Irgendwo ist immer Süden - Marianne Kaurin - E-Book

Irgendwo ist immer Süden E-Book

Marianne Kaurin

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Beschreibung

m letzten Schultag soll jeder aus der Klasse von seinen Plänen für die Sommerferien erzählen. Alle verreisen. Ins Ausland. Inas Mitschüler sind geradezu versessen aufs Ausland – es gibt sogar einen Wettstreit, wer schon in den meisten Ländern war. Als Ina an der Reihe ist, pocht es in ihrem Bauch, fast ganz oben beim Herzen. Und dann hört sie sich vor der Klasse sagen, sie würde in den Süden fahren. Nur, um dazuzugehören, dabei hat ihre Mutter für einen Urlaub gar kein Geld. Jetzt gibt es kein Zurück mehr: Damit die Lüge nicht auffliegt, bleibt Ina ab dem ersten Ferientag von morgens bis abends in ihrem Zimmer. Bis der Neue aus ihrer Klasse, der in derselben Siedlung wohnt, Ina am Fenster entdeckt und ihr einen verrückten Vorschlag macht …

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Marianne Kaurin

Heute ist der letzte Tag. Nur noch ein paar Stunden. Dann ist Schluss.

Aber es ist kein Schluss, bei dem man weinen muss. Es kommen keine Axtmörder oder Meteoriten oder Epidemien. Das hier ist ein guter Schluss. Die meisten haben sich darauf gefreut. Haben die Wochen im Kalender durchgestrichen, ihre Koffer gepackt und Sandalen gekauft. Sich eine schicke Sommerfrisur schneiden lassen. Ich habe auch gesagt, dass ich mich freue. Das wird so cool, habe ich gesagt und ausgerechnet, wie lange es noch dauert.

Ich habe schon immer gern Dinge gezählt. Tage und Minuten. Haargummis, Farbstifte, Freunde. Irgendwie fange ich ganz automatisch damit an. In meinem Mäppchen stecken vierzehn lila Buntstifte, obwohl meine Lieblingsfarbe Blau ist. Es sind achtundsechzig Treppenstufen vom vierten Stock bis runter in den Hof, zweiundvierzig Schritte bis zu dem hässlichen Schild mit der Aufschrift Willkommen im Tyllebakken Bauverein.Ich habe schon mehr als viertausend Tage gelebt. Ich habe in sechs Wohnungen gewohnt. In drei Städten. Bin in fünf verschiedene Klassen gegangen. Ich hatte drei Freunde, deren Namen mit einem M anfingen. Mit keinem von ihnen habe ich mehr Kontakt, aber M ist mein Lieblingsbuchstabe. Deshalb passt es auch so gut mit Maria.

Wenn mich jemand fragen würde, wie viele Schritte es von der Turnhalle bis zum Klassenzimmer sind, wüsste ich die Antwort. Und genau da bin ich gerade. Direkt vor der Turnhalle, auf dem Weg zum Klassenzimmer. Der Asphalt glüht, die Flagge am Mast ist gehisst. Mathilde und Regine lehnen sich gegen den Zaun der Mittelschule, als ob sie nicht schnell genug dort anfangen könnten. Sie stehen in der Gruppe, in der jeder gern stehen will. Sie sind die Gruppe. Alle tragen enge Tops und haben lange Haare. Regine hält ihr Handy hoch, um die ganze Clique auf ein Bild zu kriegen. Sie lachen, haben Spaß.

Ich schließe den Mund, als ich vorbeigehe. Es ist besser, nur im Kopf zu zählen, denke ich und beobachte Mathilde, die mit Kussmund vor der Kamera posiert, bevor sie sich wieder zu den anderen dreht.

Da drüben ist Markus, am Fahnenmast bei den Jungs. Er hat ein rotes T-Shirt an und ist schon richtig braun an den Armen und im Gesicht. Ich höre sein Lachen bis hierher, obwohl ich noch über sechzig Schritte von seiner schönen Stimme entfernt bin. Eigentlich sollte ich laut zählen, wenn ich an ihm vorbeigehe, einfach nur damit er meine Existenz bemerkt. Aber dann wäre ich für alle die Komische, und das wäre nicht wirklich besser, als die Neue zu sein.

