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Ihre Rückkehr nach Iria bringt einige beunruhigende Veränderungen für Leo und Marie mit sich: Schlimm genug, dass die Anfeindungen im Volk immer aggressiver werden. Doch zu allem Überfluss hat sich auch noch ihr Freund Jonas in den Kopf gesetzt, nach seinem verschollenen Vater zu suchen. Werden die vier Freunde Hedwig, Jonas, Leo und Marie sich der Herausforderung stellen? Oder sind sie nicht bereit, ihr Leben für den Erzfeind aufs Spiel zu setzen, der ganz nebenbei Jonas Vater ist? Das blutige Spiel beginnt.
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Seitenzahl: 795
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Texte: Copyright by Lea Loseries Umschlaggestaltung: Copyright by Lea Loseries Coverbild: Copyright by pixabay.com
Bibelverse: Copyright by Neues Leben Übersetzung Verlag:
Lea Loseries Kleinenwieden 35
31840 Hess.Oldendorf
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Für Josia
Das Rauschen des Meeres hörte sich in seinen Ohren an wie Donnergrollen. Vor seinem geistigen Auge sah er die riesigen Wassermassen, die sich an den Felsen brachen und wieder neu sammelten. Unter seinen Füßen spürte er den körnigen Sand. Kleine Steinchen, über Jahrtausende oder gar Jahrmillionen hinweg zu kleinstem Staub verarbeitete Partikelchen. Und das alles sollte mithilfe des Meeres vor ihm geschaffen worden sein. Er spürte, wie seine Füße an Halt verloren und er nach hinten taumelte. Nur ein ganz kleines bisschen. Dann hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden. Vielleicht war es auch nur Einbildung gewesen. Doch da kam auch schon die nächste Welle und spülte einen Teil des Sandes unter seine Füßen hinfort, sodass er tiefer und tiefer sackte und sich seine Füße allmählich im Sand vergruben. Bis zu den Knien war ihm das klare, blaue Meerwasser gespritzt, dessen Salz er schon beim bloßen Einatmen der Luft schmecken konnte. Er wartete. Er atmete tief ein und aus. Zu früh, um die Augen zu öffnen. Er wollte das hier genießen, er wollte einfach da sein, ohne sich über das Gedanken zu machen, was er gehört hatte. Was die Leute schon alles reden… Sein Hirn hatte er mittlerweile so gut wie ausgeschaltet. Es war, als würde er im Stehen schlafen. Durch diesen tiefenentspannten Zustand, in den er gefallen war, hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon mit geschlossen Augen an dem kleinen Badestrand an der Westküste von Sousiz gestanden und dem Atem der Wellen gelauscht hatte. Wenn da überhaupt etwas war, um das er sich gerade Gedanken machte, dann war das seine Sorge um die Möwen, die hoch über seinem Kopf kreisten. Bei meinem Glück, dachte er sich, kriege ich am Ende noch einen auf den Kopf gekackt. Nach und nach schien es Jonas, als würde das Donnern der Wellen in unregelmäßigen Abständen immer lauter und lauter werden, bis er schließlich bemerkte, dass er nicht nur unten, bis zu seinen Knien, sondern am ganzen Körper nass war. Seine Beine waren durchweicht vom salzigen Meerwasser, sein Oberkörper von dem Regen, der urplötzlich in Sturzbächen auf ihn herab prasselte. Es war schon den ganzen Tag lang verdächtig schwül gewesen und so war es eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis das nächste Sommergewitter hereinbrach. Jonas öffnete die Augen. Die ehemals ruhige See lag jetzt vor ihm wie ein sich gegen den Himmel aufbäumendes Tier. Dort oben zuckten grellweiße Blitze und fanden in den gewaltigen Wassermassen ihren Tod. Die Wolken waren dunkellila verfärbt und alles in allem sah es aus, als wäre diese Landschaft einzig und allein dazu kreiert worden, sich an ihr zu erfreuen und über sie zu staunen. Allerdings hatte dieses Schauspiel seinen Preis. Langsam wurde es ungemütlich. Der Regen war nun nicht mehr lauwarm, sondern kalt. Und Jonas wurde auch kalt. Kurzentschlossen wandte er den Wellen den Rücken zu und rannte über den Strand auf ein kleines, mit Holzbalken erhöhtes und an der Westseite mit einer Eiche gesäumtes Ferienhaus zu. Seine Schwester sah ihn schon von Weitem. Lisa stand auf der überdachten Terrasse, die Haare offen und in ihrem Sommerkleid, das nun vom Wind aufgeblasen wurde, sodass sie aussah wie ein lila Luftballon. Mit ihrem Kopfschütteln kommentierte sie Jonas Wiederkehr, der auf dem Weg zum Haus noch einmal ausgerutscht und mit dem Gesicht voran in den nassen Sand gefallen war und sich jetzt mühsam die paar Stufen zu ihr hoch quälte. „Du stehst da jetzt schon seit einer Stunde. Das Gewitter wütet aber schon seit fünfzehn Minuten. Hast du das denn nicht gemerkt?“, fragte sie statt einer Begrüßung. Jonas zuckte mit den Schultern. Es war ihm ziemlich egal. Sollte sie doch denken, was sie wollte. Ihm für seinen Teil tat es gut, seinen Körper endlich einmal wieder zu spüren. Die Kälte, die langsam in seinen Gliedmaßen hoch kroch, die durch den Sand aufgescheuerten Knöchel und die pitschnasse Kleidung, die an seiner nackten Haut klebte. Es war die willkommene Abwechslung zu den endlosen Shoppingtouren, Museumsbesuchen oder heißen, faulen Strandtagen, die hinter ihm lagen. Endlich mal wieder Natur erleben, dachte er. Es erinnerte ihn an früher. Genauer gesagt an das letzte Schuljahr, als er mit seinen Freunden Hedwig, Leo und Marie von einer brenzligen Situation in die andere gestolpert war und etliche Nächte unter freiem Himmel, fernab der Zivilisation, verbracht hatte. Da war das hier etwas ganz anderes. Seine Tante, Professor Tyra Ferono, Schulleiterin eines berühmten Internats namens Firaday, hatte ihm und seiner Schwester versprochen, mit ihnen in den Urlaub zu fahren. Und zwar wie richtige Touristen. Vorbei mit Abenteuern und Aufregung. Entspannung wir kommen. Mittlerweile war Jonas in das Wohnzimmer des kleinen Häuschens getreten, das an einer Seite riesige Fenster hatte, durch die er das Naturschauspiel draußen weiter beobachten konnte. Er schnappte sich ein auf dem Sessel liegendes Handtuch und rubbelte sich damit ab, ohne sich vorher auszuziehen. Dann öffnete er den Küchenschrank und schnappte sich ein paar große, einzeln verpackte Schokoladenkekse. Er wollte sich gerade mit seinen immer noch triefend nassen Klamotten auf das Sofa fallen lassen, als Lisa ihn missbilligend musterte. „Du wirst fett, wenn du weiter so viel futterst.“, sagte sie mit einem unwilligen Stirnrunzeln. „Bin ich eh schon.“ Jonas legte die Kekse jetzt beiseite und ging Richtung Bad, um sich nun doch noch neue Kleidung anzuziehen. „Geht´s dir eigentlich gut?“, rief Lisa ihm noch hinterher. Sie machte sich Sorgen um ihren kleinen Bruder. Zwar hatte die Erholung der letzten Wochen ihm gutgetan, aber da war etwas, das ihm schwer zu schaffen machte. Es nagte an seiner sonst so fröhlichen, offenen Art und hatte ihn nun schon so manches Mal dazu getrieben, sich stundenlang zu verkriechen ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Früher wäre das undenkbar gewesen. Damals war er ein richtiges kleines Plappermaul gewesen. Das war er auch noch immer, aber irgendwie schien er sich zu verändern. Er nahm nicht mehr mit der gleichen Begeisterung an Familienausflügen teil wie noch vor ein paar Jahren. Manchmal hatte sie den Eindruck, er würde am liebsten alleine irgendwo hingehen, ohne sie und seine Tante noch weiter ertragen zu müssen. Auf ihre Frage erhielt Lisa auch nach einigen Sekunden der Stille wie selbstverständlich keine Antwort. Noch so eine Macke, deren Entwicklung sie ihm nie zugetraut hätte. Jonas hatte sich da in irgendetwas verfangen… Ein paar Stunden später, als das Gewitter längst vorüber war und auch die nassen Fußabdrücke, die er überall in der Wohnung verteilt hatte, nicht mehr zu sehen waren, saß Jonas mit seiner Tante und Lisa am Tisch und öffnete einen an ihn adressierten Umschlag. Die beiden Frauen aßen Mittagessen, aber er hatte keinen Hunger. Zumindest nicht auf Salat. Der Brief, den er in den Händen hielt, stammte von Leo, seinem besten Freund. Staunend strich Jonas über die Anschrift des Absenders und die fremd aussehende Briefmarke, mit der er den Brief versehen hatte. Das waren also Dinge aus der anderen Welt. Leo lebte in einem Land namens Deutschland, von dem Jonas vorher noch nie etwas gehört hatte. Sein Heimatland Iria war zusammen mit ein paar anderen Länder schon seit hunderten von Jahren vom Rest der Welt abgeschnitten und er hatte keine Ahnung, wie die Piloten der Flugzeuge, die die Schüler immer zu Ferienbeginn und -ende zwischen Iria und der anderen Welt hin- und herflogen, das bewerkstelligen konnten. Aber er hatte sich vorgenommen, irgendwann hinter dieses Rätsel zu kommen. Kurz darauf hielt er ein liniertes Blatt Papier in den Händen, das aussah, als sei es aus einem Schulblock gerissen worden. Der linke Rand war unsauber abgetrennt und an einigen Stellen hing noch der Papierstreifen mit den kleinen Löchern, die eigentlich dazu bestimmt waren, die einzelnen Blätter an einen Ringhefter zu binden. Er erkannte Leos Handschrift sofort wieder und fing gespannt an zu lesen. Hallo Jonas, ich dachte, ich sollte mich mal wieder bei dir melden. Ich hoffe, du hast schöne Ferien und deine Familie treibt dich nicht zu sehr in den Wahnsinn. Meine nervt mich nach wie vor, aber seit letztem Jahr ist die Situation bei uns zu Hause viel besser geworden. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für Augen meine Brüder gemacht haben, als ich angefangen habe, ihnen von all unseren Erlebnissen zu erzählen. Ich glaube, sie waren sogar ein ganz kleines bisschen neidisch. Jedenfalls bin ich jetzt dank dessen, was passiert ist, hier zu Hause eine Art Held. Und als diesen respektiert mich sogar meine kleine, aufmüpfige Schwester! Außerdem habe ich langsam kapiert, dass ich mich nicht von ihr beeinflussen lassen muss. Es ist unglaublich, aber es gelingt mir mittlerweile immer besser sie zu ignorieren, auch wenn sie mir von früh bis spät mit glitzernden Plastikponys und Nagellack vor meiner Nase herumwedelt. Ich sehe keinen Grund mehr, mich darüber aufzuregen. Wenn mich aber jemand in den Wahnsinn treibt, dann ist das Marie. Jedes Mal, wenn wir uns treffen, erzählt sie mir, wie sehr sie Firaday vermisst. Und natürlich dich und Hedwig. Diese Verrückte kann es kaum abwarten, endlich wieder die Schulbank zu drücken! Aber das ist ja nichts Neues. Wie geht es dir? Wie geht es Hedwig? Ist ihr Haar immer noch so dunkelrot wie früher? Meins hat nämlich ein wenig an Farbe verloren. Das versuche ich mir zumindest einzureden, denn hier nennt mich jeder zweite „Karottenkopf“ und das kann man irgendwann nicht mehr hören. Was machst du so? Es wäre cool, wenn du mir zurückschreibst. Leo Schmunzelnd sah Jonas von seiner Lektüre auf. Das war wieder mal typisch für Leo. Er ging wegen alles und jedem an die Decke. Und dann war da natürlich noch Marie, die immer die besten Noten hatte und manchmal Gefahr lief, ihre Nase etwas zu tief in ihre Schulbücher zu stecken. Und Hedwig. Es war schon eine Ewigkeit her, dass er mit ihr gesprochen hatte. Sie war die Ferien über zu Hause und bis jetzt hatte er einfach noch nicht daran gedacht, sie anzurufen. Wortlos stand er auf und griff nach dem Telefon. „Jonas!“, die vorwurfsvolle Stimme seiner Tante ließ ihn innehalten. „Du musst etwas essen! Was ist denn mit dir? Bist du krank?“, besorgt musterten ihn die sonst immer so fröhlich funkelnden Augen seiner Tante. Jonas schüttelte den Kopf. „Ich will nur Hedwig anrufen.“, sagte er schnell. Seine Tante nickte. „Okay.“, meinte sie, „Aber danach isst du mit uns!“ Ohne weiter darauf einzugehen, wählte Jonas Hedwigs Nummer. Dann ging er raus auf die Terrasse und schloss die Tür hinter sich, um zu verhindern, dass der gesamte Hofstaat mithörte. „Hallo?“, nach ein paar Sekunden meldete sich eine tiefe Männerstimme am Apparat. Hedwigs Vater. „Hallo Emil. Kann ich mit Hedwig sprechen?“ „Ach, du bist es Jonas!“, die Stimme am anderen Ende klang erfreut. Jonas kannte Hedwigs Eltern gut. Ihre Familien waren befreundet gewesen, schon lange Zeit bevor seine Mutter an Krebs erkrankt und vor fast genau einem Jahr gestorben war. Seitdem hatte Jonas ab und zu ein paar Tage bei Hedwig und ihrer Familie übernachtet. „Wie geht es dir?“ Emil schien ehrlich interessiert. Und Jonas wusste, dass er eine ehrliche Antwort erwartete. „Ganz gut.“, meinte Jonas. „Der Strand ist schön. Aber mit der Zeit wird es echt langweilig, immer nur das Gleiche zu sehen...“ „Du hast recht.“, Emil lachte, „Vielleicht ist es doch ganz gut, dass die Schule bald wieder anfängt. Dann habt ihr wieder etwas zu lachen. Ist sonst alles in Ordnung?“ Jonas zuckte innerlich zusammen. Er kannte diesen bohrenden Unterton nur allzu gut. Jetzt holte er tief Luft. „Ja, alles bestens“, sagte er und hoffte, Emil würde sich mit dieser Antwort zufrieden geben. Das tat er wohl oder übel auch. „Warte kurz.“, sagte er, „Ich hole Hedwig.“ „Hallo Jonas!“ Die aufgeregte Stimme seiner Freundin war wie frisches Wasser auf ausgetrockneten Lippen. „Hast du das in den Nachrichten gesehen?“, fragte sie mit bebender Stimme. Jonas sog scharf Luft ein. Zwar hatte er schon seit einer Ewigkeit kein Fernsehen mehr geguckt, weil seine Familie wie die meisten anderen Irianer gar keinen Fernseher besaß, aber er konnte sich denken, wovon Hedwig sprach. Dennoch hatte er nicht die geringste Lust, ihr es jetzt auch noch erläutern zu müssen. Deshalb fragte er leichthin: „Was denn?“ „Die haben antike Schriften gefunden!“, Hedwigs Stimme überschlug sich fast, „Irgendwo weiter im Norden. Das ist ungeheuerlich! Die könnten aus der Zeit von Jesus stammen und berichten von seinem Wirken auf der Erde.“ „Ach, echt?“, Jonas zog die Stirn in Falten. Es kam ihm seltsam vor, dass gerade jetzt, wo in Iria ein Umbruch in alle Richtungen stattfand, ein neues Evangelium gefunden worden sein sollte, von dem vorher nie ein Mensch gehört hatte. „Ja!“ Hedwig war total begeistert. Er konnte sie sich lebhaft vorstellen, wie sie dastand; mit geröteten Wangen und weit offenen Augen. „Das ist doch noch ein weiterer Beweis dafür, dass es Jesus tatsächlich gegeben hat. Und auf diese Weise können wir noch mehr von ihm erfahren.“ „Meinst du?“, fragte Jonas etwas zögerlich, „Ich habe gehört, dass der Inhalt dieser Schriften einige heftige Streits ausgelöst hat. Selbst hier, in einer Touristengegend, kriegen sich die Leute darüber in die Haare, weil der Stoff echt ganz schön provozierend ist. Außerdem, was meinst du damit, „ein Beweis dafür, dass es Jesus tatsächlich gegeben hat“? Willst du mir weiß machen, dass es ihn jetzt nicht mehr gibt?“ Hedwig verdrehte die Augen, was Jonas natürlich nicht sehen konnte und wodurch eine kurze Pause entstand. „Entschuldigung, das war dumm formuliert.“, lenkte sie ein, „Natürlich gibt es ihn immer noch. Aber halt nicht als Mensch, hier, bei uns. Du weißt schon, was ich meine.“ Jonas nickte ohne ein Wort zu sagen. Nach einer Weile des Schweigens fragte er: „Wie geht’s dir?“ „Gut.“, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Ich spiele jeden Tag mit Erwin. Er kann jetzt schon ein paar super Tricks, die ich dir unbedingt zeigen muss, wenn wir wieder in der Schule sind. Und wie geht’s dir? Du bist irgendwie so ruhig.“ „Gut.“, antwortete Jonas sporadisch. Dann gab er sich einen Ruck. „Weißt du“, fing er an, „mir macht die ganze Entwicklung hier im Land einfach Sorgen. Schon nachdem wir den Schlüssel der Macht vernichtet haben und sich dieser verbrecherische Geheimbund aufgelöst hat, gab es wieder neue Spannungen zwischen Nord- und Südirianern. Und das nur, weil es vor vielen Jahren mal einen heftigen Bürgerkrieg gab. Jetzt wird die ganze längst versunkene Schlacke wieder hervorgeholt. Und nicht nur deshalb kriegen sich die Leute in die Wolle. Wohin du auch blickst, überall in Iria siehst du nur Spaltungen, Spaltungen und Spaltungen. Und außerdem kaputte Familien, so wie meine eine ist.“ Jonas spürte einen Stich in seinem Brustkorb, als er das sagte. Der Geheimbund, von dem er gerade gesprochen hatte, hatte aus Menschen bestanden, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatten. In ganz Iria hatten sie unter der Oberfläche Verbrechen begangen und niemand hatte sie aufhalten können. Sein Vater und seine beiden Schwestern Chila und Lisa waren Mitglieder des Bundes gewesen. Chila war tot, Lisa hatte sich zum Glück komplett davon losgesagt und sein Vater, Sigor Maschael, der eine Zeit lang als Lehrer in Firaday gearbeitet hatte, hatte sich nach dem Zerfall der Organisation in Luft aufgelöst. Jonas hatte keine Ahnung, wo er sich befinden mochte. „Och Jonas.“, Hedwig stöhnte, „Nun werd nicht wieder gleich depressiv. Du hast es doch sehr gut. Genieße die letzten Ferientage mit deiner Tante und deiner Schwester und mach dir um unsere Politik keine Sorgen. Das wird sich schon wieder einrenken. Die Politiker und die Presse machen doch sowieso immer einen Wirbel um nichts.“ Jonas schien immer noch nicht überzeugt. Dennoch fiel ein Teil der Anspannung der letzten Tage von ihm ab. Dann erzählte er Hedwig, wie er auf einer Schifffahrt ganz in der Nähe einer Gruppe Delfinen begegnet war. „Delfine?