Herzen im Sturm der Gezeiten - Barbara Acksteiner - E-Book

Herzen im Sturm der Gezeiten E-Book

Barbara Acksteiner

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Beschreibung

Während seines Reha-Aufenthaltes auf Borkum lernt Alexander Johanna kennen und lieben. Obwohl er vor den Trümmern seiner Ehe steht fährt er zurück nach Wiesbaden zu seiner Tochter. Johanna bleibt nur die Hoffnung, dass Alexander, in den sie sich ebenfalls Hals über Kopf verliebt hat, sein Versprechen hält und zurück zu ihr und Benny - ihrem vierbeinigen Weggefährten - auf die Insel kommt. Ob das allerdings passiert und ob Alexander in Wiesbaden alles aufgibt, das wird die Zukunft zeigen. Zumal dort seine Frau und Tochter auf ihn warten.

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Das Buch widme ich meinem Mann.

Inhalt

Kapitel eins

Auf Borkum

Kapitel zwei

Stürmische Begegnung

Kapitel drei

Johanna und Benny

Kapitel vier

Offene Fragen

Kapitel fünf

Anruf von Madeleine

Kapitel sechs

Alexanders Überlegungen

Kapitel sieben

Am Rand der Verzweiflung

Kapitel acht

Die Verabredung

Kapitel neun

Höhere Gewalt

Kapitel zehn

Zurück in Hessen

Kapitel elf

Wieder genesen

Kapitel zwölf

Die kalte Dusche

Kapitel dreizehn

Gemeinsames Frühstück

Kapitel vierzehn

Aussprache im Café Rosé

Kapitel fünfzehn

Nachforschungen auf Borkum

Kapitel sechzehn

Die Beichte

Kapitel siebzehn

In der Rehaklinik

Kapitel achtzehn

Die Frau mit den zwei Gesichtern

Kapitel neunzehn

Im Café Meeresbrise

Kapitel zwanzig

Eine schicksalhafte Nachricht

Kapitel einundzwanzig

Freundinnen unter sich

Kapitel zweiundzwanzig

Am Scheideweg des Lebens

Kapitel dreiundzwanzig

Ein Tag bei Johanna

Kapitel vierundzwanzig

Am selben Tag bei Alexander

Kapitel fünfundzwanzig

Im Hotel

Kapitel sechsundzwanzig

Der Spaziergang

Kapitel siebenundzwanzig

Das Wiedersehen

Kapitel achtundzwanzig

Das Haus am Meer

Kapitel neunundzwanzig

Ein folgenschwerer Anruf

Kapitel dreißig

Ein Abschied für immer?

Die Autorin

Erschienene Bücher

Danksagung

Kapitel eins

Auf Borkum

Nun war er schon seit fast vier Wochen hier, auf Borkum. Und das, obwohl nur drei eingeplant waren. Doch dann bekam er von den Ärzten eine Woche Nachschlag aufs Auge gedrückt.

Alexander erhob sich aus dem Cocktailsessel, öffnete die Balkontür und trat hinaus auf den kleinen Balkon. Er setzte sich auf den Plastikstuhl, der dort zum Verweilen für die Patienten stand. Während er dasaß und über die Brüstung hinaus aufs Meer schaute, fielen ihm zig Dinge ein. Dinge, die er eigentlich lieber vergessen würde, nicht erlebt und durchgemacht hätte. Doch das, was einmal war, zählte im Leben nicht mehr.

Genau genommen müsste er dankbar sein, dass es ihm besser ging. Dafür, dass er leichter atmen konnte, weil er wieder Luft bekam und dass die erfolgten Therapien erste Erfolge zeigten. Aber würde es auch so bleiben, wenn er wieder zu Hause wäre? Wenn er nicht mehr die jodhaltige Seeluft einatmen könnte? Wenn die täglichen und abwechslungsreichen Heilbehandlungen wegfallen würden? Außerdem hatte das Hochseeklima ihm, seiner Lunge, den Bronchien und seiner Seele gutgetan. Aus diesen Gründen würde er am liebsten hierbleiben.

Mit jeder Stunde, jedem Tag, jeder Woche, wurde ihm das bewusster. Doch je mehr Zeit verging und je schneller die Wochen ins Land zogen, die er auf Borkum, zunächst widerwillig, verbrachte, umso heimischer, wohler und gesünder fühlte er sich hier. Und weil das so war, schossen Alexander Gedanken durch den Kopf, die er zwar für völlig absurd hielt, die ihm aber immer besser gefielen.

Aus diesem Grund überlegte er auch, ob es rein aus gesundheitlichen Gründen nicht folgerichtig wäre, wenn er sich auf der Insel eine Wohnung suchen oder sogar ein Haus kaufen würde. Gut, er müsste Hessen den Rücken kehren und einen Neubeginn wagen. Quasi, ganz neu durchstarten. Doch wollte er sich das in seinem Alter wirklich antun? Wäre das nicht der helle Wahnsinn? Eine hirnverbrannte Idee? Eine Kurzschlusshandlung?

Alexander horchte in sich hinein.

Während sein Herz schrie: Mach es! Los, auf was wartest du, brüllte der Verstand: Lass es!

Unsicherheit beschlich ihn.

Alexander dachte mit Schrecken daran, dass er die verbleibenden Tage, die er noch auf Borkum sein würde, bereits an einer Hand abzählen konnte. Sein Reha-Aufenthalt neigte sich allmählich dem Ende zu.

Plötzlich erinnerte er sich an ein Gespräch, dass er Daheim mit dem Arzt seines Vertrauens geführt hatte. Sein Doc hatte ihm vor Monaten unmissverständlich klar gemacht, dass seine Lunge schwer geschädigt sei und dass er einiges in seinem Leben ändern und auch aufgeben müsste. Und damit sollte er sofort beginnen, wenn er noch einige Jahre länger und vor allen Dingen beschwerdefreier leben wollte.

Sein Arzt war es auch, der ihm dringend zu einem Reha-Aufenthalt riet, weil es Alexander gesundheitlich gar nicht gut ging. Nur der Not gehorchend hatte er dem Vorschlag, einen stationären Reha-Antrag bei seiner Krankenkasse einzureichen, zugestimmt. Ausschlaggebend war für ihn gewesen, dass seine Reha auf einer Ostfriesischen Insel erfolgen sollte. Auf einer, die ihm genügend Abstand zum Alltag ermöglichte. Eine Insel, die fernab vom Festland lag. Weil Alexander gefiel, was sein Arzt ihm sagte und ihn dadurch motivieren konnte, unterschrieb er den Reha-Antrag.

Nach dem Gespräch mit seinem Arzt vergingen einige Wochen. Dann, endlich lag das Antwortschreiben seiner Krankenkasse in seinem Briefkasten. Erleichtert war Alexander, als er las, dass sie das Okay zu einer stationären medizinischen Rehabilitation gab.

Jetzt konnte er befreit aufatmen.

Schon wenige Tage später wurde ihm der Termin mitgeteilt, wohin es ging und wann er sich auf Borkum in der Reha-Klinik einzufinden hätte. So blöd es auch klingen mochte, er freute sich inzwischen sogar auf seine Kur.

Alexander versuchte die Gedanken an das, was war, auszublenden, indem er aufs Meer blickte. Doch so richtig wollte es ihm nicht gelingen.

Ja, früher hatte er mehrmals Urlaub an der Nordsee gemacht. Er liebte das Meer und die unendliche Weite des nicht enden wollenden Horizontes.

Und nun lag es wieder vor ihm.

Er konnte in den letzten drei Wochen den Wellen zuhören, wie sie geräuschvoll dem Strand entgegensausten. Er sah den kreischenden Möwen zu, wenn sie am Himmel ihre Runden drehten und dabei aufmerksam alle Leute beobachteten, die am Strand ihre Fischbrötchen essen wollten. Und ja, er lachte sich jedes Mal schlapp darüber, wenn die gierigen, saufrechen Möwen zum Sturzflug ansetzten, um den Menschen die leckeren Fischbrötchen aus ihren Händen zu stibitzen. All das hatte er während der Zeit seines Aufenthaltes auf Borkum mehrfach beobachtet.

Alexander musste grinsen.

