Irina und der Streuner - Barbara Acksteiner - E-Book

Irina und der Streuner E-Book

Barbara Acksteiner

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Beschreibung

Irina und der Streuner, ein Titel, der normal und harmlos klingen mag. Doch schaut man sich das Cover an und liest den Klappentext, wird deutlich, dass es sich nicht um einen Wohlfühlroman handelt. Im Buch selbst wird keine Trigger-Warnung zu finden sein. Irina und Hugo, eine Obdachlose und ein Streuner, beide haben unendlich viel durchgemacht. Sie mussten Grausames erleben, wurden gequält, gedemütigt und dennoch haben sie den Glauben an das Gute nicht vollends verloren. Ob ihnen das allerdings zum Verhängnis werden wird, verrate ich an dieser Stelle nicht.

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel eins

DIE GRAUE DECKE

Kapitel zwei

IN DER STADT

Kapitel drei

HERZENSSACHE

Kapitel vier

ZU VIEL DES GUTEN

Kapitel fünf

DAS NEUE JAHR

Kapitel sechs

MYSTERIÖSE WUNDE

Kapitel sieben

IM TREPPENHAUS

Kapitel acht

BLANKES ENTSETZEN

Kapitel neun

INNERE ZERRISSENHEIT

Kapitel zehn

SCHLIMME DIAGNOSE

Kapitel elf

TRÜGERISCHE RUHE

Kapitel zwölf

DER VERRAT

Kapitel dreizehn

DIE SCHWARZE LIMOUSINE

Kapitel vierzehn

GRAUSAMER FUND

Kapitel fünfzehn

RÄTSELHAFTE KLOPFGERÄUSCHE

Kapitel sechzehn

DER BRIEF

Kapitel siebzehn

GEFAHR IM VERZUG

Kapitel achtzehn

TRAUMATISIERT

Kapitel neunzehn

DER LETZTE AUSWEG

Kapitel zwanzig

DIE NOTLÜGE

Kapitel einundzwanzig

DIE MUNDHARMONIKA

Kapitel zweiundzwanzig

DER NEUBEGINN

Kapitel dreiundzwanzig

RESÜMEE

Über mich

Danksagung

Buchtipp

KAPITEL EINS

DIE GRAUE DECKE

In dichten Flocken fiel der Schnee herab zur Erde und es sah nicht so aus, dass der Schneefall bald aufhören würde. Obendrein war es bitterkalt.

Die Menschen, die hastig durch die Bummelallee liefen, sahen dabei kaum nach rechts und links. Wenn doch, dann blieben sie mit ihren Einkaufstüten in den Händen vor Schaufensterscheiben stehen, betrachteten die Auslagen, um hinterher in einem der Geschäfte zu verschwinden. Kurz danach kamen sie mit einer weiteren Tüte in der Hand aus dem Laden wieder heraus und liefen weiter.

So war es auch nicht verwunderlich, dass sie der Frau, die an eine Häuserwand gelehnt auf einer Decke saß, nicht eines Blickes würdigten. Neben ihr lag ein Hund, den sie mit einem Stück der grauen Decke zugedeckt hatte und der aufmerksam das Treiben beobachtete. Ab und zu blickte der Hund die Frau an und legte für einen Moment seine weiße Schnauze auf ihre angewinkelten Beine.

Als es zu dämmern begann, wurde es für sie Zeit ihre Notunterkunft aufzusuchen. Behutsam streichelte sie über das struppige, nasse Fell ihres Hundes und wischte ihm dabei mit der bloßen Hand den Schnee ab, der auf ihm und der alten, grauen Decke lag.

»Hugo, wir wollen los. Komm, steh auf. Ich weiß ja, dass dir das schwerfällt, aber nachher kannst du dich wieder hinlegen.«

Man merkte dem alten Hund an, dass er nur mit größter Kraftanstrengung aufstehen konnte. Aber als er es geschafft hatte, schüttelte er sich kurz und schmiegte sich an die Beine der Frau.

»Du musst aber von der Decke runtergehen, Hugo. Ich muss die doch noch zusammenfalten. Komm, geh ein paar Schritte weiter.«

Der Hund hatte jedes Wort verstanden. Er nahm die Pfoten von der grauen Wolldecke runter und passte genau auf, was sein geliebtes Frauchen jetzt machte.

Nachdem die junge Frau die wenigen Münzen eingesammelt hatte, die einige Passanten lieblos auf die alte Decke geworfen hatten, faltete sie diese sorgfältig zusammen. Aber wenn man sah, wie ordentlich sie mit der alten, verschlissenen Decke umging, musste diese wohl eine ihrer wertvollsten Besitztümer sein. Nachdem sie sich das wärmespendende Teil unter den Arm geklemmt hatte, verließen die Frau und der Hund den Platz.

Mittlerweile hatte auch der Schneefall aufgehört, worüber sich besonders die Frau freute. Denn so würde ihr Hund nicht noch nasser werden. Na ja, um sich selbst machte sie sich nicht allzu viele Gedanken. Sie war es schließlich gewohnt, dass sie tagtäglich Wind und Wetter ausgesetzt war. Aber ihr Hugo?

Sie wusste nicht viel von ihm. Eigentlich gar nichts. Noch nicht einmal seinen richtigen Namen wusste sie! Die Frau schaute zu ihrem vierbeinigen Begleiter hinunter. Und während sie über seinen Kopf strich, hätte sie zu gern gewusst, wie er wirklich hieß, wie er gerufen worden war, bevor sie ihm den Namen Hugo gegeben hatte.

Aus ihren Gedanken wurde sie gerissen, als eine Frau sie lautstark anranzte. »Können Sie Ihren hässlichen Köter nicht anleinen? Aber nein, Sie sind bestimmt auch eine von denen, die die Kacke ihres Hundes einfach überall liegenlassen. Na ja, so wie Sie und der Köter aussehen! Sie passen richtig gut zusammen! Nun gehen Sie mir schon aus dem Weg! Gehen Sie endlich zur Seite. Weg da!«

Als die Fremde, die elegant gekleidet war, ihren Arm hob und ihr einen Stoß geben wollte, fing Hugo bedrohlich an zu knurren. Noch ehe sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, stellte sich Hugo schützend vor sein Frauchen, fing lauter an zu knurren und fletschte die Zähne.

»Der Köter ist nicht nur hässlich, der ist sogar noch gemeingefährlich!«, fauchte die garstige Frau und versuchte jetzt nach dem Hund zu treten.