“, wie zu Anfang war Hedwigs Stimme laut und aufgeregt. Er konnte ihr die Begeisterung anhören. „Das ist ja der Wahnsinn!“, rief sie, „Warum bin ich nicht mitgekommen, ich hätte die mal so gerne aus der Nähe gesehen.“ Jonas versicherte ihr, dass sie dazu in ihrem Leben noch genug Gelegenheit haben würde und legte dann schließlich auf. Etwas zu spät fiel ihm ein, dass seine Tante ihn ja dazu nötigen wollte, etwas von dem ekligen Salat zu essen, den seine Schwester zubereitet hatte. Aber jetzt war es schon zu spät. Er stand wieder neben ihnen am Tisch und würde um eine Portion Grünzeug wohl nicht herumkommen. „Michelle!“ Der Ruf hallte durch die gesamte Wohnung. Doch nichts rührte sich. Entnervt machte sich Marie auf den Weg zum Zimmer ihrer kleinen Schwester, vorbei an Umzugskartons und halbfertig gepackten Taschen. Als sie eintrat, stach ihr der Grund, warum ihre kleine Schwester nicht reagiert hatte, sofort ins Auge. Sie lag auf ihrem Bett und hörte Musik, den Ton hatte sie voll aufgedreht. „Michelle!“, verärgert riss ihr Marie die Kopfhörer aus den Ohren. Den darauf folgenden Protest überhörte sie. „Räum dein Geschirr weg.“, sagte sie stattdessen in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Wenn du so weiter machst, stapeln sich deine schmutzigen Teller bald in der ganzen Küche!“ Murrend stand die Neunjährige auf und durchquerte den kleinen Flur mit fünft großen Schritten. Doch ehe sie verschwunden war, erschien auch noch Edmund auf der Bildfläche. Mit seinem unwiderstehlichen Zahnlückenlächeln grinste ihr kleiner Bruder Marie an. „Kannst du mir etwas vorlesen?“, fragte er seine Schwester in zuckersüßem Tonfall. Marie nickte. Wer konnte da schon nein sagen? Dann sagte sie: „Wenn du nach den Ferien in die Schule kommst, kannst du bald schon alleine lesen.“ Edmund verzog das Gesicht. In leicht weinerlichem Tonfall gab er zu: „Ich will gar nicht in die Schule kommen.“ „Warum nicht?“, fragte Marie überrascht, „Du hast dich doch schon die ganze Zeit darauf gefreut.“ „Ja, aber...“, Edmund verstummte bekümmert. Dann meinte er: „Aber wenn ich dann in die Schule komme, müssen wir umziehen. Und ich will nicht umziehen.“ „Aber das ist doch gar nicht schlimm.“, versuchte Marie ihn aufzumuntern, „Du bekommst ein eigenes Zimmer und wir haben viel mehr Platz.“ „Trotzdem.“, beharrte der Kleine und verschränkte demonstrativ die Arme. Marie schüttelte verständnislos den Kopf. Sie war froh, endlich aus dieser mickrigen, viel zu kleinen Wohnung zu entkommen. Außerdem würden sie sowieso nur ein Stockwerk tiefer, in eine der größeren Wohnungen ziehen, denn Frau Schneider, Leos Mutter, hatte es doch tatsächlich geschafft, Maries Mutter einen Job als Sekretärin zu besorgen. Zwar war ihre Familie nach wie vor von den Sozialleistungen abhängig, da ihre Mutter nur halbtags arbeiten konnte, aber es war immerhin schon wesentlich besser als früher, als sie noch jede Woche einem anderen Minijob nachgegangen war und nie gewusst hatte, was als Nächstes kommen würde. Marie freute sich. Sowohl auf den Tag des Umzugs als auch auf Edmunds Einschulung, denn danach würde sie wieder gemeinsam mit Leo in ihre Schule nach Iria fliegen und ihre Freunde Jonas und Hedwig wiedersehen. Die letzte Ferienwoche verging schneller als erwartet. Es war immer dasselbe; noch während man sich fragte, wie man die viele Zeit nutzen sollte, die sich einem nun bot, verstrich Minute um Minute, bis man schließlich zu nichts mehr von dem kam, was man sich vorgenommen hatte. In Maries Zimmer stapelten sich Bücher und Hefte, die Hälfte davon war auf Englisch. Schon tausend mal hatte ihre Mutter sie dazu gedrängt, diese Berge von bedruckten Seiten endlich in einem der Umzugskartons verschwinden zu lassen, doch Marie hatte sich geweigert. Ihre freie Zeit, die sie nicht mit Leo oder ihrer Familie verbrachte, hatte sie dazu aufgewendet, zu lesen und ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Außerdem hatte sie sich gründlich Gedanken darum gemacht, welche zweite Fremdsprache sie im kommenden Schuljahr wählen würde. Zur Auswahl standen Hebräisch und Griechisch, beides Sprachen, von denen sie immer noch nicht wusste, ob sie sie jemals in ihrem Leben brauchen würde. Trotz sorgfältiger Überlegungen schwankte sie immer noch zwischen beiden hin und her. Am Tag zuvor hatte sie sich mit Leo getroffen und mit ihm darüber gesprochen. „Wenn ich könnte, würde ich weder Hebräisch noch Griechisch wählen.“, murrte Leo und zog sich geräuschvoll die Nase hoch, während er versuchte, in seine viel zu engen Markenschuhe zu schlüpfen. „Bestimmt lernen wir die Sprachen nicht mal so, wie sie heute gesprochen werden, sondern nur in den alten Dialekten, in denen die Bibel geschrieben wurde. Und was soll man damit schon anfangen, wenn man kein Theologiestudium absolvieren will? Kennst du irgendein Land in Iria, in dem Griechisch gesprochen wird?“ Gerade wollte Marie ihren Freund unterbrechen und ihn darauf hinweisen, dass sich ein Land niemals in einem anderen befinden könne und dass Iria bestimmt noch irgendwelche Nachbarländer habe, in denen man verschiedene Sprachen gebrauchen könne, als Leo schon fortfuhr. „Und kennst du irgendeine Region außerhalb von Griechenland, in der sich die Leute auf Griechisch grüßen? Oder willst du etwa Hebräisch wählen, nur um an jüdischen Gottesdiensten teilnehmen zu können? Das ist doch total dämlich. Wozu müssen wir den Mist überhaupt lernen?“ „Sei doch froh.“, konterte Marie, „Immerhin musst du so kein Französisch wählen.“ Leo schnaubte. „Das wäre ja noch schöner.“ Währenddessen folgte Marie ihrem Freund durch die luxuriöse Glastür hindurch in den großen Garten, auf dessen penibel gepflegtem Rasen schon seine Freunde warteten, mit denen er sich zum Fußballspielen verabredet hatte. Als Marie die Jungen sah, verdüsterte sich augenblicklich ihr Gesichtsausdruck. Sie waren allesamt mindestens genauso groß wie Leo, der im Sommer einen irren Wachstumsschub gemacht hatte und wahrscheinlich alle älter als er. Jeder von ihnen trug Stollenschuhe und das Trikot der Fußballmannschaft, in der sie spielten. Marie fühlte sich unwohl. Sie war drei Köpfe kleiner als die anderen und dazu kam, dass sie, falls sie überhaupt mitspielen würde, wozu ihr soeben alle Motivation schwand, Schwierigkeiten bekommen würde, den Ball zu treffen. Ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie Fußball gespielt und das war in Sinistro, einer Nachbarschule von Firaday gewesen und zwar anlässlich eines großen Turniers. Jetzt raunte sie Leo leise zu: „Vielleicht hätte ich gar nicht kommen sollen.“ „Ach Quatsch.“, Leo machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du bist hier doch sowieso schon halb zu Hause. Du kannst kommen und gehen, wann du willst und wenn die Typen damit ein Problem haben, werde ich ihnen meine Meinung sagen.“ Marie schmunzelte. Trotzdem musste sie sich ein wenig später Mühe geben, Leos Freunde nicht allzu argwöhnisch zu mustern. „Hey!“ Ein großer, braunhaariger Junge klopfte Leo auf die Schulter. „Lange nicht gesehen. Gut, dass du wieder mal zu Hause vorbeischaust.“ „Wir hatten ja keine Ahnung, wo du die ganze Zeit über warst, bis uns deine Mutter das von so einer komischen Schule im Ausland gesteckt hat. Hat sie dich echt dahin abgeschoben? Ist ja voll krass.“, meinte ein anderer. „Ich wäre froh, wenn ich auf ein Internat gehen könnte.“, tönte ein blonder Junge mit großen, braunen Augen, „Dann müsste ich meine Alten nicht mehr Tag für Tag ertragen.“ Von allen Seiten Zustimmung. Nur Marie rümpfte die Nase. Der Junge neben ihr roch übelst nach Schweiß, was bestimmt daran lag, dass er sich bereits aufgewärmt hatte. Die durchsichtige Körperflüssigkeit rann ihm in Bächen übers Gesicht. Dann kam, was kommen musste. „Und wer ist die da?“, einer der Jungen deutete auf Marie. Dann verzog er das Gesicht. „Etwa deine Freundin? Also wirklich Leo, da hätte ich mehr von dir erwartet. An der ist doch nichts Besonderes.“ Gelächter brandete auf. Marie stand, von einem Fuß auf den anderen tretend, da und überlegte, was sie sagen sollte. „Ich bin Marie.“, erklärte sie schließlich mit erhobener Stimme und fixierte den Jungen, der so blöd gefragt hatte, mit einem vernichtenden Blick. Das schien den Riesen zu verwirren, denn er senkte langsam seinen Blick. Davon angespornt setzte Marie hinzu: „Und ja, ich bin Leos Freundin, aber nicht so, wie ihr denkt. Ich stehe nicht wirklich darauf, mich vor sabbernden Jungs zu positionieren und mich von ihnen knutschen zu lassen, wenn ihr das meint.