Mein Gott, wie sehr hatte er sich doch zunächst gegen eine Reha gesträubt! Und jetzt? Wo war die Zeit geblieben?

Wehmut erfasste ihn, wenn er ans bevorstehende Kofferpacken dachte.

Sein Blick galt immer noch dem Meer. Heute war es ruhig. Aber das änderte sich hier sehr schnell. Das wusste er nur allzu gut.

Er schaute auf seine Armbanduhr.

Oh Schreck!

Durch die Grübelei war die Zeit nur so an ihm vorbeigerast. Alexander verließ schnellstens den Balkon, schloss die Balkontür und packte seine sieben Sachen zusammen, die er für die anstehende Therapie benötigte.

In zehn Minuten musste er bei seiner nächsten Anwendung sein. Wassergymnastik. Alexander nannte es jedoch nasses Ausdauertraining.

Im Schweinsgalopp begab er sich in die Umkleide des Hallenschwimmbades.

Kurz darauf stand er dann zusammen mit allen anderen Leidensgenossen im Wasser und versuchte die Gymnastik-Übungen nachzumachen, die der Therapeut am Beckenrand stehend ihnen vormachte.

Nachdem Jochen seine Patienten mächtig malträtiert hatte, entließ er sie hinterher völlig ausgepowert aus dem Wasserbecken.

Schwer atmend, mit tropfender Badehose und mit Badelatschen an seinen Füßen schlappte Alexander zunächst unter die Dusche. Gründlich duschte er sich ab. Und erst, als er sich vom scheußlichen Geruch des Chlorwassers entledigt fühlte, rubbelte Alexander seinen Körper trocken.

Danach suchte er die Umkleidekabine auf.

Fertig umgezogen schnappte er sich seine nassen Klamotten und verließ geschniegelt und gebügelt in flotter Freizeitgarderobe die Kabine.

Gutgelaunt und inzwischen nur so vor Kraft strotzend eilte Alexander zurück in sein Zimmer.

Dort angelangt blieb ihm nur eine kurze Pause zum Verschnaufen. Denn er wollte pünktlich zum Mittagessen im Speisesaal sein.

Fix legte er seine nasse Badehose und die Handtücher im Bad über den Heizkörper und setzte sich anschließend, stolz auf sich selbst, auf sein Bett. Zufrieden war er, weil er auch diesmal den Anweisungen von Jochen, seinem Therapeuten, Folge leisten konnte. Mittlerweile schaffte er sogar alle Wassergymnastik-Übungen mitzumachen, ohne dass er vorzeitig das Training abbrechen musste. Wenn Alexander hingegen an die ersten Tage zurückdachte …

Bereits nach wenigen Minuten blieb ihm die Puste weg. Das Atmen fiel ihm schwer, der Husten verschlimmerte sich und dann half nur eins: Abbruch!

Raus aus dem Becken.

Frustriert, kraftlos und nach Luft ringend musste er noch vor zwei Wochen aufgeben. Besonders schlimm war es allerdings, wenn er beim Verlassen des Wassers die mitleidigen Blicke der anderen Reha-Leutchen hinter seinem Rücken spürte.

Doch das gehörte Gott sei Dank der Geschichte an. Ihm ging es gut, besser! Und dass die Reha zu einem gesundheitlichen Erfolg für ihn wurde, dafür waren maßgebend seine Therapeuten verantwortlich.

Auch wenn er nicht daran zu glauben wagte, insgeheim hatte er jedoch darauf gehofft.

… jeden Tag ein bisschen mehr.

Das Telefon klingelte.

Alexander stand vom Bett auf, ging zum Telefon und hob den Hörer ab.

„Guten Tag, ja bitte?“

„Hey Alex, wir gehen jetzt essen. Kommst du?“

„Ach, du bist es, Bea. Ich bin auf dem Sprung. Wo ist denn Bernd? Den habe ich heute noch gar nicht gesehen.“

„Bernd steht neben mir. Alles paletti. Dann sehen wir uns also gleich bei Tisch?“

„Ja, bis gleich! Was gibt’s denn zu essen, Bea?“

„Keine Ahnung. Noch nicht geguckt. Tschau!“

„Bye, wir sehen uns.“

Das Gespräch war beendet und Alexander legte den Hörer auf.

Danach verließ er abermals sein kleines Reich und ging hinunter in den großen Speisesaal. Bevor er ihn betrat, las er zuvor was auf der Speisekarte stand, die an der Wand angepinnt war. Heute konnte er zwischen folgenden Speisen wählen: Pellkartoffeln mit Kräuterquark oder Gemüse-Nudelauflauf mit Käse überbacken. Als Wunsch-Dessert gab es: Obstsalat mit Sahne oder Schokoladenpudding mit Vanillesoße. Damit war Alexander zufrieden.

Er entschied sich sehr schnell für Pellkartoffeln mit Kräuterquark und wählte für den Nachtisch Obstsalat, jedoch ohne Sahne.

Die Tür zum Speisesaal stand offen.

Schon von Weitem sah er Bea und Bernd. Sie hatten sich bereits am Mittags-Buffet in die Reihe der wartenden Patienten eingereiht, die sich alle ihr Essen holen wollten. Noch während Alexander überlegte, ob er sich auch schon anstellen sollte, erblickte Bernd ihn. Er winkte ihn zu sich heran.

„Tag, Alex! Weißt du schon, was du willst?“

„Moin, ihr beide. Ja, weiß ich, Bernd. Pellkartoffeln und Obstsalat ohne Sahne. Warum?“

„Ich kann dir dein Essen gleich mitbringen. Ist ein Abwasch. Okay?“

„Wenn du das machen willst, dann warte ich an der Ausgabe, damit ich es dir abnehmen kann.“

Bea kicherte: „Na, wenn das kein Service ist!“

„Ach, Bea, was würde ich nur ohne euch machen“, feixte Alexander und schlenderte zur Essensausgabe.

„Verhungern, du würdest verhungern!“, rief ihm seine Tischnachbarin hinterher.

Während Alexander an der Essensausgabe auf Bernd und Bea wartete, erinnerte er sich an ihr erstes Aufeinandertreffen. Alexander saß am Tisch und trank gerade Kaffee, als eine Mitarbeiterin der Reha-Klinik an seinen Tisch kam und ihm Bea und Bernd als seine neuen Tischnachbarn vorstellte. Sie sahen sich an, begrüßten sich mit einem Händedruck, wechselten einige freundliche Worte und von dem Augenblick an wussten sie, dass die Chemie zwischen ihnen stimmte. Und das bestätigte sich auch heute wieder. Sei es der Anruf von Bea und was Bernd jetzt gerade angeboten hatte.

„Essen ist da! Abnehmen! Mensch, Alex, du träumst ja mit offenen Augen!“

Bernd musste schmunzeln.

„Von wem hast du denn geträumt?“, wollte Bea wissen. „Etwa von mir?“

Nachdem Alexander Bernd das Tablett mit seinem Essen abgenommen hatte, drehte er sich zu den beiden um.

„Danke dir, Bernd! Nö, liebe Bea, du bist diesmal nicht in meinem Traum vorgekommen!“

Lachend gingen sie zu ihrem Tisch, stellten die Tabletts darauf ab, setzten sich auf ihre Stühle und ließen sich das Mittagessen schmecken.

So nach und nach leerte sich der Speisesaal. Nur die drei Freunde hockten noch beisammen und unterhielten sich angeregt.

„Wir bilden mal wieder das Schlusslicht!“, stellte Bea unverblümt fest.

„War es jemals anders?“, wollte Alexander wissen.

Bernd erwiderte lachend: „Nicht wirklich, oder?“

Wie auf Kommando erhoben sie sich von ihren Plätzen, verabschiedeten sich und danach machte jeder das, was er wollte. Bea hatte es verdammt eilig, denn sie verließ schnellstens den Speisesaal.

Als Bernd bereits am Fahrstuhl stand, drehte er sich nochmal zu Alexander um und rief: „Bis heute Abend, mein Freund. Gleicher Ort, gleiche Stelle! Mach‘s gut!“

„Jau! Bis dann.“

Nachdem Alexander zurück in seinem Zimmer war, wollte er sich etwas ausruhen. Bevor er sich auf sein Bett legte, holte er sein Handy aus seiner Hosentasche heraus und stellte den Wecker auf 14:45 Uhr.

