Iron Woman - Rebecca Maria Salentin - E-Book

Iron Woman E-Book

Rebecca Maria Salentin

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Beschreibung

In ihrem Bestseller "Klub Drushba" beschrieb Rebecca Maria Salentin ihre viereinhalbmonatige Wanderung auf dem "Weg der Freundschaft" von Eisenach bis Budapest. Angestachelt vom Erfolg dieser Reise, die sie völlig untrainiert, mit einer großen Portion Angst im Gepäck aber mit starkem Willen ausgestattet bewältigt hat, ist sie abermals losgezogen: diesmal mit dem Fahrrad. Fast 10. 000 Kilometer war sie mit Zelt und Kocher auf dem Iron Curtain Trail unterwegs. Eine Tour durch 20 Länder, durch unberührte Bergregionen, Bärengebiete, Wälder, Küstenstreifen und geschleifte Dörfer. Rebecca Maria Salentin hat unterwegs mit Grenzsoldaten gesprochen, mit Geflüchteten, mit Arbeitsmigrant:innen, Historiker:innen, ehemals Vertriebenen und Menschen, die den Fall des Eisernen Vorhangs erlebt haben und hat dabei nicht zuletzt auch die Geschichte ihrer eigenen Familie aufgearbeitet. Klub Europa ist eine literarische Annäherung an geschichtsträchtige Orte und Geschehnisse entlang der Linie, an der politische Systeme, Menschen und sogar die Natur jahrzehntelang getrennt wurden und leider inzwischen auch wieder werden.

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Die Autorin dankt dem Kulturamt der Stadt Leipzig, dem Goethe-Institut Tschechien und dem Bike Department Ost.

Dieser Reisebericht beruht auf meinen persönlichen Erlebnissen, Eindrücken und Erinnerungen. Manchmal habe ich Informationen, Namen und Details modifiziert, um Anonymität zu gewährleisten.

© Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin und Dresden 2023

Lektorat: Anna Jung

Korrektorat: Kristina Wengorz

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Karte: Gaëlle Lalonde

Satz: Fred Uhde

Druck und Bindung: BALTO print, Vilnius

ISBN 978-3-86391-373-1

eISBN 978-3-86391-400-4

www.voland-quist.de

Ich widme dieses Buch allen Menschen, die auf ihrem Wegin ein freieres Leben an einer Grenze starben.

INHALT

Teil 1 – Von Bratislava ans Schwarze Meer

April 2022, Österreich

April 2022, Slowenien

April 2022, Kroatien

April 2022, Ungarn

April 2022, Serbien

April 2022, Rumänien

Mai 2022, Bulgarien

Mai 2022, Nordmazedonien

Mai 2022, Griechenland

Mai 2022, Türkei

Teil 2 – Von Bratislava bis Kaliningrad

Mai 2022, Slowakei

Mai 2022, Tschechien

Juni 2022, Deutschland

Juli 2022, Polen

Teil 3 – Von Kaliningrad bis zur Barentssee

Juli 2022, Kaliningrad

Juli 2022, Litauen

Juli 2022, Lettland

August 2022, Estland

August 2022, Russland

August 2022, Finnland

September 2022, Norwegen

»Nie ma roweru, nie ma roweru!«, brüllt der Busfahrer und stampft, um die Entschiedenheit seiner Worte zu unterstreichen. Der Parkplatz glänzt nass vom Regen, der so heftig auf das Vordach des Busbahnhofs prasselt, dass das Wasser sich in dicken Pfützen auf dem unebenen Platz sammelt. Die Luft riecht nach Sommerregen, heißem Teer und Dieselqualm. Der Mann klettert in den Bus, der unter der Wucht seiner wütenden Schritte schwankt, schwingt sich in seinen Fahrersitz und ignoriert mich.

Nun, was der kann, kann ich auch. Ich habe nicht vor, mir von einem schlecht gelaunten Busfahrer die unter großen Mühen erarbeitete Einreise nach Kaliningrad vermasseln zu lassen. Ich habe ein Busticket, ich habe ein Visum, und ich habe mir die Hacken wund gerannt, um den für die Einreise nach Russland erforderlichen PCR-Test zu ergattern und auszudrucken, und der ist nur heute gültig. Zu wenig Zeit, um von Danzig bis in die russische Exklave zu radeln, zumal der Grenzübergang nur über eine Autobahn erreichbar ist und ich in diesen Zeiten ungern allein mit einem voll beladenen Reiserad an einem russischen Grenzposten vorfahren möchte. Ich spreche kein Russisch und missachte mit meinem Transit durch die westlichste Oblast der Russischen Föderation die vehemente Reisewarnung des Auswärtigen Amts. Seit Putins Überfall auf die Ukraine besteht das Risiko, als Reisende willkürlich inhaftiert und zu drakonischen Gefängnisstrafen verurteilt zu werden, wenn die Bedrohung für mich kleinen Fisch auch nicht halb so real ist wie für prominente Ausländer und Ausländerinnen oder aber jene ganz normalen inländischen Bewohner und Bewohnerinnen, die sich offen gegen diesen Krieg positionieren oder diesen auch nur als solchen benennen. Wenn ich mich schon gegen jede Vernunft nach Russland wage, dann möglichst unauffällig im Schutze einer Reisegruppe, und sei es nur eine zufällig zusammengewürfelte wie dieser bunte Haufen russischer Staatsbürger und -bürgerinnen, die den Bus von Danzig nach Kaliningrad-Stadt als letzte noch existierende Verbindung nutzen, seit Flugverkehr und Zugverbindungen zwischen den EU-Ländern und Russland eingestellt wurden. Dieser Bus ist meine einzige Chance, und ich werde mich um nichts in der Welt davon abbringen lassen mitzufahren, das habe ich mir vorab geschworen. Außerdem habe ich auf meiner bis hierher immerhin schon fast sechstausend Kilometer langen Tour schon genug Erfahrungen mit willkürlich reagierenden Busfahrern gemacht, die einen wahlweise wörtlich eiskalt im Regen stehen lassen oder amüsiert kostenlos mitnehmen. Ich habe mich also innerlich schon für einen harten Kampf gewappnet.

Und mit dieser Entschlossenheit gehe ich jetzt ran und packe seelenruhig meine Fahrradtaschen in den Gepäckraum des Busses, vorbei an den Beinen der Wartenden, die alle von der Exklave ins Mutterland fliegen wollen. Sie haben ihre Taschen und Koffer längst verstaut und stehen nun brav in einer Reihe vor der Fahrerkabine, die Bustickets in den Händen. Während ich Tasche für Tasche vom Rad nehme und in den Stauraum wuchte, schauen sie betreten weg.

Selbst die junge Frau mit den bunten Haaren, die mein Anliegen für den Busfahrer übersetzte und mit ihm diskutierte, zuckt mitleidig mit den Schultern. »Keine Chance, sorry!«, sagte sie. »Der ist zu resolut.«

Aber eine ältere Dame mit toupierten Haaren und Komplett-Leo-Look hält bestärkend den Daumen hoch und murmelt mir aufmunternde Worte zu, zumindest deute ich es so, denn ich verstehe sie ja nicht.

Als der Busfahrer sieht, was ich tue, stürmt er zeternd aus seinem Gefährt, schreit mich noch lauter an als zuvor und zerrt meine Taschen wieder raus. Der Regen tropft in fetten Schlieren auf mein Gepäck. Ich selbst bin nicht weniger durchnässt, auf meiner Haut mischt sich der kalte Schweiß der Aufregung mit dem warmen Sommerregen.

»Nee, nee, Freundchen!«, zische ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich lasse mir von dir nicht die Butter vom Brot nehmen!« Dann schreie ich: »Ich werde in diesen Bus steigen! Mein Visum ist begrenzt, also MUSS ich heute nach Russland! Und außerdem habe ich ein Ticket!«

Der Busfahrer schreit zurück, dass ihn das herzlich wenig interessiere, so viel verstehe ich, obwohl wir keine gemeinsame Sprache haben: Ich spreche Englisch, er Polnisch.

»Die Dame am Ticketschalter hat es mir zugesagt!«, bekräftige ich meine Worte.

Das stimmt nicht, im Gegenteil, sie hat mir sehr wohl erklärt, dass es im Ermessen des Fahrers liegt, ob er ein Fahrrad mitnimmt oder nicht, und hat mir deswegen überhaupt kein Ticket verkauft. Aber nach den Herausforderungen der vier Monate, die ich schon mit meinem Fahrrad unterwegs bin und in denen ich immerhin schon vierzehn Länder durchquert habe, bin ich mit allen Wassern gewaschen und habe mir einfach einen Tag später bei einer anderen Verkäuferin ein Ticket gekauft, ohne mein Fahrrad zu erwähnen, habe mich aber sicherheitshalber vorher erkundigt, ob es sich um einen großen Bus oder einen kleinen Transporter handelt. Auch ist die Begründung des Busfahrers, für ein Fahrrad sei nicht genug Platz, völlig haltlos: Im Gepäckraum ist neben den dicken Koffern der Mitreisenden noch ausreichend Stauraum für meine fünf Radtaschen, und es gibt sogar ein Extrafach für Fahrräder. Darauf deute ich jetzt mit dem Daumen und ziehe meine Augenbraue ironisch-verächtlich hoch.

»No, no, no!«, brüllt der Mann, stampft dabei abermals auf wie Rumpelstilzchen und schickt zur Sicherheit noch ein bekräftigendes »Njet, njet, njet!« hinterher, ob für mich oder die Zuschauenden weiß ich nicht, aber wir haben es ja so oder so verstanden: Ein Fahrrad passt ihm nicht in den Kram beziehungsweise in den Bus.