“ Verächtlich starrte sie vom einem zum anderen. Eine äußerst unangenehme Stille breitete sich über die Anwesenden aus. Nur Leo schien belustigt. Grinsend schüttelte er den Kopf. „Sie meint das nicht so.“, versuchte er Maries Verhalten vor seinen Freunden zu rechtfertigen, „Sie ist nur ein bisschen...“, er suchte nach den richtigen Worten, fand aber keine. Also umschrieb er das, was er meinte. „Sie hat einfach einen etwas anderen Sinn für Humor. Also passt lieber auf, was ihr sagt, sonst wird es euch todernst genommen.“ Er grinste dümmlich. Für das, was er dann sagte, hätte Marie ihn am liebsten kopfüber in eine der Mülltonnen gesteckt, die überall am Straßenrand verteilt standen. „Sie hat übrigens schon alle Schullektüren gelesen, die für dieses Jahr auf dem Lehrplan stehen. Und sie kennt den Duden auswendig!“ Marie spürte, wie die Röte in ihren Wangen aufstieg. Nicht aus Scham. Nein, es war ihr total egal, was Leos Freunde von ihr dachten, sondern einfach nur aus Wut. Unsanft stieß sie Leo in die Seite und zischte: „Träum weiter!“ Fast hätte sie sich als Nächstes umgedreht und wäre beleidigt nach Hause gegangen, aber da brach auf einmal schallendes Gelächter los. Einer der Jungen, der große mit den braunen Haaren, hatte angefangen zu lachen und nacheinander stimmten alle anderen mit ein. Marie hielt verwirrt inne, bis der Braunhaarige sie grinsend und unter Lachtränen ansah und sagte: „Cool, dann braucht Leo sich in der Schule ja nicht mehr anstrengen, wenn du neben ihm sitzt. So eine Freundin hätte ich auch gerne.“ Er grinste. Dann fragte er: „Lass mich raten, du kannst kein Fußball spielen, richtig?“ Marie schüttelte genervt den Kopf. Dann sagte sie: „Wieso, muss man das können? Dem Ball hinterherrennen kann ich schon, aber mit dem Treffen ist das so eine Sache. Ich geh dann wohl lieber.“ Sie hatte sich schon umgedreht und ein paar Schritte gemacht, als sie plötzlich spürte, wie sie jemand am Arm festhielt. „Wieso denn so eilig?“, wieder war es der Braunhaarige, der sie ansprach. Insgeheim fragte Marie sich, warum er sie nicht einfach in Ruhe lassen konnte. „Spiel doch mit.“, gab er schließlich den Grund für sein Verhalten preis, woraufhin er einige entgeisterte Blicke von seinen Kumpels erntete. Als er sie bemerkte, fragte er provozierend: „Was denn? Lasst sie doch mitspielen, das wird bestimmt lustig.“ Sein kindisches Kichern verriet, dass er es ernst meinte. Marie verzog das Gesicht und schaute zu Leo. Der sah sie bittend an. „Also schön.“, gab sie schließlich nach, woraufhin ihr der Braunhaarige grinsend auf die Schulter klopfte. „Gut.“, sagte er, „Ich bin übrigens Marco. Letztes Jahr haben Leo und ich zusammen im Verein Fußball gespielt. Das war, als er noch so groß war wie du.“ Wasser. Die kühle Flüssigkeit rann ihr in Sturzbächen die Kehle hinunter. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen. Ihr war schrecklich warm und ihre Knie waren grün vor Pflanzensaft. Mehrmals war sie über ihre eigenen Füße gestolpert und hatte den Rasen geküsst. Sehr zur Freude der Jungen. Doch mittlerweile war sie von allen akzeptierte worden. Sie saßen jetzt schwitzend und keuchend neben ihr im Gras und stürzten den Inhalt ihrer Wasserflaschen hinunter. Trotz der Erschöpfung war die Stimmung ausgelassen. Vor allem Marco schien glänzende Laune zu haben. „Warum kannst du eigentlich auf einmal so gut spielen?“, fragte er Leo, „Bei dem letzten Spiel, an das ich mich erinnere, wurdest du schon nach einer Minute ausgewechselt, weil du dich mit der Gegnermannschaft kein bisschen messen konntest. Habt ihr auf eurem Internat auch ein Fußballteam?“ Leo schüttelte den Kopf. „Wir haben Bibelkicker.“, erklärte er. Jetzt lagen von einem Moment auf den anderen vier verdutzte Blicke auf ihm. „Bibelkicker?“, wiederholte der braunäugige Junge mit den blonden Haaren, „Was soll das denn bitte sein? Kickt ihr da ein altes Buch vor euch her?“ Seine Kumpels lachten bei dieser Vorstellung. „Nein.“ Leo seufzte. Dann fing er an zu erklären. „Bibelkicker ist so ähnlich wie Fußball, nur ohne Torwart. Oder besser gesagt: Der, der am weitesten hinten steht, verteidigt das Tor, ihr wisst schon.“ Die anderen nickten. „Ja und?“, fragte einer der Jungen dann ungeduldig, „Was hat das jetzt mit der Bibel zu tun?“ „Warte doch mal ab.“, beschwerte sich Leo, „Ich bin doch noch gar nicht fertig mit Erklären. Jedes mal, wenn ein Tor geschossen wird, wird eine Karte mit einer Frage gezogen, die sich nun mal auf die Bibel bezieht. Wenn die Mannschaft die Frage beantworten kann, zählt das Tor, wenn nicht, dann eben nicht.“ Leo wartete ab, wie seine Freunde darauf reagieren würden. Marco und der Blonde runzelten unwillig die Stirn, während die beiden anderen gar keine Reaktion zeigten. „Du immer mit deiner Bibel.“, maulte der Blonde schließlich, „Ich dachte, das wäre langsam vorbei. Ich hab den Konfirmandenunterricht gerade erst hinter mir, jetzt will ich endlich meine Ruhe haben von diesem Schwachsinn.“ Leo verdrehte die Augen. Er hatte keine Lust, darüber zu streiten. „Warum fragst du dann?“, gab er nur mürrisch zurück. Der Blonde zuckte mit den Schultern. Zehn Minuten später machten sie sich bereit für ein zweites Spiel. Der Ball flog über die Wiese hinweg und hinterließ hin und wieder Abdrücke auf dem ebenmäßigen Rasen, genauso wie die Stollenschuhe, die sich erbarmungslos in den Boden bohrten. Irgendwann knallte eine Autotür. Leos Eltern waren wiedergekommen. Sein Vater war auf einer Besprechung gewesen und seine Mutter beim Frisör. Als Leo sie sah, wie sie sich durch den Garten auf den Weg zum Haus machten, rief er ihnen ein kurzes: „Hallo!“, zu, das seine Mutter mit einem freundlichen Kopfnicken erwiderte. Dann verschwand sie im Haus. Sein Vater hingegen kam auf die Jugendlichen zu. Während er ging, hatte er seinen Blick fest auf den Boden gerichtet, aus dem das Gras an manchen Stellen herausgerissen worden war und wo sich jetzt Löcher aus braunem, schmierigem Erdboden in die vorher so glatte Rasenfläche gefressen hatten. Als Leo ihn kommen sah, dachte er sich erst nichts dabei. Er spielte einfach weiter und passte Marie gerade den Ball zu, die daraufhin versuchte, ihn ungelenkt an Marco weiterzugeben. Da spürte er, wie ihn jemand herumriss. Kurz darauf starrte er in die blauen, ernsten Augen von Herrn Schneider, dem Chef einer großen Firma, die Autoreifen herstellte. „Was soll das hier?“, fragte er leise. Leo merkte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in ihm breit. „Was?“, fragte er und erwiderte den durchdringenden Blick seines Vaters, nichtsahnend, was für ein Problem dieser hatte. Eine Sekunde später hielt Leo sich die Ohren zu. Der Mann vor ihm hatte unvermittelt angefangen und brüllen und das direkt vor seinem Gesicht. „Bist du wahnsinnig?“, schrie er, „Ich habe den Rasen erst vor kurzem von unserem Gärtner neu bepflanzen lassen und du verschandelst ihn, indem du hier mit deinen Freunden Fußball spielst!“ Plötzlich hatte sich die ruhige, willensstarke und durchdringe Maske des soliden Geschäftsmannes in ein rotes, vor Wut verzerrtes Gesicht verwandelt. Sein Vater hatte sich vor seiner Familie nie gut beherrschen können und Leo und seine Brüder schon so manches mal zusammengebrüllt. Jetzt packte er seinen Sohn am Arm. „Du sagst deinen Freunden jetzt sofort, dass sie nach Hause gehen sollen und für den Schaden hier kommst du auf. Weißt du eigentlich, wie teuer so etwas ist?“ Erst jetzt begriff Leo. Vage erinnerte er sich daran, wie sein Vater ihm vor einigen Tagen stolz von seinem neuen Projekt, der Erneuerung des Rasens, berichtet und ihn gebeten hatte, zum Fußballspielen die kleinere Rasenfläche auf der Hinterseite des Hauses zu benutzen. Leo war nur mäßig interessiert gewesen und hatte deshalb nur mit einem Ohr zugehört, seinem Vater dann aber versprochen, ihm das Projekt nicht zu versauen. Und jetzt? Jetzt hatte er es einfach vergessen. Wie hatte er nur so dumm gewesen sein können… Hektisch schaute er von seinen Freunden, die wie erstarrte dastanden, wieder zu seinem Vater und von ihm aus schließlich zu Marie. Er wusste, dass sie die einzige von seinen Freunden war, die sein Vater mochte. Und wahrscheinlich war sie auch die Einzige, die er überhaupt kannte. Von Leos Fußballfreunden wusste er ja nicht einmal die Namen. Würde Marie nicht irgendetwas für ihn gerade biegen können? Oder hatte er durch seine dumme Aktion jetzt auch noch ihr Ansehen vor seinem Vater zerstört? Jetzt schaute er wieder in das harte Gesicht seines Erzeugers. „Es tut mir Leid.