Denn für den Nachmittag hatte er sich vorgenommen, dass er einen ausgiebigen Strandspaziergang machen wollte. Und wie er sich kannte, würde er sonst bestimmt die Zeit verpennen. Und das wollte er unbedingt verhindern. Alexander legte sein Mobiltelefon auf den kleinen Tisch und dann machte er es sich auf seinem Bett bequem. Es dauerte nicht lange, schon war er eingeschlafen.

Normalerweise wurde Alexander nie von allein wach. Doch an diesem Tag war es anders.

Um 14:30 Uhr schlug er die Augen auf und konnte es kaum glauben, dass sein Handy noch gar nicht geklingelt hatte. Putzmunter erhob er sich von seinem Bett.

Gut gelaunt ging er ins Bad. Etwas später kam er wattmäßig gekleidet wieder heraus.

Nachdem er sich seine Sneakers angezogen hatte, wollte Alexander losgehen. Er hatte schon die Türklinke in der Hand, als er noch einmal zurückging.

Er nahm seinen Reise-Rucksack aus dem Schrank, schnappte sich die Gummistiefel und verstaute sie darin. Nun warf er den Rucksack über die Schulter und verließ kurz nach 15:00 Uhr sein Zimmer.

Kapitel zwei

Stürmische Begegnung

Sein Weg führte ihn in Richtung Deichübergang.

Je näher er der Deichkrone kam, umso freier fühlte er sich. Er guckte sich den Himmel an. Das Wetter war schön. Es wehte ihm ein leichter Wind ins Gesicht. Nur die Sonne wollte sich nicht mehr so oft blicken lassen.

Egal, er lief weiter und als er unten am Strand stand, war er glücklich. Der Wind blies hier schon heftiger und die Wellen bewegten sich wie im Takt auf ihn zu.

Alexander konnte nicht anders!

Er zog die Sneakers aus und seine Gummistiefel an. Dafür durften sich jetzt seine Leisetreter im Rucksack ausruhen. Mit den Gummimännern an den Füßen watete Alexander achtsam durch den weichen Schlick. Ungewollt entfernte er sich dabei immer weiter vom Strand und seiner Unterkunft.

Er atmete die salzige, jodhaltige Luft tief ein und fühlte sich unendlich losgelöst. Vergessen waren seine gesundheitlichen Einschränkungen und all die Sorgen, die ihm Daheim oftmals arg zugesetzt hatten.

Noch während Alexander über alles Mögliche nachdachte, spürte er, dass es windiger wurde. Der abrupt aufkommende Wetterumschwung kam ihm verdammt bekannt vor. Er schaute zu den Möwen hoch. Sie flogen jetzt nicht mehr allein hinaus aufs Meer.

Im Gegenteil!

Die Möwen rückten am Himmel viel enger zusammen. Dabei drehten sie ihre Körper der Windrichtung entgegen. Die Vögel taten das, weil sie genau wussten, dass sie bei einem Unwetter ihrem thermischen Federkleid bedingungslos vertrauen konnten.

Als Alexander sah, was sich über ihm am Himmel abspielte, fiel ihm sofort ein Gespräch ein, dass er mit einem Insulaner geführt hatte. Er berichtete von diesem Phänomen und er erzählte ihm auch, dass das Zusammenrücken der Möwen kein gutes Zeichen sei. Sondern dass Mensch und Tier dann schnellstens das Watt und den Strand verlassen sollten.

Alexander nahm daraufhin seine Beine in die Hand und ging schnellstens zurück zum Strand. Dabei bemerkte er erst jetzt, dass er sich sehr weit vom sicheren Deich entfernt hatte.

Aus seinem schnellen Gehen wurde bald ein Laufen. Doch bei dem Wunsch nach einem schnelleren Vorankommen wurde er immer und immer wieder ausgebremst.

Nie zuvor war es ihm so bewusst geworden, dass ihm das Laufen auf dem Meeresboden und durch Schlick derart viel Kraft abverlangen könnte und somit wertvolle Zeit rauben würde.

Er sah sich um.

Außer drei, vier Personen waren keine weiteren mehr im Watt unterwegs. Auch sie liefen inzwischen in Richtung Strand.

In der Ferne hörte Alexander das Meer brausen. Normalerweise beruhigte es ihn, wenn die Wellen geräuschvoll auf den Strand aufliefen. Aber diesmal war es anders.

Es klang bedrohlich!

Und das Rauschen des Meeres wurde kontinuierlich lauter. Die Wellen kamen näher und Alexander konnte erkennen, dass sie drastisch an Höhe zunahmen und dass sich über ihm ein Unwetter zusammenbraute.

Alexander rannte so schnell er konnte.

Nur noch wenige Meter trennten ihn vom Strand. Mit letzter Kraft erreichte er ihn. Kurz überlegte er, was passiert wäre, wenn er noch weiter draußen gewesen wäre …

Weiter kam er mit seinen Gedanken nicht, denn urplötzlich verfinsterte sich der Himmel. Und aus dem böigen Wind entwickelte sich in wenigen Minuten ein gewaltiger Sturm!

An der vorhin noch ruhigen Meeresoberfläche türmten sich nun erste gewaltige Wellen auf, die kurz darauf, nichts Gutes erwartend, auf den Sandstrand und ihn zurasten.

Alexander kämpfte gegen die Urgewalt des Sturms an.

Er mobilisierte noch einmal seine übrig gebliebenen Energien und rannte durch die Dünen.

Völlig außer Atem erreichte er endlich die Deichkrone.

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

Er rang nach Luft. Das Atmen fiel ihm unsagbar schwer und er musste mehrfach husten. Diese Symptome kannte er in den letzten Wochen nicht mehr.

Und nun?

Unerwartet waren sie wieder da! Keine richtige Luft zu bekommen, das machte ihm Angst.

Er ließ sich auf eine alte Holzbank fallen, die oben auf dem Deich stand. Alexander hielt sich schützend eine Hand vor den Mund. Der Hustenanfall hörte schließlich auf und einige Minuten später ließ auch endlich wieder die Luftnot nach.

Erst jetzt stellte er fest, dass sich in der Zwischenzeit der Himmel pechschwarz verfärbt hatte, und dass das Meer aufgewühlt war und vor Wut schäumte. Als er dann noch sah und hörte mit was für lautem Getöse meterhohe Wellen ununterbrochen an den Strand krachten, hatte es für ihn den Anschein, als wollte das Meer ihm zeigen was für gigantische Kräfte es besaß, und dass niemand dem Sturm, dem Meer und den Wellen entkommen würde.

Nach einer Weile erhob sich Alexander von der morschen Holzbank und nahm seine Hand vorm Mund weg. Nachdem er etwas besser atmen konnte, ging er weiter.

Das Ziel hieß: Reha-Klinik, sein Zimmer!

Gerade als Alexander die Stufen vom Deich in Richtung Unterkunft hinuntergehen wollte, sah er, dass ein herrenloser Hund auf ihn zugelaufen kam. Die Zunge hing ihm aus dem Maul, er hechelte und zitterte am ganzen Körper.

Noch ehe er alles richtig wahrgenommen hatte und weitergehen wollte, merkte er, dass sich der verängstigte Vierbeiner zwischen seine Beine drängte und zu fiepen begann. Irritiert sah er zu dem Hund hinab, der sich immer enger an ihn schmiegte.

„Na du! Du hast wohl Angst? Wo ist denn dein Herrchen? Oder bist du ausgebüxt?“

Alexander blickte in alle Himmelsrichtungen.

Doch nirgends war ein Mensch zu entdecken.

„Und nun? Was mache ich jetzt mit dir?“

Er beugte sich zu dem fiependen Etwas hinunter, nahm es auf den Arm und hatte nur einen Wunsch: Schnell weg von hier oben!

Der Sturm war inzwischen so kraftvoll, dass sich Alexander kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Nachdem er unten auf der Strandpromenade angelangt war, hörte er, dass trotz des lauten Pfeifens des Sturmes und dem Dröhnen der mächtigen Brandung eine Frauenstimme an seine Ohren drang.

Er blieb stehen und lauschte.