Also muss ich die Sache wohl auf dem kurzen Dienstweg lösen: Jetzt hilft nur noch Bakschisch! Ich zücke den eigens für diesen Fall vorsorglich lose in meiner Tasche deponierten Hundert-Zloty-Schein. Zum ersten Mal in meinem Leben lasse ich in Korruptionsabsicht Geld spielen. Und es funktioniert. Kaum ist der Schein in seiner Tasche verschwunden, meckert er zwar alibimäßig noch ein bisschen vor sich hin, überlässt mir aber lammfromm das Fahrradfach. Als letzte Schikane verlangt er, dass ich wenigstens das Vorderrad abmontiere. Nun gut, wenn ich dafür in der Menge der Mitreisenden verschwinden kann, um in ihrem Schutz unauffällig nach Russland einzureisen, dann ist es mir die Mühe wert.

Als ich erleichtert auf meinen Platz sinke, schweiß-, dreck- und ölverschmiert, zwinkert mir die Leoparden-Dame lässig zu.

Und als der Bus sich stotternd in Bewegung setzt, kann ich es einmal weniger fassen, wie weit ich schon gekommen bin. Aber wo und wie hat das eigentlich alles begonnen?

Teil 1

Von Bratislava ans Schwarze Meer

April 2022, Österreich

Es ist bitterkalt, Raureif überzieht Äste und Grashalme, in den Furchen der Äcker haben sich dünne Schneewehen gesammelt. Der Himmel trägt nicht die kleinste Spur von Blau. Schlieren dichter Wolken. Die Natur steht kahl, ihr Grau verschmilzt mit dem des Himmels, dazwischen das Braun frisch aufgewühlter Erde. Anfang April ist von den Frühlingsboten noch nichts zu sehen. Lediglich die Wiesen tragen das saftige Grün, das wir allgemein mit dem Begriff Natur assoziieren. Jegliches Leben scheint festgefroren und erstarrt, nur der Wind heult ein stürmisches Lied, überzieht die flache Ebene so einnehmend und dominant mit seinem Sausen und Tosen, dass ich kaum gegen ihn ankomme. Zumal sich das Fahrrad mit den vollgepackten Vorderradtaschen ungewohnt sperrig lenken lässt. Die heftigen Böen bringen mich ins Schlenkern. Die eingeschränkte Beweglichkeit wird noch durch die vielen Schichten Kleidung verstärkt, in die ich mich gezwängt habe: Radlerhose, Thermounterwäsche, lange Hose, dicke Socken, Fleece, Daunenjacke, Stepprock und -weste, Sturmhaube und Handschuhe machen mich zum Michelin-Männchen, das steif und unbeholfen auf dem Sattel thront. Nase und Wangen sind der eisigen Luft ungeschützt ausgesetzt und haben sich innerhalb von Sekunden in einen leuchtenden Vorwurf verwandelt: Sie sind knallrot und schmerzen so prickelnd, dass meine Mimik einfriert.

Was tust du hier eigentlich?, frage ich mich. Diesem Anfang wohnt nun wahrlich kein Zauber inne!

Sonnenschein, Vogelgezwitscher und lauschige Wiesen hatte ich mir ausgemalt, sah mich fröhlich lachend an Melonen-, Tabak- und Sonnenblumenfeldern vorbeisausen, an klapprigen Eselskarren, Frauen mit bunten Kopftüchern und ausladenden Röcken, Männern mit Hosenträgern und beeindruckenden Schnurrbärten. Sah mich saftige Tomaten, sauren Schafskäse, scharfe Würste und salzige Oliven essen. Zumindest waren das die klischeebeladenen Bilder, die ich mit einer Radtour über den Balkan verband.

Tja, nur bin ich überhaupt nicht auf dem Balkan! Stattdessen quäle ich mich am äußersten Rand des Burgenlands über schnurgerade Wirtschaftswege, die die flache und öde Landschaft in akkurate Parzellen teilen. Traktorreifen haben ihr Profil in ausufernden Schleifen in den Ackerboden gegraben und auf dem Plattenweg klobige Erdbrocken hinterlassen. Von der Aussaat ist noch nichts zu sehen. Einzige Abwechslung am Wegesrand sind scheinbar willkürlich in der Gegend aufgestellte hölzerne Aussichtstürme und olivfarbene Zelte. Und symmetrische Reihen Windräder. Das laute Surren ihrer gigantischen Flügel spiegelt die Windstärke, gegen die ich mich stemme. Meine Augen tränen, die dünnen Rinnsale verwandeln sich in Eiskristalle auf den verfrorenen Wangen. Ich bin froh, dass ich trotz der Anstrengung nicht ins Schwitzen gerate; kalte Nässe auf der Haut ist das Letzte, was ich bei diesem Wetter gebrauchen kann, vor allem, weil ich kaum Wechselkleidung habe und die Nacht im Zelt verbringen will.

»Du musst dich einfach immer auf das Positive konzentrieren!«, spreche ich mir selbst Mut zu. »Es könnte noch viel schlimmer sein! Etwa, wenn es schneien würde! Oder regnen!«

Meine Fahrradtaschen leuchten türkis, in meiner Kleidung dominieren die Farben Lila und Pink. So bringe ich Farbe in die kargen Erdfarben, die mich umgeben, hier in den Feldern um Kittsee, einem österreichischen Dorf, das an die Slowakei grenzt und berühmt ist für seine Marillenplantagen. Für die saftigen, orange leuchtenden Früchte ist es im April freilich noch zu früh. Dafür prangt direkt vor meiner Nase gut sichtbar ein Schild des Trails: eine von gelben Europasternen umrahmte Dreizehn auf blauem Hintergrund.

Heute Morgen habe ich bei Bratislava das voll bepackte Rad bestiegen und mich in den Boxring begeben, habe die Fäuste gereckt und den Kampf gegen die widrige Witterung aufgenommen. Keine Stunde später fühle ich mich angesichts des übermächtigen Gegners wie ein impertinenter Däumling: couragiert, renitent, aber hoffnungslos verloren.

Wieder passiere ich ein tarnfarbenes Zelt, in dem ich Vogelbeobachter vermute. Am Vorabend habe ich die Etappenbeschreibung des Radreiseführers durchgelesen und erfahren, dass hier die Großtrappe lebt, einer der schwersten flugfähigen Vögel der Welt. Mit ihrem Vorkommen erklären sich auch die Aussichtstürme, die in der Monotonie der brach liegenden Äcker etwas deplatziert wirken. Weil die Großtrappe in unseren Breiten vom Aussterben bedroht ist, wurden im Grenzgebiet zwischen Österreich, Ungarn und der Slowakei besondere Schutzmaßnahmen ergriffen: Erdverkabelung, Trappenbrachen und Winteräsungsflächen. Aber obwohl die Vögel sich angeblich jedem Wetter zum Trotz auf dem freien Feld tummeln sollen, sehe ich kein einziges Exemplar.

Ich zerknacke einige hart gefrorene Gummibärchen aus der Lenkertasche zwischen den Zähnen, bevor ich mir die Handschuhe wieder überziehe und dem Klingeln der Glocke für die nächste Runde des ungleichen Boxkampfs nachgebe. Die Fahrt über die schnurgeraden Feldwege verläuft monoton und wie ferngesteuert: geradeaus, links, rechts, geradeaus, rechts, links, geradeaus. Einfache Richtungswechsel wie in einem veralteten Computerspiel. Und tatsächlich eilt mir ein kleiner Avatar stets voraus: Über meinem Vorderrad prangt eine Legofigur, die mir verblüffend ähnelt – Locken, Stirnband, bunte Sportkleidung. Dieses Mini-Me habe ich zu meiner Schutzpatronin auserkoren.

Die wenigen Dörfer, durch die ich komme, liegen ebenso still und menschenleer da wie die sie umgebende Landschaft. Immerhin ist der Weg hervorragend ausgeschildert: An jeder Weggabelung weist ein gut sichtbares Schild die Richtung, der es zu folgen gilt.

»Auf zur wilden Dreizehn!«, lautet die Parole.

Der Iron Curtain Trail – oder Europa-Radweg Eiserner Vorhang – ist unter den europäischen Fernradwegen als EuroVelo 13, kurz EV13, geführt. Der Radweg führt durch zwanzig Länder. Man muss Gebirge, militärische Sperrgebiete und einsame Moorwälder bewältigen. Radreiseführer teilen den fast zehntausend Kilometer langen Weg in fünf größere Abschnitte auf. Die Wegführung wurde dabei nach folgenden Kriterien festgelegt: möglichst nahe der ehemaligen Grenze, diese so oft wie möglich kreuzend, historische Wegstätten integrierend, stark befahrene Straßen vermeidend und auf komfortabel zu befahrenden Wegen verlaufend. Allerdings stellen die Bücher auch klar, dass gerade letztere zwei Punkte noch ausbaufähig sind: Von Kolonnenweg über Autobahnen, Schotter- und Sandpisten ist an miserabler bis gefährlicher Wegqualität alles vorhanden. Dass die durchgängige Befahrbarkeit bisher zwar in der Theorie besteht, es in der Realität an der Strecke aber ganz anders aussieht, werde ich bald merken.

Zum Glück weiß ich noch nicht, dass es sich um eine Höllentour handelt, an der schon Hochleistungssportler scheiterten, dass die meisten spätestens vor dem Balkangebirge kapitulierten, weil der Iron Curtain Trail ein solcher Cours infernal ist, dass er selbst harte Adventure-Knochen und zähe Outdoor-Brocken in die Knie zwang. Auch weiß ich nicht, dass bisher nur von einer Handvoll Leuten bekannt ist, die gesamte Strecke mit reiner Muskelkraft bewältigt zu haben, und dass offiziell nur einer davon es an einem Stück schaffte, und zwar ausgerechnet mit einem Mifa-Klapprädchen. Hätte ich gewusst, dass dieser Radweg eine der größten sportlichen Herausforderungen des europäischen Radwegenetzes ist, weil er im Grunde nur auf dem Papier existiert und die Strecke in der Realität zu großen Teilen nicht befahrbar ist, schon gar nicht mit einem voll bepackten Reiserad, wäre ich vermutlich gar nicht losgefahren.