“, stammelte er, „Ich habe es einfach vergessen.“ „Ja, ja, vergessen!“, tönte sein Vater und bäumte sich vor ihm auf, „Ich vergesse mich auch gleich!“ Dabei machte er den Eindruck, als würde er sich wirklich jeden Augenblick auf seinen Sohn stürzen, was er bis jetzt allerdings noch nie getan hatte. Trotzdem hatte Leo keinen Zweifel daran, dass genau das heute passieren würde, wenn seine Freunde nicht schnellstmöglich von hier verschwänden. Er schluckte. „Tut mir Leid, Leute.“, sagte er dann mit belegter Stimme, „Ihr müsst jetzt gehen...“ In diesem Moment wusste er, dass ein großer Teil der lockeren Freundschaft, die er mit einigen von ihnen gepflegt hatte, zerstört war. Die vorwurfsvollen, stummen und anklagenden Blicke der Jungen, als sie sich auf den Weg nach Hause machten, blieben in seinem Gedächtnis haften. Jetzt war nur noch Marie da. „Tut mir wirklich Leid, Herr Schneider.“, sagte sie leise, aber nicht ängstlich. „Ich sage noch meiner Schwester Bescheid und dann gehe ich, wir müssen jetzt sowieso nach Hause.“ Leo betrachtete Marie, wie sie so dastand, in ihrem rosa T-Shirt mit dem schlanken Oberkörper und den schmalen Händen, ihr gegenüber der massige, vor Wut rasende Mann. Doch irgendwie schien sein Vater auf Marie wesentlich weniger einschüchternd zu wirken als auf ihn, obwohl er, Leo, nur wenige Zentimeter kleiner war als der Mann. „Mach das.“, brummte Herr Schneider. Immer noch war sein Gesicht verfärbt, doch er ließ seine Wut nicht an Marie aus. „Das Chaos hier ist ja auch nicht deine Schuld, sondern allein die meines Sohnes.“ Mit einem unbeschreiblichen Ausdruck in den Augen sah er Leo an. Dann wandte er sich ab. Das hinderte seinen Sohn allerdings nicht daran, die letzten Worte noch aufzuschnappen. Sie klangen in seinem Herzen nach wie das Geräusch von zerberstendem Ton. „Nicht einmal das kriegt er auf die Reihe.“ Marie schüttelte in Erinnerung an den gestrigen Tag den Kopf. Sie mochte Herrn Schneider. Sie mochte seine besondere Art, die auf die meisten eher abstoßend wirkte, weil sie nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten. Trotzdem wusste sie, dass Leo darunter litt. Sein Vater hatte oft solche Ausraster. Und zum Schuldigen machte er immer den Sohn, der ihm als Erstes über den Weg lief. Meistens war das Leo. Hinzu kam, dass er fast immer arbeitete und nur wenig Zeit für seine Familie hatte. Seufzend ließ Marie sich auf ihr Bett fallen. Insgeheim fragte sie sich, ob sie auch solche Probleme mit ihrem Vater gehabt hätte, wenn er noch leben würde. Er war vor vielen Jahren umgekommen und hatte seine Kinder nicht aufwachsen sehen. Aber so war das nun mal. Es klopfte. Marie stieß genervt Luft aus. Dann stand sie auf und öffnete die Tür des nunmehr ziemlich kahlen Zimmers. Vor ihr stand ein blondes Mädchen in einer teuren Jeans mit Glitzersteinchen und einem bunten, bauchfreiem Top. Ihre Haare waren von pinken Strähnen durchzogen und eine Wolke von süßlich duftendem, teuren Parfüms umgab sie. Es war Sarah-Annabell, Leos Schwester. Sie war genauso alt wie Maries Schwester Michelle und klingelte regelmäßig bei ihnen, um mit ihr zu spielen. Wenn Marie ehrlich war, fühlte sie sich in der Gegenwart dieses Mädchens etwas unwohl. Leo hatte ihr oft erzählt, wie sie ihn Tag für Tag in den Wahnsinn trieb und je öfter Marie beobachtete, wie sie mit ihrer Schwester umging, desto mehr hatte sie zugeben müssen, dass das, was Leo der Kleinen unterstellte, keineswegs aus der Luft gegriffen war. Herrisch und arrogant hatte er sie genannt und noch vieles mehr. „Was ist denn?“, fragte Marie und bemühte sich, nicht zu abweisend zu klingen. „Michelle hat gesagt, du hast so viele Bücher. Kann ich mir die mal angucken?“ Es war mehr ein unwillig aufgebrummter Befehl als eine Frage. Marie murmelte nur: „Natürlich.“ Und versuchte dann, so schnell wie möglich zu verschwinden. Vorher fiel ihr Blick noch auf die beiden Mädchen. Da wo Sarah- Annabell selbstsicher, launisch und kindisch war, war Michelle eher in sich zurückgezogen, nachdenklich und manchmal eine Spur zu erwachsen. Hoffentlich geht das gut!
„Wann muss ich wieder los?“ Eljosch Kanidis war es, als säße er auf heißen Kohlen. Vor einer halben Stunde erst war er wieder nach Hause gekommen und jetzt stand urplötzlich seine persönliche Beraterin und Managerin auf der Matte, um ihn auf den nächsten Termin vorzubereiten. Und das nach einer durchwachten Nacht! „In einer Stunde findet das Gespräch mit Herrn Borost im Verhandlungssaal statt. Bis dahin solltest du alle relevanten Fakten überflogen haben und für einen angeregten Austausch gewappnet sein. Und du sollten duschen!“ Kristina verzog das Gesicht. Sie kannte Eljosch jetzt schon seit Jahren. Eigentlich war sie mehr als nur seine engste Vertraute, was die Arbeitsangelegenheiten betraf. Sie ihm zu einer Freundin geworden. Und als solche konnte sie sich sogar erlauben, den Präsidenten von Iria persönlich von zu Hause abzuholen, um ihn daran zu hindern, einen wichtigen Termin in den Sand zu setzen. Er schnaubte. Und während er versuchte, sich seiner stinkenden Socken zu entledigen, wetterte er: „Wenn Emanuel noch bei uns wäre, wär das alles nicht passiert. Er wüsste, wie man mit so einer Situation umgehen soll.“ Wütend stampfte er auf, wodurch er in die warme Kaffeepfütze trat, die sich soeben aufgrund seiner Unachtsamkeit auf den Fußboden ergossen hatte. „Wie konnte er uns nur im Stich lassen? Das ist verantwortungslos. Am liebsten würde ich ihn verklagen, zur Rechenschaft ziehen und dann...“ „Und ihn dann wieder bei jeder wichtigen Entscheidung im Land zu Rate ziehen, ich weiß.“, Kristina schürzte die Lippen. „Ich vermisse ihn auch. Aber das ist keine Ausrede, um nicht zur Arbeit zu gehen. Jetzt beeil dich.“ Eine Dreiviertelstunde später saß der Präsident von Iria im Verhandlungssaal und war mit voller Konzentration in die Papiere vertieft, die er studierte. Es blieb ihm viel zu wenig Zeit, um sich richtig auf das Gespräch vorbereiten zu können. Er war ja schon froh, selbst nicht zu spät gekommen zu sein. Aber wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass keine Zeit der Welt ihm tatsächlich die Möglichkeit gegeben hätte, sich auf Borost vorzubereiten. So ein Mann wie er machte immer nur Ärger. Eljosch räusperte sich. Er war perfekt gestylt, jede einzelne Strähne seines langen Haares saß richtig. Und er würde heute, wie an jedem anderen Tag auch, wieder erfahren, ernst und durchsetzungsfähig wirken, so, wie man es von einem Staatsoberhaupt eben erwartete. Aber in seinem Inneren rumorte es. Die Tür sprang auf. Herein kam ein asketisch wirkender, dünner Mann in Anzug, dessen elegantes Erscheinungsbild durch seine eisblau gefärbten Haare gänzlich ins Lächerliche gezogen wurde. Borost. Es war ihm schleierhaft, wie eine Bürgerinitiative so einen zu ihrem Sprecher hatte wählen können. Er kam zehn Minuten zu früh. „Guten Tag, Herr Präsident.“, sagte er und reichte dem Angesprochenen die Hand. Eljosch machte sich nicht die Mühe, von seinen Unterlagen aufzublicken. „Sie sind zu früh.“, stellte er fest, ohne sich jegliche Emotionen anmerken zu lassen. „Ich weiß.“, bestätigte Borost, „Ich bin ein bisschen früher dran, weil ich sie warnen wollte.“ Er hatte sich mittlerweile einen Stuhl genommen und sich dem Präsidenten direkt gegenüber gesetzt. Seine langen Fingernägel ließ er ungeduldig über den Tisch kratzen. Eljosch blickte auf und fixierte sein Gegenüber. Ohne mit der Wimper zu zucken. Doch Borost gab sich nicht einmal Mühe, dem Blickkontakt standzuhalten. Wahrscheinlich ist er wieder bekifft, ärgerte sich Eljosch und zog die Mundwinkel nach unten. „Sie warnen den Präsidenten?“ Er fand sich gut in seiner Rolle als Autoritätsperson. Sehr gut sogar. Hätte er sich selbst gegenüber gesessen, er hätte es mit der Angst zu tun bekommen, so kalt und schneidend war sein Ton. Doch Borost war zu unaufmerksam, um dies überhaupt wahrzunehmen. Oder aber er hatte Nerven aus Stahl. „Um sie zu warnen, ganz Recht.“ In Borosts Stimme lag Abscheu und er machte keinen Hehl daraus, dass er den Präsidenten abgrundtief hasste. „Ich habe mir nämlich Unterstützung mitgenommen.“ Sofort dachte Eljosch an bezahlte Schlägertrupps, die ihm auflauern würden, wenn er nicht das machte, was dieser Lackaffe vor ihm von ihm verlangte. Die kommen eh nicht an mich dran, dachte er grimmig. „Die Presse ist bei mir.“ Eljosch zuckte zusammen. Für einen kurzen Moment verlor er die Fassung. „Sie haben was?