Am Eingang stehen Johanne und ein paar andere Mädchen aus der Klasse und schauen sehnsüchtig zu den Schaukeln. Johanne hat noch ihren Fahrradhelm auf und eine Jacke an, obwohl es vierzig Grad sind. Sie reden von irgendeinem Pfadfinderlager, in das sie in den Sommerferien wollen, das wird so toll. Vielleicht könnte ich mich zu dieser Gruppe dazustellen. Im Lager dabei sein. Aber ich träume mich rüber zum Fahnenmast und zur Mittelschule, zu denen, die mich wirklich hochziehen könnten.

Also sage ich wieder einmal nur Hi und laufe schnell durch den Eingang, die Treppen hoch in den zweiten Stock und ins Klassenzimmer, dessen Fenster zum Schulhof zeigen. Das immer still ist, immer wartet.

Ich habe mich gerade ans Fenster gestellt, von wo aus ich einen perfekten Blick auf einen gewissen Fahnenmast habe, als plötzlich die Tür aufgeht und ein Kopf voller Locken erscheint. Ein Junge.

»Hi.«

Nur sein Kopf guckt herein, er lächelt mich mit großen Augen an. Ich habe ihn noch nie vorher gesehen und bleibe zögernd am Fenster stehen.

»Ist das hier die 6a?«

Er macht einen Schritt zurück, schließt die Tür und öffnet sie wieder. Wahrscheinlich hat er auf den Stundenplan geschaut, der draußen hängt.

Ich nicke. Gehe schnell zu meinem Platz und setze mich. Tue so, als ob ich mit etwas Wichtigem beschäftigt wäre, krame in meinem Mäppchen.

»Wie heißt du?«, fragt er und betritt das Klassenzimmer. Blickt sich um und lächelt. Als ob er noch nie zuvor in einem Klassenzimmer gewesen wäre, als wäre unseres vollkommen anders und tausendmal spannender als ein ganz normales norwegisches Durchschnittsklassenzimmer. Er hat eine Hand in der Hosentasche, in der anderen hält er eine Kappe. Das T-Shirt zeigt einen Aufdruck vom Zoo, und die kackbraunen Shorts sind ihm viel zu groß, hängen wie eine Baggy unter der Hüfte, aber auf uncoole Weise. Seine Füße stecken ohne Socken in irgendwelchen Stoffschuhen, die vor hundert Jahren bestimmt mal weiß waren. Die Beine und Arme sind dünn und bleich, die Locken tanzen auf seinem Kopf auf und ab, selbst wenn er sich nicht bewegt.

»Ina«, antworte ich.

»Aha«, sagt er und lächelt noch breiter. Sein einer Schneidezahn ist schief. »Ich bin Vilmer.«

Mehr sagt er nicht, guckt mich nur an. Als würde er darauf warten, dass ich ein Gespräch anfange, als wäre es meine Aufgabe.

Ich könnte fragen, was er in unserem Klassenzimmer macht oder ob er den Zoo mag und überdimensionale Shorts, aber ich komme nicht dazu. Denn jetzt klingelt es, und vier Sekunden später steigt der Lärmpegel in der Klasse bis in den Himmel. Vilmer lehnt sich ganz hinten gegen die Wand. Die anderen scheinen ihn nicht mal zu bemerken, alle lachen, albern herum und reden aufgeregt durcheinander. Denn heute ist der letzte Tag. Bald ist Schluss. Noch drei Stunden mit unserer Lehrerin Vigdis, und dann heißt es Sommerferien.

Die Sommerferien dauern vierundfünfzig Tage. Ich habe es im Kalender abgezählt, der am Kühlschrank hängt. Vierundfünfzig Tage entsprechen eintausendzweihundertsechsundneunzig Stunden. Oder siebenundsiebzigtausendsiebenhundertsechzig Mi- nuten. Die Sekunden habe ich noch nicht ausgerechnet, aber es sind sicher viele. Vielleicht mehrere Millio- nen.

