kann ich es beim besten Willen nicht erklären, denn auf einmal war ich dort.

Der Morgen begann um sieben Uhr mit einer einstündigen Meditation. Das hätte ich aus eigenem Antrieb nie getan und tue es auch heute nicht mehr. Meditation, erfuhr ich, ist keine Magie. Dennoch wirkte diese regelmäßige Praxis in der Gruppe Wunder. Ich wurde allmählich entspannter und ruhiger. Nach morgendlicher Praxis ging es in die Küche des Cafés, das dem Meditationszentrum angeschlossen war. Wir schnippelten und verwandelten frische biologische Lebensmittel bis zwölf Uhr in eine Suppe und zwei Hauptspeisen. Auch hier galt es, die Praxis immer jetzt wach zu halten. Also kochten und sprachen wir achtsam. Da das mit dem achtsamen Sprechen nicht so einfach ist, schwiegen wir häufig. Unsere schmackhaften Ergebnisse wurden zunächst dankbar von Mitarbeitern der umliegenden Büros und später von der Sangha verköstigt, die zu Meditationsübungen oder Vorträgen kam.

Je nach zeitlicher Möglichkeit hab ich dann vom Kloputzen, Fegen und Wischen, Kochen, Servieren, Bedienen und Küche aufräumen ebenfalls in die Meditationsräume gewechselt. Um mir hier jetzt keinen Heiligenschein zu verordnen, gebe ich zu, immer wieder mal den Weg in die Geschäftigkeit des Alexanderplatzes und darüber hinaus gewählt zu haben.

Das Meditationszentrum hat die Form eines Atriums. Im offenen Innenhof stehen Bänke, auf denen man ausruhen, kontemplieren und – wohl ganz wesentlich – den Stupa (bitte nachschlagen) betrachten kann. Als ich an einem meiner ersten Abende im Zentrum auf der Bank verweilte, ging mein Blick an allem im Hof vorbei und hinauf in die Weite des Himmels – ach nee, doch nicht, ich war ja in Berlin. Wir waren ringsherum umzingelt und vielleicht auch ein wenig bedroht von Hochhäusern. Gegen Ende meines Aufenthaltes saß ich wieder einmal auf dieser Bank und durfte spätestens da bemerken, dass wohl jegliche Empfindung vom Betrachter kommen muss, denn auf einmal sah ich dieselben Hochhäuser, die uns nun zu beschützen schienen.

Mein Vater lebte damals noch. Obwohl er schon nicht mehr so gut zu Fuß war, wollte er mich unbedingt besuchen kommen und schauen, wo ich denn da nun hingeraten war. Ich glaube, er war in Sorge, ich könnte auf Abwegen sein. Während mein Vater früher sehr viel mit sich und seiner Karriere beschäftigt war, habe ich in späteren Jahren an ihm wertgeschätzt, dass er nachfragte. Lange, große Reden, das war nicht sein Ding. Aber er wollte wissen, wie es mir ging, und verschaffte sich Gewissheit. Das hat mich berührt. Er traf mich gesund, munter und mit klarem Geist an. Dass ich in meiner kleinen Kemenate nicht besonders pompös wohnte, schockte ihn wohl eher nicht, da er in Zeiten und Umständen aufgewachsen war, in denen er sich auch mit Einfachem begnügen musste. Vollends zu beruhigen war er dann durch das leckere Essen aus dem Café, auch wenn es fleischlos war.

Ich hatte bereits seit einiger Zeit vegetarische Kost bevorzugt. Für mich bedeutet das, weder Fleisch noch Fisch zu essen. Aber auch keine Schnecken oder sogar Insekten, wenn diese schon Bestandteil unseres mitteleuropäischen Speiseplans wären. Nun, im buddhistischen Zentrum ist es sogar bequem, sich derart zu ernähren, da dort eben ausschließlich vegetarisch gekocht wird. Warum? Weil es zur buddhistischen Ethik gehört, nicht zu töten. Ich höre jetzt quasi viele passionierte Fleischesser im Chor rufen, dass sie noch nie ein Schwein geschlachtet hätten. Also, worum geht’s?