“, fragte er, ohne seine Überraschung ganz verbergen zu können. „Unser Gespräch hier werden heute Millionen von Menschen mitverfolgen.“, eröffnete Borost, „Sie haben doch sicherlich nichts dagegen, oder?“ Eljosch holte tief Luft. Und ob er etwas dagegen hatte! Er wusste ganz genau, dass es für ihn übel aussehen würde, wenn Borost die Reporter in der Hand hielt. Er war ein Meister der Täuschung und ganz egal, was er ihm heute antworten würde, es würde zu seinen Ungunsten ausgelegt werden. Und selbst wenn Borost die Leute nicht geschmiert hatte, die Presse war ein nicht zu zähmendes Tier, das im einen Moment ein Regenwurm und im nächsten ein Tiger sein konnte. Außerdem hatte Eljosch die letzten 36 Stunden nicht geschlafen und seine Vorbereitung war miserabel gewesen. Na super! Pressebesuche musste man anmelden, das, was Borost hier machte, war illegal. Gerade wollte er ihm das unter die Nase reiben und die Besprechung absagen, als er daran dachte, was für Konsequenzen das haben würde. Also blieb er cool. „Natürlich habe ich nichts dagegen.“, versicherte er, „Unsere Bürger sollen ja schließlich über alles, was in der Politik passiert, Bescheid wissen und mitreden dürfen, richtig?“ „Richtig.“, Borosts schmieriges Lächeln zeigte ihm, dass er verloren hatte. Der Qualm nahm ihm fast den Atem. Er versuchte, die Luft anzuhalten und durch die grauen, dichten Schwaden davonzurennen. Doch es gelang ihm nicht. Er konnte sich einfach nicht losreißen, sosehr sein Körper sich auch gegen die Stricke, die ihn hielten, aufbäumte. Er war gefangen. Er hörte das Knistern der Flammen, konnte aus den Augenwinkeln Feuerzungen hervorschnellen sehen. Dann sah er nur noch weiß. Ein blendendes Weiß, genauso schrecklich wie der Schmerz, der ihn durchfuhr. Er schrie. Es war grauenvoll. Sein ganzes Dasein war nur noch Schmerz. „Suro? Suro!“ Von einem Moment auf den anderen war er hellwach. „Ja?“, fragte er perplex, noch während sein Oberkörper hochschoss, „Was ist denn?“ Er blickte in das ungeduldige Gesicht seiner Chefin, Professor Ferono. Ihr Blick sagte alles. Er war eingeschlafen, hier, im Lehrerzimmer. Wie das nur? Aber die Angelegenheit, wegen der Professor Ferono ihn sprechen wollte, schien wichtig zu sein, sodass ihm eine peinliche Szene erspart blieb. „Ist der Satz Englischbücher für die neue fünfte Klasse endlich geliefert worden? Ich warte schon seit Tagen darauf.“ Er stöhnte. „Ja, kann sein.“ Ihm war gerade nicht nach nachdenken zumute. Da fiel ihm wie von selbst etwas ein. „Doch, warte mal. Ich glaube, da ist ein Paket angekommen, unten in der Eingangshalle.“ Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, verschwand Professor Ferono. Sie hastete in den großen, mit rotem Teppich ausgekleideten Raum, der nur durch die an den Wänden hängenden Fackeln und dem eisernen Kronleuchter erhellt wurde, der einige Zentimeter von der Decke baumelte. Das Licht war warm und gemütlich. Angestrengt suchten ihre Augen den Fußboden nach einem Paket ab. Und fanden es. Dort stand es, direkt in der Mitte. Sie lief darauf zu, stolperte, fing sich wieder. Dann nahm sie eine Schere aus der Tasche ihres roten Lehrerumhangs und ritzte damit das Klebeband auf, mit dem das Päckchen sorgfältig verschnürt worden war. Das gelang ihr nicht sofort. Noch während sie daran herumbastelte, hörte sie, wie in einem der beiden Türme eine Tür knallte. Danach vernahm sie, wie Schritte die Treppe hinunter polterten. Sie musste nicht einmal aufsehen, um zu wissen, dass es ihr Neffe war. „Was ist das?“ Interessiert kam Jonas auf sie zu. „Englischbücher.“, antwortete Professor Ferono knapp und hoffte, ihn mit dieser Auskunft in die Flucht zu schlagen. Doch weit gefehlt. Stattdessen gab Jonas ein langgezogenes „Aha“ Von sich und fragte: „Kann ich dir helfen?“ Wenig später standen sie beide da und versuchten das Paket zu öffnen, während Lisa Frau Igwanodow, der Reinigungskraft der Schule, zur Hand ging, um alles für die Rückkehr der anderen Schüler vorzubereiten. Nach zehn Minuten hatte Jonas Ungeduld gesiegt und verleitete ihn dazu, so sehr an dem Deckel zu ziehen, dass er schließlich mit einem ekligen Ritsch aufsprang. Dabei rief er triumphierend „Ha!“ Gerade wollte er nachschauen, ob die Englischbücher der neuen fünften Klasse genauso hässlich waren wie seine eigenen, als ihn ein Geräusch stutzig machte. In dem Karton knisterte und raschelte es. Es war ein Geräusch, als würden abertausende Blätter aneinander gerieben werden. Dann sah er verdutzt zu, wie aus dem offenen Karton plötzlich ein Schwarm kleiner, blauer Terminkalender herausflog. Zuerst hielt er sie für Drohnen, doch dann musste er schreckensbleich feststellen, dass es sich tatsächlich um kleine Papierheftchen mit silbernen Flügelchen handelten, die sich innerhalb weniger Sekunden im ganzen Raum ausgebreitet hatten und ihn mit ihrem unverwechselbarem Rascheln erfüllten. „Tolle Englischbücher. Warum hatten wir so welche nicht?“ Kopfschüttelnd musterte er seine Tante, die mit offenem Mund versuchte, die kleinen fliegenden Dinger wieder einzufangen. „Aber… das hatte ich doch gar nicht bestellt!“ Doch für Reue war es jetzt zu spät. Schon ließ sich ein kleiner Terminkalender auf ihrer Schulter nieder. „Guten Tag.“, die Stimme war sanft und hoch, „Der Terminkalender ist stets zu Ihren Diensten.“ „Können die sprechen?“ Jonas kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, während er die kleinen Flugkörper fasziniert anstarrte. „Was ist denn hier los?“ Gerade war Lisa in die Halle gekommen und konnte über das Chaos, das sich da vor ihr erstreckte, nur entgeistert den Kopf schütteln. „Wer hat hier gerade geredet? Jonas, warst du das?“ „Nein… das war der Terminkalender!“ Und schon ließ sich ein weiteres kleines Flugobjekt auch auf Lisas Schulter nieder und sprach sie mit derselben Formel an wie zuvor Professor Ferono. Lisa konnte ihren Augen nicht trauen. „Was soll denn das?“, fragte sie perplex, „Kommen wir so oft zu spät, dass du eine Armee von Terminkalendern auf deine Schüler loslassen musst?“ „Das muss ein Missverständnis sein!“ Verzweifelt warf Professor Ferono die Arme in die Luft. „Die Lieferung ging bestimmt an jemand anderen!“ „Viel Spaß beim Zurückschicken. Die fängst du nie mehr ein.“, sagte Lisa trocken und verließ kopfschüttelnd den Raum. Er hatte alles bestens vorbereitet. In seiner rechten Hand hielt er eine Taschenlampe und in seiner linken ein Karte. Nur für den Fall, dass er sich entgegen seiner Erwartungen verlaufen sollte. Aber das würde nicht passieren. Er kannte diesen Wald in- und auswendig. Auch über seine Bewohner hatte er genug Informationen gesammelt, um ihnen endlich einmal selbst begegnen zu können. Das würde die Forschung in diesem Land immens vorantreiben. Und er wäre derjenige, dem man es zu verdanken hätte. Selbstsicher strich Tilo sich eine lockere Haarsträhne aus der Stirn. Einer seiner potenziellen Kunden hatte dafür gekämpft, ihn mit einem Team erfahrener Jäger auf seiner Mission unterstützen zu dürfen. Als ob er das nicht selbst schaffen würde. Und außerdem: die Gierungen hatten noch nie einen Menschen angefallen. An sich waren sie harmlose Tiere, hatten aber Eigenschaften, die man sich in manchen Bereichen würde zunutze machen können. Aber vorher musste man sie gründlich beobachten und dann einen Plan ausarbeiten, wie man sie am besten einfangen konnte. Jetzt war er am Waldrand angekommen. Bedrohlich ragten die finsteren Wipfel der Bäume gen Himmel. Dieser Anblick machte ihm jedes Mal aufs Neue zu schaffen, auch wenn er das nur ungern zugab. Doch jetzt blieb keine Zeit für lächerliche Schauermärchen. Er knipste seine Taschenlampe an, deren Licht gegen das der vom Himmel lachenden Sommersonne ein Witz war und machte einen beherzten Schritt in den Wald hinein. Noch ehe er sich versah, wurde es vollkommen dunkel. Trotz des Lichts der Taschenlampe brauchte er einen Moment, bis sich seine Augen an die Finsternis gewöhnten. Die Luft war feucht und schwül. Schon nach wenigen Sekunden klebten ihm seine Outdoorklamotten wie maßgeschneidertes Leder an der Haut. Er atmete tief durch. Das war also sein Wald. Langsam und bedächtig ließ er den Leuchtkegel der Taschenlampe durch die Umgebung wandern. Überall standen Bäume mit schwarzen Stämmen und auf dem Boden lag kein einziger abgebrochener Ast. Stattdessen war ihm, als ginge eine Art Wasserdampf von dem Untergrund aus, der ihm die Sicht erschwerte und das Licht, das er durch die Taschenlampe erhielt, beinahe nutzlos machte. Er stieß einen leisen Fluch aus. Wie sollte er die Tiere bei diesen Lichtverhältnissen beobachten? Langsam tastete er sich voran. Es war ein komisches Gefühl. Zum ersten mal in seinem Leben konnte er sehen, wohin er in lief. Oder: viel eher meinte er, sehen zu können, wohin er lief. Bis jetzt hatte er sich immer im Stockdustern durch den Wald getastet und war jedes Mal an sein Ziel gekommen. Doch jetzt war es anders. Der Schein der Taschenlampe, so nutzlos er auch sein mochte, verlieh ihm ungeahnte Sicherheit. Er ging schneller. Bald würde er am Ziel sein. Er hoffte, dass er sie finden würde. Anderenfalls musste er dem Wald noch weitere Besuche abstatten, bis er sie endlich fand. Er dachte an Jemina. Sie würde ganz verrückt sein vor Stolz auf ihn, der zu ihrem Wohl die schlimmsten Gefahren auf sich nahm und die Gierungen zähmen würde. Er ging weiter. Immer weiter und weiter. Er wunderte sich. So schnell wie er ging, müsste er den Wald eigentlich schon längst durchquert haben und am andern Ende wieder herauskommen. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass seine tiefe, schwere Dunkelheit plötzlich vom Tageslicht durchflutet werden würde und den Blick auf das steinerne Schloss am anderen Ende freigeben würde, in dem er zur Schule gegangen war. Firaday. Die meisten Erinnerungen, die er mit seiner Zeit dort verband, waren gut. Er lächelte innerlich. Was würde wohl der alte Professor Hermann sagen, wenn er erfuhr, dass es einem seiner ehemaligen Schüler gelungen war, eine der wohl seltsamsten Geschöpfe ganz Irias zu fangen, zu erforschen und für die Zwecke der Menschen nutzbar zu machen? Ob er überhaupt noch unterrichtete? Tilo wollte, dass es so war. Langsam, ganz langsam stieg ein Gefühl der Ungeduld in ihm auf. Vermischt mit einer kleinen Prise Unbehagen. Um sich abzulenken, fing er leise an zu pfeifen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, zu welchem Lied die Melodie gehörte, aber er mochte sie. Da war es ihm plötzlich, als habe er in seiner Nähe einen Schatten gesehen. Er hörte auf zu pfeifen, hielt inne und lauschte. Doch da war nichts. Absolut nichts. Nur nach wie vor die charakteristische Stille. Wenn es doch nur auch bei ihm zu Hause so ruhig wäre! Nichtsahnend ging er weiter. Bis er plötzlich meinte, Geräusche zu hören. Er konnte sie beim besten Willen nicht genauer definieren. Manchmal dachte er, es sei ein Schmatzen, dann wieder ein Schreien oder ein Grunzen. Und jetzt ein langgezogener, wehklagender Laut. Wie der eines verwundeten Tieres. Tilo hielt die Luft an. Langsam wurde es ihm hier zu ungemütlich. In diesem Moment wünschte er sich, er hätte doch auf den Kunden gehört und wäre nicht alleine hierher gekommen. Jetzt war ihm alles egal. Er wollte hier nur noch raus. Die Mission konnte auch bis morgen warten. Er fing an zu rennen. Verfolgt von den merkwürdigen Geräuschen und unheimlichen Schatten. Er war schon eine geraume Zeit lang umhergeirrt, als er endlich erkannte, dass es keinen Zweck hatte. Keuchend und schwitzend blieb er stehen und spitzte die Ohren. Er hörte nichts mehr. Alles war ruhig und auch die Schatten waren verschwunden. Ob er sich das vielleicht alles nur eingebildet hatte? Das wäre gut möglich. Man sagt ja, dass das menschliche Gehirn sich nicht vorhandene Reize einbildet, wenn es zu lange nichts wahrnehmen kann. Trotzdem. Er war jetzt viel zu erschöpft, um seine Zielobjekte noch stundenlang zu beobachten. Mit einem leisen Stöhnen faltete er die Karte auseinander und erhellte sie mit dem Strahl seiner Taschenlampe. Er konnte alles genaustens sehen. Es war eine besondere Karte. Ein kleiner grüner Punkt zeigte ihm immer an, wo er sich gerade befand. Tilo stutzte. Das war unmöglich. Er war mitten im Wald. Kilometerweit entfernt von Firaday und Miniklu, der kleinen Stadt, von der aus er gestartet war. Sein Herz setzte für einen Moment aus. Er hatte sich wirklich verlaufen. Das hätte er sich niemals zugetraut. Gott sei Dank hatte er die Karte mitgenommen! In Gedanken formulierte er ein stummes Dankgebet und ging dann, die Augen auf die Karte gerichtet, weiter. Er war zuversichtlich, sein Ziel bald zu erreichen. Doch seine Umgebung machte es ihm nicht so leicht. Wieder fingen diese Geräusche an. Und dieses Mal wurden sie immer lauter und lauter, bis er sie einfach nicht mehr ignorieren konnte. Sie waren wirklich da! Panik erfasste ihn. Und Angst. Hektisch leuchtete er die Umgebung um sich herum ab, konnte aber nichts weiter erkennen, als schwarze, undefinierbare Schatten, die sich von allen Seiten auf ihn zu bewegten. Er wollte schreien. Aber aus seinem Mund drang kein Ton. Tief und krampfhaft sog er Luft ein. Er wollte nicht sterben. Da war doch Jemina, seine Verlobte. Was sollte sie ohne ihn machen? Wenige Stunden zuvor war er doch noch dazu im Begriff gewesen, die Welt zu verändern. Warum geschah jetzt so etwas? Von einem Moment auf den anderen, er konnte sich nicht erklären, warum, löste sich seine Schockstarre und er fing wie ein Irrer an zu rennen. Er wusste nicht, ob er wirklich davonrannte oder sich nur im Kreis drehte, jedenfalls tat ihm die Bewegung gut. Und er schrie. Er schrie so laut er konnte. Zu seinem größten Entsetzen erhielt er eine Antwort. Ein lauter, grässlicher, quietschender Schrei. Diesem einen Schrei folgten weitere, bis sich das Ganze schließlich zu einem einzigen Gebrüll verwandelt hatte. Es war zwecklos. Er saß in der Falle. Tilo hörte auf zu laufen. Wenn das hier das Ende sein sollte, dann war es gut. Er hatte keine andere Wahl, als es zu akzeptieren. Alles, was er tun konnte, war, darauf zu vertrauen, dass dieses Leben nicht das Ende war. Er dachte an Jemina. Es tat ihm weh, sie vor seinem inneren Auge zu sehen. Inständig betete er für sie. Dann sah er sie. Sein Mageninhalt entleerte sich. Seine Hose war nass und durchweicht, der Boden vor ihm von einer gelben, glibberigen Flüssigkeit bedeckt. Das Dunkle bäumte sich vor ihm auf. Das Letzte, was er sah, war eine messerscharfe Kralle, die im Licht seiner Taschenlampe aufblitzte, um daraufhin einen starken, kurzen Schmerz in seiner Brust zu erzeugen. Dann sackte er in sich zusammen. Der kleine, grüne Punkt auf seiner Karte löste sich in Luft auf. Ein Geruch nach frischem Gebäck und Süßwaren lag in der Luft. Es wäre schon fast angenehm gewesen, wenn nicht überall Leute umher gehastet wären, die Leo und Marie entweder fast umrannten oder ihnen ihre Ellenbogen beim Vorbeigehen unsanft in die Rippen stießen. Die große Halle war erfüllt von Stimmen, aber vor allem von dem Rollen der tausenden von Koffern, die über den gefliesten Boden fuhren. Die beiden Freunde mussten sich den ein oder anderen Fluch von ungeduldigen Passanten anhören und wurden von einer Art hilflosen Mitleids überrannt, sobald sie die Bettler in ihren vor Schmutz starrenden Klamotten am Rand des Geschehens sitzen sahen. Sie waren spät dran. Der Flieger würde in fünfundvierzig Minuten den Flughafen verlassen. Nur hatten sie keine Ahnung, wie sie ihn finden sollten. „Hat Jonas dir geschrieben, wo wir hin müssen?“, erfolglos versuchte Marie, gegen den Lärm anzukämpfen. „Was?“, brüllte Leo, „Ich verstehe dich nicht!“ „WOHIN MÜSSEN WIR?“ Marie gab sich alle Mühe, so laut wie möglich zu schreien und endlich schien Leo zu verstehen. Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ In der nächsten Minute ließen sie sich einfach von dem Strom aus Passanten mitreißen. Schließlich kamen sie sogar an einer altbekannten Stelle vorbei. Marie erinnerte sich, wie sie hier im letzten Jahr zum ersten Mal auf Carenszura, Jonas Schwester, gestoßen waren. Ihr echter Name war Chila gewesen. Doch ihr würden sie zum Glück nie wieder begegnen. Sie war tot. Nach einer Weile konnte Marie nicht mehr an sich halten. Es machte sie wahnsinnig, dass Leo einfach so die Führung übernommen hatte, ohne zu wissen, wohin sie überhaupt mussten. Noch dazu kam, dass sie sich Vorwürfe machte, erst so spät losgekommen zu sein. Unsanft zerrte sie ihren Freund am Ärmel und bedeutete ihm energisch, ihr zu folgen. Dieser schüttelte zwar den Kopf, ließ sich dann aber widerwillig mitreißen. Marie führte ihn durch den nicht enden wollenden Strudel aus Menschen zu einem etwas ruhigeren Bereich des Flughafens. Dort gab es einen Auskunftsschalter. „Entschuldigung?“, sprach Marie die Dame an, die dahinter stand, „Wissen sie, wann der Flieger nach Iria geht?“ Die Augen in dem Gesicht mit den sympathischen Zügen weiteten sich. „Wohin?“, fragte die junge Frau, „Iria?“ Marie wurde etwas unbehaglich zumute. Warum hatte Jonas sie nicht einfach abholen können, so wie letztes Mal? „Ja.