Jetzt steht Vigdis vor uns, am allerletzten Tag in der 6a. Zu diesem besonderen Anlass hat sie extra ein hellgelbes Kleid angezogen und reichlich Schminke aufgetragen. Die Lippen glänzen rosa, die Haare thronen als pilzartiges Knäuel auf dem Kopf.

»Willkommen, ihr Lieben, zu eurem letzten Tag als Sechstklässler«, sagt sie feierlich und lässt den Blick über das Klassenzimmer schweifen wie eine Königin, die zu ihren Untertanen spricht.

Sie nimmt ihre runde Brille ab und steckt sich den Bügel in den Mund, was sie ungefähr alle zwei Minuten tut. Und weil sie so oft an ihrem Brillengestell nuckelt und solche Unmengen von Lippenstift benutzt, ist sie oft rosa hinter den Ohren. Viele in der Klasse finden Vigdis blöd. Machen ihren schaukelnden Gang nach und lästern über ihre langweiligen Kleider. Vigdis scheint es nicht zu stören. Einmal hat sie Markus dabei erwischt, wie er sie nachmachte. Er watschelte im Klassenzimmer herum und gackerte wie ein Huhn, während Vigdis in der Tür stand und ihm zuguckte. Markus war ziemlich verlegen, aber Vigdis lachte nur.

»Kikeriki, kikeriku, das Huhn bist du«, sagte sie und lief in ihrer selbstreflektierenden Sicherheitsweste, unter der man deutlich ihre Hängebrüste sieht, zur Pausenaufsicht nach draußen.

Jetzt deutet sie zur Wand auf der gegenüberliegenden Seite des Klassenzimmers, und alle drehen sich um. Ein Flüstern geht durch die Reihen, als die anderen den unbekannten Jungen in seinen hässlichen Klamotten entdecken. Die Leute in meiner Klasse nehmen es sehr genau, was Kleidung betrifft.

»Da bist du ja«, sagt Vigdis zu dem Jungen, der sich als Vilmer vorgestellt hat. »Wie wunderbar, dass du kommen konntest.«

Sie geht zu ihm nach hinten, begrüßt ihn, zieht ihn hinter sich her zur Tafel und breitet die Arme aus.

»Wir haben Besuch«, verkündet sie und legt ihre Hände mit festem Griff auf seine Schultern. Sie sieht stolz aus, als würde sie gerade ein neugeborenes Baby zum ersten Mal der Familie präsentieren.

»Und dieser junge Mann, meine Damen und Herren, wird nach den Ferien in unserer Klasse beginnen. Heute ist er nur hier, um kurz Hallo zu sagen.«

Sie beugt sich zu Vilmer vor.

»Du kannst ja selbst erzählen, wie du heißt.«

»Vilmer«, sagt er laut und deutlich.

Ein paar Leute kichern.

»Genau«, sagt Vigdis. »Vilmer ist neu hierhergezogen. Wo wohnst du noch mal?«

»Trostevejen 30«, sagt Vilmer. »Aufgang F.«

Er klingt wie ein kleines Kind, das eben erst gelernt hat, seine Adresse auswendig aufzusagen.

»Genau«, sagt Vigdis wieder. »Das ist nämlich im Tyllebakken Bauverein.«

Jetzt kichern noch mehr Leute aus der Klasse. Ich weiß nicht, was am Tyllebakken Bauverein so lustig ist, abgesehen davon, dass er einen Spitznamen hat, der sich auf Tylle reimt, und er bei einem Wettbewerb um die hässlichsten Wohnorte garantiert den ersten Platz gewinnen würde.

»Ina wohnt ja auch dort«, ergänzt Vigdis und zeigt auf mich. »Da könnt ihr nach den Sommerferien zusammen zur Schule laufen.«

Eigentlich mag ich Vigdis, sie ist nett. Aber jetzt ärgere ich mich über sie. Wieso bestimmt sie, dass ich zusammen mit einem Jungen in Schlabbershorts und einem T-Shirt vom Zoo zur Schule laufen soll, nur weil er zufällig auch in Tyllebakken wohnt? Warum muss sie überhaupt von Tyllebakken reden? Es ist ja schön und gut, dass Vigdis Freunde für mich finden will, das probiert sie schon, seit ich hier in der Sechsten angefangen habe. Aber ich brauche Freunde, die mich hochziehen, nicht runter. Und mit diesem Vilmer wäre garantiert Letzteres der Fall.