„Bennyyy! Benny, wo bist du? Komm, Benny, Fuß!“

Der Hund auf Alexanders Arm hatte die Stimme auch vernommen. Er schien sie zu kennen, denn er fing laut zu bellen an und begann dabei sogar sachte mit seiner Rute zu wedeln.

„Benny? Benny!“

Keine vier Meter von Alexander entfernt tauchte aus dem Nichts eine Frau auf, zu der anscheinend die Stimme gehörte.

Wenig später stand sie ihm und dem Hund direkt gegenüber. Jetzt sah Alexander, dass Tränen in den Augen der Frau schimmerten.

„Da bist du ja! Ich habe dich so gesucht.“

Sie streichelte dem Ausreißer übers Fell.

Dann schaute sie Alexander an, reichte ihm ihre Hand und stammelte: „Danke, dass Sie meinen Benny gefunden haben. Er ist einfach aus dem Auto gesprungen und eh ich mich versah, war er weg! Das …, nein, das hat er noch nie zuvor gemacht.“

„Zum Glück ist alles noch mal gut gegangen“, erwiderte Alexander.

Nachdem er die Hand der unbekannten Frau wieder losgelassen hatte, schaute er den Hund auf seinem Arm an und drohte ihm mit dem Zeigefinger.

„Das darfst du aber nicht machen, hast du gehört? Sieh mal, wie aufgelöst und traurig dein Frauchen ist!“

Während er das dem Hund sagte, überreichte Alexander der Frau ihren Benny.

„Danke! Ach, wissen Sie, wir sind erst vor einigen Monaten auf die Insel und an diesen Ort gezogen. Ich glaube, mein Benny hat sich hier immer noch nicht so richtig eingelebt. Ich vermute, dass er Heimweh nach seiner vertrauten Umgebung hat, und dass er nur deshalb weggelaufen ist! Und dann der Sturm …“

„Oh ja, das kann ich verstehen. Wissen Sie, ich freu mich nämlich auch schon darauf, wenn ich wieder nach Hause fahren kann. Und das, obwohl mir das Inselleben sehr gut gefallen hat.“

„Ach, Sie wohnen gar nicht hier? Schade, ich wollte Sie eigentlich in den nächsten Tagen auf eine Tasse Tee einladen. Quasi, als kleines Dankeschön, weil sie meinen Benny gefunden haben.“

„Genau genommen habe nicht ich Ihren Hund gefunden, er hat mich eher als Beschützer für sich aufgespürt!“, lachte Alexander. „Tee trinke ich nicht so gern, aber für eine Tasse Kaffee schaufele ich mir etwas Zeit frei.“

„Sie bekommen natürlich Kaffee, auch zwei Tassen. Wann hätten Sie denn Zeit? Und wie darf ich Sie überhaupt anreden? Ich heiße übrigens Johanna. Ach ja, und mit ihm haben Sie ja schon Bekanntschaft gemacht und Freundschaft geschlossen.“

Lachend zeigte sie dabei auf ihren Hund.

„Alexander Kern. Sie dürfen aber auch Alex sagen. Bekannte und meine beiden besten Freunde nennen mich so. Und ich möchte Sie gern mit Jo ansprechen, wenn’s recht ist? Jo und Alex – Alex und Jo, das klingt gut, oder?“

„Einverstanden! Ist kurz und knapp.“

„Ich muss jetzt weiter, habe noch Anwendungen. Und dazu muss ich pünktlich erscheinen. Beinah hätte ich es vergessen, was halten Sie von übermorgen? Fünfzehn Uhr, im Café Meeresbrise?“, wollte Alexander wissen. „Ach so, das Café ist in unmittelbarer Nähe vom Strandbad.“

„Passt mir. Okay, das Café kenn ich“, erwiderte Johanna. „Ich komme gern. Bis dann!“

„Machen Sie’s gut. Und du, Benny, laufe deinem Frauchen nicht wieder weg!“

Alexander streichelte Benny übers Fell, zwinkerte Johanna zu, drehte sich auf dem Absatz um und ging von dannen.

Komisch, die ganze Zeit hatte er den Sturm kaum noch wahrgenommen, doch jetzt, nachdem er wieder allein seiner Wege zog, peitschte ihm jede Böe unbarmherzig durchs Gesicht.

Und nicht nur da spürte er die vielen Sandkörner, auch auf seinen Beinen und Armen. Denn der feine Sand, den der Sturm dabei aufwirbelte, fühlte sich auf seinen nackten Hautpartien wie raues Sandpapier an.

Insgeheim musste er grinsen, als er dachte: Eigentlich nicht schlecht. Andere bezahlen dafür. Ich bekomme gerade ein Gratis-Peeling.

Er sah an sich herunter.

Schlimm sah er unten herum aus!

Shorts, dazu blaue Gummistiefel! Shirt und Rucksack, na ja, das ging ja noch. Aber dass Jo ihn so kennengelernt hatte, das fand er nicht witzig.

Vor sich hin schimpfend beschleunigte Alexander sein Tempo. Ausgerechnet heute, wo ich wie eine Schießbudenfigur aussehe, muss mir so eine attraktive Frau in die Arme laufen! Das ist mal wieder so typisch für mich …!

Kapitel drei

Johanna und Benny

Johannas Augen suchten nach Alexander.

Sie sah ihm hinterher, weil sie nochmal winken wollte. Doch sie hielt vergebens Ausschau nach ihm.

Obwohl sie sich gerade noch unterhalten hatten und sie sich unmittelbar gegenüberstanden, konnten ihre Augen ihn nicht mehr entdecken.

Der Sturm, der vom Meer her übers Land fegte, dabei feinen Sand aufwirbelte, der über Dünen und Deichkrone hinwegwehte, dieser Sandsturm hatte ihn verschlungen.

Benny, den sie fest in ihren Armen hielt, fing auf einmal an zu jaulen. Außerdem wurde er sehr unruhig und das Zittern seines Körpers nahm zu. Er guckte sein Frauchen voller Furcht und mit großen Augen an.

„Was ist denn los? Dir kann nichts passieren. Ich habe dich doch auf dem Arm!“

Johanna versuchte ihren kleinen Hund zu beruhigen.

Doch das schaffte sie nicht. Denn aus dem Jaulen wurde ein Knurren und schließlich ein lautes Bellen.

So etwas kannte sie von ihrem Benny nicht. Irgendetwas musste ihn verunsichert haben.

Noch während Johanna krampfhaft überlegte, was der Grund dafür sein könnte, blies ihr der Sturm immer kräftiger ins Gesicht. Und der feine Sand, der von den orkanartigen Böen heftig durch die Luft gewirbelt wurde, nahm ihr mittlerweile die Sicht.

Als wäre das nicht schon genug, zuckten plötzlich grelle Blitze am bedrohlich aussehenden Himmel auf. Schlagartig wurde Johanna klar, dass ihr Hund sie warnen wollte. Ihre Schritte wurden schneller.

Schon wenige Minuten später fielen erste dicke Regentropfen auf die Erde. Die Blitze, die über dem Meer am Horizont zu sehen waren, zuckten inzwischen immer öfter auf und sie hörte, dass es in der Ferne bereits donnerte.

Das Gewitter näherte sich rasch.

Johanna fing an zu laufen.

Obwohl sie beim Laufen kaum Luft bekam, weil der Sturm ihr sehr zusetzte, wollte sie mit ihrem Hund schnellstens ihr Haus erreichen.

Auf der gesamten Strandpromenade kam ihr niemand mehr entgegen. Kein Mensch war jetzt noch unterwegs. Inzwischen regnete es in Strömen und es dauerte nicht lange, bis ihre Kleidung durchnässt war.

Als sie endlich vor ihrem Eigenheim stand, die Haustür aufgeschlossen und Benny im Hausflur abgesetzt hatte, bemerkte sie, dass auch das Fell ihres Hundes klitschnass war. Er fühlte sich sichtlich unwohl und wollte die Nässe auf seiner Haut schnellstens loswerden.

Als Johanna sah, dass er zum Schütteln ansetzte, schrie sie: „Haaalt, Benny, nein, nicht schütteln!“ Und bevor sie Bennys Hundehandtuch holte, befahl sie ihm noch: „Sitz und bleib!“

Kurz darauf rubbelte sie sein Fell trocken und machte ihm die Pfötchen sauber. Nachdem das erledigt war, streichelte sie ihn.