Nun wurde aus Hugos bedrohlichem Knurren ein furchterregendes. Jedoch als er zähnefletschend auf die Keifende zugehen wollte, hielt Irina ihren Hund zurück. Daraufhin ließ die zornige, aufgetakelte Frau die beiden in Ruhe und zog zeternd ihrer Wege.

Jetzt beugte sich Irina zu ihrem Hund hinunter, gab ihm einen Klaps auf die Flanke und lächelte ihn an. »Hugo, so kenne ich dich ja gar nicht. Und was die zu dir gesagt hat, das stimmt nicht. Du bist ein wundervoller Hund, du bist mein bester Freund! Du hast mich doch verstanden, oder? Komm, Hugo, lass uns weitergehen, bevor es wieder zu schneien beginnt.«

Humpelnd lief der alte Hund nun neben ihr her. Ab und zu musste er stehenbleiben, weil er nicht weiterlaufen konnte. Aber immer, wenn Hugo verschnaufen musste, blieb auch die Frau stehen. Liebevoll streichelte sie dann über seinen Rücken und redete ihm gut zu. Wenig später lief er hinkend weiter, möglichst eng an der Seite der Frau.

Dass die beiden sich vertrauten, war unübersehbar. Seien es die Blicke, die sie miteinander tauschten oder die kleinen Zärtlichkeiten, die der Hund der Frau zeigte, indem er nicht von ihrer Seite wich. Außerdem waren da noch die zahlreichen Streicheleinheiten, die der altersschwache Hugo zwischendurch von ihr erhielt.

Alle paar Meter beugte sich die Frau zu dem Hund hinunter, nahm eine Pfote nach der anderen in ihre Hand und entfernte mit der anderen die kleinen Eisklümpchen, die sich zwischen seinen Ballen gebildet hatten. Dankbar leckte der Hund dann über die Hand seines Frauchens und sah sie mit treuen, glanzlosen und trüben Augen an.

Beobachtet wurden die beiden schon seit einiger Zeit von einem jungen Pärchen, das mit einem jungen Hund, den sie an der Leine hatten, unterwegs war. Und weil die hübsche Frau und der junge Mann fast jeden Tag mit ihrer Fellnase die Bummelallee entlangliefen, war ihnen die Frau mit ihrem Hund schon seit mehreren Tagen aufgefallen.

Beeindruckt waren sie, dass die Frau nicht ein einziges Mal Passanten angebettelt hatte. Sie bat nicht um Geld und sie zeigte auch nicht kummervoll auf ihren altersschwachen Hund, um so das Mitleid der Umherlaufenden zu erhaschen. Auch lag kein Schild neben den beiden, auf das sie etwas geschrieben hatte.

Sie saß nur da, mit gesenktem Blick, denn sie schien sich zu schämen. Aber wenn man nicht blind und herzlos war, konnte man sehen, dass sie ihren Hund sehr lieben musste. Denn die alte, graue Decke teilte sie sich mit ihm. Denn erst, wenn er auf der verschlissenen Decke lag und sie ihn mit einem kleinen Zipfel etwas zugedeckt hatte, setzte sich die Frau neben den Hund.

Das alles sah auch heute wieder das junge Pärchen, und sie ertappten sich dabei, dass sie sich unwohl fühlten. Ihr Hund war vergnügt, fidel und freute sich seines Lebens. Sie selbst waren gesund, hatten ein warmes Dach über dem Kopf, verdienten gutes Geld und konnten sich viele Wünsche erfüllen. Vielleicht wäre ihnen die Frau auch gar nicht weiter aufgefallen, wenn sie ohne den Hund an der Häuserwand gelehnt und auf ihrer Decke gesessen hätte.

Aber als sie mitbekommen hatten, dass die Obdachlose von einer herausstaffierten Fremden beschimpft wurde, die dem Hund sogar einen Fußtritt verpassen wollte, da überlegten sie, ob sie nicht eingreifen müssten. Doch noch ehe sie zu Ende gedacht hatten und handeln konnten, lief die wütende Frau auf einmal weiter.

Als kurz darauf diese Person an Yve und Niklas vorbeirasen wollte, blieb sie abrupt bei ihnen stehen und sah das Pärchen mit wutverzerrtem Gesicht an.

Dann drehte sie sich um, zeigte mit einer Hand in die Richtung und wetterte: »Das! Das, da hinten, das ist eine Bestie! Beißen wollte mich der hässliche Köter! Einsperren müsste man beide …, die Frau und das gefährliche Viech!«

Anhand der schrillen, lauten Stimme und ihres Gesichtsausdruckes konnte das Pärchen erkennen, dass sie sehr erbost war. Denn ihr Gesicht war zornrot und sie fuchtelte wild mit den Händen, bevor sie auf- und davoneilte und endgültig im Getümmel verschwand.

Die junge Frau und ihr Begleiter sahen einander an. Das, was sie gerade erlebt hatten, verschlug ihnen die Sprache. Sie konnten nicht glauben, dass über einen mittellosen Menschen und ein Tier, die beide niemanden etwas getan hatten, derartiges gesagt werden würde. Und doch war es gerade passiert!

Wie auf Kommando suchten die Augen des Paares wieder nach der Frau und dem Hund. Endlich entdeckten sie sie. Sie sahen, dass die Frau mit dem Hund sehr langsam die Bummelallee entlangging. Dabei fiel ihnen auf, dass sie immer und immer wieder den Hund streichelte, wenn er stehen blieb. Sie waren ein Herz und eine Seele.

Zu gern hätten Yve und Niklas der Frau und dem Hund geholfen, aber wie? Während sie sich grübelnd ansahen, entfernte sich die Frau immer weiter von ihnen. Und als sie wieder nach ihr Ausschau hielten, waren sie und ihr Hund inmitten der Menschen untergetaucht.

Traurig schaute sich das Paar an. Gleichzeitig machten sie sich Vorwürfe, dass sie ihr in den Tagen zuvor nicht eine kleine Spende zukommen ließen. Auch hatten sie die Frau nicht ein einziges Mal angesprochen.

Nichts hatten sie unternommen, gar nichts!

Heute fragten sie sich jedoch, warum sie die Frau und den Hund all die Tage zuvor ignoriert und den beiden jegliche Aufmerksamkeit verwehrt hatten. Aber warum nahmen sie sie ausgerechnet heute wahr?

Hatte das Schicksal die Hand im Spiel? Sollte es so sein? Wollte es etwas anderes damit bezwecken? Oder war es letztendlich Vorsehung? Jetzt zum bevorstehenden Jahreswechsel?

KAPITEL ZWEI

IN DER STADT

Krümel hatte am Silvestermorgen den Schalk im Fell. Denn kaum, dass er sein Körbchen verlassen hatte, sauste er durch die Wohnung und kläffte, als wenn er einen Eindringling vertreiben wollte. Noch lauter fing er an zu bellen, als es an der Eingangstür schellte.