Schließlich darf Vilmer sich auf einen Stuhl in der allerletzten Reihe setzen. Er versucht, meinen Blick einzufangen, als er an meinem Tisch vorbeigeht, als ob wir schon beste Freunde wären. Bloß weil wir in der Nähe voneinander wohnen und uns zehn Sekunden vor den anderen getroffen haben. Ich schaue schnell woandershin.

»Vigdis, Vigdis!«

Mathilde wedelt mit dem Arm in der Luft herum und fängt direkt an zu reden, obwohl Vigdis immer noch mit Vilmer beschäftigt ist.

»Können wir nicht eine Runde machen, in der jeder erzählt, wohin er in den Ferien fährt?«

Der Vorschlag stößt sofort auf große Begeisterung. Mallorca, USA, Frankreich, rufen alle durcheinander. Mathilde ist inzwischen aufgestanden und fuchtelt mit den Armen, um die Runde zu organisieren, bei der offensichtlich so viele dabei sein wollen. Vigdis schlägt vor, dass vielleicht nicht alle etwas erzählen müssen, aber Mathilde ist viel zu aufgeregt und hört gar nicht zu.

»Tuva fängt an!«, ruft sie und zeigt zum Fensterplatz in der ersten Reihe.

Mein Bein zittert, der Mund ist trocken. Und Tuva erzählt, dass sie für drei Wochen nach Italien fährt, in den südlichen Teil.

Mathilde deutet auf Teodor, damit alle verstehen, dass wir von vorne nach hinten vorgehen, Tisch für Tisch.

Ich zähle bis elf. Lege die Hand aufs Bein, um es ruhig zu halten. Elf Tische, bis ich an der Reihe bin.

Teodor fährt nach Kroatien. Selma für mehrere Wochen nach Spanien. Simen, der hinter Selma sitzt, fliegt nach Florida. Das erzählt er mit lauter und deutlicher Stimme, mehrere seufzen neidisch. Una, die nach Simen an der Reihe ist, würde auch viel lieber nach Florida reisen, doch bei ihr geht es nur nach Dänemark.

»Aber nächstes Jahr«, fügt sie hinzu, »fahren wir dafür vier Wochen nach Thailand.«

Noch sieben Tische, dann bin ich dran.

Mathias macht Urlaub auf Rhodos. Vilde in Dubai. Alle haben Pläne für die Sommerferien, alle werden sie davon erzählen. Alle verreisen. Ins Ausland. Die Leute in dieser Klasse sind total heiß aufs Ausland. Es gab sogar einen Wettstreit, wer schon in den meisten Ländern war. Regine führt mit siebenundzwanzig.

Ich schaue zu Vigdis und starre auf meinen Tisch, während Mathilde verkündet, dass sie zwei Wochen in einem Resort in Portugal verbringen wird. Ich weiß nicht genau, was ein Resort ist, aber es hört sich ziemlich schick an. Gleich bin ich dran. Gleich muss ich etwas erzählen. Es pocht in meinem Bauch, fast ganz oben beim Herzen.

»Du lieber Gott«, sagt Vigdis überwältigt. »Hier gibt es aber wirklich viele Weltenbummler. Wisst ihr, was ich in den Ferien vorhabe?«

Es sind nur noch drei vor mir, daher ist es gut, dass Vigdis kurz übernimmt und ich Zeit habe, etwas mehr über meine eigenen Reisepläne nachzudenken.