Ich habe mich immer wieder mit Regeln beschäftigt, denn ich mag sie nicht. Sich blind Regeln zu unterwerfen, finde ich, macht rigide, starr und sehr wahrscheinlich sogar dumm. Also braucht es einen anderen Umgang. Die Leitfrage könnte lauten: Auf welche Weise bin ich durch mein Verhalten mitverantwortlich für das, was in dieser Welt geschieht?

Die Antwort ist simpel, wenn auch zunächst nicht beglückend, nämlich: An allem bin ich mitverantwortlich. Fürs Fleischessen bedeutet das, die gesamte Entstehungskette in Kauf zu nehmen und mitzuverantworten, bis mein Stück Fleisch auf dem Teller liegt oder eben die Würstchen im Brötchen klemmen. Ebenso bedeutet es, jegliche Konsequenzen und Auswirkungen, zum Beispiel auf die Umwelt, mitzutragen. Ich habe mich vor einigen Jahren mit dem Satz konfrontiert, dass ich Fleisch und Fisch essen könne, wenn ich die Tiere selbst töte. Das habe ich bis heute aber nicht getan.

Jetzt kommt wieder die Anmerkung, die den Erwerb des Heiligenscheins in die Ferne rücken lässt. Das Nicht-Töten der Tiere bezieht sich selbstverständlich auch auf all jene, die ich nicht verzehre, und das schaffe ich nicht. Der Waldspaziergang über Ameisenstraßen, die verletzten Regenwürmer beim Gärtnern, das schnelle, unbewusste Zuhauen bei Stechmücken, Schnaken und Konsorten bleibt eine große Herausforderung.

Hier noch eine kleine Anekdote aus den eigenen Reihen, die deutlich machen kann, wie schmerzlich es sein muss, Tiere zu verzehren, besonders jene, die man kennt und lieb gewonnen hat.

Es war wohl um Ostern herum und wir waren mit unserer Tochter essen. Die saisonale Karte beinhaltete Kaninchenbraten, ein ebensolch niedliches Wesen, wie unsere Tochter es auch daheim im Stall umhegte und pflegte. Als sie mitbekam, dass wir Kaninchen essen könnten (damals aß ich noch nicht vegetarisch), hat sie einmal tief Luft geholt und uns sehr entschieden mitgeteilt, dass sie nie wieder mit uns reden würde, wenn wir das täten.

Klar, das haben wir dann lieber nicht riskiert.

Ich glaube, sie hat anschließend ein Schnitzel bestellt. Damals war sie fünf. Ich möchte hoffen, dass ihr die Krux an der Geschichte heute, gute zwanzig Jahre später, auffallen würde.

Sitze meditierend mal wieder am Mittelmeer. Dieses Mal auf italienischem Grund. Da ich mit Rückenweh reise und sich besonders morgens diese unangenehme Steifheit bemerkbar macht, unangenehm, weil ich mich dann alt fühle, beginne ich den Tag mit ein paar Schüttlern, mit Schlenkern und mit Streckungen. Heute gab es noch halbe weibliche Liegestütze dazu, wahrscheinlich um am Arm das wettzumachen, was der untere Rücken grad nicht mehr hergibt. Erst im Sitzen, beim Atmen und allmählichen Ruhigwerden bemerke ich erneut (wie zuletzt in Spanien beim Meditieren), dass ich mit meinem mir selbst auferlegten Morgenprogramm total beschäftigt bin. Jetzt wo ich sitze, höre ich erstmals an diesem Morgen das Meer zu mir herauf sprechen (sitze auf 300 Metern Höhe).

Diese völlig unbewusste, dominante Form des ICHs hatte zuvor wieder einmal übernommen. Das ewige mein Leben bestimmende ICH: Ich habe Durst, ich brauche etwas zu trinken. Ich habe Hunger, wo gibt es etwas Vegetarisches zu essen? Ich habe Rückenweh, was braucht es, um den Schmerz zu lindern, denn ich will ihn nicht. Ich fühl mich hier oder da nicht wohl, ich will weg. Ich bin müde, ich mag nach Haus in mein Bett. Ich bin nicht amüsiert, wer spricht so, dass es mich anspricht. Ich friere, ich schwitze, ich brauche Ruhe, ich muss mich dringend bewegen ... ICH schwöre, ich könnte mit diesem anstrengenden Zeug das Buch füllen.