»Willst du wohl still sein!«, maßregelte der Herr der Wohnung seinen völlig durchgeknallten Hund.

Doch der dachte gar nicht daran!

Er kläffte, kläffte, kläffte …

Erst als die Hausherrin ihn im Nacken zu fassen bekam und energisch sagte: »Krümel, Ruhe! Schluss jetzt!«, hörte er auf zu bellen und lief schuldbewusst ins Wohnzimmer.

In der Zwischenzeit hatte Niklas durch den Türspion geschaut und die Eingangstür geöffnet. Vor ihm stand ein breitschultriger Mann mittleren Alters der demonstrativ einen Blick auf das Namensschild warf, das an der Klingel angebracht war.

Noch bevor Nik etwas sagen konnte, deutete der Fremde hinweisend auf das Schild. »Dann sind Sie also Herr Lehmann? Niklas Lehmann? Richtig?«

»Guten Morgen, ja, der bin ich. Und was möchten Sie am frühen Morgen von mir? Ich kenne Sie nicht.«

»Morgen, Herr Lehmann, ich will mich nur kurz vorstellen. Ich habe die Wohnung unter Ihnen gemietet und bin ab dem 1. Januar Ihr neuer Hausgenosse. Und damit Sie wissen, mit wem Sie es in Zukunft zu tun haben: Ich bin Leon Greber und Security-Mitarbeiter!«

Dass die Wohnung in dem Zweifamilienhaus befristet auf drei Jahre vermietet werden sollte, das hatte der Haus- und Wohnungseigentümer, Herr Schmietts, dem Ehepaar Lehmann zwar erzählt, aber zu welchem Zeitpunkt und wer der neue Mieter sein wird, das stand in dem nachfolgenden Brief nicht drin. Und fragen konnten sie ihn nicht mehr, weil Thorsten Schmietts bereits in New York war.

Jedoch in diesem Moment, als der neue Mieter vor ihm stand, überkam Nik ein ungutes Gefühl. Denn der breitschultrige Mann, der ihm gegenüberstand, machte nicht gerade einen friedfertigen und soliden …

Seine Frau holte ihn in die Realität zurück. »Nik, wer hat denn eben geklingelt?« Schon stand sie neben ihm.

»Yve, das ist Herr Greber. Er zieht unten in die Wohnung von Thorsten Schmietts ein. Und das, Herr Greber, ist meine Frau.« Nik zog seine Frau bei diesen Worten an sich heran.

Sie reichte dem neuen Mieter die Hand. »Guten Tag, Herr Greber, auf eine hoffentlich gute Hausgemeinschaft!«

»Tach, Frau Lehmann. Na ja, dann will ich aber davon ausgehen, dass diese gute Hausgemeinschaft nicht jeden Tag durch derart lautes Hundegebell gestört wird. Sonst, und darauf können Sie sich verlassen, lernen Sie mich von einer ganz anderen Seite kennen!«

Dann wandte sich der Neue ab und ging grußlos und übel gelaunt runter zu seiner Wohnung. Es dauerte nur Sekunden, dann hörten Niklas und Yve, dass er seine Tür mit einem ohrenbetäubenden Knall zuschlug.

Nachdem das Ehepaar die eigene Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, sahen sie sich entsetzt an.

»Kannst du mir mal verraten, was der Typ von uns wollte? Und wie ist der denn drauf gewesen?« Yve stieß ihren Mann an. »Du, das war doch keine Vorstellung, für mich klang das eher wie eine Drohung.«

Genauso hatte es Niklas auch empfunden. Aber das wollte er seiner Frau auf gar keinen Fall sagen.

Stattdessen nahm er sie in seine Arme und sagte beschwichtigend: »Der Kerl befindet sich im Umzugsstress. Wir sollten schnell vergessen, was er gesagt hat. Warten wir ab, was die nächsten Tage mit sich bringen. Sag mal, was wollen wir heute noch unternehmen?«

Yve schaute ihren Mann an. Sie war stinksauer, dass der neue Mieter ihr die Stimmung vermiest hatte. Ausgerechnet heute an Silvester!

»Du sagst ja gar nichts«, stellte ihr Mann fest. »Ich denke, wir wollten noch mal in die Stadt gehen, um für uns Heringssalat, Brötchen und die mit Pflaumenmus gefüllten Berliner zu besorgen.«

Geistesabwesend nickte Yve.

»Und? Was heißt das Nicken jetzt?« Er zog seine Frau noch einmal zu sich heran und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Das heißt, dass wir uns jetzt beeilen müssen, denn sonst ist der Heringssalat ausverkauft. Du weißt ja, der ist bei unserem Fleischer immer heißbegehrt.«

»Ausverkauft? Hast du etwa keinen vorbestellt?«, wollte er wissen.

»Nein, das habe ich in diesem Jahr vergessen. Aber die haben für Silvester sowieso viel mehr zubereitet. Nik, ich räume schnell auf, dann können wir los. Mache dich schon fertig, ich bin gleich startklar. Ich muss mir nur noch meine Stiefel und die Winterjacke anziehen, das geht ruckzuck.«

»Na großartig! Jetzt fehlt bloß, dass wir dieses Jahr keinen Heringssalat mehr bekommen.«

»Nik, nun fange du nicht auch noch an zu meckern! Es reicht mir für heute. Mir läuft ein Schauer nach dem anderen über den Rücken, wenn ich daran denke, was sich gerade vor unserer Tür abgespielt hat. Der Greber hat mir echt Angst gemacht! Hast du ihm dabei mal in die Augen gesehen? Eiskalt, richtig Furcht einflößend haben die ausgesehen. Hast du denn gar nicht bemerkt, wie der mich gemustert hat? Von oben bis unten, von unten bis oben! Ich kam mir vor, als wenn der mich mit seinen Blicken ausgezogen hat. Widerlich, einfach nur widerlich!«

»Du hast ja recht, Mausi. Er hat dich nicht aus den Augen gelassen. Aber es kann natürlich auch an seinem Beruf liegen, dass er alle Menschen taxiert, die er nicht kennt. Du hast ja gehört, er ist Sicherheitsbeamter. Wenn das so ist, dann kann das nur zum Vorteil sein, dass so einer bei uns im Haus wohnt. Aber lass uns nicht mehr über ihn reden, das ist der Vorfall nicht wert. Weißt du was, ich gehe mit Krümel schon vor die Tür, ist das okay für dich?«

»Ist es, mach das. Aber trotzdem mag ich den Mann nicht! Und warum hat der nur mich so gemustert, und dich nicht? Nee, nee, Nik, mit dem stimmt was nicht, das sagt mir mein Bauch!«

»Du und dein Bauchgefühl! Ich lach mich schlapp. Wenn ich da an Krümel denke! Hat dir dein Bauch damals nicht auch gesagt, dass er bestimmt so groß wie ein Golden Retriever wird?« Foppend sah Nik seine Frau an.