»Ich habe mir ein Sommerhäuschen gekauft. An einem See im Wald. Mein eigenes kleines Resort sozusagen. Da werde ich den ganzen Sommer sein und nichts tun außer Bücher lesen und gutes Essen kochen. Das wird sicher auch sehr schön, meint ihr nicht?«

Keiner antwortet, nur ein paar Leute nicken, und irgendjemand macht eine Art Grunzlaut. Als ob Vigdis’ Ferienpläne ultra-lame wären. Ganz ehrlich, wer will schon an einem See im Wald hocken und Bücher lesen?

Markus ist der Nächste. Er sitzt zwei Tische vor mir. Ich verbringe jeden Tag vier Stunden damit, seinen Rücken zu betrachten. Das sind ganz schön viele Minuten, wenn man es auf ein volles Schuljahr hochrechnet. Ich kenne seinen Rücken quasi auswendig, weiß genau, wie es aussieht, wenn er hustet oder lacht, die feinen Bewegungen zwischen seinen Schulterblättern. Bemerke sofort, wenn er einen neuen Pulli anhat. Ich habe mir insgesamt bestimmt schon zweitausend Stunden vorgestellt, wie es wäre, mit der Hand über seinen Nacken zu streichen und den Rücken hinunterzufahren, den ich die ganze Zeit anstarre.

Markus erklärt, dass er erst mal im Sommerhaus in Sørland ist, gleich morgen geht es los. Dann fliegt er für zwei Wochen nach Spanien. Er nickt Selma zu.

»Aber worauf ich mich am meisten freue«, fährt er eifrig fort, »ist London.«

Er macht eine kurze Pause, vergewissert sich, dass er die volle Aufmerksamkeit hat.

»Denn da gehen mein Vater und ich zum Chelsea-Spiel. Das wird der Hammer, mein Vater ist nämlich genauso ein Chelsea-Fan wie ich.«

Er dreht sich lächelnd zu Julie um. Mein Gesicht wird heiß wie ein Wasserkocher, denn ich sitze direkt hinter Julie. Er schaut also fast zu mir. Nur ein paar Zentimeter, dann würden sich unsere Blicke kreuzen.

Julie beginnt zögernd, ihre Stimme ist rau. Vielleicht hat sie ja nichts zu erzählen, wird nicht vierundfünfzig Tage lang die aufregendsten Dinge erleben, sondern einfach nur zu Hause sein. Aber so ist es natürlich nicht. Kein Mensch ist im Sommer einfach nur zu Hause.

Julie fährt nämlich nach Zypern. Mit ihrer Mutter. Und dann nach Frankreich, mit ihrem Vater.

»Das ist das Tolle daran, wenn man geschiedene Eltern hat«, erklärt sie hochzufrieden, »man fährt zweimal richtig in den Urlaub. Die Ferien werden sozusagen verdoppelt.«

Sie dreht sich auf ihrem Stuhl zu mir um und schaut mich an. Alle schauen mich an. Auch Vigdis. Es wird still. Vollkommen still. Ich weiß, dass ich den Mund aufmachen muss, weil alle hören wollen, was ich im Sommer unternehmen werde, welche spannenden Pläne ich mit meiner Familie habe, was ich alles erleben werde. Ich sehe von einem zum anderen, in die neugierigen Gesichter, aber mein Mund ist leer. Es ist kein einziges Wort darin. Ich räuspere mich, öffne den Mund und schließe ihn wieder, schlucke, und dann geben meine Stimmbänder einen schwachen Laut von sich.

»Im Sommer«, sage ich und schaue zu Markus.

Er schaut zurück. Jetzt schaut er mich an!

»Im Sommer«, wiederhole ich und warte darauf, dass mir etwas einfällt.

»Im Sommer fahre ich in den Süden.«

Vigdis nickt ermutigend und lächelt. Markus schaut mich immer noch an. Alle schauen mich an, sie wollen mehr.

»Ich freue mich schon so«, sage ich und sehe die Schwimmbecken und Wasserrutschen und den ewig langen weißen Strand, die Sonnenschirme und den Kids Club vor mir. Für den ich natürlich zu groß bin.