Das Alleinreisen scheint die Voraussetzung für das Entstehen dieses Buches zu sein. Ich begebe mich auf die Reise, spreche extrem wenig, schon allein deswegen, weil ich die Landessprache nicht verstehe, und nehme dadurch viel wahr. Die innere Stimme wird laut und zusätzlich dreht der Bewerter meiner Gedanken so richtig auf. Das alles zusammen genommen mag dann mal irgendwohin, und irgendwohin ist eben dieses Buch.

Wenn ich jetzt so sitze und die Geräusche durch mich hindurchfließen können, bin ICH zwar immer noch da, denn sonst würde ICH es wohl nicht bemerken, aber zumindest fühlt es sich weniger anstrengend an.

Wie wäre es wohl völlig ohne (M)ICH?

Auf jeden Fall würden noch einige der Ameisen leben, die ich bis zu meiner ersten yogischen Vorbeuge übersehen und totgetrampelt habe. (Während ich das schreibe, klatscht es am Nachbartisch und diese Handlung wird von einem anderen mit „Mörder“ kommentiert. Ja, es ist überall ...)

Hätte ich ohne MICH auch keine Angst?

Aus dem umliegenden Gebüsch kamen nämlich gestern Abend und heute Morgen einige kräftigere Geräusche, die kein inneres Bild eines kleinen Piepmatzes zuließen. Sofort sah meine Fantasie oder meine Angst mindestens ein Wildschwein oder gar einen Bären! Gäbe es diese Bilder auch ohne MICH?

Ich bleib für heute Morgen einfach mal bei der Erfahrung, gehe duschen und dann frühstücken, und zwar allein. Im besten Fall fühle ich mich mit mir dabei nicht einsam.

*

3. Wir sind alle eins!

Ohne Sch...ß, ich hab das Einssein für Bruchteile von Sekunden schon mal gespürt. Ja, wirklich! Das Herz war offen, Zweifel weit und breit nicht im Anmarsch, erdverbunden mit tiefen, gesunden Wurzeln, Feinde nicht existent, Freunde aber auch nicht, einfach nur totale Stille und tiefer Frieden. Übrigens, dieses überaus kurze, wenn auch sehr schöne Gefühl, war das Ergebnis anstrengender Stunden oder auch Tage der Gehirnwäsche. Das Seminar hieß so in etwa „Mini-Enlightenment“, was auf Deutsch „Kleine Erleuchtung“ heißen könnte. War es dann ja auch! Was man/frau nur wissen muss oder eben dann weiß ist, dass Erleuchtung kein anhaltender Zustand ist.

Hier auf Mallorca geht mir der Wunsch, als Single in familiärer Atmosphäre mit allem eins sein zu wollen, innerlich so rauf und runter. In einer Schreibpause sitze ich am Pool bei amerikanischem Kaffee und Mandelkuchen. Kuchen ist nur einer im Angebot. Glücklicherweise mag ich den. Als dieser so in meinen Magen sinkt und später auf meinen Hüften liegen bleiben wird, denn Sport ist gerade ein Fremdwort, fällt mein Blick auf dicke Oberschenkel mit Orangenhaut. Einerseits empfinde ich das nicht als appetitanregend, esse das Stück Kuchen dennoch zwanghaft weiter. Nur das zweite, das sich bereits in meinem Gierkopf abzeichnet, verkneife ich mir.

Beim Anblick der Oberschenkel möchte ich mich eindeutig in Trennung befinden. Damit bin ich doch nicht eins, sondern weit davon entfernt, oder? Beim Bauch schaut’s schon anders aus. Wenn ich den meinen nicht einziehe, wird’s mir zu weiblich.

Neulich hab ich einer Frau mit einem schönen Satz hilfreich sein können. Sie denkt seit Langem, dass ihr Bauch zu umfangreich ist. Den Satz „Ich wende mich meinem Bauch liebevoll zu“ hab ich mir dann gleich selbst notiert.

Immerhin fällt mein Blick jetzt, am gleichen Pool auf Mallorca, auf die Figur einer Frau, die mit altersgemäßen Rundungen daherkommt und wunderschön aussieht. Sollten das erste milde Seiten an mir sein, die mir diesen Blick ermöglichen? Ich bin so und so alt. Die Natur hat mich reich beschenkt, was tatsächlich mal nicht ironisch gemeint ist. Häufig fühle ich mich jünger, manchmal so alt, wie ich bin, und schon auch immer mal wieder älter, nämlich dann, wenn der Körper schmerzt.