Dann nahm er Krümel auf den Arm, streichelte ihn ausgiebig und flüsterte ihm ins Ohr: »Ja, und was ist aus dir geworden? Eine freche, kleine Fußhupe! So viel zu deinem Frauchen und zu dem, was ihr Bauch zu ihr gesagt hat, als wir dich gesehen und aus dem Tierheim abgeholt haben.«

Er hatte kaum das letzte Wort ausgesprochen, da flog ihm schon sein Schlüsselbund entgegen.

»Du Stänker!«, kicherte Yve. »Jetzt mach bloß, dass du mit Krümelchen rauskommst! Ich beeile mich.«

In Windeseile zog sie sich ihre Winterjacke an und schlüpfte in die Stiefel. Nachdem sie sich noch ihr Stirnband über die Ohren gezogen hatte, betrachtete sie sich kurz im Spiegel. Danach eilte Yve hinaus zu ihrem Mann, der draußen in der Kälte auf sie wartete.

Eine halbe Stunde später hatten sie das Fleischerei-Fachgeschäft erreicht. Während Yve zum Einkaufen ins Geschäft ging, musste Niklas mit Krümel draußen warten.

Drinnen tummelten sich zwar einige Kunden, aber es ging zügig voran. Als Yve an der Reihe war, freute sie sich, dass der Heringssalat noch nicht ausverkauft war. Sie äußerte ihre Wünsche und die freundliche Fleischereifachverkäuferin verpackte alles sorgfältig. Dann gingen beide zum Kassenbereich, wo Yve die Ware bezahlen musste. Während die Verkäuferin alle Beträge in die Kasse eingab, stutzte Yve auf einmal.

»Mir ist noch etwas eingefallen, was ich noch haben möchte. Aber ich kann das ja erst bezahlen.«

»So machen wir das!«

Als sie das bereits Eingekaufte bezahlt und es in ihrem Beutel verstaut hatte, ging sie mit der Verkäuferin zurück zur Verkaufstheke.

Yve zeigte auf ein Paar Würstchen. »Bitte geben Sie mir davon zwei Paar und einen kleinen Becher Heringssalat. Ach so, und wenn Sie noch Rindermarkknochen hätten, möchte ich davon drei oder vier.«

Nachdem die Verkäuferin das bejaht hatte, holte sie einige Knochen aus dem Kühlraum und packte danach alles fein säuberlich in Papier ein.

Anschließend bezahlte Yve, legte die Ware zu den bereits gekauften Sachen in ihren Einkaufsbeutel und verließ zügig das Geschäft.

»Hast du alles bekommen?«, fragte Nik seine Frau.

»Na klar. Jetzt müssen wir nur noch zum Bäcker. Ich möchte Brötchen und Berliner kaufen. Und wenn wir das erledigt haben, will ich zur Bummelallee gehen.«

»Was willst du da denn? Allzu lange können wir uns mit Krümel aber nicht mehr in der Stadt aufhalten, er läuft nicht gern zwischen all den Menschenbeinen hindurch.«

»Ich weiß, Nik. Aber ich möchte der Frau und dem Hund heute etwas geben. Die beiden sind mir seit gestern nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Weißt du, beide tun mir leid …, besonders heute. Es ist doch Silvester!«

»Von mir aus. Aber du musst damit rechnen, dass sie gar nicht da sind. Nicht, dass du hinterher enttäuscht bist.«

»Mag sein, dann muss ich mich damit eben abfinden. Aber zumindest habe ich es versucht!«

Mittlerweile waren sie beim Bäcker angekommen und Yve kaufte zuerst ein, was sie für sich und ihren Mann haben wollte. Dann ließ sie sich noch zwei Brötchen und zwei Berliner, gefüllt mit Pflaumenmus, in einzelne Tüten einpacken. Zufrieden und mit einem ‚Guten Rutsch‘ verließ sie den kleinen Bäckerladen.

Als Yve wieder auf dem Bürgersteig stand, sah sie sich um. Doch weder ihren Mann noch Krümel konnte sie entdecken. Dabei waren gar nicht mehr so viele Menschen unterwegs.

Während sie mit den Bäckereitüten in den Händen dastand, dachte sie nach. Sollte er etwa schon vorgegangen sein? Ohne sie, zu der Frau und ihrem Hund? Nein, das würde er niemals machen! Nur, wo waren Nik und Krümel?

Allmählich bekam sie kalte Finger. Denn den anderen Einkaufsbeutel, in den sie jetzt gerne die Tüten getan hätte, hatte sie zu Hause ihrem Mann in seine Jackentasche gesteckt. Und da steckte der Beutel jetzt gut, während ihre Finger so langsam zu Eiszapfen wurden.

Es half nichts! Sie musste noch einmal in den Bäckerladen gehen und sich dort eine Einkaufstasche kaufen. Froh war Yve erst, nachdem sie im Geschäft die vier Tüten in der Papiertragetasche verstaut hatte und nun mit freien Händen das Lädchen verlassen konnte.

Draußen vor der Tür steckte sie ihre eiskalten Hände schnell in die Jackentaschen, damit sie wärmer werden konnten. Abermals hielt sie Ausschau nach ihrem Mann und Krümel. Dann sah sie die beiden.

Endlich standen sie sich gegenüber. Yve gab ihrem Mann einen Schubs. »Sag mal, wo warst du denn? Ich stehe mir hier die Beine in den Bauch, habe eiskalte Hände, und du bist mit Krümel einfach weggegangen. Was hast du denn da unterm Arm?«

»Das?« Nik musste schmunzeln. »Das habe ich gerade gekauft!«

»Super Antwort! Nun weiß ich ja, was du da unterm Arm hast. Du Witzbold.«

»Ich war mit Krümel im Zoogeschäft und habe für den Hund der Frau eine wärmende Decke gekauft. Wir haben gestern doch gesehen, dass er nur mit einem kleinen Stück der grauen Decke zugedeckt war. Wenn du der Frau was gibst, dann soll der Hund eben von mir was bekommen!«

»Ach, Nik, das hätte ich dir nun gar nicht zugetraut. Ich lieb dich so! Los jetzt, lass uns zu den beiden gehen!«

Glücklich hakte sich Yve bei ihrem Mann unter. Dann gingen sie mit ihrem Krümel in Richtung Bummelallee.