„Braver Hund! Lauf!“

Das ließ er sich nicht zweimal sagen.

Ehe sich Johanna versah, sauste er an ihr vorbei und legte sich in sein Körbchen.

Allerdings konnte er nicht zur Ruhe kommen.

Der Sturm, das Blitzen und Donnern – all das flößte ihm Angst ein. Also erhob er sich wieder und verkroch sich in die hinterste Ecke des Sofas.

„Schisser!“, rief Johanna ihm noch hinterher, bevor sie im Badezimmer verschwand.

Nachdem es nicht mehr blitzte und donnerte und sie ihre nassen Klamotten ausgezogen hatte, stellte sie sich unter die Dusche. Nun öffnete sie das Duschthermostat und schaltete die Regenbrause ein. Warmes Wasser rieselte jetzt über ihre nackte Haut und die Haare. Johanna stand mit geschlossenen Augen unter der Dusche und genoss die wohltuende Wärme.

Etwas später begann sie ihre Haare mit einem milden Shampoo einzuseifen und ihren Körper mit einem pflegenden, gut duftenden Duschöl zu waschen. Als die letzten Öl- und Shampoo-Reste mit warmem Wasser abgespült waren, schloss sie das Thermostat und verließ gutgelaunt die Dusche.

Mit nackten Füßen stand sie auf den kalten Fliesen und begann sich abzutrocknen. Während sie das tat, überlegte sie, ob sie sich frische Sachen aus dem Kleiderschrank holen sollte. Sich jetzt noch einmal anzukleiden, nein, dazu hatte Johanna keine Lust mehr. Also griff sie kurzerhand nach ihrem flauschigen, weißen Bademantel, der an einem Haken an der Badezimmertür hing und schlüpfte hinein.

Bevor sie das Bad verließ, hob sie noch ihre ausgezogene Kleidung vom Fußboden auf. Mit den nassen Sachen überm Arm ging sie hinunter in den Keller und legte die erstmal neben der Waschmaschine ab.

Waschen wollte sie die Teile erst morgen.

Als Johanna wieder oben war und in ihrer Diele stand, führte sie ihr Appetit nach einer Tasse Tee in die Küche.

Sie öffnete die obere Küchenschranktür und schaute nach, welche Sorten sie hatte. Weißer und Grüner Tee, aber auch Roibuschtee waren vorhanden. Sie entschied sich sehr schnell für ihre Lieblingssorte, den Weißen Tee. Sie trank ihn gern, weil er besonders mild war und dennoch aromatisch schmeckte.

Nachdem der Tee in der Teekanne vier Minuten gezogen hatte, holte sich Johanna eine ganz bestimmte Teetasse aus dem Esszimmerschrank.

Als sie die Tasse in ihrer Hand hielt, fing sie an zu grienen. Sie musste daran denken, dass sie wegen dieser Marotte von ihren Kaffee-Gästen immer belächelt wurde. Aber das machte ihr nichts aus. Sie wusste ja, dass sie diesbezüglich eine Macke hatte. Doch sie trank ihren Tee nur aus dieser Teetasse, weil die aus hauchdünnem Porzellan hergestellt war.

Mit einem Serviertablett, bestückt mit Kanne, Tasse, Teelöffel und einer mit Krümelkandis gefüllten Zuckerdose, verließ sie die gemütlich eingerichtete Küche und ging ins Wohnzimmer.

Johanna setzte das volle Tablett auf dem Beistelltisch ab, schenkte sich Tee ein, fügte etwas Kandis hinzu, rührte den Weißen Tee um, trank einen Schluck, stellte die Teetasse zurück aufs Tischchen und schritt zum Wohnzimmerfenster. Sie schob die zarte Voile-Gardine zur Seite und sah hinaus.

Der Sturm hatte nachgelassen.

Aus dem Starkregen war in der Zwischenzeit Nieselregen geworden und es blitzte und donnerte nur noch ab und zu. Dass sich das Unwetter allerdings nicht gänzlich verabschiedet und aufs weite Meer zurückgezogen hatte, merkte Johanna jedoch an Bennys Verhalten.

Obwohl sie versuchte ihn mit seinen Lieblingsleckerlis aus der hintersten Sofaecke hervorzulocken, dachte er nicht im Geringsten daran sich zu erheben. Was sie auch versuchte, ihre Bemühungen blieben vergebens.

Nichts half!

Kein Zureden, kein Rufen.

Ihr Hund war stur wie ein Maulesel und schien seine Ohren auf Durchzug gestellt zu haben. Also gab sie alle weiteren Bestechungsversuche auf.

Stattdessen öffnete Johanna die Terrassentür, ging einige Schritte in den Garten und blickte hinaus aufs Meer.

Viel erkennen konnte sie nicht mehr, denn allmählich neigte sich der Tag dem Ende zu. Außerdem hingen immer noch dunkle Wolken am Himmelszelt. Allerdings sah sie, dass das Meer aufgehört hatte vor Wut zu schäumen und dass sich keine meterhohen Wellen mehr aufbäumten.

Unwillkürlich musste sie an Alexander denken.

Sie fragte sich, ob er wohl noch trockenen Fußes seine Unterkunft erreicht hatte.

Johanna spürte, dass sie sich auf das Wiedersehen freute. Und gleichzeitig ärgerte sie sich, dass sie nicht wusste, wo er wohnte und dass sie ihn nicht gefragt hatte, an welchem Tag er Borkum verlassen würde.

Johanna überlegte.

Sagte er nicht, dass er nur noch ein paar Tage auf der Insel wäre? Das täte ihr sehr leid, wo sie ihn doch gerade erst kennengelernt hatte.

Aber danach frage ich ihn, wenn wir im Café sitzen! Mit diesem Vorsatz ging sie zurück ins Wohnzimmer.

Sie schloss die Terrassentür.

Eingehüllt in ihrem kuscheligen Bademantel machte sie es sich auf dem Sofa bequem und trank ihren Weißen Tee.

Eigentlich wollte sie den Fernseher einschalten.

Obwohl sie die Fernbedienung in der Hand hielt, drückte sie nicht drauf.

Stattdessen wanderten ihre Gedanken aufs Neue zu dem Mann, der plötzlich in ihr Leben getreten war und der ihr seitdem nicht aus dem Kopf gehen wollte.

Abgelenkt wurde sie, als Benny mit einem Satz zu ihr auf die Couch sprang. Ehe sie etwas sagen konnte, ließ sich ihr Hund am Ende der Couch nieder und kuschelte sich sofort an Johannas Füße.

Normalerweise durfte er das nicht! Aber Ausnahmen bestätigten die Regel, erst recht bei dem Wetter.

„Du Bangbüx, haste dich endlich aus der Ecke herausgetraut? Du weißt aber schon, dass du nicht aufs Sofa darfst, oder? Na gut, Benny, ausnahmsweise kannst du da liegenbleiben. Hast du gehört? Ich habe gesagt ausnahmsweise, verstanden? Wie findest du denn Alex? Ich glaube, dass du ihn magst. Er hat starke Arme, nicht wahr? Ach, Benny, ich weiß noch nicht mal, welche Farbe seine Augen haben. Aber eine angenehme Stimme hat er gehabt. Und groß ist er gewesen!“

Johanna musste über sich selbst lachen, als sie wieder einmal ihren Hund volltextete. Denn das tat sie oft. Wenn sie ehrlich mit sich war, dann passierte das täglich, und zwar mehrmals. Statt einer bestätigenden bellenden Antwort begann ihr Benny zu schnarchen.

„Hunde und Männer!“, kicherte Johanna. „Habe ich etwa was anderes erwartet? Mein Gott, ich freue mich ja so auf übermorgen! Und was mache ich bis dahin? Achtundvierzig Stunden warten! Bestimmt ziehen die sich wie Gummi. Was meinst du Benny, hätten wir uns nicht schon morgen wiedersehen können?“

Doch ihr Hund schlief längst den Schlaf der Gerechten. Mal schnarchte er laut, dann wiederum leise vor sich hin oder auch gar nicht.

Johanna grinste.