Schreiben, aussprechen und benennen lohnen sich. Schon trägt meine neue Schreiblust Früchte. Kaum habe ich erwähnt, so gut wie keinen Sport zu treiben, habe ich den hoteleigenen Fitnessraum entdeckt. Die einzige Maschine, die blinkend mit mir kommuniziert, ist das Laufband. Ich habe ihr mein wahres Alter, mein aktuelles Gewicht und meinen zwölfminütigen Laufwillen anvertraut. Wäre es jetzt nicht schon nach dem Abendessen inklusive Dessertbuffet, hätte ich 80 Kilokalorien runter.

Gier beschränkt sich natürlich nicht nur aufs Essen. Auch shoppen kann man hier. Diese Erkundung unternehme ich gleich am ersten Abend, nachdem mir beim Auspacken aufgefallen ist, dass der Koffer zwar voll war, jedoch keine Kleidung hergab fürs Abendessen, und schon gar nicht für einen Feiertag wie den Karfreitag.

Allemal genug Gründe also, wenn frau sie denn überhaupt braucht, , um sich abends noch mal schnell durch die Boutiquen zu scannen. Amüsiert und auch interessiert probiere ich mich in einem Laden durch etliche Kleider.

Plötzlich höre ich eine innere Stimme, die mich klar und scharf anweist, den Laden sofort zu verlassen, und zwar ohne etwas zu kaufen, wenn ich denn nicht wie eine Engländerin aussehen möchte.

Puh. Diskriminierend! Dennoch glaube ich der Stimme, verlasse den Laden und bin gleichzeitig geschockt. Wie sieht denn eine Engländerin aus? Irgendetwas rumort tief in mir. Kann es kaum in Worte fassen, den Stil, den ich offensichtlich damit verbinde. Da ist sie wieder, die Trennung. Die Engländerinnen und ich! Glücklicherweise kann ich hier anfügen, dass ich sie irgendwie mag. Ich möchte sie gern neugierig erforschen, diese mir erstaunlich fremden Wesen von gar nicht so weit her.

Nach so viel Nicht-eins-sein-Erlebnissen, zumindest mit anderen Menschen, unternehme ich ein tollkühnes Abenteuer.

Ich begebe mich am folgenden Tag an den Strand und lege mich mittenmang in den Sand zu allen anderen. Es fühlt sich an wie ein Hinabsteigen. Ich bin ein Steinbock, ein hochherrschaftliches Tier, das typischerweise oben auf dem Berg, wenn auch allein, über fast allem thront. Kaum liege ich da, schließe ich die Augen und bedecke mein Haupt mit einem Sonnenhut. Und schon geht es los. Durch diese Abdunkelungsmaßnahme fühle ich mich sofort wieder getrennt und auf Distanz zu den anderen. Vor meinem inneren Auge beginnt sich sogar ein Film abzuspielen. Ich liege auf einer runden Platte, die sich langsam drehend nach oben schraubt und mir so einen Überblick verschafft über das Getümmel und das Stimmenwirrwarr um mich herum. Hier bin ich nur noch Beobachterin, nicht mehr eine von vielen in der Menge.

Klar, im Essenssaal sitzen wir alle gemeinsam in einem Raum (wenn ich es denn dort aushalte). Fühlen tue ich mich aber eher wie eine Leprakranke, deutlich getrennt platziert von den gesunden Organen, genannt Paar und Familie.

Mittlerweile entwickele ich Varianten. Einmal hab ich mir einen Salat mit aufs Zimmer genommen und es mir auf dem Balkon festlich hergerichtet. Habe mit der Atmosphäre versucht wettzumachen, was das Essen hier nicht hergibt. Von Nudeln möchte ich abraten. Al dente scheint hier eine andere Übersetzung zu finden, in etwa: alles ganz lange weich kochen. Die zweite Variante hab ich noch nicht gewagt. Am liebsten würde ich nämlich in der Dämmerung am Strand dinieren. Noch getraue ich mich das allerdings nicht, da ich befürchte, dass das sehr viel Extrawurst bedeuten würde. Vielleicht ist das ein Plan für meinen letzten Abend. Da ich nämlich am nächsten Morgen noch vor dem Frühstück abreise, kann ich von den musternden Blicken nicht mehr berichten.