KAPITEL DREI

HERZENSSACHE

Je näher sie der Bummelallee kamen, umso mehr Menschen eilten ihnen entgegen. An ihren Gesichtern konnten Yve und Niklas erkennen, dass die meisten von ihnen gehetzt waren.

Und wenn sie genau hinsahen, wusste das Ehepaar, dass in den Tragetaschen nur Silvester-Raketen sein konnten. Denn zahlreiche Holzstiele sahen daraus hervor. Und die Kinder, die neben den Erwachsenen herliefen, waren jetzt schon außer Rand und Band. Einige von ihnen durften sogar voller Stolz und Vorfreude die prall gefüllten Tüten tragen. Und ab und zu warfen die Kleinen auch schon mal Knallerbsen auf den Straßenbelag.

Obwohl die Lehmanns die Kinder verstehen konnten, fanden sie das Knallen nicht so gut. Denn jedes Mal, wenn eine kleine Erbse einen Knall von sich gab, zuckte Krümel zusammen und sein kleiner Körper fing an zu zittern. Er hatte fürchterliche Angst! Silvester war für ihren Hund kein angenehmer Tag, und die Nacht sowieso nicht.

Nachdem es zum wiederholten Mal geknallt hatte, stieß Yve ihren Mann an. »Nimm Krümelchen doch auf den Arm. Siehst du nicht, was er für Angst hat?«

»Du hast gut reden. Guck mal, wie der aussieht! Sein Fell unterm Bauch ist klitschnass und dreckig obendrein.

Weißt du, wie meine Sachen hinterher aussehen? Wir sollten uns beeilen, dass wir wieder nach Hause kommen.«

»Mein Gott, Nik, dann gebe ich deine Jacke eben in die Reinigung. Nun nimm ihn schon hoch! Schau, da sitzt die Frau ja. Und der Hund liegt auch wieder neben ihr auf der Decke.«

Niklas gab sich geschlagen. Er beugte sich zu Krümel hinunter und hob die nasse, schmutzige Fußhupe hoch. Aber nicht, weil er einsah, dass seine Frau recht hatte. Oh nein! Das machte er nur, weil er aus dieser Entfernung nicht einschätzen konnte, wie der große Hund der Frau auf Krümel reagieren würde.

Siegessicher und mit einem frechen Gesichtsausdruck grinste Yve ihren Mann an. »Siehste, geht doch!«

»Und, was meinst du, Mausi? Soll ich die Fußhupe nun auch noch unter meine Jacke nehmen?«

Yye fing an zu lachen und knuffte ihn an. »Doofmann! Du sollst zu Krümelchen nicht immer Fußhupe sagen! Aber wenn er friert, ich habe nichts dagegen, wenn du ihn dort wärmen willst!«

Jetzt trennten sie nur noch wenige Meter von der Frau.

Auch heute saß sie wieder mit angewinkelten Beinen auf der grauen Decke, hatte ihren Rücken an die Häuserwand gelehnt und streichelte gedankenverloren ihren Hund. Erst als Yve und Niklas mit Krümel auf dem Arm direkt vor der Frau und ihrem Hund standen, blickte sie zu ihnen hoch.

Yve erschrak! Dass die Frau noch so jung war, damit hatte sie nicht gerechnet. Yve fiel sofort auf, dass sie sehr hübsch war, stahlblaue Augen hatte, ihre Haare unter einer Pudelmütze verborgen waren, und dass die Frau sie und Niklas errötend anlächelte.

»Ich heiße Yve. Und das ist mein Mann Niklas. Und der Hund auf seinem Arm, das ist unser Krümel.« Vorsichtig, und dabei den großen Hund der Frau im Auge behaltend, reichte Yve ihr jetzt die Hand.

Merkwürdig war, dass der alte Hund ganz ruhig liegen blieb und anscheinend keinerlei Notiz von ihr, ihrem Mann und Krümel nahm. Das kann doch unmöglich derselbe Hund sein, der erst gestern noch sein Frauchen vehement beschützt und die Zähne gefletscht hat, schoss es Yve durch den Kopf. Nein, ich kann mich nicht so irren, der friedlich daliegende Hund ist heute zu 100% kein anderer.

Ehe sie noch weitergrübeln konnte, zeigte die Frau auf den Hund mit der schneeweißen Schnauze, der seinen Kopf hautnah an ihre Beine gelegt hatte. »Das ist mein Hugo und ich bin Irina. Aber Sie brauchen vor ihm keine Angst zu haben. Hugo weiß ganz genau, wer es gut mit ihm und mit mir meint.«

»Oh! Sie heißen also Irina. Was für ein schöner und ausgefallener Name!«, entfuhr es Nik.

»Danke!« Verlegen sah sie Niklas an.

Plötzlich versuchte der Hund aufzustehen. Als er es endlich geschafft hatte, ging er langsam und humpelnd auf Nik und Krümel zu.

»Er tut Ihnen und Ihrem Hund nichts«, sagte die Frau mit leiser Stimme. »Hugo will Ihren Hund nur begrüßen, er mag andere Hunde. Na ja, eigentlich mag er alle Tiere. Allerdings nicht alle Menschen …«

»Dann hat Ihr Hugo bestimmt schlechte Erfahrungen gemacht, oder?«, wollte Yve wissen.

Die Frau nickte und senkte den Kopf.

Als Yve merkte, dass sie nicht darüber reden wollte, sah sie Hugo hinterher. Inzwischen stand der, mit seiner Rute wedelnd, neben ihrem Mann und begrüßte Krümel, indem er ihn mit seiner kalten, feuchten Nase anstupste.

»Hugo freut sich! Sehen Sie das?«, rief Irina und dabei fingen ihre Augen vor Freude an zu strahlen. »Er wedelt sogar mit seiner Rute! Das hat er schon lange nicht mehr gemacht! Sie wissen gar nicht, was das für mich bedeutet. Ich dachte nämlich, dass sich mein Hugo über nichts mehr freuen kann.«

Dann wischte sich die Frau die Tränen, die ihr über die Wangen liefen, mit dem Ärmel ihrer Jacke ab und rief ihren treuen, alten Hund wieder zu sich heran.

Während er hinkend zurück zu seinem Frauchen lief, stand sie von ihrer Decke auf, und als Hugo bei ihr war, streichelte sie ihn überglücklich. Es war ein Bild, das Yve und Niklas zu Herzen ging.