Davon ausgehend, dass ein EuroVelo ein ordentlicher Radweg ist, versuche ich mich an dieser Monster-Tour. Eine gemütliche, während des sächsischen Triple-Lockdowns zur Corona-Couchpotato mutierte Frau Anfang vierzig, die beim Radfahren von Rentnern und Rentnerinnen überholt wird (ja, auch von denen ohne E-Bike!). Eine Amateurin, die sich vor Rädern ohne Rücktrittbremse fürchtet und deren Expertise in Sachen Fahrrad mit dem Abschrauben einer Ventilkappe endet. Wer das für Koketterie hält, dem sei an dieser Stelle schon mal verraten, dass ich einen beträchtlichen Teil der Strecke mit einer mächtigen Panne absolvieren werde. Aber dazu später mehr …

Warum aber kämpfe ich mich durch das österreichische Agrargebiet im Mittelteil der Strecke?

Der Iron Curtain Trail beginnt hoch im Norden an der norwegischen Barentssee und verläuft dann parallel zum finnischrussischen Grenzverlauf hinab zur Ostsee. Dort bringt einen die Küstenroute über St. Petersburg in die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, durch die russische Exklave Kaliningrad nach Polen und schließlich bis Deutschland, wo der EV13 ins Landesinnere abbiegt, auf den ehemaligen Todesstreifen der innerdeutschen Grenze, die heute als Grünes Band unter Naturschutz steht. Ab Tschechien wird man im ständigen Zickzackkurs durch die Länder gelotst, die zu beiden Seiten der einstigen Demarkationslinie liegen: Slowakei, Österreich, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Nordmazedonien, Griechenland, Türkei. Der Trail endet am südöstlichsten Flecken Kontinentaleuropas: der bulgarisch-türkischen Grenze am Schwarzen Meer.

Angesichts einzelner Schneeflocken, die jetzt im matten Tageslicht vor meinen Augen tanzen, bin ich froh, nicht in Lappland zu sein. Von Anfang an war es der arktische Winter, der mich bestärkte, entgegen der offiziellen Fahrtrichtung im Süden zu starten. Will man den Trail an einem Stück bezwingen, hat man die Wahl zwischen Pest und Cholera: Am Schwarzen Meer findet man vermutlich keine Schneemassen vor, muss aber aus dem Stand das Balkangebirge bewältigen. Natürlich wäre es clever, diese Höllenberge ans Ende der Grand Tour zu setzen, wenn man fit gestrampelt ist. Andererseits kann ich als leidenschaftliche Berghasserin so direkt das Schlimmste hinter mich bringen, ganz nach dem Motto: erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

Der Meinung war auch mein engster Familien- und Freundeskreis, der in alle Entscheidungen des Reiseprozesses involviert war: »Berge kann man zur Not hochschieben!«, redeten sie mir zu. »Ein Auf bedeutet auch immer ein Ab.« – »Gibt bestimmt Lkw-Fahrer, die dich mitnehmen.« – »Dafür wird die Landschaft bestimmt atemberaubend: im wahrsten Sinne des Wortes!« – »Die Frau, die mit dem Hollandrad die Alpen überquert hat, hat auch größtenteils geschoben.« – »Einfach losmachen und nicht so viel nachdenken!«

Bei allem Zuspruch: Mein Umfeld hat auch Sorgen. Bedenken und Einwände prasselten vor der Abreise auf mich ein wie ein Platzregen: Man beschwor unerträgliche Hitze herauf, Überflutungen, Stürme und Schneechaos. Die einen wollten mich nicht allein im Zelt wissen, die Nächsten waren sich einig, dass ich von einsamen oder besoffenen Jägern erschossen oder vergewaltigt, von Moorlöchern verschluckt oder von Bären verspeist werde. Wieder andere sahen mich von Mücken massakriert, vom Gegenwind malträtiert, über Schlaglöcher katapultiert und von Fahrraddiebesbanden terrorisiert.

Ich fand es viel wahrscheinlicher, dass mein Rad in Leipzig geklaut wurde, die Stadt rangiert nämlich in Sachen Fahrraddiebstahlquote deutschlandweit auf Platz eins.

Mut machten mir Leute, die den Weg schon geradelt waren, wenn auch nicht am Stück: der Erfinder des Trails und ein Pärchen, das ihn über drei Sommer verteilt abgeradelt hatte.

Ausgerechnet meinen Angstgegner Balkangebirge hatten Letztere zwar ausgelassen, kannten die Strecke aber dennoch: »Weil wir sie erst kürzlich mit dem Camper bereist haben! Es hat uns nicht losgelassen, wir wollten wenigstens einmal sehen, was wir verpasst haben. Eins können wir dir gleich sagen: Versorgungslage und Beschilderung sind schlecht, du brauchst ordentlich Proviant, eine gute Powerbank und ein GPS, sonst bist du verloren! Nur Wasser ist kein Problem, überall sind Quellen und Brunnen am Straßenrand.« Bären hatten sie nicht gesehen, aber was sie von den Rudeln wilder Hunde erzählten, klang schlimm!

Ich beschloss, dass mein Handy und ein einfacher Tacho zum Navigieren reichen mussten. Weder bin ich technikaffin, noch interessieren mich detaillierte Tagesleistungen. Ich habe keine GoPro, keine Drohne, kein Stativ und keine Kamera dabei. Das Handy muss für alles herhalten, und der Tacho soll mir lediglich einen groben Überblick über die Tageskilometer verschaffen, mehr brauche ich nicht. Ich lud mir den Track in meine Offlinekarten und nahm mir vor, dass GPS nur im Notfall einzuschalten, allein schon, um Akku zu sparen, kaufte mir aber einen Adapter zur Stromerzeugung über den Dynamo. Weil ich weder sportlich ambitioniert noch optimierungswillig bin, verwarf ich auch das Ultraleicht-Konzept von vorneherein. Wenn ich so lange allein da draußen unterwegs bin und mich mit meinen Ängsten konfrontiere, dann will ich es dabei so komfortabel wie möglich haben, auch wenn der Komfort lediglich aus ausreichend Wechselkleidung, einem ordentlichen Campingkocher, einem aufblasbaren Kopfkissen und einem blauen Kleid besteht.

Was meine Vorgänger zu den Bergen zu sagen hatten, war nicht erfreulich: »Das sind heftige Anstiege, selbst wenn man schon ordentlich Kilometer in den Waden hat, da wirst du verzweifeln, heulen und schieben!« Na wunderbar. Zum Glück fügten sie noch hinzu: »Aber mit Zelt kannst du dir deine Zeit nehmen und auch mal sagen: ›Heute mach ich nur einen Berg und leg mich dann lieber hin!‹ Dann wird es bestimmt kein Problem.«

Mit diesem Argument hatten sie mich! Auch wenn ich mich bei der Vorstellung, auf einer einsamen Balkan-Almwiese zu fläzen, vom Bären verspeist sah, aber na ja, irgendwelche Prioritäten muss man ja setzen …

Die Warnung vor rücksichtslosen Lkw-Fahrern fand ich zumindest so bedenkenswert, dass ich mir eine neonpinke Warnweste zulegte. Ich kaufte mir auch eine kleine Trillerpfeife, zu welchem Zweck, war mir selbst nicht klar. Immerhin könnte ich damit auf mich aufmerksam machen, falls mich ebenjene Trucker von der Fahrbahn in den Straßengraben drängten und ich mir alle Knochen brach. Vielleicht konnte ich auch geifernden Straßenhunden und frisch aus dem Winterschlaf erwachten, hungrigen Braunbären mit einem schrillen Pfeifton Paroli bieten? Ich fand meine Phobie diesbezüglich zwar selbst albern, denn kaum jemand hatte die in diesen Breitengraden ansässigen Populationen zu Gesicht bekommen, aber man konnte ja nie wissen! Damit war die Angst-Assoziationskette allerdings noch nicht beendet. Damit ich die Pfeife im Notfall stets griffbereit hätte, musste ich sie mir schon um den Hals hängen. Am besten zusammen mit dem Fahrradschlüssel. Aber was, wenn ich mich am Ende unterwegs mit meinem eigenen Survival Kit erdrosselte?! Ich bin zwar empfänglich für alles, was in irgendeiner Form bedrohlich ist, lebe aber zugleich nach dem Kölschen Grundgesetz: »Et is, wie et is. Et kütt, wie et kütt. Und et hätt noch immer joot jejange.«

Zur Verwunderung der meisten Leute fürchte ich mich zwar vor Spinnen, Hunden, Gewittern und dunklen Wäldern, aber nicht vor fremden Menschen. Ich gehe einfach davon aus, dass die meisten von ihnen freundlich und hilfsbereit sind und ich den wenigen, die es nicht sind, aus dem Weg gehen oder eine reinhauen kann.

Also staunte ich nicht schlecht, als jemand sagte: »Du gerätst bestimmt mitten in die Fluchtströme. Und diese Menschen können nichts besser gebrauchen als deine Papiere!«

Es stimmt, der Iron Curtain Trail verläuft zwischen Ungarn und Bulgarien immer wieder entlang der EU-Außengrenze und kreuzt damit die sogenannte Balkanroute, aber warum sollte ich mich vor Menschen in Not fürchten? Ich finde es eher befremdlich, dass ich mit Zelt und Kocher frank und frei wie der Wind über jene Grenzen radeln kann, an denen andere Menschen frieren und hungern müssen, verprügelt oder sogar ermordet werden, weil Europa an ihnen seine Werte mit Füßen tritt.

Als ich meinem Freund Moustafa, der selbst 2015 über die Balkanroute gekommen war, von dieser Warnung erzählte, lachte er laut: »Ach was! Die größte Gefahr ist, dass du auf die Idee kommst, jemandem zu helfen, indem du versuchst, ihn auf deinem Fahrrad in die EU zu schmuggeln!«

Nun gut, zum Verstecken von Menschen befand ich meine Fahrradtaschen zu klein.

Reisen kann nur, wer Freiheit, Zeit und Geld hat. Ein deutscher Pass gehört zu den mächtigsten der Welt. Das Vorzeigen eines solchen Passes öffnet Grenzschranken so unkompliziert und geschmeidig wie ein Universalschlüssel schwere Türen, vor allem, wenn man weiße Haut hat. Das, was wir oft als bewundernswerte und mutige Leistung sehen, nämlich eine lange abenteuerliche Reise, ist in Wahrheit Anhäufung und Ausübung von Privilegien, die nur ein Minimum der Erdbevölkerung hat. Auch ich gehöre zu denjenigen, die sich die wenigsten dieser Vorteile selbst verdient hat. Und ich weiß dieses Glück mehr als zu schätzen.