Da ich immer so auf Heilung und Fortschritt in meinem Leben erpicht bin, kann ich Folgendes aus meinem nächsten Singleurlaub berichten. Eigentlich habe ich ja ganz normal Sommerferien. Leider drückt da aber in meinem Inneren, dass die Ferien gar nicht enden werden, da ich meinen Vertrag an der Schule nicht verlängert habe.

Um nicht völlig ins Leere zu rutschen und so ganz ohne Plan zu sein, buche ich sehr rechtzeitig ein paar Tage auf einem Bioweingut in der Toskana, und das, obwohl ich den Alkoholkonsum sehr mäßig bedienen möchte.

Dieses rechtzeitige Buchen passt nicht mehr wirklich geschmeidig in mein Leben. Alles scheint so schnelllebig und Interessen wandeln sich wie im Handumdrehen. Dennoch entschließe ich mich zu diesem Schritt, um nicht womöglich den gesamten Sommer in meiner 48-Quadratmeter-Wohnung zu versacken und dann mit Sicherheit depressive Phasen zu durchleben.

Dieser Aufenthalt auf dem Weingut ist mein nächster Singleurlaub mit mir allein nach dem Experiment auf Mallorca. Und siehe da! Obwohl tatsächlich für mich allein gedeckt wurde beim Vier-Gänge-Abendessen, werde ich direkt von meinem Nachbartisch, einem Paar, abgeworben und zum gemeinsamen Speisen eingeladen. Wenn Bücher Töne vermitteln könnten, wäre jetzt ein ganz tiefes Aufatmen hörbar.

Keinesfalls hätte ich das Vier-Gänge-Menü plus Pausen dazwischen allein auf meinen Teller schauend verbringen wollen mit all meiner Scham und deutlich weniger anonymen Sitzplatzabständen als auf Mallorca.

Also, prima! Am ersten Abend ist der Kelch an mir vorübergegangen. Auch der zweite und dritte Abend waren lustig und kommunikativ in größerer Runde. An meinem vierten und letzten Abend, denn ich hatte mich nicht nur wegen der restriktiven Sitzordnung zur früheren Abreise entschieden, hat es mich noch einmal erwischt. Es war für mich allein gedeckt und dabei blieb es auch. Ich saß Schulter an Schulter mit einer italienischen Dame an einem Tisch. Unsere Sprachkenntnisse ließen keine verbale Kommunikation zu. Und da wir noch nicht Händchen hielten, entfielen alternative Kommunikationsvarianten ebenfalls. Um uns herum waren zwei Tische bunt besetzt, an denen gesprochen und gewitzelt wurde sowie zugeprostet mit einigen spannenden Jahrgängen des Weingutes.

Das Ganze ist mir dermaßen auf den Magen geschlagen, dass ich kaum etwas aß, zwischendrin rausging und auf das Dessert schließlich verzichtete. Abgefahren bin ich auch hier noch vor dem Frühstück.

Mehr im Nicht-eins-Sein kann frau sich wohl kaum fühlen. Ich habe größtes Mitgefühl mit mir selbst. Irgendwie bin ich das Alleinreisen satt. Es braucht ganz gewiss eine andere Organisationsform und viel weniger Regeln, auf jeden Fall aber eine freie (Sitz-)Wahl!

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4. Der Irrsinn von geschlossenen Räumen

Nun sitze ich in der Abflughalle von Palma und fühle mich, als hätte ich bereits heute Morgen die Wanderung nachgeholt, die ich während der gesamten Urlaubswoche ausgespart habe, denn ich musste ja schließlich schreiben! Mir fehlt jetzt hier der Smileybutton.

Was für eine Maschinerie! Welch lange Wege und Vielzahl von Touristen am frühen Morgen!

Ich versetze mich gerade in die Insel. Wenn ich Mallorca wäre, bräuchte ich ein sehr solides Fundament, um so viel Besuch, ständiges Kommen und Gehen, Mitbringen und – eventuell noch schlimmer – Dalassen von Energien verkraften zu können.

---ENDE DER LESEPROBE---