Ehe die beiden etwas erwidern und ihr die Geschenke überreichen konnten, hörten sie, wie die junge Frau zu ihrem alten Hund mit der schneeweißen Schnauze sagte: »Wenn du schon aufgestanden bist, dann werden wir auch gleich nach Hause gehen. Warte, Hugo, ich muss nur noch unsere Decke zusammenfalten und mitnehmen.«

Darauf sah sie das Ehepaar an und meinte: »Wissen Sie, er kann schlecht aufstehen. Warum soll er sich noch einmal quälen. Außerdem will ich mit ihm von hier weg sein, bevor die Knallerei zunimmt. Denn davor hat Hugo fürchterliche Angst. Nein, er gerät sogar in Panik. Das alles möchte ich ihm gern ersparen. Hoffentlich hat ihr Kleiner nicht auch solche Angst.«

Jetzt bückte sie sich. Und als sie sich ihre graue Decke wieder unter den Arm geklemmt hatte, reichte sie Yve und Niklas die Hand. »Danke, dass Sie mit mir geredet haben. Hugo und ich wünschen Ihnen und Ihrem Hund, dass das neue Jahr gut für Sie wird. Auf Wiedersehen.«

»Halt, warten Sie bitte!« Yve hielt ihre Hand fest.

»Habe ich was Falsches gesagt? Oder Sie verärgert?« Irina schaute sie verstört an.

»Um Gottes Willen, nein!« Schnell drückte Niklas der völlig perplexen Frau ein Päckchen in den Arm. »Aber wir möchten Ihnen noch etwas geben. Hier, das ist eine Decke für Ihren Hugo!«

»Das ist ... « Mit aufgerissenen Augen sah sie Niklas an. »Das ist eine Decke für Hugo? Wirklich? Oh, wie schön. Danke, ich danke Ihnen!«

Ruckartig drehte sie ihren Kopf in eine andere Richtung, denn es war ihr offensichtlich peinlich, dass ihre Augen feucht wurden. Erst als sie sich wieder gefangen hatte, drehte sich Irina wieder um. Aber als Yve ihr dann auch noch die Tragetasche überreichte, in der sich die Würstchen, der Heringssalat, die Rindermarkknochen, die Brötchen und Berliner befanden, liefen dann doch Tränen über ihr bildhübsches Gesicht.

»Wo …, womit habe ich das denn verdient? Sie kennen mich doch gar nicht«, stammelte die Frau und sah Nik und Yve voller Dankbarkeit an.

Hugo, der instinktiv bemerkte, dass etwas geschehen sein musste, was sein Frauchen aus der Fassung gebracht hatte, fing plötzlich an zu winseln und zwängte sich demonstrativ zwischen Irina und Yve.

»Ist alles gut, Hugo! Ist alles gut. Sie tun dir und mir nichts, im Gegenteil. Du hast jetzt auch eine Decke, eine die nur dir gehört.«

Nur Krümel, den Nik immer noch auf seinen Armen trug, schien alles egal zu sein. Ihm ging es gut, er fror nicht und der große Hund tat ihm nichts. Also knipste er seine Knopfaugen wieder zu und schlief weiter.

Nun erzählte Niklas der jungen Frau auch, dass sie und ihr Hund ihm und seiner Frau schon seit Tagen aufgefallen sei, und dass sie ihr zum Jahreswechsel unbedingt eine kleine Freude machen möchten. Und dass das für ihn und Yve eine Herzensangelegenheit wäre.

Sichtlich berührt hatte die Frau den Worten des Ehepaares gelauscht. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann es zuletzt ein Mensch so gut mit ihr und Hugo gemeint hatte.

Gerade als sie sich nach diesem Gespräch voneinander verabschieden wollten, knallte in der Nähe ein Böller. Krümel zuckte zusammen, zitterte wie Espenlaub und Nik hatte Mühe, ihn wieder zu beruhigen.

Was allerdings daraufhin geschah, konnten Yve und ihr Mann nicht glauben. Der Hund der Frau, warf sich zu Boden, fing an zu jaulen, winselte vor Angst und in seinen Augen spiegelte sich eine blanke Panik wider.

Irina ließ alles fallen, was sie in den Händen hatte, dann fiel sie auf ihre Knie und rutschte ganz nah an ihren Hund heran. Nun redete sie mit sanfter Stimme auf ihn ein und strich dabei über sein Fell.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe Hugo wieder auf seinen vier Pfoten stand. Er hechelte, die Zunge hing ihm aus dem Maul und immer und immer wieder sah er mit angsterfüllten Augen sein Frauchen an, gerade so, als wollte er ihr sagen: Hilf mir doch!

Erst nachdem sich der Hund wieder etwas beruhigt hatte, bückte sie sich und hob alles auf, was vor ihr auf dem Boden lag.

Dann schaute Irina Yve und Niklas an. »Sie müssen wissen, Hugo hat Grausames erlebt. Wäre er ein Mensch, dann würde es heißen, dass er ein Knall-Trauma hat. Entschuldigen Sie bitte, aber ich muss gehen. Hugo und ich müssen unsere Unterkunft erreicht haben, bevor noch so ein lauter Böller gezündet wird. Danke für alles und Gottes Segen fürs neue Jahr – für Sie und Ihren knuffigen Hund.«

»Für Sie auch, Irina! Sehen wir uns wieder? Wo wohnen Sie denn? Dürfen wir Sie ein Stück begleiten?« Yve sah die Frau fragend und bittend zugleich an.

»Nein, nein!« Erschrocken schüttelte Irina den Kopf. »Ich …, ich gehe allein. Ich wohne mit anderen Mittellosen in einem ausrangierten Bauwagen. Oh ja, ich würde mich freuen, wenn wir uns eines Tages wiedersehen würden. Noch bin ich hier. Machen Sie es gut!«

Dann drehte sie sich schnell um und ging mit ihrem immer noch verstörten und hinkenden Hund die Bummelallee hinauf.

Eine Weile blickten Niklas und seine Frau den beiden hinterher. Sie konnten sehen, dass auch heute der Hund sehr oft stehen blieb, bevor er humpelnd weiterlaufen konnte. Und weil es jetzt auch noch zu schneien anfing, musste für den alten Hund das Laufen durch den Neuschnee besonders beschwerlich sein.