Sie ertappte sich nämlich schon wieder dabei, dass sie mit ihrem Hund redete und ihn etwas fragte und das, obwohl sie wusste, dass er ihre Fragen nie beantworten würde. Oh ja, ihr Benny! Sie redete sehr, sehr oft mit ihm und er wusste fast alles von ihr, über sie …

Vor ihr auf dem Tisch stand ihre Teekanne. Sie nahm sie in die Hand, goss sich in ihre Lieblings-Teetasse den Weißen Tee ein. Als sie ihn trank, bemerkte Johanna, dass ihr der Tee nicht nur besonders gut schmeckte, sondern dass eine wohlige Wärme ihren Körper durchströmte.

Nachdem sie die Tasse auf den Tisch zurückgestellt hatte, fasste sie nach der Fernsehzeitung.

Ziemlich desinteressiert blätterte sie eine Seite nach der anderen um. Als sie zufällig las, dass im Fernsehen gerade ein Liebesfilm lief, schaltete sie auf der Fernbedienung das Programm ein. Ein Herz-Schmerz-Film, ja, der passte perfekt zu ihrem Gefühlsleben.

Kapitel vier

Offene Fragen

Auf dem Weg zurück zur Reha-Klinik kam Alexander kaum ein Mensch entgegen. Und diejenigen, die ihm begegneten, rannten an ihm vorbei.

Ein einziger Mann brüllte ihm beim Vorbeilaufen zu: „Moin, Sie müssen sich sputen! Wenn das Unwetter vom Meer kommt, ist …“

Mehr konnte Alexander nicht verstehen. Der Sturm verschluckte den Rest und der aufgewirbelte Sand ließ den Mann im Irgendwo verschwinden.

Inzwischen hatte Alexander die Strandpromenade verlassen und befand sich auf der Zielgeraden, als er erste Regentropfen auf seiner Haut spürte.

Obwohl er bereits völlig außer Atem war und eine Hand vor dem Mund hielt, weil er seine Atemwege schützen musste, legte er eine schnellere Gangart ein.

Aus den dicken Tropfen wurde schnell ein Platzregen.

Doch das Glück sollte ihm wohlgesonnen bleiben.

Erst lernte er bei diesem Sauwetter eine tolle Frau kennen, und nun kam er sogar noch fast trockenen Fußes in der Reha-Klinik an.

Kaum hatte er die große Empfangshalle betreten, hörte Alexander Gelächter aufkommen.

Das konnte nur ihm gelten!

Und dann sah er sie! Bernd und Bea, seine Leidensgenossen und Tischnachbarn. Es sah so aus, als wenn sie das Empfangskomitee der Klinik wären. In einer Sitzecke saßen beide auf bequemen Sesseln und guckten ihn spitzbübisch an. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihn gerade veralberten.

Bevor er etwas sagen konnte, kam Bea ihm zuvor.

„Alex, hast du mal in den Spiegel geguckt? Sorry, das sieht man nicht alle Tage. Weißt du, wenn ich es nicht besser wüsste, dass du sonst so nicht rumläufst, würde ich denken, du leidest an Geschmacksverirrung!“

„Besser hätte ich es nicht sagen können!“, gab Bernd seinen Senf dazu. „Du siehst aus, als wenn du von einem anderen Planeten kommst.“

„Macht euch ruhig lustig über mich“, lachte Alexander und ging dabei auf die beiden Kuris zu. „Ich bin durchs Watt gelaufen und eh ich mich versah, war das Unwetter da. Es kam derart überraschend, dass ich es gerade noch zurück an den Strand geschafft habe. Ich erzähle es euch beim Abendessen. Muss hoch, mich umziehen, habe noch eine Anwendung. Man sieht sich.“

„Wie? Jetzt noch? Ist doch schon später Nachmittag. Na, dann, bis später mein Freund.“

„Sorry, keine Anwendung. Diese Uhrzeit ist eine Ausnahme, Bernd. Ich bat den Doc und meinen Therapeuten um ein Gespräch. Einen anderen Termin konnten sie mir so kurzfristig nicht mehr anbieten.“

„Okay! Und ich dachte schon, du wirst jetzt noch mal durch die Mangel gedreht!“

Alexander stand schon am Fahrstuhl, da rief Bea ihm hinterher: „Tschau, Alex, nix für ungut!“

Mit dem Fahrstuhl fuhr er hinauf in die sechste Etage. Dort angelangt, ging er schnellstens in sein Zimmer. Kaum hatte er es betreten, warf Alexander seinen Rucksack in eine Ecke, zog die Gummistiefel aus und entledigte sich seiner Garderobe. Anschließend ging er unter die Dusche.

Viel Zeit blieb ihm nicht, denn in fünfzehn Minuten musste er den Termin bei seinem Arzt und dem Therapeuten wahrnehmen. Also ließ er das Rasieren sein, holte sich saubere Sachen aus dem Schrank, kleidete sich an, trank schnell noch ein Glas Selter und stürmte wieder hinaus aus seinem Zimmer.

Für den Weg in die vierte Etage nahm er das Treppenhaus. Während Alexander die Treppenstufen hinunter ging, kamen ihm Zweifel.

Er fragte sich, ob es richtig gewesen war, als er vor ein paar Tagen seinen Arzt und den Therapeuten um ein Sechs-Augen-Gespräch gebeten hatte.

Zu spät! Jetzt musste er da durch.

Viel zu schnell stand er vor deren Tür. Alexander atmete noch einmal tief durch, bevor er anklopfte.

„Herein!“

Alexander drückte die Türklinke herunter und betrat den Raum.

„Guten Tag, Herr Doktor Stein, guten Tag, Herr Schreiber. Danke, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben!“

„Moin, Herr Kern. Bitte nehmen Sie Platz“, dabei zeigte Herr Schreiber, sein Physiotherapeut, auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand.

Doktor Stein, Facharzt für Pneumologie, ein Mann mit grauen Schläfen, kam immer sehr schnell zum Kern der Sache. So auch diesmal.

„Na, wo drückt der Schuh? Was haben Sie auf dem Herzen? Also, Herr Kern, was können wir für Sie tun?“

„Wie Sie wissen, endet in drei Tagen meine Reha. Vorgestern, bei der Untersuchung haben Sie mir ja, nach dem bereits einwöchigen Nachschlag, zu einer weiteren 14tägigen Verlängerung geraten, Herr Doktor Stein. Diese habe ich abgelehnt. Natürlich ist mir nicht entgangen, dass Sie mit Unverständnis darauf reagiert haben. Ich möchte Ihnen gern …“

Dr. Stein unterbrach Alexander.

„Es ist ganz allein Ihre Entscheidung. Ich kann die zwar nicht teilen, aber ich werde es akzeptieren müssen. Doch eins sollten Sie nicht vergessen, Herr Kern. Auch wenn es Ihnen augenblicklich einigermaßen gut geht, die typischen Krankheitssymptome sich erheblich verbessert haben, ist und bleibt ihre Lunge krank! COPD ist nicht heilbar, das wissen Sie und das haben wir Ihnen mehrfach gesagt. Allein aus diesem Grund sollten Sie die getroffene Entscheidung noch einmal sorgfältig überdenken. Ich gebe Ihnen dafür bis morgen Zeit!“

„Dem kann ich nur zustimmen, Herr Kern. Zwar sind Sie belastbarer geworden, die Luftnot ist nicht mehr so ausgeprägt, aber Sie husten noch oft und bei Anstrengungen wird die Luft weiterhin knapp. Sicherlich werden Sie mir in diesen Punkten zustimmen, oder?“, wollte sein Physiotherapeut von ihm bestätigt bekommen.

„Alles, was Sie sagen, hat Hand und Fuß. Und ich weiß auch, dass es wahrscheinlich ein Fehler ist, wenn ich Ihren Rat nicht befolge, aber mich erreichte letzte Woche ein Anruf von zu Hause. Privat gerät mein Leben gerade aus den Fugen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Mir ist es nur wichtig, dass Sie wissen, warum ich nicht bleiben kann und auch nicht will. Doch bevor ich fahre, Herr Doktor Stein und Herr Schreiber, möchte ich noch etwas von Ihnen wissen. Darum bat ich um ein Gespräch.“

Herr Schreiber und Dr. Stein schauten sich einander an, bevor sie sich mit ernster Miene Alexander zuwandten.