“, versuchte sie zu erklären, „So weit ich weiß, geht heute ein Sonderflug zu einem Ort namens Iria.“ Die Frau runzelte zwar überrascht die Stirn, machte sich aber immerhin die Mühe, den Namen in ihr Suchprogramm einzugeben. Dann rief sie überrascht auf. „Tatsächlich.“, sagte sie und sah Marie freundlich an, „Das habe ich gar nicht gewusst. Euer Flug geht in einer halben Stunde von Terminal 2, Gate 1,3.“ „Dankeschön.“, verabschiedete sich Marie und zog Leo mit sich. Dieser wehrte sich und riss sich schließlich los. „Was soll das denn?“, blaffte er, „Gate 1,3? Will die uns verarschen?“ Marie zuckte mit den Schultern. „Ist doch möglich, dass es für den Iria-Flieger ein extra Gate gibt, das normalerweise nicht mit dazugehört. Aber das muss irgendwo hier ausgeschildert sein.“ Suchend schaute sie sich um. Dann stieß sie einen triumphierenden Pfiff aus und deutete auf ein Schild über ihnen. „Das war vor zwei Wochen noch nicht da.“, maulte Leo und beeilte sich, mit Marie Schritt zu halten. Die Kleine heizte ihm ganz schön ein. Noch dazu kam, dass sie ihm einfach ihre fette Tasche um die Schulter gehängt hatte, die er nun schleppen musste. Sie brauchte sich nur noch um den kleinen Rollkoffer zu kümmern. Das nächste Mal würde er ihr seine Hilfe nicht mehr anbieten. „Das haben sie da bestimmt extra aufgehängt.“, äußerte Marie ihre Vermutung in Bezug auf das Schild. Doch das Reden hielt sie keineswegs davon ab, zu gehen. Ganz im Gegenteil: Während sie sprach, steigerte sie ihr Tempo noch, bis sie schließlich fast rannte. „Jetzt warte doch mal!“, rief Leo ihr verärgert schnaufend hinterher. Als er sie endlich eingeholt hatte, meinte er: „Mein Vater hätte uns auch sonst mit dem Privatjet meines Opas dahin fliegen können. Dann hätten wir uns diese ganze Hetzerei erspart. Aber du wolltest ja nicht.“ Marie lachte verschmitzt. „Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“, fragte sie, während sie im Slalom durch die Absperrungen kurvte. „Ich weiß doch ganz genau, dass nicht jeder x-beliebige Pilot einfach so nach Iria fliegen kann. Das ist auf keiner einzigen Karte eingezeichnet, schon vergessen? Und nur Irianer, die eine entsprechende Ausbildung gemacht haben, wissen, wie man dort hin und wieder zurückkommt.“ Leo schnaufte. Nach fünf Minuten waren sie bei Gate 1,3 angekommen. Völlig verschwitzt und außer Atem. Im Vergleich zu der überfüllten Halle war der Bereich hier geradezu leer. Nur hin und wieder beobachteten sie ein paar Leute in ihrem Alter, genauso bepackt wie sie, die sich gerade von ihrer Familie verabschiedeten oder sich auf ihren Handys herumtippend die Zeit vertrieben. Beim Stichwort Handy fiel Leo wieder ein, dass Handys in Iria tabu waren. Er würde seines schon hier im Flughafen abgeben müssen. Dies war die letzte Gelegenheit, um noch einmal seine WhatsApps zu checken. Eine Sekunde später wünschte er, er hätte es nicht getan. Seine kleine Schwester Sarah-Annabell, die als Einzige aus ihrer Familie von dem peinlichen Status, den man erstellen konnte, Gebrauch machte, hatte jedes einzelne ihrer Beautyprodukte abfotografiert, die Fotos zusammengefügt und sie kommentiert. Er wusste, dass es nicht ratsam war, sich das jetzt anzugucken. Nach dem Gerenne würde ihm das den letzten Atem rauben. Marie hatte alles mitbekommen. Grinsend schaute sie auf sein Display. „Na? Willst du nicht die Tipps und Tricks deiner Schwester durchforsten? Wer weiß, vielleicht hat sie eine gute Idee, wie du deine Pickel loswirst.“, feixte sie, woraufhin Leo ihr einen Knuff in die Seite versetzte. Dann erzählte er ihr düster von der abendlichen Prozedur, die seit neustem in ihrem Hause stattfand. Seit Sarah-Annabell mit ihren gerade mal neun Jahren durch den Sexualunterricht in der Schule auf den Trichter gekommen war, dass sie sich vielleicht schon in der Pubertät befand, hatte sie angefangen, ihr gesamtes Zimmer umzuräumen und ihre Mode umzustellen. Aus ihrem quietschrosa Prinzessinnenschloss war eine ebenso grässliche Beautyhöhle geworden, in der sie nach dem Abendbrot immer verschwand, um darauf mit einem durch eine Schneckenschleimmaske verunstaltetem Gesicht wiederzukommen. Als Leo seiner Freundin das erzählte, musste sie lachen. Dann machte sie ihn auf die anderen Jugendlichen aufmerksam. „Was meinst du?“, fragte sie, „Ob die wohl auch in Iria zur Schule gehen?“ „Bestimmt.“, antwortete Leo, „Guck sie dir doch an. Die sind genauso wenig motiviert wie du und ich.“ Erst in diesem Moment fiel ihm auf, was er da gerade gesagt hatte und er fügte korrigierend hinzu: „Ich meine: nur wie ich. Du brennst ja richtig auf Unterricht.“ „Gar nicht wahr.“, protestierte Marie beleidigt. Und um wieder vom Thema abzulenken, meinte sie: „Den Jungen da vorne habe ich schon mal in Sinistro gesehen. Willst du dich nicht mit ihm über Bibelkicker unterhalten?“ Leo sah Marie mit einem Gesichtsausdruck an, als hätte sie ihn gefragt, ob er denn nicht Lust hätte, sich einen Pudel mit pinken Haaren zu kaufen. „Wieso sollte ich?“, fragte er und kniff die Augen zusammen, „Ich kenne den Typen nicht.“ Marie stöhnte. Typisch. Bloß nicht zu aufgeschlossen sein. Der Miesepeter Leo würde ihr mit seiner pessimistischen Art noch den ganzen Flug über auf die Nerven gehen. Doch dann fiel ihr etwas auf, das ihre Laune noch immens verschlechterte. Auf einmal erschien auf der digitalen Fluganzeige ein roter Text, der besagte, dass der Iria-Flieger mit mindestens einer Stunde Verspätung abfliegen würde. Sie stöhnte. Die nächsten paar Stunden sah man zwei dutzend Schüler, die sich lustlos auf die gepolsterten Wartesitze rund um das Gate verteilt hatten und gedankenverloren auf ihr Flugzeug warteten. Leo schaute sich bei YouTube ein Katastrophenvideo nach dem anderen an, allerdings nur so lange, bis sich Marie über den Lärm beschwerte und ihn fragte, was so toll daran sei, Menschen leiden und sterben zu sehen. Seine aufgebrachte Antwort war: „Darum geht es doch gar nicht! Die versuchen aufzuklären, wie die Unfälle passieren konnten und wie man sich davor schützen kann!“ Und mit einem abschätzigen Blick auf Marie fügte er hinzu: „Und das, was ich mache ist allemal besser, als einen historischen Roman auf Englisch zu lesen. Das Mittelalter, ich bitte dich! Da weiß ja sogar ich alles drüber, was man wissen muss. Wozu braucht man also noch Bücher?“ „Ach ja?“, skeptisch zog Marie ihre Augen zu Schlitzen zusammen, „Und das wäre?“ „Machtmissbrauch, Krankheit, Krieg, Aberglaube. Also Mord und Totschlag.“ „Ist doch gar nicht wahr!“, maulte Marie, „Natürlich war das Mittelalter ein dunkles Zeitalter, aber wusstest du zum Beispiel, dass es auch schon damals Leute gab, die sich für Freiheit eingesetzt haben? Sie sind von Dorf zu Dorf gezogen und haben den Menschen Lesen und Schreiben beigebracht, damit sie die Bibel und andere damals wichtige Schriften selbst lesen konnten.“ „Und dann wurden sie geschnappt und nach einer hochnotpeinlichen Befragung auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“, führte Leo die Geschichte zu ende, „Was für ein Pech aber auch! Dann kannst du dir gar keine Autogramme mehr von ihnen holen.“ Maries Gesichtsausdruck veränderte sich. Jetzt war sie stinkwütend. „Das ist nicht lustig.“, sagte sie und fixierte Leo dabei mit einem so düsteren Blick, dass er für zehn Minuten die Klappe hielt. Irgendwann bekamen sie Hunger. Sie kauften sich zwei überteuerte Brötchen und spazierten dann zurück zum Gate, um die neue voraussichtliche Abfahrtszeit zu erfahren, bis zu der sie noch eine Dreiviertelstunde warten mussten. Also beschlossen sie, sich in dem nah gelegenem Shop umzusehen. Marie war gerade vor einem Regal mit allerlei billigem Schmuck stehen geblieben, den sie nur mäßig interessiert betrachtete, als sie plötzlich etwas Feuchtes im Nacken spürte. Dazu ein Pumpgeräusch und Leos kindisches Lachen. Erst dann roch sie es. Oder besser gesagt: Sie konnte den Gestank nicht mehr ignorieren. „Ihh!“, rief sie und fügte dann mit zugehaltener Nase hinzu: „Ist das Männerparfüm?“ Leo grinste schadenfroh. „Nein.“, eröffneter er dann, „Aber es ist das weiblichste Frauenparfüm, das ich jemals gerochen habe.“ „Das stinkt wie Walkotze!“, beschwerte sich Marie und machte eine Geste, als müsse sie sich übergeben. Da hörte sie, wie sich ihnen Schritte näherten. Gefolgt von einem großen Mann mit Glatze. Er schien aus einem unerfindlichem Grund wütend zu sein. „Hey, was macht ihr da?“, rief er und riss Leo unsanft die Parfümflasche aus der Hand.