»Ich werde schwimmen und in der Sonne liegen und mich entspannen. Einfach nur Südendinge machen. Viele Wochen lang. Morgen früh fahren wir los.«

Auf einmal höre ich ein Kichern. Oder besser gesagt zwei. Es kommt von der vorletzten Reihe am Fenster. Mathilde lehnt sich zu Regine, hält sich die Hand vor den Mund und flüstert ihr irgendwas ins Ohr.

»Es gibt keinen Ort, der Süden heißt«, sagt Regine sachlich.

Sie ist Zweite Vorsitzende im Schülerrat und will später Anwältin werden, genau wie ihre Mutter.

»Süden, also, das klingt echt bescheuert.«

Mein Bein fängt wieder an zu zittern. Und der linke Arm auch ein bisschen. Können wir jetzt nicht einfach weitermachen, kann nicht irgendwer anders übernehmen?

»Wo genau fährst du denn hin, Ina? Süden ist ja kein Land.«

Die beiden kichern wieder. Mehrere andere lachen ebenfalls. Aber da mischt sich glücklicherweise Vigdis ein.

»Es ist ganz normal, dass man Süden sagt, auch wenn es kein physischer Ort auf der Karte ist. So nennt man es eben, wenn man irgendwohin weiter südlich in Urlaub fährt, um sich zu entspannen und Spaß zu haben und schwimmen zu gehen. Genau wie Ina.«

Vigdis zeigt ganz merkwürdig auf mich. Als wären die anderen in der Klasse senil und hätten plötzlich vergessen, von wem eigentlich die Rede ist.

»Der Süden kann also theoretisch an jedem beliebigen Ort der Welt liegen.«

Vigdis sieht zu Marte, und dann geht die Runde weiter. Zum Glück. Genug vom Süden.

Auf Marte wartet Wanderurlaub in den Bergen, anschließend fährt sie den Rallarvegen mit dem Fahrrad. Patrick macht eine dreiwöchige Rundreise mit dem Auto durch Europa. Johanne besucht ihre Großeltern auf den Lofoten. Regine ist in den Ferien auf Kreta, einer Insel im Süden. Sie guckt zu mir, als sie Süden sagt, betont das Wort, als würde sie es einem Dreijährigen oder einer Person mit einem Hirnschaden erklären.

»Aber erst mal bin ich für eine Woche zum Shoppen in Paris«, verkündet sie stolz und schaut zu Mathilde.

 

Als alle von ihren Plänen erzählt haben, übernimmt Vigdis wieder.

»So, dann fangen wir jetzt an«, sagt sie. Aber da entdeckt sie Vilmer ganz hinten. »Huch, dich haben wir ja völlig vergessen zu fragen, Vilmer. Hast du irgendwelche spannenden Pläne?«

Alle drehen sich zu ihm um.

Er lächelt.

»Ich fahre auch in den Süden«, sagt er und wirft mir einen Blick zu.

Was meint er damit?

»Nee, Quatsch«, sagt er dann. »Ich bleibe zu Hause.«

Jetzt schaut er Vigdis an.

»Mein Vater ist nämlich pleite, deshalb wird es dieses Jahr nichts mit Urlaub.«

Er zuckt mit den Achseln und lehnt sich zurück.

Natürlich kichert jemand. Irgendjemand kichert immer.

»Kein Süden für mich«, sagt Vilmer mit breitem Lächeln.

Als ob es ihm völlig egal wäre, dass er nirgendwohin fährt. Es sieht aus, als würde er sich auf die Ferien freuen, obwohl er einfach nur zu Hause bleibt. Mit seinem Vater, der pleite ist. Im Tyllebakken Bauverein.

»Dieses Jahr habe ich etwas Besonderes mit euch vor«, sagt Vigdis, als es zur letzten Stunde geklingelt hat.

Sie erinnert mich an einen eifrigen Hundewelpen, der jeden Moment ohne Leine in den Wald sausen darf. Ihr gelbes Kleid hat große Schweißflecken unter beiden Armen, die Haare kleben ihr auf der Stirn.