„Das tut uns leid, Herr Kern“, sagte Dr. Stein. „Dennoch ändert das nichts an meiner Meinung. Aber ich kann Sie und Ihren Entschluss jetzt besser verstehen. Ich kann nur hoffen, dass sich das, was Sie privat belastet, nicht negativ auf Ihre Gesundheit auswirkt.“

Herr Schreiber blickte Alexander an, nickte zustimmend und fragte: „Und was möchten Sie von mir wissen? Beziehungsweise von Doktor Stein und mir?“

„Danke für das Verständnis. Ich wollte wissen, auf was ich in Zukunft achten soll. Was ich machen darf und was ich lassen sollte. Kann ich wieder ins Fitness-Studio gehen? Darf ich dort Sport treiben? Wissen Sie, die Erstickungsanfälle …, nein, die möchte ich nie wieder erleben müssen. Die Angst davor, so blöd es auch klingen mag, sie sitzt mir immer noch im Nacken!“

„Soll ich?“ Dr. Stein sah Herrn Schreiber an.

„Gern!“, erwiderte der Physiotherapeut.

Daraufhin versuchte der Pneumologe die Fragen von Alexander zu beantworten.

„Im Großen und Ganzen können Sie Ihr Leben so leben, wie Sie möchten. Rauchen, Herr Kern! Die Glimmstängel müssen auch in Zukunft ausbleiben! Bleiben Sie weiterhin standhaft, rauchen ist für Sie und Ihre Lunge tödlich, Gift! Und was den Sport betrifft: Nicht übertreiben, also in Maßen trainieren. Nehmen Sie morgens und abends weiterhin Ihre Sprays. Und wenn Sie außer Haus gehen, vergessen Sie das Notfallspray nicht! Machen Sie Ihre Atemübungen und gehen Sie in regelmäßigen Abständen zu einem Kollegen vor Ort. Der veranlasst alles Weitere: Lungenfunktionstest, Röntgenkontrolle, etc. Sollten sich Husten und Auswurf verschlimmern, was ich nicht glaube, rate ich Ihnen allerdings nicht abzuwarten, sondern lassen Sie dieses zügig abklären. Und nun, Herr Kern, das Wichtigste zuletzt! Versuchen Sie Freude am Leben zu haben.“

„Da wäre noch etwas“, fügte Herr Schreiber hinzu. „Lassen Sie sich möglichst über einen längeren Zeitraum Verordnungen für Physiotherapien verschreiben. Bei den Anwendungen, ich rate zu zweimal in der Woche. Aber das werde ich in meinem Abschlussbericht vermerken. Alles Gute, Herr Kern. Aber vielleicht kommen Sie irgendwann mal wieder auf die Insel und verbringen hier dann Ihren Urlaub. Das Hochseeklima und Borkum kann ich Ihnen nur empfehlen.“

Die Männer mussten lachen.

Nachdem sich Alexander bei Dr. Stein und Herrn Schreiber bedankt hatte, verabschiedete er sich von ihnen und verließ den Raum.

Draußen vor der Tür musste er über zwei Sätze nachdenken, die Dr. Stein gesagt hatte: Dass er sein Leben so leben kann wie er es möchte und dass er versuchen soll, wieder Freude am Leben zu haben.

Seine Augen fingen an zu funkeln.

Denn Freude, die hatte er vorhin gerade verspürt. Auf der Strandpromenade, als er Jo gegenüberstand und dabei ihren Benny auf seinen Armen hatte.

Wieso fiel ihm ausgerechnet jetzt Johanna ein?

Er schüttelte mit dem Kopf.

Und doch musste er sich eingestehen, dass er sich auf das Treffen freute. Zwei Tage musste er sich noch in Geduld üben, doch dann würde er sie wiedersehen.

Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es langsam Zeit wurde den Speisesaal aufzusuchen.

Schnellstens ging Alexander den langen Flur entlang, stieg in den Fahrstuhl und fuhr hoch in die sechste Etage.

Irgendetwas beunruhigte ihn. Nur was?

In seinem Zimmer angekommen, war alles wie immer. Alles stand noch am gleichen Platz, nichts hatte sich geändert. Und doch war etwas anders.

Sein Herz schlug schneller, als er aus dem Fenster blickte. Als er dann draußen auf dem kleinen Balkon stand und das Meer vor sich liegen sah, dachte er erneut an vorhin! Ja, da hatte das Meer noch getobt, der Himmel über ihm sah bedrohlich aus, der Sturm nahm ihm die Luft und der aufgewirbelte Sand die Sicht, bis …

Bis Johanna plötzlich vor ihm auftauchte.

Sie hatte etwas in ihm ausgelöst, etwas, was er nicht definieren konnte.

In Gedanken sah er ihr Gesicht vor sich.

Die blonden Haare waren vom Sturm zerzaust und sie hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten.

Innerlich lachte er, als er daran denken musste, dass sie sich bei dem Unwetter trotzdem lange unterhalten hatten und sich kaum voneinander verabschieden konnten.

Alexander fragte sich, ob Jo wohl gut zu Hause angekommen war, oder ob sie es noch weit gehabt hatte.

Er wusste es nicht.

Diese Fragen und etliche mehr, brannten ihm unter den Nägeln. Doch die Antworten darauf, würde er wohl oder übel erst übermorgen bekommen können.

Viel zu lange hielt er sich schon in seinem Reich auf.

Er warf nochmal einen Blick aufs Meer und war überrascht, dass es sich so schnell wieder beruhigt hatte und jetzt vor ihm lag, als sei es nie aufgewühlt gewesen.

Abermals schaute er auf seinen Zeitmesser.

18:00 Uhr!

Bestimmt war er der Letzte, wenn er im Speisesaal erschien. Und Bernd und Bea …, er hörte sie schon lästern.

Jetzt ging alles ruckzuck!

Schnell machte er die Balkontür zu und schloss die Zimmertür von außen.

Nachdem er mit dem Fahrstuhl im Erdgeschoss angekommen war, suchte Alexander den Gemeinschafts-Speisesaal auf.

Dann ging er zu seinem Platz.

Er war noch nicht ganz bei dem Tisch angekommen, schon fingen Bea und Bernd an zu lachen.

„Ach ne, der Herr des Tisches gibt sich die Ehre! Wo hast du denn nun schon wieder so lange gesteckt? Und guck mal, Bernd, wie chic er sich gemacht hat! Noch ein Date, Alex?“, flachste Bea.

„Jetzt gehe ich erstmal ans Buffet und hole mir was zu essen. Soll ich euch was mitbringen?“

„Alex, wenn du noch eine Kleinigkeit tragen kannst, bringe mir bitte einen Apfel mit. Den will ich nachher mit aufs Zimmer nehmen“, grummelte Bernd.

„Okay! Schaffe ich gerade noch so. Und du, Bea? Möchtest du auch was?“

„Nö, ich bin satt und wunschlos glücklich. Aber wenn du jetzt nicht losgehst, kriegst du eh nur noch die Reste! Und, du weißt doch, die Äppel sind sowieso schnell aus.“

Ungefähr eine Stunde später verabschiedeten sich die drei voneinander.

Alexander hatte ihnen zuvor am Tisch noch erzählt, was bei dem Gespräch mit Dr. Stein und Herrn Schreiber rausgekommen war. Allerdings ließ er das Private außen vor. Auch von Johanna hatte er den beiden gegenüber kein Wort verlauten lassen.

Normalerweise teilte er Erfreuliches gern mit anderen Menschen. Aber er hätte es nicht gut gefunden, wenn sich Bea oder Bernd über ihn und Jo lustig machen würden.

Während er darüber nachdachte, warum er so sensibel reagierte, wenn es um Johanna ging, eilte er Stufe für Stufe hinauf in die sechste Etage.

Erst als er seine Zimmertür aufschloss, murmelte er: Mich muss der Hafer gestochen haben! Wieso bin ich eben eigentlich hochgelaufen? Warum bringt mich die unbekannte Frau so durcheinander?

Kopfschüttelnd betrat er seine Unterkunft und griff nach der Fernbedienung des Fernsehers. Nachdem er sie in der Hand hielt, ließ er sich damit auf sein Bett fallen.

Gleichgültig zappte er sich durch die Sender.

Zum Glück kam auf einem Kanal Fußball.