Trotzdem wurde mir in den Monaten vor der Abreise alles zu viel. Der dritte Lockdown setzte mir zu. Zu Hause ausharren war mal wieder angesagt, und prompt entsprach meine Stimmung der Tristesse, mit der der nasskalte Januar über meinem Plattenbauviertel hing. Zusätzlich zerbrach ich mir den Kopf über die zwei russischen Abschnitte des EV13. Das bequeme und kostenlose e-Visum für Kaliningrad und St. Petersburg war seit Ausbruch der Pandemie außer Kraft gesetzt. Aber auch ein reguläres Visum bekam ich nicht: Einreise auf dem Landweg wegen Covid nicht gestattet. Und angesichts des Säbelrasselns von Putin, der immer mehr Truppen an der Grenze zur Ukraine postierte, wusste ich gar nicht mehr, wovor ich mich mehr fürchten sollte: vor den Bären, den bösen Bergen oder Putins Panzern.

Und natürlich schüchterte mich die gigantische Strecke ein. Aber ich wollte es wenigstens versuchen. Ich war mir sicher, dass man den imposanten Radweg eher mit eisernem Willen bezwang als mit gestählten Waden. Und was Sich-Durchbeißen angeht: Da bin ich definitiv Iron Woman.

Dabei ahnte ich schon, dass ich mich auf dieser Reise gleich auf mehreren Ebenen abstrampeln würde, dass mich die emotionale Reise zuweilen mehr Kraft kosten würde als das tägliche Radfahren. Dass mich der Trail nicht nur an Ländergrenzen bringen würde, sondern auch an meine inneren. Dass ich mich dem Pochen schlecht verheilter Wunden stellen würde müssen. Dass mich die Vergangenheit einholen würde und die Karten meiner Familienhistorie neu gemischt würden, denn meine Familiengeschichte ist der Grund, warum ich ausgerechnet diese Route ausgesucht habe.

Ich wollte das System der bipolaren Welt während des Kalten Kriegs verstehen, als der Eiserne Vorhang die Erde in zwei Hemisphären und Bündnissysteme teilte, deren politische Ideologien auf gegenseitiger Unvereinbarkeit gründeten, und vor Ort herausfinden, welche Bedeutung und Einfluss die ehemalige Trennlinie zwischen den NATO-Staaten und denen des Warschauer Pakts heute noch hat; für die dort lebenden Menschen, für Europa und irgendwie auch für mich.

Denn auf eine gewisse Weise bin ich ein Kind sowohl des alten als auch des neuen Europas. Ich habe die deutsche Staatsangehörigkeit, aber meine Herkunft beruht auf mehreren Nationalitäten. Wurzelstränge aus Ost- und Westeuropa, die im Akt meiner Zeugung verschmolzen, aber darüber hinaus nicht zusammenwuchsen. Und so hänge ich dazwischen, ohne eindeutige Zugehörigkeit. Meine Identität ist gefangen im Transitbereich, irrt zwischen den Ländern, den Kulturen, den Religionen umher, ohne Einreisegenehmigung und Bleiberecht.

Mir ist bewusst, dass meine Biografie mit den Erlebnissen meiner Großeltern während des Terrorregimes der Nationalsozialisten zusammenhängt. Dass ich mit Dämonen kämpfe, die ihren teuflischen Tanz lange vor meiner Zeugung aufführten, ihre klebrigen Arme aber bis in die Gegenwart strecken und mich gepackt halten wie die Tentakel von Riesenkalmaren, die einen in die Tiefe zerren wollen.

Als ich herausfand, dass es mit dem Iron Curtain Trail einen Radweg gibt, der dem ehemaligen Eisernen Vorhang folgt, war ich sofort angetan. Mich faszinierte nicht nur der Gedanke, die historische Komponente der mit dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Trennung Europas mit dem Rad wortwörtlich zu erfahren, sondern auch zu sehen, wie sich der Zwischenraum des ehemaligen Niemandslands, in dem Menschen vertrieben und Dörfer zerstört wurden, das vermint und eingezäunt wurde, heute als Grünes Band quer durch den Kontinent regeneriert. Welch Magie liegt darin, eine Grenze in ein Naturschutzgebiet, einen Todesstreifen in einen Hort der Biodiversität umzuackern! Es ist das Versprechen einer interkontinentalen Heilung. Vielleicht gab es beim bewussten Reisen auf dieser transeuropäischen Narbe die Chance, das Niemandsland meiner eigenen Identität in eine fruchtbare Ebene zu verwandeln.

Auf dem Iron Curtain Trail steht man im Grunde immer mit einem Fuß im einst sozialistischen Osten und mit dem anderen in den Ländern, die man dort zum kapitalistischen Westen zählte. Obwohl ich die eine Hälfte meines Lebens im Westen und die andere im Osten – wenn auch nach der Wiedervereinigung – verbracht habe, ist alles, was östlich der alten Demarkationslinie liegt, mir fremd geblieben, so, wie mir die Ära des Kalten Krieges mit allem, was dazu gehörte, immer auf eine abstrakte Weise fernblieb. Meine westlich geprägte Vorstellung über das, was hinter dem Eisernen Vorhang lag, mein Wissen über die Struktur der politischen Systeme und die dortigen Lebensumstände reichen kaum über das bruchstückhafte bisschen hinaus, welches man uns in der Schule vermittelte. Begriffe wie Ostblock, Kommunismus und Sozialismus blieben inhaltslos, weil man uns keine Kenntnis über Planwirtschaft, Gesellschaftsnormierung, Zwangskollektivierung, staatliche Überwachung, Zensur und Einheitsparteien gab. Ereignisse wie der Prager Frühling, die Samtene oder Singende Revolution verhallten, weil wir nichts von dem Beben ahnten, das sie für Osteuropa bedeuteten.

Die Geschichte meiner Vorfahren zeigt, dass Ländergrenzen und deren Verschiebung ebenso willkürlich wie mächtig sind. Der nüchterne Zufall, auf welcher Seite einer Grenze man geboren wird, kann über gewichtige Faktoren wie Freiheit, Privilegien und Wohlstand entscheiden. Die Biografie meines Vaters ist das beste Beispiel dafür, wie zufällig ein Geburtsort sein kann und welche Absurdität darin besteht, den Menschen aufgrund ihrer Nationalität, Kultur, Religion und Hautfarbe bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, die selbst, wenn sie positiv gemeint sind, meist auf Ressentiments beruhen. Es sagt wenig über einen Menschen aus, wo und unter welchen Umständen er geboren wurde, aber es hängt verdammt viel dran.

Meine Oma Wilhelmine, Minchen genannt, hat immer am Rande der Eifel im Westen Nordrhein-Westfalens gelebt, aber sie hat mehrere Staatswechsel kommen und gehen sehen: Es war die Zeit der Weimarer Republik, als sie 1923 das Licht der Welt erblickte, als jüngstes von achtzehn Kindern eines Bäckermeisters. Im Lauf ihres langen Lebens erlebte sie auch die nationalsozialistische Diktatur, die alliierte Besatzung, die Gründung der BRD und die Wiedervereinigung Deutschlands.

Ihr Mann, mein Opa Matthias, kam 1913 in St. Vith auf die Welt, als Sohn des Bahnhofsvorstehers. St. Vith gehörte damals zum Deutschen Kaiserreich, fiel aber im Ersten Weltkrieg an Belgien. Trotz des über hundert Jahre zurückliegenden Gebietswechsels sprechen viele Menschen dort heute noch Deutsch. 1914 wurde mein Urgroßvater in die Heimat Wilhelmines versetzt.

Dort lernten sich meine Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg kennen, heirateten und bekamen neun Kinder, von denen meine Mutter das drittgeborene ist. Sie kam 1952 in der gerade einmal drei Jahre alten Bundesrepublik Deutschland zur Welt. Als Hebamme lernte sie meinen Vater kennen, der als Gynäkologe auf derselben Station arbeitete. Und so wurde der ausgefranste Rand der Eifel auch meine Heimat: Hier wurde ich 1979 geboren, hier verbrachte ich meine Kindheit. Als ich drei Jahre alt war, zogen wir in einen alten Bauernhof mit Obstwiese, auf der Äpfel, Birnen, Pflaumen und Walnüsse wuchsen. Bis dahin waren wir schon fünfmal umgezogen; immer im Umkreis von etwa fünfzig Kilometern hatte ich in den unterschiedlichsten Konstellationen und Wohngemeinschaften gelebt. Erinnerungen an die Wohnorte vor dem Bauernhof habe ich nicht. Meine Heimat ist für mich die Knickstelle zwischen den sich flach bis Köln erstreckenden Feldern und den dunkel bewaldeten Hügeln der Vulkaneifel. Mit siebzehn zog ich aus, jobbte neben der Schule und führte meinen eigenen Haushalt. Mit achtzehn wurde ich schwanger, mit zweiundzwanzig bekam ich mein zweites Kind. Ein Jahr später zog ich mit meinen Kindern nach Leipzig.

Mein Vater wiederum kam 1946 in Österreich auf die Welt, als erster Sohn eines polnischen Paares namens Bunia und Leon, das zu jener Zeit als staatenlos galt, denn sie waren jüdisch und hatten keine Heimat mehr. Die Geburt ihres ersten Sohnes hätte auch in jedem anderen Land zwischen Polen und Italien stattfinden können. Dass es ausgerechnet Österreich wurde, ist purer Zufall. Sie gingen 1946 von Stettin nach Italien, durchquerten Europa auf ebenjener Linie, über die Winston Churchill im gleichen Jahr in Missouri bei einer Rede in Anwesenheit von US-Präsident Truman sagte: »Von Stettin an der Ostsee bis Triest an der Adria hat sich ein Eiserner Vorhang über den Kontinent gesenkt. Hinter dieser Linie liegen alle Hauptstädte der alten Staaten Mittel- und Osteuropas. Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia; all diese berühmten Städte und die sie umgebenden Bevölkerung liegen in dem, was ich als sowjetische Sphäre bezeichnen möchte, und alle unterliegen in der einen oder anderen Form nicht nur dem sowjetischen Einfluss, sondern auch einem sehr hohen und in einigen Fällen zunehmenden Maß an Kontrolle durch Moskau.«

1948 reiste die kleine Familie nach Palästina ein und ließ sich in der Altstadt von Haifa nieder. Kurze Zeit später wurde der Staat Israel gegründet. Bunia und Leon bekamen noch zwei Kinder. Sie sind nie wieder nach Polen zurückgekehrt.

Dass ich überhaupt weiß, woher meine Großeltern väterlicherseits stammen, ist für mich keine Selbstverständlichkeit: Ich habe diesen Teil der Familie erst spät kennengelernt, kannte nicht einmal ihre Namen, wusste nur, sie stammten aus Polen und waren jüdisch.

Leon und Bunia hatten offiziell drei Enkeltöchter. Aber es waren vier. Ich bin die Erstgeborene der dritten Generation, das verschwiegene Kind, das Bindeglied zwischen zwei Familien, die sich nicht kannten, nicht miteinander sprachen, die aber über meine Existenz hinaus durch das große Schweigen über die NS-Zeit verbunden sind, ein Schweigen, das sowohl über der Opferals auch der Täterseite liegt. Aber mit dem Schweigen ist es so eine Sache, denn meist spürt man, dass etwas ausgelassen wird, und erspürte Lücken hinterlassen eine große Verunsicherung. Oft hallt das, was nicht ausgesprochen wird, lauter nach, als es alles Gesagte kann. Und dem, worüber in meiner Familie nicht gesprochen wurde, möchte ich auf dieser Radreise nachgehen.

Mein ursprüngliches Vorhaben, am Schwarzen Meer zu starten, scheiterte an den covidbedingten Reisebeschränkungen: Die internationalen Zug- und Busverbindungen waren eingestellt. Fliegen wollte ich nicht.

Tag für Tag ging ich mit den Radreiseführern zu Bett, blätterte Seite für Seite um und schlief umringt von den blauen Büchern ein. Sie waren das Letzte, was ich abends aus den Fingern legte, und morgens waren sie das Erste, was ich in die Hand nahm. Bis ich die perfekte Lösung fand: Bis Bratislava fuhren noch Züge, und von dort führt der EV13 für etwas mehr als tausendvierhundert Kilometer einigermaßen moderat mit wenigen Steigungen gen Süden. Das letzte Stück dieser Schonfrist-Etappe ist identisch mit dem Donauradweg. Kurz bevor die Donau zwischen Rumänien und Bulgarien zum Schwarzen Meer abknickt, verlässt der EV13 ihre Ufer und folgt der serbischbulgarischen Grenze. Und erst da beginnt die über tausenddreihundert Kilometer lange Gebirgsstrecke. Wenn der Berg nicht zur Berg hassenden Frau kam, kam eben die Berghasserin zum Berg.

Ich werde also von Bratislava knapp dreitausend Kilometer bis zum Schwarzen Meer radeln, in der Hoffnung, dass die internationalen Zug- und Busverbindungen dann wieder aufgenommen werden, damit ich zurück nach Bratislava reisen und von dort die restlichen zwei Drittel gen Norden radeln kann.

Zweimal habe ich die Tour schon verschoben: 2020 und 2021 waren die denkbar ungeeignetsten Jahre für eine Reise mit ständigen Grenzübertritten. Dass ich 2022 immer noch mit Einreisebeschränkungen, PCR-Tests und Quarantänevorschriften konfrontiert sein würde, hatte ich nicht erwartet, aber ich wollte nicht mehr warten: Ich vermietete meine Wohnung für fünf Monate unter und entschied, es jetzt zu wagen, in der Hoffnung, dass sich die Einschränkungen mit steigenden Temperaturen verdünnisieren würden. Ich habe alle Länder, die auf der Route liegen, in der App vom Auswärtigen Amt markiert und beobachte die beinahe täglich eintrudelnden Mitteilungen bezüglich geänderter Einreisebedingungen. Hier den Überblick zu behalten, ist unmöglich. Ich werde mich vor jedem Grenzübertritt auf den neuesten Stand bringen müssen.

Mittlerweile bin ich dazu übergegangen, die Sturmhaube so tief ins Gesicht zu ziehen, dass nur meine Augen frei bleiben, viel zu sehen gibt es ja eh nicht.

Erst am späten Nachmittag ändert sich das Landschaftsbild mit dem Erreichen des Einser-Kanals und der darüber führenden Andauer Brücke, und hier stoße ich auf das erste Zeugnis des Eisernen Vorhangs. Ein Gedenkstein erinnert an siebzigtausend Menschen, die 1956 im Zuge des Ungarischen Volksaufstands über die schmale Brücke flohen. Bis dato diente der schmale Holzsteg den örtlichen Bauern als Hilfsbrücke. In Budapest begann der von Studenten friedlich aufgenommene Freiheitskampf für Demokratie, eine Revolution gegen die kommunistische Regierung und sowjetische Besatzungsmacht, eine Friedensmission, die mit Waffengewalt beantwortet wurde. Ich kenne die Bilder der ungleichen Straßenschlachten zwischen Volk und Panzern, der zerschossenen Häuserfronten, der zermalmten Bäume, des herausgerissenen Straßenpflasters, der Menschen mit Mantel, Hut oder Schiebermütze, der zerstörten Panzer, der Leichen auf den Straßen. Wer konnte, floh über Österreich in den Westen – bis die Andauer Brücke im November 1956 von der ungarischen Armee gesprengt wurde. 1996, vierzig Jahre nach der Zerstörung, wurde sie wiederaufgebaut, ein Gemeinschaftsakt ungarischer und österreichischer Soldaten. Nur ein altes Grenzschild an einem Bauzaun erinnert heute noch an die jahrzehntelange unüberwindbare Teilung. Der Kanal selbst ist schmal. Tief und dunkel liegt er zwischen den Uferdämmen. Er wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts angelegt, um aus dem Sumpfgebiet fruchtbares Ackerland zu machen. Einst konnte man Heubündel erst nach dem ersten Frost einholen, sonst brachen die Pferde durch die Torfschicht. Ab 1922 verlief die österreichisch-ungarische Grenzlinie entlang des Kanals, und Landwirte benötigten eine sogenannte Grenzüberschreitungsbewilligung, um ihre Äcker auf ungarischem Gebiet nicht aufgeben zu müssen.

Auf der anderen Seite des Kanals treibt mir der Wind immer stärker werdenden Schneeregen ins Gesicht, harte und eisige Nadelstiche traktieren mich. Die Kälte fräst sich hart und unnachgiebig durch Haut, Fleisch und Fett und setzt sich in den Knochen fest, bis ich das Gefühl habe, nur noch aus Schädeldecke, Zähnen, Wangen- und Kieferknochen zu bestehen. Meine Oberschenkel brennen trotz Thermowäsche unter den Lagen dicker Winterfunktionskleidung. Ich kämpfe mich Meter für Meter voran, aber es ist eine deprimierende und energieraubende Art der Fortbewegung. Die Stimmung wird immer trüber. Zumal ich kein geeignetes Plätzchen für mein Zelt erspähe: links ein dichter, kahler Forst und zur Rechten der von Schilfgras gesäumte Wasserarm. Winzige Eiskristalle umhüllen Schilfkolben, Gräser und Äste.

Nach der abermaligen Überquerung des Kanals zwölf Kilometer weiter schält sich eine Fata Morgana aus dem Schneetreiben: Ein kleines Häusl trotzt urig und einladend dem widrigen Wetter. Es hat nicht viel zu bieten, drei Fensterchen, ein spitzes Dach, vier Mauern und eine Tür, aber es wäre natürlich tausendmal besser zum Übernachten geeignet als ein Zelt!

Ich lege meine Hand auf die Klinke und rechne mit Widerstand, aber der Türgriff gibt nach, das Häusl ist offen. Was für ein Glück! Innen ist es karg möbliert – ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Ich aber fühle mich wie eine Glücksmillionärin! Alles ist besser als eine Nacht auf dieser flachen Ebene im Zelt, wo der Wind die Kronen der den Kanal säumenden Bäume nur so niederdrückt. Fotocollagen klären über das alte Grenzhäuschen auf, das den Wachhabenden als Unterstand diente, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs seine Bedeutung verlor und dem Verfall preisgegeben war. Bis es auf private Initiative im Jahr 2013 saniert wurde. Gott sei Dank!

Der Wind treibt die Schneeflocken waagerecht vor sich her, dick und bauschig trudeln sie in der aufziehenden Dämmerung über den angrenzenden Acker, der so winterlich brach liegt, wie die Bäume grau und blattlos sind. Vor dem Fenster äsen Rehe im letzten Licht des Tages, und ich frage mich, was sie dort wohl finden, wo noch nichts wächst und ihre weißen Spiegel sich verräterisch vor den braunen Erdschollen abzeichnen. Bald beschlägt das Glas vom Wasserdampf des Kochers, und ich konzentriere mich nur noch auf das Hütteninnere, rühre Reisnudeln, Brühe und Gewürze zu einem kräftigen Eintopf, der schneller auskühlt, als ich essen kann. Das Gleiche geschieht mit dem Dessert: Tassenpudding. Nur der letzte Gang – frisch aufgebrühter Tee – kann mir ein bisschen Wärme schenken.

Ich ziehe Isomatte und Schlafsack aus dem Packsack, rücke Tisch und Stühle zur Seite, um genug Platz für das Schlaflager auf dem blanken Boden zu schaffen. Erst rolle ich die Zeltunterlage aus, dann die dünne silberne Alu-Isomatte, die ich mir als zusätzliche Isolationsschicht zugelegt habe. Ich habe auch mehrere Schlafsäcke dabei: einen dicken Daunenschlafsack, einen dünnen Sommerschlafsack und ein Seideninlett. Aber Zwiebelprinzip und eine aus der Trinkflasche improvisierte Wärmflasche können die Kälte nicht davon abhalten, in jede Pore meines Körpers zu kriechen. Frierend sehe ich den kleinen Wölkchen Atemluft nach, die aus dem schmalen Spalt meiner Schlafsackkapuze in die Dunkelheit strömen. Der Sturm tobt ums Häusl und rüttelt an allem, was nicht niet- und nagelfest ist. Trotz des Klapperns und Heulens komme ich gar nicht erst dazu, mich zu fürchten, so kalt ist mir. Und ich bin ziemlich sicher, dass sich niemand, der auch nur irgendwie halbwegs bei Verstand ist, bei diesem Wetter draußen herumtreibt. Außer mir halt.

Die Nacht wird alles andere als erholsam. Ich wälze mich bibbernd und stöhnend im kleinen Refugium, bis das fahle Licht des neuen Tags in das karge Gemäuer fällt.

Morgens tut mir alles weh. Hasen toben übers Feld. Es schneit nicht mehr, aber die Windstärke hat zugenommen. Für die paar Kilometer bis ins nächste Dorf brauche ich unendlich lang. Dort steuere ich umgehend die örtliche Gaststätte an und kippe zwischen frühschoppenden Feuerwehrmännern einen heißen Kaffee nach dem anderen in meinen steif gefrorenen Körper. Ein Blick in den Spiegel verrät: Ich sehe nach dieser großzügigen Koffeindosis kein bisschen erfrischter aus.

Mit klammen Fingern berichte ich in meiner Reise-Whats-App-Gruppe von Wind, Wetterkapriolen und nächtlichem Wohnquartier. Während die einen mich bemitleiden, weil sie Gegenwind noch schlimmer finden als Berge, deklarieren die Nächsten Ersteren schon als besten Trainingsumstand für Letztere: »Wind wird nicht umsonst ›die unsichtbaren Berge‹ genannt.«

»Dabei bin ich doch extra im Flachen gestartet, um einen gemütlichen Einstieg zu haben!«, jammere ich und bestelle schnell noch einen Cappuccino, um die Rückkehr ins Winterwetter so lange wie möglich hinauszuzögern.

»Was machst denn eigentlich hier?«, fragt eine ältere Dame.

Ich erzähle vom Iron Curtain Trail.

»Und da fahrst jetzt bei dem Krieg ausgerechnet bis da?«, fragt sie in breitem Österreichisch und zieht eine Augenbraue hoch.

»Der Plan stand eben schon länger …«

»Na, geh, Pläne kann man doch ändern!«, ruft sie und wendet sich kopfschüttelnd ab.

Als ich die warme Dorfkneipe verlasse, meinen Helm aufsetze und die Handschuhe überstreife, um nach Ungarn zu radeln, muss ich an meine deutsche Oma denken, die sich mit ihrem Fahrrad regelmäßig vor den Fliegern der Alliierten in den Graben werfen musste. Als Kind fand ich diese Vorstellung ungeheuerlich, brachte den Zustand des Kriegs nicht zusammen mit der profanen Tätigkeit des Radelns. Aber auch in der Ukraine ist ein Mann im Krieg Fahrrad gefahren, er ist über die Straßen von Butscha geradelt, auf einem zu kleinen Damenrad mit einem Körbchen auf dem Gepäckträger. Und sein Bild, das Bild eines Toten, der mit einem Fahrrad auf der Straße liegt, als wäre er auf dem nassen Asphalt ausgerutscht und hätte sich noch nicht wieder aufgerappelt, das geht jetzt um die Welt.

Der Iron Curtain Trail lotst die Radelnden auf Schleichwegen über die österreichisch-ungarische Grenze. Umso verdutzter bin ich, als ich zur Personenkontrolle gestoppt werde. Damit hatte ich im Schengenraum nicht gerechnet.

Nach fünfunddreißig Kilometern gegen den Wind liegt direkt am Weg ein Thermalbad. Und weil mir die ungemütliche Nacht noch in den Knochen sitzt, schiebe ich kurzerhand mein Rad durch das Eingangstor, schließe es am Geländer des Außenbeckens fest und lasse mich quasi vom Sattel direkt ins heiße Schwefelwasser plumpsen. Bei vier Grad Außentemperatur genau das Richtige. Ich dümpele zwischen Rentnern und Rentnerinnen mit Wollmützen umher, der heiße Dampf steigt in nebligen Schlieren in die kalte Luft und macht sich dort ebenso dünn wie meine Lust weiterzuradeln. An Zelten mag ich in dieser wohligen Wärme gar nicht erst denken, aber rund um die Therme gibt es genügend Zimmer. Im warmen Bett chatte ich, während die klammen Kleidungsstücke überall verteilt trocknen.

»Was macht eigentlich dein Steiß?«, erkundigt sich jemand.

Meine größte Sorge galt nämlich nicht meiner nicht vorhandenen Fitness, sondern einer zum Radfahren denkbar unvorteilhaften körperlichen Einschränkung. Während der Geburt meines ersten Kindes brach mein Steißbein. Als ich acht Wochen nach der Geburt wieder zur Schule ging, wurde das stundenlange Sitzen im Unterricht zur Qual. Als es gerade besser wurde, rutschte ich mit dem Baby im Arm im Regen auf einer nassen Treppe aus. Mein Kind schützend knallte ich mit voller Wucht mit dem Steiß auf die Stufen. Also blieb ein großer Gymnastikball für weitere Wochen das einzig nutzbare Sitzmöbel. Die Schmerzen verschwanden irgendwann, aber ein deutlich sichtbarer Buckel über dem Gesäß blieb. Wenn mich nicht gerade jemand auf diesen Höcker ansprach, dachte ich nicht mehr an die alte Verletzung. Bis ich im letzten Jahr eine Radtour mit einem Klapperrad machte, auf dem ich thronte wie ein Affe auf dem Schleifstein. Die alte Möhre zwang mich in eine denkbar schlechte Sitzposition für mein Handicap. Das Resultat: höllische Schmerzen. Wieder konnte ich nicht sitzen. Selbst im Liegen, beim Laufen oder im Stehen durchfuhr mich der Schmerz mit der gleichen Intensität wie damals, als die kleinen Wirbel frisch gebrochen waren. Weil es einfach nicht besser wurde, ging ich zum Arzt.

»Fortgeschrittene Osteochondrose zwischen Wirbel eins und zwei und Wirbel zwei und drei mit deutlicher Abknickung von Wirbel zwei und drei und Weichteilödem, herzlichen Glückwunsch!«, lautete dessen Diagnose nach dem Röntgen.

»Und was heißt das jetzt?«, fragte ich. »Ich habe nämlich vor, in einem halben Jahr knapp zehntausend Kilometer mit dem Rad zu fahren«

»Das können Sie sich abschminken! Sie bekommen jetzt ein orthopädisches Sitzkissen und eine Überweisung zu einer Spezialistin, die versuchen wird, den Steiß von innen zu richten.«

Na, das klang ja wunderbar! Auf dem Omakissen balancierend konnte ich zwar wenigstens wieder einigermaßen sitzen, aber allein bei der Vorstellung, den Wirbelsäulenfortsatz rektal richten zu lassen, wurde mir ganz blümerant! Ich mache es kurz: Der Eingriff war weder schlimm noch peinlich, vor allem aber war er effektiv; nicht nur die Schmerzen waren wie weggeblasen, mein gesamter Rücken fühlte sich an wie neu.

»Joa, das hätte man Ihnen aber damals auch direkt sagen können, dass sich so ein Bruch dauerhaft negativ auf die ganze Wirbelsäule auswirkt«, resümierte die Therapeutin und warnte mich: »Aber diese fragile Korrektur kann bei übermäßiger Belastung direkt wieder hinfällig werden. Ich sage es Ihnen ganz direkt: Fahrradfahren ist echt nicht gut für Sie. Wollen Sie den Weg nicht lieber zu Fuß laufen?«

Nun, das kam überhaupt nicht infrage. Es aber gar nicht erst zu versuchen, war auch keine Option. Also musste eine unkonventionelle Lösung her: Ich tauschte den schmalen Sportsattel gegen das breiteste Modell und investierte in eine gefederte Sattelstütze. Und mit dieser Kombi komme ich bisher gut klar, auch wenn sich »bisher« nur auf grandiose hundert Kilometer bezieht …

Tags darauf muss ich feststellen, dass die ungarischen Bohnensuppenkneipen die Saison bedauernswerterweise noch nicht eröffnet haben. Dabei hätte ich mir nur zu gerne Berge von Gulasch einverleibt. Bei einer Snackpause auf einer Anhöhe, von der ich die Landschaft rund um den Neusiedler See wunderbar überblicken kann, freue ich mich, dass endlich die Sonne herauskommt. Sogleich zerre ich das Käppi mit dem Logo des EV13 aus meiner Lenkertasche, das ich vom Erfinder des Iron Curtain Trails bekommen habe. Er hat mich mit sämtlichen Büchern, einer Trikotjacke und besagter Kopfbedeckung ausgestattet. Leider ist die Mütze viel zu klein für meinen Lockenschopf, weshalb ich damit aussehe wie ein Clown.

Laut Radreiseführer soll es auf den nächsten Kilometern wahnsinnig viel zu entdecken geben, nämlich einen Pavillon im Rundtempelstil, einen alten Grenzwachturm, ein Iron-Curtain-Museum, einen Bischofspalast und eine barocke Wassermühle. Allerdings finde ich diese Sehenswürdigkeiten allesamt nicht, mir gelingt nur die Identifikation eines Steinbruchs, der einst Zwangsarbeitslager war und nun als Kulisse für ein Höhlentheater dient, und eines Tempels des römischen Mithraskults. Leider sind sowohl Steinbruch als auch Kultstätte geschlossen, dafür staune ich nicht schlecht, als ich unvermittelt vor der Freiheitsstatue stehe. Es ist freilich nur eine kleine Nachbildung, die vor der Festbühne des Neusiedler Sees im Wasser ihre Fackel in die Höhe reckt.

Bald zieht sich die Route bergauf. Ich keuche und schnaufe, dass die wenigen Menschen, die ich mit meinem Rad überhole – wenigstens das gelingt mir! – glauben müssen, eine Horde wild gewordener Büffel ziehe an ihnen vorbei. Als ich besonders mutig und beherzt zu einem Sprint ansetze, um zwei gemächlich dahinradelnde Schulkinder zu überholen, bin ich leider nicht schnell genug, um zu überhören, wie das eine Kind zum anderen sagt: »Boah, guck dir die Oma an!«

Am Platz des Paneuropäischen Picknicks wurde im August 1989 die Grenze während einer Friedensdemonstration symbolisch für ein paar Stunden geöffnet, auch zur Überprüfung, ob der Aussage Gorbatschows zu trauen war, dass es kein zweites 1956 geben werde.

Mehrere Hundert DDR-Bürger nutzten diese Chance zur Flucht. Die Gedenkstätte ist riesig. Zahlreiche Kunstwerke, Denkmäler und ein Infocenter erinnern an das historische Ereignis, das man später zu einem Vorboten des Ostblock-Zerfalls stilisierte. Ob es an der Jahreszeit liegt, dass alles ein wenig trist und verloren wirkt? Oder daran, dass sonst niemand über die Anlage spaziert? Das Denkmal der geöffneten Türen – ein Betonklotz mit zwei marmornen Türflügeln – steht unprätentiös am Straßenrand und symbolisiert den ehemaligen Grenzübergang, allerdings ohne an dessen Originalschauplatz zu stehen. Der liegt nämlich im rund fünf Kilometer entfernten Klingenbach, wo die Außenminister Österreichs und Ungarns im Juni 1989 gemeinsam den Grenzzaun durchschnitten. Der Abbau der Grenzanlagen war mitnichten Freiheitsgeste: Man konnte sich schlicht den Betrieb und die Instandhaltung der Signalzäune nicht mehr leisten. Aber die Bilder von Grenzern, die mit Bolzenschneidern den Draht durchtrennen, wurden trotzdem als Signal zur möglichen Freiheit aufgenommen, wenn auch das Übertreten der Grenze weiterhin streng überwacht und geahndet wurde.

Die Skulpturen und Installationen haben teilweise keinen erkennbaren Zusammenhang mit der epochalen Begebenheit oder sind von ausgesuchter Scheußlichkeit. Allein der symbolisierte Grenzübergang in einem rostroten Unterstand, unter dem graue, gesichtslose Figuren entschlossen Richtung Grenzzaun strömen, erzeugt ein Gefühl für die damalige Situation. Es waren vor allem jene DDR-Bürger, die zuvor in der Budapester Botschaft ausgeharrt hatten, die dem Aufruf der Flugblätter zur Friedensdemonstration folgten, um über Ungarn in den Westen zu gelangen. Aber erst als im September 1989 die Grenzen zwischen den beiden Ländern wirklich geöffnet wurden, flohen Tausende über Ungarn aus der DDR.

In meiner Kindheit war die Angst vor einem Atomkrieg allgegenwärtig. Die Erwachsenen raunten vom sogenannten Gleichgewicht des Schreckens, dieser Pattsituation zwischen den USA und der Sowjetunion, in der keine Seite abrüsten konnte, ohne der anderen einen Vorteil zu verschaffen. Ich kannte unter dem Wort MAD das Satire-Heftchen und wusste, dass es »verrückt« bedeutete, verstand aber nicht, dass es im Zusammenhang mit den Atommächten ein Kürzel war für mutually assured destruction, also die gegenseitig zugesicherte Zerstörung. Ich war mir aber sehr wohl bewusst, dass wir in einem Szenario lebten, wo einer der Verrückten nur einen kleinen Knopf zu drücken brauchte, um die Erde in Schutt und Asche zu legen. Mir erschien es richtig, dass dieser Bedrohung sprichwörtlich ein eiserner Riegel vorgeschoben wurde. In Gefängnissen saßen Menschen hinter schwedischen Gardinen. Dass das ein Synonym für Gitterstäbe war, kapierte ich. Also stellte ich mir den Eisernen Vorhang als gigantisches Fallgitter vor, das sich über Tausende Kilometer erstreckte. Immerzu fragte ich mich, wie es am Himmel befestigt war, wer es senkte und hob, etwa für sonnenbebrillte KGB-Agenten mit Hut, Trenchcoat und Aktenkoffern mit doppelten Böden für Dokumente, Audiokassetten, Pistolen und Giftkapseln. Direkt hinter dem massiven Stahlgitter wartete in meiner kindlichen Vorstellung das Eis Sibiriens, meine Erklärung für die ständige Betonung der Temperatur dieses Kriegs. Schnee dominierte mein Bild von ganz Russland. Und was man von den Alten über Russland hörte, klang nicht gut. Haushoher Schnee, erfrorene Pferde, deren Fleisch man aß, um nicht zu verhungern, Frostbeulen und abgestorbene Gliedmaße. Da war Stalingrad, wo der Opa gekämpft und sich selbst in den Fuß geschossen hatte, um wieder nach Hause zu dürfen. Der Russe, das war der, vor dem man Angst haben musste, während der Ami, der Brite und der Franzose nett und lustig waren. So waren auch die Witze jener Zeit gestrickt.

Als ich gerade einmal begriffen hatte, was der Eiserne Vorhang wirklich war, dass er als Folge des Zweiten Weltkriegs auch eine Grenze zwischen den Herkunftsländern meiner Vorfahren zog, fiel er. Ich war zehn Jahre alt und überwältigt davon, dass sich Ländergrenzen verschieben und ändern können. Als die Bilder von der geöffneten Berliner Mauer und den in den Westen strömenden Menschenmassen im Fernsehen gezeigt wurden, verstand ich sofort, dass es ein Moment war, der den vorgezeichneten Verlauf vieler Biografien grundlegend verändern würde, und ich hiermit Zeitzeugin eines höchst bedeutenden Ereignisses. Vor allem aber rührte mich die Vorstellung zu Tränen, dass Menschen, die unter Zwang getrennt worden waren, wieder zusammenfanden. Der Mauerfall befeuerte meine größte Sehnsucht: Ich wollte meinen Vater kennenlernen, ich wollte, dass die Mauer zwischen uns fiel, dass man den Vorhang zwischen dem unbekannten Vaterland und dem vertrauten Mutterland lupfte. Auch ich wollte endlich diesen emotionalen Moment der Wiedervereinigung, wollte ihm in die Arme fallen, ich wollte Tränen des Glücks und der Erleichterung weinen, und weil all das immer noch nur in meiner Fantasie stattfand, rannen mir stattdessen bittere Tränen übers Gesicht. Dass meine Sehnsucht nach meinem unbekannten Vater so groß war, lag auch daran, dass nie jemand anderes die Vaterrolle übernahm. Das, was fehlt, wiegt zuweilen immer mehr als das, was da ist.

Bis heute kann ich meine Tränen, mein von einem tiefen inneren Schmerz getragenes Schluchzen, nicht unterdrücken, wenn Menschen wiedervereint werden, und sei es in seichten Unterhaltungsfilmen. Sobald sich Familienmitglieder zum ersten Mal gegenüberstehen, verliere ich die Kontrolle über meine Emotionen.

In dem Moment, als ich meinem Vater wirklich begegnete, war ich jedoch betäubt und gelähmt, keine Träne rann aus meinen Augen, mein Gesicht fror zu einer so steifen Maske, dass es wehtat. Diese reale erste Begegnung fand etwa zehn Jahre nach dem Mauerfall statt und war eine Enttäuschung. Aber auch wenn ich mir äußerlich nichts anmerken ließ: Der Moment, meinem eigenen Vater, einem fremden Mann, zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, war so gewaltig, dass ich bis heute keine Worte dafür finde.

Direkt hinter der Gedenkstätte liegt in der Talsenke ein Eins-a-Übernachtungsplatz: die Ruine eines riesigen Bauerngutes. Das entkernte Gemäuer bietet den perfekten Wind- und Wetterschutz, ich könnte das Zelt innerhalb der Gebäudemauern aufstellen, im Hof Feuer machen, die Stufen als Freisitz nutzen. Aber es ist einfach noch zu früh, um schon Feierabend zu machen.

Hätte ich geahnt, dass nur noch windumtoste öde Felder ohne geeignete Wildzeltplätzchen folgen, hätte ich auf die folgenden Kilometer gepfiffen und mir hier einen schönen Abend gemacht. Was die Zeltplatzsuche zusätzlich erschwert: Ich habe mittlerweile herausgefunden, dass in den Armeezelten mitnichten Vogelbeobachter und Naturschützer sitzen, sondern der österreichische Grenzschutz. Der fährt außerdem Patrouille, mehrmals haben mich die mit Soldaten besetzten Jeeps schon passiert. Jetzt staune ich nicht schlecht, als ein paar von ihnen mit Feldstechern bewaffnet hinter einem Stapel Strohballen sitzen und die kleine Agrarstraße beäugen.

Die Kälte setzt sich in meinen Nebenhöhlen fest. Ich bekomme Ohrenschmerzen. Und weil einfach kein stilles, windgeschütztes, vom Grenzschutz unbeobachtetes Plätzchen auftaucht, kapituliere ich im österreichischen Schattendorf und frage in der Kneipe nach einem Zimmer. Es gibt zwar nur eine Monteursabsteige, aber mir ist alles recht, was wärmer als ein Zelt ist. Während ich auf den Schlüssel warte, tönen aus dem Radio Achtzigerjahre-Hits, und über den Bildschirm flackern tonlos die grausamen Bilder aus Butscha.

Zwischen den Autos, die am Grenzstreifen hinter Schattendorf parken, prangen Überbleibsel des Eisernen Vorhangs: rostiger Draht und morsche Zaunpfosten.

Die Besichtigung des pittoresken Flairs von Sopron fällt marginal aus. Grund dafür: plötzlich einsetzender Starkregen, vor dem ich gerade noch in ein Café flüchten kann. Hinter dem Städtchen wieder Agrarland. Noch nie habe ich so viel Wild gesehen. Ständig schrecke ich Hasen und Rehe auf, die hektisch über die Furchen der Äcker davonspringen. Bauern bringen Gülle aus.

Der ständige Länderwechsel erfreut mit lustigen Schildern: Während man mich in Ungarn animieren will, auf »eine Spritze« stehen zu bleiben (es handelt sich mitnichten um eine pfiffige Impfkampagne, gemeint ist ein Spritzer, also eine Weinschorle), preist eine Metzgerei in Österreich ihre gebratenen Stelzen an.

Meine Waden hingegen brennen vor Kälte und von der ungewohnten Belastung. Vor allem aber ist mein Allerwertester zu einer steifen, schmerzenden Masse mutiert, die wie ein Fremdkörper an meinem Leib sitzt. Soweit ich ein Epizentrum lokalisieren kann, geht die Pein aber nicht vom Steißbein aus.

Weinberge lösen die flachen Felder ab. Die Rebstöcke stehen noch kahl und starr, ziehen sich schnurgerade wie die Zinken eines Kammes über die Hügelrücken. Nur in den Senken finde ich erste Frühlingsboten: kleine Taubnesseln mit violetten Blüten, Vergissmeinnicht, Löwenzahn, ein Gänseblümchen. Stare pfeifen, der Himmel ist grau und dicht, aber sobald ein warmer Sonnenstrahl durch die Wolken dringt, lockt er schon eine erste Hummel an. Erntehelfer knipsen die Reben an den Draht, das monotone Geräusch ihrer ansonsten stumm verrichteten Arbeit nehme ich als willkommenes Metronom, das meine Trittgeschwindigkeit vorgibt. An einzelnen Astspitzen entrollt sich zaghaft erstes Grün und streckt sich wagemutig in den kalten April, allein die Kirsch- und Magnolienbäume blühen in voller Pracht und hinterlassen rosa Teppiche weicher Blütenblätter auf dem Radweg.

Bergab umklammere ich Lenker und Bremshebel angespannt. Ich war immer eine übervorsichtige Radfahrerin. Während meine jüngeren Brüder auf jeglichem fahrbaren Untersatz durch die Gegend flitzten, kaum dass sie laufen konnten, lernte ich das Fahrradfahren erst spät. Als Erstklässlerin ging ich das Thema mit Entschlossenheit an: Wenn mir keiner half, musste ich es eben allein lernen. Also schob ich heimlich ein Rädchen zum Dorfrand und hangelte mich an einem Jägerzaun so lange von einer Holzstrebe zur nächsten, bis ich mich traute loszulassen. So verbrachte ich einen ganzen Nachmittag, bis es mir gelang, das Fahrrad wackelig einige Meter weit zu steuern. Ich blieb aber unsicher, hatte Angst, mit dem Pedal an der Bordsteinkante hängen zu bleiben, wagte es nicht, über große Unebenheiten oder durch Pfützen zu fahren, und sauste erst recht keinen Hügel hinab.

Am Nachmittag kenne ich nur noch ein Thema: Po, oho! Vor Schmerz kann ich mich kaum noch im Sattel halten. Eins ist klar: Gepolsterte Radlerhosen taugen nicht als Missing Link zwischen Mensch und Fahrrad!

Und weil ich immer noch Ohrenschmerzen habe, träume ich von einem warmen Bett. Passenderweise rolle ich zur Dämmerung in Koszeg ein, dem ungarischen Pendant zur Kulissenstadt Görlitz.

Die mittelalterliche Stadt verfügt über zahlreiche Gotteshäuser. Die Glocken der am Hauptplatz stehenden hübschen weißen neugotischen Herz-Jesu-Kirche läuten täglich um elf Uhr zur Feier der erfolgreichen Verteidigung gegen die Türken. Zwei weitere Kirchen stehen am Marktplatz vor einer Pestsäule Rücken an Rücken. Beinahe meint man, den Sakralbauten die beleidigt verschränkten Arme ihrer konkurrierenden Bauherren anzusehen: Lutheraner und Calvinisten, die sich einst spinnefeind waren. Heute schmiegen sich die beiden Gotteshäuser im Katholizismus vereint aneinander. Umgeben sind sie von niedrigen, reich verzierten bunten Häusern, Bogengängen und einem pompösen Turm mit Stadttor. Außerhalb der Altstadttore steht die Synagoge, ab 1944 dem Verfall preisgegeben. Damals wurden die Koszeger Jüdinnen und Juden nach Auschwitz deportiert oder in den örtlichen Zwangsarbeitslagern geschunden, bis sie an Erschöpfung oder der grassierenden Tuberkulose starben. Als die Rote Armee näher kam, baute man für die kranken Häftlinge eigens eine Gaskammer, die einzige auf ungarischem Gebiet. Weil das Morden dort aber nicht schnell genug vonstattenging, erschoss man die verbliebenen Kranken und trieb die einigermaßen Gesunden auf einen Todesmarsch. Jetzt leuchtet die Fassade der Synagoge in einem frischen Gelb. Auch das Innere erstrahlt in neuem Glanz, die Deckengemälde der Kuppel, die Balustrade der Frauenempore und des Thoraschreins sind liebevoll restauriert, aber alles wirkt ein wenig verloren in dem ansonsten leeren Betraum, der noch nach frischer Farbe riecht.

Auch eine kleine Burg gibt es in Koszeg. Eine Gruppe Tracht tragender Teenager singt im Innenhof Volkslieder und tanzt dazu. Die Jungen tragen Kniebundhosen, Weste und Hut; die bunten Röcke der Mädchen und ihre dicken, geflochtenen Zöpfe schwingen anmutig während der Folklore-Darbietung, deren einziges Publikum ich bin.

Das Schmuckkästchen Ungarns bietet wahrlich ein reichhaltiges Spektrum an Filmkulissen: Von der mittelalterlichen Burganlage führen Kopfsteinpflastergässchen, die im schwachen Licht historischer Straßenlaternen schimmern, zum Hauptplatz mit adretten Parkbankreihen, die zur blauen Stunde leer und verloren unter den blattlosen Bäumen stehen, sodass man sich in einer Geisterstadt wähnte, wäre da nicht der riesige, von unzähligen Leuchtern erhellte Empfangssaal eines sagenhaft günstigen Hotels mit dem Charme eines Wes-Anderson-Films, in dem ich einchecke.

Am Morgen erscheint endlich der Frühling mit voller Wucht auf der Bildfläche. Die Sonne blendet, die Luft riecht nach frischem Gras und Kuhdung, als ich an Rechnitz vorbeikomme.

Rechnitz, das ist ein rauschendes Fest im örtlichen Schloss, und Rechnitz, das ist eine Gruppe von rund zweihundert kranken und erschöpften jüdischen Zwangsarbeitenden. Rechnitz, das ist das Ausharren in der Kälte mit nichts als dünnem grobem Stoff auf den abgemagerten Leibern, und Rechnitz, das sind perlender Champagner, protzige Schulterabzeichen und polierte Stiefelspitzen ranghoher Mitglieder von NSDAP und Waffen-SS. Und am Ende sind die einen ermordet, und die anderen werden nie verurteilt.

Die Sonnenstrahlen streichen warm und weich über meine Haut, aber gegen das Schaudern über einen zum Höhepunkt einer dekadenten Feierlichkeit erklärten Massenmord, kann ihre Kraft nichts ausrichten. Ruhe liegt über der Ruine eines Heuschobers, wegen seines Grundrisses Kreuzstadl genannt. Es ist der vermeintliche Tatort.

In Rechnitz lebte das gastgebende Ehepaar Graf Ivan von Batthyány und seine Frau Margit; er aus der Dynastie eines jahrhundertealten Adelsgeschlechtes, sie aus der milliardenschweren Thyssen-Unternehmerfamilie. Die Geknechteten, darunter einige aus den Koszeger Arbeitslagern, mussten in den letzten Kriegstagen zur Errichtung des Südostwalls beitragen, einer Verteidigungslinie, deren Bau schon zu Kriegsbeginn beschlossen worden war. Sie sollte ursprünglich von den Beskiden bis an die Drau reichen, wurde allerdings nie durchgehend realisiert. Nun wurde sie zum letzten verzweifelten Versuch, die südöstliche Grenze des Deutschen Reichs gegen das Vorankommen der Roten Armee zu schützen. Anpacken mussten als sogenannter Volkssturm alte Männer und Hitlerjugend, aber eben auch Kriegsgefangene und Zwangsarbeitende. Unter unmenschlichen Bedingungen arbeitete man die Menschen an Hacken und Schaufeln in den Panzergräben zu Tode. Reihenweise kam es zu sogenannten Endphaseverbrechen, als der Geschützdonner der Roten Armee näher kam. In den letzten Kriegstagen gab es so viele Exekutionen am Südostwall, dass die Verteidigungslinie zum Massengrab geriet.

Jetzt mussten auch die sterben, die am Bahnhof von Rechnitz ausharrten, so besiegelten es die Schlossherren in der Nacht zum Palmsonntag im März 1945. Die Gefangenen mussten sich nackt am Rande einer Grube aufstellen, wo die Festgesellschaft sie hinrichtete. Jene, die man als Totengräber ihrer Leidensgenossen vorerst verschonte, wurden nach getaner Arbeit ermordet.

Der Journalist Sacha Batthyany erfuhr durch einen Zufall von diesem Massenmord und der Beteilung seiner Großtante daran. In seinem Buch »Und was hat das mit mir zu tun?« nähert er sich nicht nur den Geheimnissen seiner Familiengeschichte, sondern auch der Frage, inwiefern das Leben und die Taten unserer Vorfahren unser eigenes Leben prägen.

Es ist die Frage, die auch mich schon lange beschäftigt.

In der Psychologie spricht man diesbezüglich von transgenerationalem Trauma. Man geht davon aus, dass Erlebnisse traumatischer Art nicht nur direkten Einfluss auf das weitere Leben der Opfer haben, und damit natürlich auch auf deren