»Ich habe da etwas in einem Lehrermagazin gelesen und fand, dass es sich richtig lustig anhört. Nehmt euch bitte alle einen Stift, und dann bekommt jeder ein Blatt Papier.«

Sie eilt durch die Klasse, ihr starker Parfümgeruch beißt in der Nase. Ein leeres Blatt segelt auf meinen Tisch. Ich betrachte Markus’ Rücken. Er sitzt ganz still auf seinem Stuhl, das Papier in der linken Hand.

»Jetzt schreibt ihr alle euren Namen oben auf euer Blatt«, sagt Vigdis. »Anschließend schreibt ihr drei Punkte auf – drei Dinge, von denen ihr hofft, dass sie in den Sommerferien passieren werden.«

Sie lächelt zufrieden. Klatscht in die Hände.

»Und man darf ruhig ein wenig träumen«, flötet sie. »Ihr sollt nicht nur Dinge aufschreiben, von denen ihr schon wisst, dass sie passieren werden, sonst wäre es ja witzlos. Seid ein bisschen verrückt. Lasst eurer Fantasie freien Lauf. Wenn ihr fertig seid, faltet ihr das Blatt zwei Mal.«

Sie demonstriert es mit ihrem eigenen Blatt.

»Danach gehe ich herum und sammle alle Zettel in diesem Korb. Die Zettel bleiben den ganzen Sommer über hier in der Schule. Und wenn die Ferien vorbei sind und ihr in der siebten Klasse seid, dürft ihr lesen, was ihr geschrieben habt. Klingt das nicht lustig? Dann könnt ihr sehen, ob etwas davon tatsächlich eingetroffen ist.«

Alle sitzen über ihre Blätter gebeugt und schreiben. Es ist eine schwierige Aufgabe. Ich schließe die Augen, so kann man besser denken. Wovon träume ich? Mein Kopf ist vollkommen leer, kein einziger Traum weit und breit. Ich mache die Augen wieder auf und sehe als Erstes Markus’ rotes T-Shirt. Da fällt mir etwas ein. Ich lächle beim Schreiben, verdecke das Papier mit der Hand, damit niemand lesen kann, was da steht. Vigdis hat ja gesagt, dass wir träumen sollen. Also träume ich. Bis mir jemand auf die Schulter tippt.

»Hast du einen Stift?«

Es ist der Lockenkopf mit dem T-Shirt.

»Ich hab nämlich nichts mitgenommen«, erklärt er und lächelt mich mit seinem schiefen Schneidezahn an. Ich bin nicht sicher, ob es süß oder hässlich aussieht.

»Ich dachte, es macht keinen Sinn, meinen ganzen Kram mitzuschleppen, wenn ich ja eh nur zu Besuch bin.«

Ich nehme einen Bleistift aus dem Mäppchen und reiche ihn ihm.

Er lächelt wieder. Liest, was ich geschrieben habe, und lächelt noch breiter. Ich falte schnell das Blatt zusammen.

Vilmer geht zurück zu seinem Platz. Eigentlich hatte ich mir schon zwei weitere Punkte überlegt, aber jetzt habe ich alles wieder vergessen. Nur wegen Vilmer, der anscheinend ausgerechnet mich nach einem Stift fragen musste. Ich zerbreche mir den Kopf, bis Vigdis zum dritten Mal mahnt, dass nun wirklich alle zum Schluss kommen sollen. Also kritzele ich einfach irgendwas hin, was sowieso nie im Leben passieren wird, falte mein Blatt zusammen und gebe es Vigdis. Es mischt sich mit den Träumen der anderen. Vigdis drückt den Korb an sich, als hielte sie ein Katzenbaby in den Armen.

»Ich verspreche auch, dass ich nicht gucke«, sagt sie und lacht laut über sich selbst.

Sie hält garantiert den Norwegenrekord im Über-sich-selbst-Lachen.

»Und wenn der Sommer vorbei ist, sehen wir ja, welche Träume sich bewahrheitet haben.«

 

Vigdis holt die Gitarre und schlägt ein paar Akkorde an. Mehrere Schüler winden sich auf ihren Stühlen, so wie immer, wenn die Gitarre auftaucht.

»Jetzt müsst ihr singen!«, ruft Vigdis in die Runde und klimpert eifrig drauflos.