Als die Frau und der Hund aus ihrem Blickfeld verschwunden waren, griff Yve nach der Hand ihres Mannes und zog ihn mit sich mit. »Los, Nik, nun komm schon. Lass uns auch nach Hause gehen. Wenn das so weiterschneit, dann bravo!«

»Wer hat denn so lange gequasselt und konnte sich nicht loseisen? Du oder ich? Nun gib es schon zu, Mausi, du hättest doch am liebsten noch gewusst, wo und wie sie wohnt, oder warum hast du Irina gefragt, ob wir sie noch begleiten sollen?«

»Ach, nun hör schon auf! Dir haben die beiden doch auch leidgetan. Das sehe ich dir an deiner Nasenspitze an. Aber nee, das willst du nur nicht zugeben! Ich kenne dich! Noch was: Du solltest Krümel runterlassen, bevor wir zu Hause sind. Sonst sind wir kaum in der Wohnung, dann muss er raus, weil die Blase drückt!«

»Stimmt, Mausi, da hast du ausnahmsweise recht.« Und ehe sich Krümel versah, stand er schon im Schnee, während Nik lachend meinte: »Hast du gehört, Fußhupe, nun musst du den Rest des Weges auf den eigenen vier Pfoten nach Hause laufen.«

»Doofmann!« Yve gab ihm einen kräftigen Knuff in die Seite. »Mensch, hör auf damit! Du sollst nicht immer Fußhupe zu ihm sagen!«

»Stimmt! Das tut deinem Krümelchen ja weh.«

»Witzbold! Los jetzt, lass uns endlich gehen!«

Yve war froh, dass ihnen beim Nachhausekommen der neue Mieter im Treppenhaus nicht über den Weg gelaufen war. Denn seit gestern bekam sie das Bild nicht mehr aus dem Kopf, als er vor ihrer Wohnungstür aufgetaucht war und sie wie ein Stück Frischfleisch beäugt hatte. Gleichzeitig ärgerte sie sich, dass sie gerade das Treppenhaus hochgeschlichen war und dabei inständig gehofft hatte, dass ihr Hund nicht zu bellen begann.

Erst als sie, Nik und Krümel in den eigenen vier Wänden angekommen waren, atmete Yve befreit auf. Zum Glück hatte ihr Mann von ihrer Anspannung nichts mitbekommen. Denn der hätte sie glatt für gaga gehalten.

Krümel, der war vom Laufen durch den Schnee so geschafft, dass er sich sofort in sein Körbchen legte und keinen Mucks mehr von sich gab.

Niklas und seine Frau genossen den Nachmittag, indem sie es sich richtig gemütlich machten. Sie aßen die Berliner, tranken dazu Kaffee und nebenbei lief der Fernseher. Sie schauten sich zum x-ten Mal ‚Dinner for One‘ an, während kurz vor dem bevorstehenden Jahreswechsel in regelmäßigen Zeitabständen auf die aktuelle Uhrzeit hingewiesen wurde.

Dann war es so weit!

Die Kirchenglocken fingen an zu läuten, zeitgleich wurden die ersten Raketen abgeschossen und der Himmel war übersät von Farben, Sternen und Gefunkel. Dennoch verlief die Silvesternacht im Vergleich zu den Jahren zuvor ziemlich ruhig. Die Knallerei hielt sich in Grenzen, sodass sich Krümel nicht verängstigt in der hintersten Ecke des Wohnzimmers verstecken musste.

Es war weit nach Mitternacht, als Yve und Nik sich ansahen und wie auf Kommando sagten: »Ich gehe jetzt ins Bett. Kommst du mit?«

Lachend erhoben sie sich vom Sofa. Dann verschwanden sie zusammen im Bad. Wenig später kamen beide wieder bettfertig gekleidet heraus und gingen kichernd ins Schlafzimmer.

Als sie eng aneinander gekuschelt im Bett lagen und Nik die Nachttischlampe schon ausgeknipst hatte, hörte er, dass seine Frau leise seufzte.

»Tut dir was weh, Mausi?«

»Nein, Nik. Ich musste gerade an Irina und ihren Hund denken. Wie alt mag sie wohl sein …?«

»Lass uns morgen darüber reden. Wenn wir uns weiterhin den Kopf zerbrechen, dann machen wir die Nacht zum Tag. Wenn du willst, gehen wir gleich im neuen Jahr in die Stadt und dann kannst du ja noch einmal und etwas ausgiebiger mit ihr reden, okay? Aber jetzt lass uns schlafen. Oder wollen wir lieber noch etwas schmusen?«

»Letzteres, oh ja, das könnte mir gefallen!«, kicherte Yve und schmiegte sich ganz fest an ihn.

KAPITEL VIER

ZU VIEL DES GUTEN

Während sich Irina mit ihrem Hugo an der Leine ihren Weg durch die Menschen bahnte, die ihr in der Bummelallee entgegenkamen, musste sie an das Ehepaar und den kleinen Hund denken. Sie konnte es nicht fassen, dass es noch Menschen gab, die auf sie, »auf eine Obdachlose mit Hund« zukamen, ohne dass sie ihr nur lieblos ein Geldstück auf die verschlissene Decke warfen. Oder dass sie nur verächtlich ihren alten Hund beäugen wollten, um ihn obendrein auch noch als hässlichen Köter zu betiteln.

Doch das, was ihr vor wenigen Minuten an Wohlwollen und Freundlichkeit von Yve und Nik zuteilgeworden war, war fast zu viel für Irina. Denn an uneigennützige Gesten, daran glaubte sie schon längst nicht mehr. Den Glauben daran, den hatte sie verloren.

Und nun lief sie hier entlang mit einer neuen Decke für Hugo und einer Tasche voller Geschenke, die ihr das nette Paar überreicht hatte. Ohne dass dafür eine Gegenleistung von ihr verlangt wurde. Allein, wie sie mit Hugo gesprochen hatten, um ihn besorgt waren, als der Böller losging und er sich vor lauter Angst nicht mehr auf seinen Pfoten halten konnte! Das freundliche Ehepaar hatte ihr gezeigt, dass nicht alle Menschen grausam und verlogen waren.

Erst als ein Mann und sie sich versehentlich anrempelten, kam Irina wieder in der Realität an. Gerade als sie sich bei dem Mann für ihre Unachtsamkeit entschuldigen wollte, blieb er stehen und schaute zuerst sie und dann ihren Hund an.