Das Spiel sah er sich an.

Während der Halbzeit wanderten seine Gedanken zurück zu Johanna. Zu gern hätte er gewusst, wie es wohl wäre, wenn sie jetzt neben ihm sitzen würde. Plötzlich schossen ihm zig Fragen durch den Kopf …

Ob sie auch gern Fußball guckt? Wenn ja, ob sie sich dabei an ihn kuschelt? Ob ihr die erste stürmische Begegnung auch nicht mehr aus dem Kopf geht? Ob sie sich auf das gemeinsame Wiedersehen genauso freut …, auf übermorgen und auf ihn?

Zu gern hätte er jetzt Antworten auf seine Fragen erhalten. Dass das ein Wunschdenken war, wusste er, denn Jo war nicht bei ihm. Er musste abwarten, bis übermorgen, 15:00 Uhr, im Café Meeresbrise, erst dort würde er sie dann endlich wiedersehen.

Und gleichzeitig graute Alexander vor dem Treffen. Denn schließlich musste er Jo beichten, dass er bereits am nächsten Tag Borkum verlassen musste.

Wie würde sie wohl darauf reagieren?

Er hatte keine Ahnung.

Ihm tat es auf jeden Fall verdammt leid, dass sie sich erst drei Tage vor seiner Abreise das erste Mal begegnet waren. Zu gern hätte er Johanna näher kennengelernt und mehr Zeit mit ihr verbracht.

In Gedanken kam er zu dem Ergebnis, dass ihr Kontakt jedoch nicht enden müsste, nur weil er Borkum den Rücken kehrte. Schließlich gab es WhatsApp. So könnten sie in Verbindung bleiben, selbst dann, wenn er wieder in Hessen war und sie auf der Insel wohnte.

Und gottlob war es ja auch möglich, dass sie die Stimme des anderen jederzeit hören konnten, weil das Telefonieren mit ihren Handys von überall aus möglich war. Und selbst sehen konnten sie sich, wenn sie das wollten. Optimal waren diese Lösungen zwar nicht, aber durchaus gute Möglichkeiten, sich nicht aus den Augen zu verlieren.

Vor sich hin brabbelnd stellte er fest: Das geht aber nur, wenn man die Handynummer hat. Und ihren kompletten Namen zu wissen, wäre auch von Vorteil!

Danach musste er Jo unbedingt fragen!

Und nach ihrer Adresse.

Plötzlich fiel ein Tor im Fernsehen!

Durch den Freudenschrei des Sportreporters wurde Alexander auf das Fußballspiel wieder aufmerksam.

Neugierig geworden, welcher der beiden Vereine das Tor gerade geschossen hatte, wandte er sich jetzt, bis zum Abpfiff, dem Spiel zu.

Kapitel fünf

Anruf von Madeleine

Johanna wischte sich über ihre Augen. Die Schnulze, die sie sich gerade angesehen hatte, hatte es in sich. Fast immer gab es ein Happyend. Aber bei diesem Film nicht.

Fassen und verstehen konnte sie es nicht, wenn sich Paare das gemeinsame Leben oftmals so schwer machen mussten. Zumal es meistens nur um Nichtigkeiten und Belangloses ging, woraus aus einer Mücke dann ein Elefant gemacht wurde. Nein, dafür hatte sie kein Verständnis, denn Johanna wusste allzu gut, wie es war – wenn …

Sie ertappte sich dabei, indem sie sich fragte: Wenn schon im realen Leben nicht alles rundläuft, wieso muss es denn auch bei diesem Liebesfilm so sein? Warum kann man einen Menschen nicht so lieben wie er ist? Und warum kann man den Weg nicht bis zum Ende mit ihm gehen? Wie heißt es doch so schön? In guten wie in schlechten Zeiten! – Bis dass der Tod euch scheidet.

Die Tränen, die ihr über die Wangen kullerten, tupfte sie mit einem Taschentuch ab und betitelte sich selbst als sentimentale Kuh.

Auf einmal grübelte sie darüber nach, was Alex wohl von ihr denken könnte, wenn sie bei einem Herz-Schmerz-Film weinen würde.

Sie konnte nicht begreifen, dass ihr Alex nicht aus dem Kopf gehen wollte. Wenn sie nur an den Klang seiner Stimme dachte, bekam sie eine Gänsehaut.

Johanna verstand sich und die Welt nicht mehr.

Dabei kannte sie ihn doch gar nicht!

Erlöst atmete sie erst auf, als im Fernsehen die Nachrichten anfingen. Doch auch hier jagte eine besorgniserregende Nachricht die andere. Demzufolge erhob sie sich auch nicht wirklich entspannt von ihrer Couch.

Nachdem Johanna alles weggeräumt hatte, was vor ihr auf dem Tisch stand, schaltete sie die Glotze aus.

Müde war sie geworden.

Bevor sie allerdings ins Bett gehen konnte, musste sie Benny erstmal dazu kriegen aufzustehen. Doch die Aufforderung und der Befehl sich vom Sofa zu erheben, erreichten seine Ohren anscheinend nicht.

Und weil Johannas Hund ihr erstes freundliches Kommando ignorierte, rief sie nun weitaus energischer: „Benny, komm! Pipi machen. Hierher Benny, Fuß!“

Das klappte.

Benny erhob sich, reckte und streckte sich, sprang schließlich von der Couch runter und folgte seinem Frauchen in den Garten. Normalerweise war der Garten für seine kleinen und großen Geschäfte tabu! Aber Johanna hatte keine Lust sich extra nochmal für eine Gassi-Runde anzuziehen. Außerdem war es draußen stockdunkel.

Eine halbe Stunde später lag Johanna im Bett und schlief innerhalb weniger Minuten tief und fest ein.

Benny hatte es sich in seinem Hundekörbchen bequem gemacht, das vor ihrem Bett stand und begann vor sich hinzuschnarchen.

Am nächsten Morgen klingelte um 07:00 Uhr der Wecker. Genervt schlug Johanna auf den blechernen Störenfried. Sie wollte sich gerade auf die andere Seite drehen, als Benny jaulend vor ihrem Bett stand.

Er wollte, dass sein Frauchen endlich ihr Federbett zurückschlug und richtete sich auf.

„Du nervst! Mensch, Hundi! Kannst du denn nicht ein Stündchen länger in deinem Körbchen liegen bleiben?“

Doch Benny dachte nicht im Traum daran.

Stattdessen raste er zur Tür und fing an zu bellen.

„Dich hat heute früh wohl der Hafer gestochen? Benny, aus! Gib Ruhe! Ich komm ja schon!“

Lustlos sprang Johanna aus dem Bett, zog sich ihren flauschigen Morgenmantel über und öffnete die Schlafzimmertür.

Ihr Hund sauste an ihr vorbei und baute sich kurz darauf bettelnd vor dem Kühlschrank auf.

„Nein, mein Freund, so nicht! Ich brauch zuerst einen Kaffee! Und wenn der fertig durchgelaufen ist und ich den Frühstückstisch gedeckt hab, dann bekommst du dein Fresserchen. Jetzt geh ich aber erstmal ins Bad! Komm, ich lass dich raus.“

Das verstand Benny sofort.

Im Schweinsgalopp flitzte er an ihr vorbei und wartete freudig bellend an der Terrassentür. Johanna öffnete sie und ihr Hund lief sofort in den gepflegten Garten. Übermütig drehte er auf dem Rasen seine Runden und schnupperte zwischendurch hier und da.

Ein Weilchen schaute sie ihrem Hund noch zu, danach ging Johanna ins Badezimmer, duschte sich, zog sich an und machte sich für den Tag ausgehfein.

Als sie vor dem Spiegel stand, sich mit einem dezenten Lippenstift ihre Lippen anmalte, musste sie schon wieder an Alexander denken.

Sie tadelte sich selbst, während sie in den Spiegel sah.

Normal ist das nicht. Normal ist anders! Du musst wohl oder übel noch einen Tag aufs Wiedersehen warten.

Enttäuscht wandte sie sich ab und als sie gerade das Bad verlassen wollte, wusste Johanna plötzlich was sie tun könnte.

Kichernd schaute sie ihr Spiegelbild wieder an und begann erneut mit ihrem Gegenüber zu plaudern: