Klub Drushba - Rebecca Maria Salentin - E-Book

Klub Drushba E-Book

Rebecca Maria Salentin

5,0

Beschreibung

Sie schnauft bei jeder Treppenstufe, bricht bei der kleinsten Anstrengung in Schweiß aus und wird beim Radfahren von Rentnern überholt. Sie hat Angst vor Spinnen, Hunden, Gewitter, tiefen Seen, steilen Höhen und sie ist nachtblind. Außerdem hasst sie Berge. Nur Cola und Kaktus-Eis können sie beim Aufstieg besänftigen. Trotzdem geht Rebecca Maria Salentin eines Tages einfach los, bepackt mit Rucksack, Zelt und Kocher, um 2 700 Kilometer weit zu laufen. Auf dem Internationalen Bergwanderweg EB von Eisenach nach Budapest (auch: "Weg der Freundschaft") erobert sie sich den Boden unter den Füßen zurück, nachdem sie im Jahr zuvor fast alles verlor. Was blieb: ihre Freunde und Freundinnen. Zusammen bilden sie den Klub Drushba. Denn Drushba heißt Freundschaft.

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Kurventante

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Toller Bericht einer nicht alltäglichen Reise.
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Die Autorin bedankt sich bei der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen für die Unterstützung bei der Arbeit an diesem Buch

2. Auflage 2021

© Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin und Dresden 2021

Korrektorat: Helge Pfannenschmidt

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

Druck und Bindung: PBtisk, Příbram

ISBN 978-3-86391-297-0eISBN 978-3-86391-312-0

www.voland-quist.de

Zum Glück habe ich immer Glück!

Meinen Freundinnen und Freunden

Dieser Reisebericht beruht auf meinen Erlebnissen und persönlichen Erinnerungen. Manchmal habe ich Namen und Details, die der Identifizierung dienen könnten, modifiziert, um Anonymität zu gewährleisten.

INHALT

Thüringen, April 2019

Sachsen, Mai 2019

Tschechien, Mai 2019

Polen, Juni 2019

Tschechien, Juni 2019

Slowakei, Juni / Juli 2019

Polen, Juli 2019

Slowakei, Juli 2019

Ungarn, August 2019

Sachsen/Thüringen, November 2019

Thüringen, April 2019

Schwer atmend kämpfe ich mich den Berg hinauf und habe dabei noch nicht mal den offiziellen Startpunkt erreicht. Irgendwo da oben, verdeckt durch Baumwipfel, thront sie, die weltberühmte Wartburg, in der sich einst Martin Luther versteckte und die Bibel übersetzte. Und an dieser historischen, zum UNESCO-Welterbe gehörenden Stätte geht er los, der EB. Das Kürzel EB steht für Eisenach–Budapest. Und genau das habe ich vor: zu Fuß von Eisenach nach Budapest gehen. Bepackt mit Rucksack, Zelt und Kocher will ich beinahe 2.700 Kilometer weit laufen.

Angesichts dessen, dass meine Unterschenkel schon auf den ersten Metern ebenso erbarmungslos brennen wie die für den Monat April ungewöhnlich heiße Sonne, frage ich mich allerdings einmal mehr, wie ausgerechnet ich auf die Idee kommen konnte, eine solche Wanderung zu bewältigen. Ich bin weder mutig noch trainiert. Ich ächze und schnaufe bei jeder Treppenstufe, breche bei der kleinsten Anstrengung in Schweiß aus, werde beim Radfahren von Rentnern überholt, habe Angst vor Spinnen, Hunden, vor Gewitter, tiefen Seen und steilen Höhen, ich fürchte mich im Wald und bin außerdem nachtblind. Ich war schon als Kleinkind motorisch ungeschickt, lernte erst spät laufen und galt als Stubenhockerin. In der Grundschule blieb ich bei Mannschaftsspielen übrig bis zum Schluss, stand neben denen, die als dick galten, und dem Spätaussiedler, der in einem schwarzen Anzug zum Unterricht kam, dem er längst entwachsen war. Mit uns wollte keiner spielen, uns wollte keiner in seiner Mannschaft haben. Ich war so ungeschickt und ängstlich, dass ich zu den ersten gehörte, die abgeworfen wurden und auf der langen Holzbank Platz nehmen mussten. Bundesjugendspiele waren mir ein derartiges Grauen, dass ich mir einmal mit Absicht einen großen Stein auf den Fuß plumpsen ließ, nur um nicht teilnehmen zu müssen.

Damit noch nicht genug: Ich finde Funktionskleidung hässlich. Bei mir passen normalerweise die Schuhe zum Gürtel, der Gürtel zur Handtasche, die Handtasche zu den Ohrringen und die Ohrringe zum Nagellack. Ich liebe Blümchen, Rüschen und Stickerei. Wandern hingegen mag ich nicht. Und schon gar nicht, wenn es bergauf geht.

Was treibt mich also an? Zum einen bin ich ziemlich stur, was die Durchsetzung meiner Pläne und Träume angeht. Und davon habe ich so viele, dass ich zum anderen berüchtigt bin für meine Wutzideen. Eine Wutzidee, das ist in der Region, in der ich aufwuchs, nämlich in der Eifel, der Begriff für einen dummen Einfall, ein absurdes Vorhaben oder eine verbissene Fixierung. Wutzideen sind in der Regel etwas, worüber das Umfeld lacht, den Kopf schüttelt oder schimpft.

Aber wenn ich mir etwas vornehme, dann ziehe ich es auch durch, egal wie hanebüchen oder spinnert andere es finden. Ich meckere laut vor mich hin, irritiere Spaziergänger und Anwohner. Wie ich bloß auf eine so dumme Idee kommen konnte, bis Budapest zu laufen, nur weil ich drei Jahre zuvor im Elbsandsteingebirge zufällig über eine EB-Hinweistafel stolperte!

»Man kann von Eisenach bis Budapest wandern?«, wunderte ich mich damals angesichts des beeindruckenden Schaubilds – und beschloss noch in derselben Minute: »Das will ich machen!«

Natürlich hatte ich schon vom Fernwandern gehört, wusste, dass man tausende Kilometer von Mexiko bis Kanada, von Italien bis ans norwegische Nordkap oder ganz populär auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela wandern konnte. Aber von diesem Weg hatte ich noch nie gehört, obwohl er direkt um die Ecke lag. Ich lebe in Leipzig, nur 200 Kilometer entfernt von Eisenach – das Abenteuer wartet quasi vor der Haustür. Wozu weit reisen oder über den Atlantik fliegen, wenn man abgeschiedene Wälder, einsame Moore, zerklüftete Gebirge, schwindelerregende Gratwege und freilebende Bären von zu Hause aus erreichen konnte? Denn so interessant ich die Berichte über die großen amerikanischen Trails auch fand, mich schreckte ab, dass man dafür nicht nur so fit sein musste, dass man dreißig Kilometer täglich schaffte, sondern außerdem teure und umweltschädliche Flüge buchen, Visa, Feuergenehmigungen und Nationalparktickets beantragen und Versorgungspakete vorschicken musste. Und sollte ich auf den ersten Kilometern merken, dass ein sogenannter Thruhike doch nicht das Richtige ist, wäre es schon ein bisschen blöder, diese Erkenntnis in der kalifornischen Wüste zu haben als in der thüringischen Provinz. Ich fand es beruhigend, zu wissen, dass ich bei einer Kapitulation vor meiner eigenen Courage einfach in den Zug steigen und wieder nach Hause fahren konnte.

Kurzentschlossen legte ich an diesem Tag im Sommer 2016 auch direkt das Startdatum fest: Am 19.04.2019 würde ich an der Wartburg losmarschieren und den EB bezwingen! Ob Isergebirge, Altvatergebirge oder die Karpaten – ich war bereit, jede einzelne Bergkuppe der Mittelgebirge zu erklimmen, auf die der Bergwanderweg führt! Doch mit dem Wort Bergwanderweg fangen die Probleme schon an: Aufgrund einer Autoimmunkrankheit ist jeder Höhenmeter für mich eine besondere Belastung. Dumm nur, dass der EB mit rund 75.000 Höhenmetern aufwartet. Manch einer munkelt sogar, es wären 90.000! Dazu kommt: Ich vertrage kein Gluten. Brot, Nudeln, Mehlspeisen, Soßen, Bier: nichts für mich. Wenn ich glutenhaltige Speisen verzehre, quelle ich auf wie ein Wasserballon, bekomme fürchterliche Kopfschmerzen, werde müde und kraftlos und bin mehrere Tage außer Gefecht gesetzt. Von den Darmproblemen ganz zu schweigen. Verpflegung außerhalb meiner eigenen Küche ist wie Russisch Roulette. Daran kann ich nichts ändern, aber was die Fitness betrifft, hatte ich Hoffnung. Denn auch darum ging es mir in der Sekunde des spontanen Entschlusses: die Kontrolle über meinen Körper zurückzugewinnen, die mir seit Langem verloren schien. Früher ging ich mehrmals die Woche klettern, raste mit dem Fahrrad durch die Gegend und tanzte mich leidenschaftlich durch die Tangosalons, aber dann wurde ich immer schlapper. Irgendwann ging es mir so schlecht, dass ich die Treppe zu meiner Wohnung im ersten Stock kaum noch hochkam. Ich war ausgelaugt, ständig müde, wahlweise gereizt oder niedergeschlagen und nahm in kurzer Zeit beinahe dreißig Kilo zu.

»Sie sind selbstständig und ziehen zwei Kinder alleine groß, Sie brauchen mal eine Pause«, sprach der Hausarzt und verordnete mir eine Mutter-Kind-Kur, die an meinen Beschwerden nicht das Geringste änderte. Stattdessen wurde es immer schlimmer; das dunkelste Kapitel meines Lebens begann, denn morgens klappte ich direkt nach dem Aufstehen regelmäßig zusammen. Ich musste meine Kinder an diesen Tagen vom Bett aus in den Tag dirigieren und fühlte mich dabei wie eine Rabenmutter. Weil es nach dem Urteil des Arztes keine physische Ursache gab, zweifelte ich an meiner Psyche. Ich glaubte, einfach nicht stabil und stark genug zu sein. Erst als ich ein paar Jahre später den Arzt wechselte, bekamen die Symptome mit der Diagnose Hashimoto-Thyreoiditis einen Namen. Diese Autoimmunkrankheit äußert sich in einer dauerhaften Entzündung der Schilddrüse und der Zerstörung des Schilddrüsengewebes, wodurch eine chronische Unterfunktion entsteht. Man überwies mich zu einem Endokrinologen, der feststellte, dass die Zerstörung schon so weit fortgeschritten war, dass ich kurz davorstand, ins Koma zu fallen, seit Jahren unfruchtbar sei, und sich auch an meinem Gewicht nichts mehr ändern werde. Ich bekam Hormontabletten und warf meine Personenwaage weg. Nach ein paar Monaten konnte ich meinen Alltag wieder bewältigen, erreichte aber nie mehr das Aktivitätslevel, das ich vor der Krankheit hatte (und war froh, dass meine Familienplanung schon längst abgeschlossen war).

Dennoch: Schwindel, Herzrasen und Atemlosigkeit bleiben meine ständigen Begleiter, besonders wenn es aufwärts geht.

Die Trekkingstöcke liegen ungewohnt und sperrig in meinen Händen, das Gewicht des Rucksacks drückt mich nieder. Ich stolpere auf den steil hinauf führenden Pflastersteinen. Die Gasse ist gesäumt von akkuraten Vorgärten, bunte Plastik-Ostereier baumeln an beinahe jedem Strauch. An den Laternen prangen nicht minder bunte Wahlplakate für die bevorstehende Europawahl, vornehmlich von AfD und NPD. Vornüber auf die Stöcke gestützt, rackere ich mich voran und fühle mich dabei ungefähr so flink und beweglich wie Lonesome George, das letzte Exemplar einer Galapagos-Schildkröten-Art.

Diese Fernwanderung sollte der symbolische Übergang von meinem Leben als Mutter und Cafébesitzerin zur neuen Unabhängigkeit sein. Doch wenn ich ehrlich bin, ist das Gefühl, alles verloren zu haben, in diesem Moment stark und übermächtig.

Als ich endlich an der Wartburg ankomme und mir der Wind ungewohnt kühl um den rasierten Nacken fährt, denke ich einmal mehr daran, dass innerhalb des letzten Jahres alle Konstanten weggebrochen sind, die mein Leben prägten.

Geplant waren nur der Verkauf meines Cafés und der Kurzhaarschnitt. Extra für die Wanderung habe ich mich von meinen langen, roten Locken getrennt, die mein Leben lang das auffälligste meiner äußeren Merkmale waren. Als ich verkündete, sie abzuschneiden, waren die Reaktionen heftig. Alle waren dagegen. Dabei war es eine rein pragmatische Entscheidung: Ich kann meine Haare nur kämmen, wenn sie nass und mit Conditioner getränkt sind. Tue ich das nicht, habe ich eine Frisur, die meine Kinder stets zum Lachen brachte. »Mama ist fluffy Amadeus!«, riefen sie kichernd, wenn ich morgens aus dem Bett stieg. In ihren Augen sah ich aus wie Mozart mit aufgebürsteter Perücke.

Was habe ich als Kind geweint, wenn meine Oma mir das Haar bürstete! Meine Oma wurde während der Inflation als jüngstes von achtzehn Kindern eines Bäckermeisters geboren. Im Krieg wurde sie ausgebombt und evakuiert. Sie heiratete und zog neben ihrer Tätigkeit als Sekretärin neun Kinder groß, in Zeiten, in denen Schmalhans Küchenmeister und die Prügelstrafe noch gängig war. Da hatte sie wenig Verständnis für meinen Widerstand gegen das Kämmen. »Wie die Haare, so der Sinn«, schalt sie mich.

Sie abzuschneiden war ein radikaler Schritt, denn meine Frisur war Markenzeichen und Schutzschild zugleich. »Die mit den roten Locken«, so beschreiben mich die meisten Leute (auch wenn der Kupferton längst aus der Tube kam). Warum ich als Einzige in der Familie eine so starke Krause habe, weiß ich nicht. Allerdings weiß es eine nicht geringe Zahl von Menschen, die hören, dass mein Vater Israeli ist: »Ach daher die Haare! Ihr Juden habt ja alle Locken!«

Ganz bestimmt die richtige Fährte, Sherlock!

Es störte mich, dass man mich davon abbringen wollte, sie abzuschneiden. Zuvor gab es nur eine Sache, zu der mir noch mehr Leute ihre Meinung aufdrängten: meine Gewichtszunahme im Zuge der noch nicht entdeckten Schilddrüsenunterfunktion. Ständig wies man mich darauf hin, wie dick ich geworden sei. Als ob ich selbst nicht merkte, dass ich innerhalb eines Jahres von Kleidergröße 36 zu 44 wechseln musste. Und vor allem: Als ob ich die Leute damit persönlich beleidigen wolle. Mich trafen die abschätzigen Kommentare und Blicke. Sie machten es mir noch schwerer, und ich hatte ja schon mit immer schlimmeren Stimmungsschwankungen, Herzrasen und Atemnot zu kämpfen. Sobald ich mich nach der Arbeit aufs Rad setzte, liefen mir Rotz und Wasser übers Gesicht, ohne dass ich selbst wusste, warum ich weinte. Ich schrie meine Söhne wegen Nichtigkeiten an, etwa wenn sie ihr Zimmer nicht aufräumten oder sich Brote schmierten und alles auf der Arbeitsplatte liegen ließen. Ich schlief vierzehn Stunden und war immer noch müde. Ich war zittrig, nervös und labil. Und alles, was die Leute interessierte, war, dass ich dick wurde. Die meisten Tipps und Ratschläge, die ich in dieser Zeit bekam, bezogen sich aufs Abnehmen.

Als ich dann die Diagnose und Hormone bekam, hörte es nicht auf. »Dann wirst du dank der Tabletten hoffentlich schnell wieder schlank!«, hörte ich oft.

Die Lektion war klar: Dick ist doof. Tatsächlich waren meine roten Locken das Einzige, wofür ich noch Komplimente bekam. Bis ich ankündigte, sie für die Tour abzuschneiden. Dick und kurze Haare – das ist anscheinend doppelt doof.

Und ja, ich steckte im Konflikt: Ich wollte meine Haare abschneiden und zugleich fürchtete ich mich davor.

Es war mir egal, ein paar Monate lang mit zwei T-Shirts, einer langen und einer kurzen Hose, einem Pullover, drei Unterhosen und zwei paar Socken auskommen zu müssen, obwohl ich über einen Kleiderschrank verfüge, mit dem ich ganze Karnevalszüge ausstatten könnte. Es war mir auch egal, mich in dieser Zeit auf ein Stück Seife, Zahnbürste, Zahnpasta und Sonnencreme zu beschränken, obwohl ich Kosmetika in Hülle und Fülle besitze.

Aber mit dem Haarschnitt, da haderte ich: Wenn dick und kurzhaarig schon doof war, was sagte man dann erst zu dick, kurzhaarig und grau? Ich färbte meine Haare schon so lange, dass ich gar nicht mehr wusste, welche Naturhaarfarbe ich habe. Aber die Ansätze verrieten: Viel war davon eh nicht mehr übrig.

Als ich wenige Tage vor der Tour bei meiner Friseurin saß, lagen meine Nerven blank. Der Friseurtermin kam mir vor wie der Point of no Return: Waren die Haare ab, gab es kein Zurück mehr. Ich saß auf dem alten ledernen Drehstuhl in dem kleinen Salon, der im Fünfziger-Jahre-Stil eingerichtet ist. Es war Anfang April, aber beinahe sommerlich warm. Vor der großen Fensterfront tummelten sich auf dem breiten Bürgersteig Flaneure, Radler und Eisesser. Die Friseurin war mindestens so nervös wie ich. Als sie anfing zu schneiden, fiel es mir schwer, in den Spiegel zu gucken. Und es war, wie ich befürchtet hatte: Sobald die ersten Strähnen fielen, war alles grau. Ich würde als Oma den Salon verlassen! Aber zugleich war es, als ob mit jeder roten Locke, die zu Boden segelte, eine riesige Last von mir abfiel. (Trotzdem war mir klar, dass ich nach der Tour stante pede den Friseursalon stürmen würde.)

Am Ende sah ich übrigens überhaupt nicht aus wie eine Oma, vielmehr war ich Punk! Die Spitzen des Deckhaars trugen immer noch Spuren der künstlichen Farbe. Wie rote Schaumkronen wippten sie auf meinem Kopf, als ich auf die Straße trat. Der warme Aprilwind fuhr säuselnd durch die Bäume, deren Kronen noch kein einziges grünes Blatt trugen. Ich traf mehrere Bekannte. Niemand erkannte mich. Ich schickte ein Foto an meine Söhne. Ihr Urteil: »Mama, so siehst du cool aus, so kannst du bleiben!«

Die Umkehrgrenze war überschritten, der letzte aller Punkte auf meiner To-do-Liste erledigt, nun konnte es endlich losgehen.

Im Jahr zuvor hatte ich wie geplant mein Sommercafé verkauft. Als ich es 2009 in einem alten Zirkuswagen am Leipziger Richard-Wagner-Hain eröffnete, stand für mich schon fest, dass ich es nur zehn Jahre betreiben wollte. Dafür gab es einen ganz einfachen Grund: meinen vierzigsten Geburtstag.

»Mit vierzig gehe ich in Rente«, war mein durchaus ernst gemeintes Motto, auch wenn »in Rente gehen« in meinem Fall bedeutete, mich nur noch aufs Schreiben zu konzentrieren. Jedenfalls wollte ich ab diesem Lebensjahr an nichts mehr gebunden sein. Manche fürchten dieses Alter wegen der berüchtigten Midlife-Crisis, ich freute mich drauf. Vierzig zu werden, bedeutete in meinem Fall, dass mein jüngster Sohn volljährig wurde. Und damit war Zeit für ein neues Kapitel in meinem Leben. Es fällt mir manchmal selbst schwer zu glauben, dass diese zwei kleinen süßen Racker, die mein größtes Glück im Leben sind, jetzt erwachsen und selbstständig sind. Es macht mich unglaublich stolz, ihnen dabei zuzusehen, wie sie von Tag zu Tag ihr Leben mehr und mehr ohne mich meistern. Sie brauchen mich nicht mehr in ihrem Alltag, aber wir sprechen oder schreiben uns beinahe täglich.

Zurück zu meinem Sommercafé: Obwohl ich es liebte, fiel mir der Abschied nicht schwer. Denn was mir anfänglich das Schreiben ermöglichen sollte, war über die Jahre zu seinem größten Konkurrenten geworden. Ich hatte es als zweites Standbein zur Schriftstellerei eröffnet, da ich erstens mit dem Schreiben meine Kinder nicht ernähren konnte und zweitens Abwechslung zum Alltag im stillen Schreibkämmerlein suchte. Als gebürtige Rheinländerin brauche ich Gesellschaft und Geselligkeit, um nicht einzugehen wie ein schlecht gegossenes Zimmerpflänzchen. Also beschloss ich, jedes Jahr zwischen dem 1. April und dem 31. Oktober Kaffee, Kuchen, Limo, Eis und Baguettes in einem umgebauten Zirkuswagen zu verkaufen. Das restliche Jahr blieb zum Schreiben. Ich hatte nichts: kein Kapital, keine Gastronomieerfahrung und auch keinen Verkaufswagen. Aber ich hatte einen Namen: ZierlichManierlich. Und ich glaubte fest daran, dass es allerhöchste Zeit war für eine Alternative zu den üblichen Leipziger Bier- und Bratwurstständen, die in ihren Blechbüchsen außer ihrem faden Angebot meist auch sächsische Unfreundlichkeit servierten. Mein Konzept stand schnell und war einfach: Der Wagen sollte schön sein, das Speisenangebot qualitativ hochwertig und der Service freundlich. Ich hatte keine Ausbildung und kein geregeltes Einkommen, war alleinerziehend und bekam Hartz IV. Das Arbeitsamt verweigerte mir den Existenzgründerzuschuss, weil sie nicht an den Erfolg des Unternehmens glaubten. Das Stadtplanungsamt wollte keine Gastronomie im Park, und bio schon mal gar nicht. Selbst meine beste Freundin war skeptisch, weil der Richard-Wagner-Hain zwar zentrumsnah liegt, nachts aber verlassen und unbewacht ist. Der Wagen war Vandalen und Dieben schutzlos ausgeliefert. Ich wollte aber keinen anderen Ort, ich wollte, dass das kleine Büdchen genau an der Stelle stand, wo ich jedes Mal, wenn ich mit meinen Kindern zum Badesee radelte, dachte: Jetzt und hier ein Kaffee! Dazu ein Stück Kuchen und ein Eis für die Kinder, das wär’s doch!

Also blieb ich unbeirrt dran an dieser Wutzidee, erst recht, als ich zufällig im Garten einer Freundin einen alten, heruntergekommenen Bauwagen aus den sechziger Jahren entdeckte, den sie mir kurzerhand schenkte. Der Wagen hatte jahrelang vor sich hin gemodert, die gelbe Farbe war verwittert, das Holz feucht und mit Moos bewachsen. Die Reifen waren platt. Efeu hatte sich um die rostigen Achsen geschlungen, als wolle er das klapprige Gefährt für immer festhalten. Um den Wagen freizubekommen, mussten wir eine Schneise in das Gestrüpp schlagen, das ihn eingekesselt hatte wie eine feindliche Armee. Bei Glatteis wurde er von einem Wagenplatzbewohner mit einer alten Diesel-Pritsche über Landstraßen 600 Kilometer bis Leipzig gezogen. Dort konnte ich ihn auf dem Wagenplatz entkernen und ausbauen. Mit Hilfe von Familie, Freunden und Freundinnen riss ich alles raus, schliff die Außenwände ab, entrostete das Dach und baute den Innenraum zum Speisewagen um. Ich lieh mir Geld, besuchte Hygiene- und Existenzgründervorträge, lernte das Bedienen einer Siebträgermaschine, überzeugte die zuständigen Ämter, bis ich alle Genehmigungen zusammen hatte, castete Personal und eröffnete entgegen aller Widerstände und Zweifel am Karfreitag 2009. Karfreitage scheinen in meinem Leben eine große Rolle bezüglich neuer Lebensabschnitte zu spielen.

Zugegeben: Anfangs lief es schleppend. Es kam zu wenig Kundschaft, wir arbeiteten nicht professionell genug, und ja: randaliert oder eingebrochen wurde auch ständig. Doch ab dem dritten Geschäftsjahr wurde das ZierlichManierlich immer bekannter und beliebter. Und ehe ich mich versah, dirigierte ich plötzlich ein Team aus mehr als zehn Festangestellten und Minijobberinnen. Das, was ich an meinem kleinen Sommercafé so liebte, nämlich den persönlichen Kontakt mit den Kolleginnen und Kunden, geriet immer mehr in den Hintergrund. Wenn die Ladenluke abends und in den Wintermonaten geschlossen war, war für mich noch lange nicht Feierabend: Buchhaltung, Steuer, Lohnabrechnungen und Reparaturen nahmen mehr von meiner Zeit in Anspruch, als mir lieb war.

Also war ich froh, dass es mit dem Verkauf nach genau zehn Jahren klappte: 2018 arbeitete ich meine zehnte und letzte Saison im ZierlichManierlich und es war zugleich die erste, in der der Wagen nicht mehr unter meinem Kommando stand. Das ZierlichManierlich gehört nun Julia, die seit dem ersten Jahr Stammkundin war. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich noch eine Saison im Café das Zepter in der Hand hielt, während sie im Hintergrund die Fäden zog. So war der Übergang für alle sanft. Die sieben Monate in meinem ehemaligen Café waren übrigens bisher die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich angestellt war.

So weit, so gut. Alles schien bestens zu laufen: Das Café war verkauft, die Kinder wurden erwachsen, ich hörte auf, mir die Haare zu färben, kaufte Funktionskleidung und Wanderequipment.

Trotzdem ist jetzt nichts, wie es sein sollte. Denn eigentlich wollte ich nicht alleine an der Wartburg stehen, sondern mit meinem langjährigen Lebenspartner. Seinetwegen hatte ich den Karfreitag als Starttag ausgesucht, er konnte mich nur in den Ferien und an den Wochenenden begleiten. Mein Plan war: Wir starten zusammen, damit ich mich noch ein bisschen länger vor meiner Angst drücken konnte, alleine im Wald zu zelten. Kehrte er am Ende der Osterferien nach Leipzig zurück, war ich diesbezüglich hoffentlich gestärkt genug, um alleine weiterzuziehen. Danach wollte er mich an den Wochenenden und in den Ferien so oft wie möglich auf dem Trail besuchen. Mein Freund fand, dass ich zu naiv an die Vorbereitungen ging.

»Ich würde ab jetzt nur noch zu Fuß gehen, egal was du zu erledigen hast. Du musst dich unbedingt im Fitnessstudio anmelden oder wenigstens Intervalltraining machen. Am besten steigst du jedes Wochenende auf den Brocken. Aber mindestens einen Halbmarathon musst du laufen!«

Um ehrlich zu sein: Ich tat von alledem nichts. Ich googelte lieber Ausrüstungsgegenstände und las Erfahrungsberichte von Thruhikerinnen.

»Wandern ist Gehen und Tragen«, antwortete ich. »Dazu brauche ich nur zwei gesunde Beine und einen starken Rücken. Hab ich beides. Die Fitness kommt dann schon von alleine. Ich gehe den Weg, egal wie lang es dauert! Und wenn ich zu Beginn nur fünf Kilometer am Tag schaffe, mir doch wurscht! Du kannst ja vorrennen und abends mit aufgebautem Zelt und 3-Sterne-Camping-Menü auf mich warten.«

Also beschäftigte ich mich stoisch weiter mit Themen wie Campingkochern, Offlinekarten, Powerbanks, Isomatten, Merinowäsche, glutenfreiem Proviant, Wasserfiltern, Schlafsäcken, Ultraleichtzelten und Wanderschuhen. Bevor ich viel Geld für falsche Produkte ausgab, wollte ich mir das Wichtigste für einen Testlauf leihen. Wir planten eine mehrtägige Probewanderung, um alles in Ruhe auszuprobieren, überlegten, ob wir ins Elbsandsteingebirge fahren sollten, wo wir uns beide gut auskannten, oder in den Harz, wo mein Freund regelmäßig alleine wanderte. Es war noch ein Jahr hin bis zum Start auf dem EB.

Und dann brach innerhalb kürzester Zeit alles zusammen. Es flog eine so große Lüge auf, dass eine Trennung unausweichlich war. Mir blieb der Atem weg, wochenlang. Zum Luftholen kam ich nicht, denn die erste Entdeckung war nur der Auftakt zu einem wahren Lügencrescendo. Es war, als ob man eine Dominosteinkette zu Fall gebracht hatte: Immer mehr unglaubliche Dinge kamen zum Vorschein, das ganze Kartenhaus unserer Beziehung fiel in sich zusammen. Nichts war mehr sicher, außer dass nichts mehr sicher war. Aber das ist eine andere Geschichte, die hier keinen Platz finden soll, denn es kostete mich schon genug Zeit, Kraft und Aufwand, mir nach der Trennung meine Räume wieder zurückzuerobern. Mir war der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Meine Wanderpläne waren das Einzige, was ich noch hatte.

An der Wartburg tummeln sich die Feiertagsausflügler. Um mich herum wird gelacht und fotografiert. Dazwischen fühle ich mich mit meinem knallroten Kopf, dem schweißnassen Hemd, dem dicken Rucksack und den störrischen Trekkingstöcken plump und unbeholfen. Einen kurzen Moment überlege ich, einfach nur die Burganlage zu besichtigen und wieder nach Hause zu fahren. Nur, dass ich kein Zuhause mehr habe: Meine geliebte Wohnung fiel wie so vieles der Trennung zum Opfer. Ich bin im Grunde obdachlos. Was ich im Zuge der Wohnungsauflösung behalten habe, steht im ehemaligen Kinderzimmer meines Nachbarn, der sich auch um meine Post und Zimmerpflanzen kümmert. Alles, was ich in den nächsten Monaten brauche, trage ich am Leib und auf dem Rücken. Ich habe keine Alternative. Also ziehe ich los, um mir den Boden unter den Füßen zurückzuerlaufen.

An der Zugbrücke zeigt eine Schautafel den einschüchternden Verlauf des EB: Eine 2.690 Kilometer lange Schlaufe durch Thüringen, Sachsen, Tschechien, Polen und die Slowakei bis in Ungarns Hauptstadt. Dabei führt der Weg zwar immer wieder durch populäre und touristisch erschlossene Abschnitte, verläuft aber meist durch abgelegene Landstriche mit ursprünglichen Wäldern, sprudelnden Bächen, stillen Mooren und steilen Kammwegen. Ich werde also mutterseelenallein unberührte Natur durchschreiten und dort zelten, wo Braunbären und Wolfsrudel leben. Mich erwarten verwunschene Landschaften, einzigartige Naturphänomene und altertümliche Dörfer, in denen die Uhren stillstehen. Spuren der Ära von Köhlern, Flößern und Silbererzminengräbern. Alte Handelswege und Salzstraßen, Heilquellen und Thermalbäder. Hirten, die mit ihren Herden über die Bergwiesen ziehen. Umgebinde- und Laubenganghäuser, Burgen, Schlösser, orthodoxe Zwiebeltürmchen und Holzkirchen. Mich erwarten auch: die stummen Zeugen vergangener Kriege. Wehranlagen, Bunker, Mahnmale.

Gegründet im Jahr 1983 war der EB der einzige grenzüberschreitende Fernwanderweg im Sozialismus. Während die großen amerikanischen Trails längst kein Geheimtipp mehr sind, geriet der EB nach der Wende in Vergessenheit. Es gibt zwar Reiseführer, die den EB in sieben große Abschnitte teilen, aber die meisten davon sind vergriffen. Über Antiquariate bekam ich sie doch noch alle zusammen. Ein kurzer Wikipedia-Eintrag, eine private Website und ein Blog von einer EB-Wanderin – das waren alle Informationen, die ich damals fand. Ich erfuhr: Nur in Deutschland ist der Weg noch als EB ausgewiesen, ansonsten wurde er ins Netz europäischer Fernwege integriert. Es gibt eine Interessengemeinschaft, die sich um die Beschilderung des Wegs kümmert, Stempelhefte, Aufnäher sowie das alte sozialistische Reglement verschickt, und ein jährliches Treffen für alle organisiert, die die Gesamtstrecke bewältigt haben. Das sind nach Angaben des Freundeskreis EB in den beinahe vierzig Jahren seit seiner Gründung nicht einmal hundert Leute. Und lediglich zwölf davon haben es nach dieser Statistik bisher in einem Rutsch geschafft.

Der offizielle Name des EB lautet: Internationaler Bergwanderweg Eisenach–Budapest. Angelegt im Sinne der Völkerverständigung verliehen ihm die Mitgliedsländer DDR, Tschechoslowakei, Polen und Ungarn den Beinamen Weg der Freundschaft.

»Der Name ist Programm!«, sagte ich mir, nachdem der erste Schock über meine Trennung verdaut war. Ich lud meine Freundinnen und Freunde ein, mich auf dem Weg zu besuchen.

Mir waren Freundschaften schon immer mit das Wichtigste im Leben. Ich liebe es, in Gesellschaft zu sein und zu plaudern, ich brauche regelmäßigen Kontakt zu meinen engsten Vertrauten, um glücklich zu sein. Und ich lebe lange genug im Osten, um zu wissen, dass sich Sozialisten und Kommunisten mit »Freundschaft!« grüßten: Drushba! So gründete ich den Klub Drushba und eröffnete eine gleichnamige WhatsApp-Gruppe, über die ich alle, die an meinem Abenteuer teilhaben wollen, auf dem Laufenden hielt.

Ich druckte ein Schaubild vom Verlauf des Wegs aus und trug dort ein, wann ich wo sein wollte. Um das zu errechnen, halbierte ich alle Etappen, die im Wanderführer mit mehr als sieben Stunden reine Gehzeit angegeben wurden, rechnete einen Ruhetag pro Woche und zusätzlich zwei pro Monat obendrauf. Ich würde also meinen vierzigsten Geburtstag irgendwo in den Karpaten feiern. Dann markierte ich in dem Ausdruck, wer mich wo und wann besuchen wollte. Fünfzehn Freunde und Freundinnen hatten sich zum Mitwandern gemeldet. Ich war beeindruckt, in welch entlegene Ecken sie anreisen wollten, nur um ein paar Tage mit mir zu verbringen. Da wusste ich: Vielleicht mag ich so gut wie alles verloren haben, aber ich war nicht verloren.

»Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt«, stand auf dem zerknitterten Zettelchen eines Glückskeks, den ich bei einem vietnamesischen Mittagessen geschenkt bekam. Diesen Spruch machte ich zum Gruppenbild des Klub Drushba.

Ich googelte Supermärkte am deutschen Abschnitt und trug mir in die Wanderführer ein, für wie viele Tage im Voraus ich Proviant kaufen musste. Außerdem suchte ich nach Schwimmbädern und Saunen am Wegesrand, denn ich war entschlossen, jeden Pool, jede heiße Quelle und jede Therme mitzunehmen. Folglich waren Badesachen unter den wenigen Luxusgegenständen, die ich einpackte. Wie man einem Esel eine Möhre vor die Nase bindet, um ihn voranzutreiben, hielt ich mir die berühmten Thermalbäder in Budapest vor Augen. Ich wollte mich in jedes einzelne davon stürzen, wenn ich es bis ans Ziel schaffte, und bevor ich überhaupt den ersten Schritt gemacht hatte, malte ich mir schon aus, wie ich in Budapest umgehend alle Wanderklamotten in die Tonne pfefferte und mir ein schönes Sommerkleid kaufte.

Mit den Personen, die sich verbindlich angemeldet hatten, plante ich, was sie mir mitbringen konnten, damit ich nicht von Anfang an alles mitschleppen musste – alle sieben Wanderführer, säckeweise glutenfreie Asianudeln, 150 Hormontabletten, ebenso viele Tütchen Magnesiumpulver und ein Bärenseil brauchte ich in Thüringen sicherlich noch nicht.

Die einzige vorbereitende Maßnahme, die ich nicht an meinem Schreibtisch traf, war die Probewanderung zum Testen der Ausrüstung. Aber ich fuhr weder ins Elbsandsteingebirge noch in den Harz. Stattdessen startete ich direkt an meiner Haustür. Von dort waren es nur 900 Meter auf den Pilgerweg Via Regia. Ich packte mir den Rucksack so voll, dass er das Maximalgewicht hatte, das ich mir für die Fernwanderung ausgerechnet hatte, lief durch spätsommerliche Buchen- und Eichenwälder, stapfte im Nieselregen stundenlang über den Damm der Luppe, immer dem auf Baumstämmen, Schildern und Pollern aufgemalten Muschelsymbol der Jakobswege hinterher, folgte mit meinem Blick den über abgeernteten Getreidefeldern kreisenden Raubvögeln und lauschte dem Rauschen des Winds in den hoch stehenden Maisfeldern. Schwärme wilder Wespen schwirrten auf den Landstraßen um aufgeplatztes Fallobst, Hochzeitgesellschaften fuhren klappernd und hupend mit glänzend polierten Oldtimern und Blechbüchsen im Schlepptau über die Alleen, und Traktoren zogen Ellipsen in ihre Felder. Verstreute Gruppen wilder Schwäne und dunkler Enten schaukelten auf den vom Wind aufgeblasenen Wellen ehemaliger Bergbaugruben. Ich durchquerte putzige Provinzdörfer vor den Toren Leipzigs, von deren Existenz ich zuvor nichts geahnt hatte. Schmale Kopfsteinpflasterstraßen erstreckten sich unter der flirrenden Sommerhitze staubig und verlassen vor mir, umgeben von der gespenstischen Stille zugezogener Gardinen, die höchstens vom Widerhall meiner Schritte und dem Kläffen aufgeschreckter Hofhunde durchbrochen wurde. Ich kochte mir Nudeln auf dem Spirituskocher und füllte meine Wasserflasche in rustikalen Gaststätten. Eigentlich lief alles super, bis ich abends meine Schuhe auszog. Ich hatte keine Schmerzen beim Gehen gehabt, aber die verstärkte Kappe hatte an den Zehen gedrückt. Das Resultat waren riesige Blasen an und unter den Zehennägeln. Ich schickte ein Foto davon an eine Freundin, die mir befahl, die Wanderung sofort abzubrechen, sie würde sich jetzt ein Auto leihen und mich retten. In Socken setzte ich mich auf meinen Rucksack an den Wegesrand und wartete Grashalme kauend im Schein der langsam untergehenden Sonne an einem Landwirtschaftsweg in the middle of nowhere. Diese kurze Probewanderung kostete mich sechs Zehennägel, die mir in den Wochen danach abfielen.

Meine erste Lektion hatte ich gelernt: Es muss nicht weh tun, um falsch zu sein. Es reicht, wenn es drückt. Und ohne gute Freundinnen und Freunde bin ich verloren.

So ist das einzig Beruhigende beim Blick auf die riesige Schlaufe, die der EB von der Wartburg aus bis nach Budapest schlägt, die Gewissheit, dass ich die Strecke nicht in Einsamkeit bewältigen muss.

Ehrfürchtig setze ich die Füße auf den Pfad. Ich beschließe es anzugehen wie Beppo, der Straßenkehrer: Schritt für Schritt. Zum Glück ist der Einstieg leicht, denn er führt mich auf den populären Rennsteig. Ich füge mich in die Massen der Ausflügler ein, die in Richtung des beliebtesten Fernwegs Deutschlands strömen, und gehe die ersten Schritte auf dem Weg der Freundschaft.

Die moosbewachsene Drachenschlucht ist so eng, dass ich mit meinem Rucksack beinahe stecken bleibe. Dann geht es steil hinauf zum Rennsteig. Der historische Grenzweg führt vom Eisenacher Ortsteil Hörschel bis Blankenstein. Für die ersten hundert Kilometer wird sein Erkennungszeichen, das weiße »R«, auch mein Wegweiser sein. Zwischen gestressten Eltern schlecht hörender Kinder, rüstigen Rentnern und rasanten Radfahrern schiebe ich mich durch die wärmende Sonne, deren Strahlen flackernd durch die kahlen Baumkronen fallen. Kolonnen von Motorrädern rasen auf einer angrenzenden Straße die Kurven hinauf oder hinunter. Überfüllte Gaststätten und Biergärten säumen den Weg. Schwitzende Wirte stehen hinter Zapfhähnen, Fritteusen und Grillrosten. Spätestens jetzt wird mir klar, wie überflüssig es war, Proviant für mehrere Tage einzupacken und drei Liter Wasser mitzuschleppen. Ich muss über mich lachen, darüber, dass ich davon ausging, mich tagelang in tiefster Wildnis fern jeglicher Zivilisation komplett selbst verpflegen zu müssen. Statt Instantsuppe gibt’s Fritten und Cola. Alle Leute mit großen Rucksäcken spreche ich an, hoffe, dass es noch weitere gibt, die den EB in Angriff nehmen, aber ich treffe nur Menschen, die das Osterwochenende für eine kleine Auszeit nutzen.

»Gut Runst!«, ruft mir eine Gruppe zum Abschied hinterher und ich wiederhole winkend den traditionellen Gruß der Rennsteigwanderer.

Der Weg ist breit und eben, kahle Laubbäume und grüne Fichten werfen lange Schatten. Im Licht der goldenen Abendsonne erreiche ich eine der vielen Schutzhütten am Rennsteig. Oft sind es nur rudimentäre Unterstände, aber diese ist komfortabler: ein hölzernes Finnhäuschen mit offener Front und einem großen Plexiglasfenster an der Rückseite. Der Boden ist mit Schotter aufgefüllt, es gibt eine lange hölzerne Tafel und zwei Bänke. Der Tisch ist liebevoll dekoriert: Teelichter, Blumen und sogar ein mit bunten Ostereiern gefüllter Kranz warten neben dem Hüttenbuch auf mich. Angesichts des breiten Holztischs verzichte ich darauf, mein Zelt aufzubauen. Mit der untergehenden Sonne mache ich meine müden Beine und den schmerzenden Rücken lang, der mir sagt, dass ich ganz schnell meinen zu üppig kalkulierten Proviant essen muss. Beim Rest der Ausrüstung habe ich nicht den Eindruck, dass es noch Spielraum für Reduktion gibt, obwohl ich beileibe nicht ultraleicht unterwegs bin. Mir war wichtig, einen gewissen Komfort zu haben. Dafür war ich bereit, ein paar Kilo mehr zu tragen.

Internet und Handyempfang gibt es im Thüringer Wald nicht, und so kann ich die Mitglieder des Klub Drushba weder über meinen Standort noch den Verlauf des ersten Tages informieren. Schade, denn ich hätte mich gerne von den Geräuschen abgelenkt, die aus der Dunkelheit tönen. Dabei handelt es sich allerdings weniger um röhrende Hirsche und knackende Äste, sondern um röhrende Auspuffe knackender Mopeds. Die Jugend ist auf der Suche nach einer leerstehenden Hütte für ihr Osterbesäufnis.

Ich denke daran, wie es wäre, jetzt nicht alleine, sondern mit meinem Exfreund hier zu liegen. Die Trennung liegt nun ungefähr ein Jahr zurück.

Während der Beziehung war mein Partner lange arbeitslos. Er wurde antriebslos und unzufrieden. Dieser Zustand wurde mit der Zeit so belastend, dass ich nicht mehr weiterwusste. Ich dachte ein erstes Mal über Trennung nach. Aber ich dachte auch: So ist das eben in einer Beziehung, da geht man gemeinsam durch dick und dünn. Ich glaubte, dass wir aus seiner Krise als Paar noch viel stärker hervortreten würden. Meine größte Stärke ist zugleich meine größte Schwäche: Wenn ich einmal mein Herz an einen Menschen verschenke, dann für immer. Und dabei ist es vollkommen egal, um welche Form der Liebe es sich handelt. Ob Agape, Philia oder Eros, wenn ich mich für jemanden entscheide, bin ich treu, loyal und kämpferisch. Das führt aber auch dazu, dass ich zu lange über unentschuldbares Verhalten wegsehe und Menschen auch dann noch in Schutz nehme, wenn ich mich eigentlich selber schützen sollte. Es fällt mir schwer, mich zu trennen. Heute wünschte ich, ich hätte besser auf meine Intuition vertraut und sofort die Turnschuhe angezogen, um ganz schnell ganz weit weg zu rennen.

Als ich herausfand, dass er mir jahrelang Existenzielles verschwiegen und mich grob belogen hatte, musste ich einsehen, dass vieles nur vorgespielt war. Ich musste begreifen, dass ich unfreiwillig Zuschauerin eines One-man-Theaters gewesen war, und dass es viele Rollen auf seinem Storyboard gab.

Nachdem das Husten des letzten frisierten Auspuffs verklungen ist, wälze und drehe ich mich angespannt auf der quietschenden Isomatte umher, lausche auf jedes Knacken im Unterholz. In dieser Nacht schlafe ich nicht wirklich fest. Es ist ungewohnt, auf der Isomatte zu schlafen, auch wenn diese dick wie eine Luftmatratze und somit sehr komfortabel ist. Und meine Gedanken kreisen um alles, was passieren könnte: Wildschweine, die die offene Hütte stürmen. Ich kenne aus der Eifel ausreichend Horrorstorys von Keilern, die auf Menschen zurasten, ihnen mit ihren mächtigen Hauern die Oberschenkel aufschlitzten und die Verblutenden bei lebendigem Leib fraßen. Gut, dass ich auf einem Tisch liege und nicht in meinem kleinen Zelt, denn da könnten kapitale Dammhirsche über die Schnüre stolpern und mein gut getarntes Kabäuschen und mich platt walzen. Wenn mich nicht vorher der Förster mit vorgehaltener Flinte aus seinem Revier verjagt, weil Wildzelten in Deutschland nicht erlaubt ist. Ein Jäger ist mir aber immer noch lieber als irgendwelche zwielichtigen Gestalten, die sich mit unlauteren Absichten nachts im Wald herumtreiben. Und ein bisschen Angst habe ich auch vor den Gefühlen, die auftauchen, wenn man tagelang alleine durch die Gegend stapft.

Morgens bin ich gerädert: Mein Nacken schmerzt, mein Hals knirscht, mein Kiefer drückt, und kalt ist mir auch noch. Letzteres zumindest ändert sich schnell, denn es herrscht wieder Kaiserwetter. Und so ist der Rennsteig schon am frühen Morgen gut gefüllt mit Mountainbike- und Wandergruppen. Noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, jemanden zu treffen, der sich ebenfalls auf den weiten Weg bis Budapest gemacht hat. Ich quatsche weiterhin alle Menschen mit großen, verdächtig nach Fernwanderung aussehenden Rucksäcken an. Meine angeborene rheinische Frohnatur und die dem Eifelvölkchen eigene Neugierde kommen mir dabei zugute. Wir sind ja der Prototyp der am Gartenzaun stehenden Plaudertasche. Wir kommentieren alles, was vor unseren Augen geschieht, und haben zu jedem Thema unseren Senf beizutragen.

Obwohl einige Wanderer dickere Rucksäcke schleppen als ich, absolvieren sie doch nur ihre Runst. Aber dann werde ich plötzlich selbst angesprochen: Ob ich denn die Person sei, die bis Budapest laufe, will man wissen. Hat sich wohl schon rumgesprochen.

»Hast du keine Angst, so allein als Frau?«, werde ich häufig gefragt.

»Natürlich habe ich Angst!«, antworte ich. »Aber ich mach’s halt trotzdem.«

Schon im Vorfeld der Wanderung gab es jede Menge Tipps, und zwar ungefragt und umsonst. Und natürlich gab es viele Skeptiker, kaum jemand glaubte, dass ich lange durchhalten würde (ich selbst am wenigsten). Die vehementesten Einwände und eifrigsten Tipps kamen von Leuten, die selbst nie wandern. Insbesondere Männer fühlten sich bemüßigt, mir in aller Ausführlichkeit von ihren einsamen Nächten in Kanada oder Spitzbergen zu berichten, wo mindestens Kojoten, Wölfe, Grizzlys und Eisbären ums Lagerfeuer schlichen. Maschinengewehrähnlich ratterten sie ab, wie ich mich vorbereiten, was ich mitnehmen und wie ich mich während der Wanderung verhalten sollte. Maßgeblich hatten sie so wertvolle Tipps wie:

»Trailrunner gehen gar nicht. Es müssen richtig schwere Boots sein, am besten Armeestiefel. Einmal reinpinkeln, dann kann nichts mehr schiefgehen.«

»Hirschtalg für die Füße? Na damit wirst du dein blaues Wunder erleben! Der Schwager von einem Freund seinem Bruder fährt Downhill und cremt sich für die Buckelpisten immer ordentlich den Hintern mit Hirschtalg ein. Und dann ist ihm eines Tages doch tatsächlich ein brünftiger Zweiender auf die Pelle gerückt und kilometerweit sabbernd hinterhergaloppiert!«

»Das wichtigste Accessoire auf einem Survival-Trip? Feuchttücher. Es gibt auf so einer Tour nämlich nichts Geileres, als sich den Arsch mit Feuchttüchern sauber zu wischen!«

Ahja, dachte ich, sehr umweltfreundlich und naturnah, du Outdoor-Held! Diese großspurigen Tausendsassas behandelten mich, als ob ich mir keinerlei Gedanken gemacht hätte. Ich hatte vielleicht noch nie eine Fernwanderung unternommen, aber ich war doch nicht bescheuert! Schnell merkte ich: Ich konnte diese harten Kerle mit einem einzigen Argument in Angst und Schrecken versetzen. Ich musste nur erwähnen, dass ich nicht vorhatte, einen Rasierer mitzunehmen, schon schüttelten sie sich vor Ekel und Entsetzen.

Bald sprechen mich zwei junge Leute an. Auch sie haben von der Frau gehört, die nach Budapest laufen will, und identifizieren mich anhand des Solarpaneels an meinem Rucksack. So lerne ich Richard und Pauline kennen, zwei Studenten, die ebenfalls mit dem Zelt unterwegs sind. Wir laufen ein Stück zusammen und tauschen uns über Ausrüstung, Proviant und Schlafplätze aus. Und obwohl mein Rucksack dank meiner Verpflegungs-Misskalkulation viel zu schwer ist, haben sie zu zweit sogar doppelt so viele Kilos für ein langes Wochenende dabei, wobei Richard den größten Teil davon trägt. Plaudernd folgen wir dem mit roten Nadeln und altem Laub bedeckten Waldweg. Mittags trennen sich unsere Wege wieder. Die beiden wollen sich an einer Bank ein Mittagessen kochen, ich aber will unbedingt den Großen Inselsberg erklimmen, bevor ich raste. Auf dem Gipfelplateau habe ich genau ein Prozent der Gesamtstrecke geschafft, und diesen heroischen Meilenstein verewige ich mit einem verschwitzten Selfie vor dem Wegweiser.

Der Weg hinunter führt über steile unebene Stufen im festgetretenen lehmigen Waldboden. Erst am Fuße des Bergs lege ich mich nahe einer großen Wiese für ein Stündchen ins Moos.

Abends baue ich zum ersten Mal mein Zelt auf, versteckt zwischen ein paar Bäumen, aber nur einen Steinwurf entfernt von einer Schutzhütte. Mit der untergehenden Sonne gehe ich schlafen. Ich lausche ängstlich in die Nacht. Aber sobald es duster wird, merke ich, wie mucksmäuschenstill es ist, so tief im Wald. Da ist nichts bis auf das Rauschen des Windes in den Wipfeln und das Zwitschern der Vögel im Morgengrauen.

Trotzdem wird es ein paar Tage dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe. Ebenso lange dauert es, herauszufinden, wie ich mich im Zelt am besten bette, welche Kleiderkombination am wärmsten ist und woraus sich das komfortabelste Kissen formen lässt, nämlich aus den Wanderkleidern. So vergisst man auch nachts nicht, wie man tagsüber stinkt. Auch beim Packen dauert es, bis jeder Gegenstand den optimalen Platz im Rucksack hat.

Ich schlafe zwölf Stunden und krieche erst um halb neun aus dem Zelt. Dass sich mein Rhythmus mit der Zeit dem der Natur anpassen wird, davon gehe ich aus. Dass ich nach wenigen Tagen mit dem ersten Vogelträllern putzmunter aus dem Zelt springe. Nun, ich kann vorwegnehmen: Das wird nicht passieren. Ich bin eine Langschläferin. Und war es schon immer. Deswegen wurde ich sogar ein Jahr später eingeschult. Mein Exfreund sagte immer: »Rebecca gehört zur Bohème, denn sie schläft bis um zehne!«

Das stimmt zwar nicht so ganz, denn ich hatte ja Schulkinder und ein Café, das um zehn Uhr öffnete, aber wann immer es ging, schlief ich aus. Und warum sollte ich das jetzt nicht tun? Es ist ja meine Wanderung, meine Auszeit, während der ich mich ganz nach meinem Rhythmus richten kann. Also beschließe ich, mir auf der Tour niemals einen Wecker zu stellen. Ich will aufstehen, wenn ich von alleine wach werde und ich will aufhören zu laufen, wenn mir die Füße weh tun oder ich einen perfekten Schlafplatz gefunden habe. Ich sehe keinen Sinn darin, jemals im Leben wieder früh aufzustehen, wo der Schulalltag meiner Söhne es mir nicht mehr diktiert. Außerdem bin ich erschöpft von den Ereignissen des letzten Jahres, die mir so viel abverlangten.

Die Zeit nach der Trennung verbrachte ich in einem Zustand zwischen Trance, Trauer und Wut. Aber wenigstens war jetzt jeder Tag Adrien-Brody-Tag. Das half. Wenn ich vor lauter Kummer nicht einschlafen konnte, holte Adrien mich mit dem Motorrad ab und brauste mit mir in den Sonnenuntergang. So wurde ich morgens mit einem breiten Grinsen wach. Was vielleicht auch daran lag, dass die größte Spannung in meinem Alltag weg war. Konnte es Zufall sein, dass meine Migräne mit dem Tag der Trennung verschwunden war? Hätte ich gewusst, dass das Heilmittel im Schlussmachen bestand, hätte ich mir viel Geld für Akupunktur, Ayurvedakuren, Osteopathie, Medikamente und sonstige Therapien sparen können. Ich beschloss, eine »happy crab alone« zu sein, bei uns ein geflügelter Begriff, seit mein jüngerer Sohn Pharrell Williams’ Song »Happy« falsch interpretierte: Statt »because I’m happy clap along«, sang er fröhlich klatschend: »Because I’m a happy crab alone.« Natürlich war ich auch als happy crab alone nicht dauernd glücklich. Nur noch in den Trümmern der vertrauten Wohnung zu sitzen, war deprimierend. Ich kam gar nicht dazu, mich in irgendeiner Form auf die Wanderung einzustellen, befürchtete sogar, dass ich, wenn endlich der ganze Druck von mir abfiel, als heulendes Elend über den Rennsteig wanken würde, wie ein Gespenst durch leere Schlosshallen um Mitternacht. Die eigens geplante Abschiedsparty von der Wohnung, in der ich die längste Zeit meines Lebens mit meinen Kindern und vielen tollen Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen gelebt und in der wir rauschende Feste gefeiert hatten, blies ich kurzfristig ab, weil ich mich nicht feierlich fühlte, sondern auf allen Ebenen gescheitert. Ich hatte eigentlich alles erreicht, was ich im Leben erreichen wollte, die Kinder waren aus dem Haus, ich hatte zwei Romane veröffentlicht, ein Café gegründet und wieder verkauft, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass mir alles unter den Händen wegbrach und ich vor dem Nichts stand. Von fröhlicher Aufbruchstimmung konnte keine Rede sein. Ich stand am Nullpunkt. Der letzte Tag hatte es dann nochmal richtig in sich, denn die Hausverwaltung hatte meine Wohnungsabnahme vergessen und verlangte nun von mir, die Stadt nicht zu verlassen, bis sie irgendwann nach den Osterfeiertagen wieder Zeit hätten.

»Denen zeigen wir’s jetzt aber!«, rief mein Nachbar, bei dem ich meine Sachen einlagerte, und zog seine Lederjacke an, die aus dem respektablen Arzt umgehend einen knallharten Kerl machte. Wir fuhren zur Hausverwaltung und knallten die Wohnungsschlüssel auf den Tresen.

Es gab eine hitzige Diskussion. Mein Nachbar haute ziemlich auf den Putz, während ich mir in meinen Wanderklamotten und mit der punkigen Frisur unseriös vorkam. Schließlich gelang es uns, alles über eine Vollmacht für meinen Nachbarn zu regeln. Als die Tür der Hausverwaltung hinter uns zufiel, war ich ein schlüsselloser Mensch.

Mit meinem Rucksack, in den ich in der Eile alles nur lose hineingeworfen hatte, fuhr ich zum ZierlichManierlich. Eigentlich hatte ich dort ganz in Ruhe mit meinen Freundinnen Julia und Magdalena einen Abschiedskaffee trinken wollen. Stattdessen kippte ich den Inhalt des Rucksacks auf die Wiese und begutachtete ein letztes Mal meine Ausrüstung. Was ich aussortierte, bekam Magdalena, die mich in der Sächsischen Schweiz besuchen wollte. Während ich hastig meinen Kaffee trank, ging ich mit Magdalena auch nochmal meine Medikamente durch. Dabei fielen die drei Kondome, die ich vorsichtshalber in das Verbandspäckchen gesteckt hatte, heraus. Kurzerhand nahm Magdalena mir zwei weg.

»Eins reicht. Für dein Sicherheitsgefühl. Die anderen zwei brauche ich, ich will nämlich meine Wasserhähne entkalken.«

»Ich werde wahrscheinlich auch das eine ungenutzt bis Budapest schleppen!« Männer waren das Letzte, woran ich dachte. Ich war immer noch eine offene Wunde, die nässte und eiterte, sobald man am Schorf kratzte. Und so eine Wanderung, wo man zwar täglich den Ort wechselt, aber nicht die Kleider, erschien mir nicht die beste Gelegenheit, um Sex zu haben.

Julia postet gerne furchtbar unvorteilhafte Fotos von mir auf den Social-Media-Kanälen des Cafés. Das tat sie auch an diesem Tag: Auf dem Abschiedsfoto mit geschultertem Rucksack vor dem grünen Zirkuswagencafé sehe ich noch viel blöder und draller aus als in Wirklichkeit.

Magdalena fuhr mich zum Bahnhof, wo wir zum Abschied Spaghetti-Eis aßen. Magdalena gehörte zu den ersten Menschen, die ich in Leipzig kennenlernte. Ich traf sie und ihren Mann zum ersten Mal beim Elternabend im Kindergarten. Damals hielt sie einen Säugling im Arm und ich dachte: Ach sieh an, ganz junge Eltern, die sich schon mal informieren wollen. Weil wir uns gleich sympathisch waren, kamen wir direkt ins Gespräch und ich war ganz entsetzt, als ich erfuhr, dass es mitnichten das erste, sondern das vierte Kind war! Die mittleren zwei sind genauso alt wie meine Söhne. Wir wurden ziemlich schnell ziemlich dicke Freundinnen. Trafen uns nachmittags mit der Rasselbande bei einer von uns, im Park, am See oder im Freibad und quatschten, zumindest soweit es das Tohuwabohu zuließ, das sechs kleine Kinder veranstalten können. Magdalena erfüllt als gebürtige Polin das Klischee, einem immer direkt einen gefüllten Teller vor die Nase zu setzen, sobald man ihre Wohnung betritt, und zwar unabhängig davon, ob man hungrig ist oder nicht. Ohne ihre Unterstützung wäre ich vor allem in den ersten Jahren in Leipzig oft aufgeschmissen gewesen. Wenn ich auf Lesereise oder krank war, schliefen meine Kinder bei ihr. Mit ihrem alten VW-Bus half sie mir, wann immer ich etwas Großes transportieren musste. Sie schliff mit mir den alten Bauwagen ab, half beim Umbau und dem ersten Saisonstart. Am Gleis drückten wir uns lange.

Als ich endlich im Zug saß, konnte der wegen irgendwelchen Komplikationen erst eine halbe Stunde später losfahren.

»Leipzig lässt mich so einfach nicht los!«, beschwerte ich mich im Klub Drushba und berichtete gleich noch von der turbulenten Wohnungsübergabe.

»Gelassenheit wird wahrscheinlich sowieso einer deiner wichtigsten Begleiter«, schrieb meine Schulfreundin Tamara, die mich mit Mann und Kind in der polnischen Tatra besuchen würde.

Zwei Tage später sitze ich nun also an einer Schutzhütte, rühre in scheußlichem Instant-Kaffee und esse noch scheußlicheres Chia-Porridge. Ich bin vor dem ersten Kaffee nicht ansprechbar, aber diese Plörre macht es nicht besser. Welch freudige Überraschung, als sich Richard und Pauline nähern. Ich creme meine Füße wider den urbanen Mythos um das paarungswillige Rotwild mit Hirschtalg ein, packe zusammen und gemeinsam laufen wir weiter.

Die beiden kommen aus dem Eichsfeld, einem katholisch geprägten thüringischen Landstrich an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, leben und studieren aber in Halle.

Richard erzählt von seinem Auslandsjahr zu Schulzeiten, das er in Amerika verbrachte. Der Aufenthalt sei für ihn wie eine Offenbarung gewesen. Er habe begriffen, wie isoliert und homogen die Bevölkerung in seiner Heimat lebe. Wir reden noch ein bisschen über Politik, plaudern aber bald wieder übers Wandern. Richard erzählt von einer Tour, wo sich einer der Mitwanderer komplett übernommen hatte und zur Achillesferse der ganzen Truppe wurde. Ich fühle mich ertappt: »Ihr habt es ja schon gemerkt: Ich bin die langsamste Wanderin der Welt! Mein Ziel ist es, mit der Zeit so fit zu werden, dass ich im Schnitt 30 Kilometer täglich schaffe. Aber nutzt ja nichts, sich gleich zu Beginn zu überlasten.«