»Entschuldigung, junge Frau, das wollte ich nicht. Aber das kommt davon, wenn man nicht hinsieht, wo man hinläuft. Ich hatte nur Augen für Ihren Weggefährten. Wissen Sie, immer …«, er hörte kurz auf zu reden. »Immer, wenn ich einen älteren Hund sehe, muss ich an mein altes Mädchen denken. Meine treue Seele ist vor drei Wochen gestorben. Brunhilde hatte auch so eine weiße Schnauze wie Ihr Hund. Wie heißt der denn?«

»Hugo, das ist mein Hugo. Er kann nicht mehr richtig sehen und das Laufen fällt ihm sehr schwer.«

»Und warum helfen Sie ihm nicht?«, wollte der Fremde wissen und sah Irina mit gütigen Augen an. »Hm, kein Geld, um mit ihm zum Tierarzt zu gehen. Vermute ich richtig? Wie alt ist er denn?«

Mit hochrotem Kopf wandte sich Irina ab. Es war ihr unangenehm, dass der Mann, der bestimmt schon die siebzig Jahre überschritten haben musste, mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. Irina schämte sich, dass anscheinend jedermann ihr ansah, dass sie obdach- und mittellos war. Selbst dann, wenn sie nicht auf ihrer grauen Decke saß und Hugo neben ihr lag.

Dem Fremden entging nicht, dass sich die junge Frau sehr unbehaglich fühlte. Inzwischen ärgerte er sich auch maßlos, dass er ihr so unsensible Worte an den Kopf geworfen hatte. Einen Moment überlegte er, wie er das richtigstellen könnte.

Der alte Mann räusperte sich kurz, bevor er äußerte: »Sollte ich eben mit meiner Äußerung übers Ziel hinausgeschossen sein, tut es mir leid. Ich wollte Sie keinesfalls verletzen, das dürfen Sie mir glauben. Ich muss in Zukunft besser überlegen, was ich sage. Kommen Sie mit Ihrem Hund friedvoll ins neue Jahr und gute Besserung für Ihren Hugo!« Prüfend blickte er die junge Frau an.

Weil Irina die versöhnlich klingenden Worte guttaten, drehte sie sich wieder zu dem älteren Mann um und erwiderte leise: »Danke. Wie alt mein Hugo ist, weiß ich nicht. Er hat mir das Leben gerettet, und ich ihm seins. Aber das ist eine andere Geschichte. Doch seit jenem Tag sind wir unzertrennlich. Aber wissen Sie, gerade deshalb schmerzt es mich, dass ich ihm seine Schmerzen beim Aufstehen und Laufen nicht nehmen oder zumindest etwas erträglicher machen kann. Ja, Sie haben es richtig erkannt! Mir fehlt das Geld, ich habe keins, um einen Tierarzt aufzusuchen und Medikamente für Hugo zu kaufen. Aber jetzt muss ich weiter, Hugo zittert, er friert. Die Kälte und Nässe sind nicht gut für seine Knochen. Ich wünsche Ihnen auch alles Gute fürs neue Jahr. Bleiben Sie gesund und danke für das nette Gespräch.«

Dann beugte sie sich zu ihrem Hund hinunter, streichelte seinen Rücken und während er dabei sein Frauchen mit seinen trüben Augen ansah, sagte sie zu ihm: »Weiter geht`s, Hugo. Komm, wir haben es gleich geschafft!«

Freundlich nickte Irina dem alten Mann noch einmal zu, und dann ging sie langsam weiter in Richtung Ende der Bummelallee.

Der Fremde blickte ihnen hinterher. Und als er sah, dass der humpelnde Hund stehen blieb, die Frau sich zu ihm hinunterbeugte, eine Pfote nach der anderen in ihre Hände nahm, um die Eisklumpen unter seinen Ballen zu entfernen, fasste er einen Entschluss.

Irina strich ihrem Weggefährten noch einmal über seinen Kopf, dann setzten sie ihren Weg fort. Was Irina nicht sehen konnte, war, dass der Mann ihnen eiligen Schrittes folgte und sich immer mehr näherte.

»Warten Sie! Bleiben Sie bitte mal stehen!«, rief er hinter der Frau her. Die Stimme kam Irina bekannt vor. Sie hielt inne und drehte sich um. Dann sah sie, dass der Fremde direkt auf sie zueilte.

Als sie sich gegenüberstanden, fackelte der Mann nicht lange. Er griff in seine Jackentasche, zog eine Visitenkarte hervor und drückte sie der Frau in die Hand.

»Tun Sie mir den Gefallen und suchen Sie gleich im neuen Jahr …« Er überlegte kurz. »Okay, ich schlage den

3. Januar vor. Bitte suchen Sie mit Ihrem Hund die Adresse auf, die auf der Karte steht. Ich melde Ihren Hugo dort heute noch an! Und was die Kosten anbelangt, die übernehme ich. Klingeln Sie einfach, es ist dann jemand da. Machen Sie das und nehmen Sie den Termin wirklich wahr! Ihrem Hund muss unbedingt geholfen werden!« Er lächelte sie freundlich an, drehte sich um und eilte davon.

Mit einem erstaunten Gesichtsausdruck stand Irina da und blickte ihm hinterher. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Denn was der Fremde gerade zu ihr gesagt hatte, musste sie erst einmal sacken lassen.

Immer noch hielt sie die Visitenkarte in ihrer geschlossenen Hand. Und während sie überlegte, ob sie das alles nur geträumt hatte, öffnete sie sie langsam. Aber als Irina las, was auf der kleinen Karte stand, stockte ihr der Atem.

Tierarzt med. vet. Wolfgang Fuchs

Termin nach Vereinbarung

Rosenheckenweg 13 a-b

Das war zu viel des Guten! Ohne auf die anderen Menschen zu achten, die noch immer in der Stadt unterwegs waren, ließ sie ihren Tränen freien Lauf!

Dann beugte sie sich zu ihrem altersschwachen, kranken Hund hinunter und vergrub schluchzend ihr tränennasses Gesicht in seinem Fell.

Hugo, der sein Frauchen genau kannte, spürte, dass die Tränen, die sie vergoss, keine der Trauer waren. Von daher blieb er geduldig neben ihr stehen. Und als Irina beim Aufstehen sah, dass er leicht mit seiner Rute zu wedeln begann, da wusste Irina, was sie tun würde. Gleich im neuen Jahr, am 3. Januar!

Nachdem sie ihrem Hund noch einmal gut zugeredet hatte, gingen beide ihres Weges. Was Irina nicht wusste, war, dass das Glück ihnen auch weiterhin hold bleiben sollte. Denn während sie langsamen Schritts ihre Unterkunft aufsuchten, wurden keine weiteren Böller oder andere Kracher mehr gezündet. Weil alles ruhig blieb, bekam ihr Hugo auch keine erneute Panikattacke.

Fünfzehn Minuten später erreichte Irina mit ihrem hinkenden Hund den ausrangierten Bauwagen.

Dieser stand fernab der Stadtmitte, am Waldesrand in der Nähe einer Großbaustelle, und war fußläufig gut zu erreichen. Das war wichtig für Irina. Denn weite Strecken konnte Hugo nicht mehr laufen.