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"Du bist Material. Eine Ressource – jedenfalls Teile von dir. Also stell dich nicht so an. Dein Leben war nicht völlig sinnlos." Trish ist nur eine Orph, ein Niemand auf den Straßen von Xinjia II – daran werden die bescheuerten Pläne ihres Bruders ebensowenig ändern wie die illegalen Stims oder die One-Night-Stands, über die er sich so aufregt. Als sie in einem künstlichen Irrlicht einen Hauch von Leben spürt, wird sie aus der Belanglosigkeit ihres Daseins gerissen – doch ihre Traumtänzerei wird bald zum Alptraum: Ein wertvoller Speicherkern, skrupellose SYNC-Hacker und eine Selbstmörderin mit vertrautem Gesicht stellen alles in Frage, was Trish zu wissen glaubt. Jemand ist hinter ihr her, und sie ist nicht vorbereitet... IRRLICHT "Absturz" ist der Beginn einer spannungsgeladenen Cyberpunk Serie.
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Seitenzahl: 303
Veröffentlichungsjahr: 2025
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IRRLICHT 1
(ABSTURZ//)
Der Schweiß brannte in Dreyfus’ Augen. Seine Unterlider zuckten wild, aber er erlaubte sich nicht, zu blinzeln.
Er blendete den Schmerz aus, ebenso wie das protestierende Kreischen des SonJets, als er den Gashebel über die Sicherheitsgrenze hinaus aufriss. Da war es! Ein winziger roter Lichtblitz im Rückspiegel. Dreyfus hielt die Luft an. Eins, zwei … Er riss den Lenker herum und im selben Moment zischte etwas nur Millimeter entfernt an seinem Visier vorbei. Der Zapper zog eine schimmernde Spur hinter sich her, als die Monothread-Spule sich nutzlos in die Luft abspulte.
Er tauchte senkrecht ab, geradewegs durch den Gegenverkehr. Karbonkarossen stoben auseinander, wütendes Hupen dröhnte ihm hinterher. Er biss die Zähne zusammen, steuerte auf zwei Glastürme zu, auf das Gewirr von Fußgängerbrücken und schwebenden Einkaufsinseln dazwischen, suchte seinen Weg, ohne abzubremsen, strapazierte sein Glück, unterdrückte die Angst vor einer Kollision. Aber er machte sich keine Illusionen. So leicht ließen sich die Schweine nicht abschütteln. Er fühlte, wie das Aggregat unter ihm immer heißer wurde, wie die Knochen seiner Hände unter der pulsierenden Überlastwarnung des Gashebels vibrierten. Schwebende Plattformen, Frachtdrohnen, SkyCars und Reklametafeln sausten ihm entgegen und verschwammen vor seinem Blick. Glasklar dagegen die blauen Glyphen in seinem peripheren Gesichtsfeld, wo die Datenkolonnen eines Net-Crawlers durch die Sicht rollten. Immerhin schienen Triple C ihre Hausaufgaben gemacht zu haben. Sie versuchten erst gar nicht, drahtlos in sein System reinzukommen. Sonst hätte er den Spieß auch in Nullkommanichts umgedreht.
Er fühlte den Druck des kleinen Pakets unter seiner Jacke und grinste. Natürlich hatten sie versucht, ihn zu reinzulegen.
„Ein einzelnes altes Kristall-Laufwerk aus einem stillgelegten Datencenter. Kaum Security. Ein Spaziergang für einen Diver mit deiner Reputation …“
Sie hatten ihn unterschätzt. Natürlich. Ihre rückständigen Gehirne waren gar nicht in der Lage, die Welt zu erfassen, die ihm offenstand. Er hatte es sofort gespürt: Welche Daten er auch immer enthielt, der Speicher war … bedeutungsschwer war das richtige Wort. Sein Wert musste deutlich höher sein als das, was sie ihm geboten hatten. Die Wichser dachten, sie könnten ihn kontrollieren, obwohl er ihnen evolutionär weit voraus war. Überhebliche kleine Idioten.
Sein Abgang war keine schwere Entscheidung gewesen. Und er würde sich lohnen, wenn er das Überraschungsmoment nutzte, solange es noch auf seiner Seite war. Er gab dem Software-Rikker einen Gedankenbefehl und ließ ihn die Injektoren des Bikes noch weiter übertakten. Der SonJet heulte gequält auf, das Chassis erzitterte und unter ihm quoll Rauch aus dem Lüftungsgitter. Dreyfus schnaufte. Er hatte ein kleines Vermögen für das Bike bezahlt. Aber wenn er jetzt nicht schlappmachte, würde er sich um Geld keine Sorgen mehr machen müssen. Dann konnte er sich weitaus bessere Bikes leisten. Generell besseres Equipment. Und angenehmere Entspannung als die bei Takeshis Angels, wo er die Nasenfilter auf undurchlässig stellte und sich hinterher einem venerologischen Scan unterzog …
Eine Bewegung im Rückspiegel riss ihn aus den Gedanken. Sie hingen immer noch an ihm dran. Und sie waren viel zu nah! Er schlug Haken, ließ das Bike in unvorhersehbaren Intervallen hin- und her zucken, doch die Drohnen schossen durch den dichten Verkehr, als gäbe es keine Hindernisse. Sie schlossen immer mehr auf und ließen sich durch keines seiner Kunststücke abschütteln. Dreyfus pulste den Rikker auf 200 Prozent. Sein Kopf wurde nach hinten geschleudert. Die Gelenke seines Corax-Arms knackten gefährlich, aber die kleinen, schwarzen Kugeln im Rückspiegel wurden trotzdem unerbittlich größer.
Dreyfus fluchte. Hinter seiner Stirn kribbelte eine Eingebung. Er wusste, was er tun konnte, und auch wenn es ihm nicht gefiel, seine besonderen Fähigkeiten auf diese Weise einzusetzen, war es eine Chance. Ohne einen weiteren Gedanken schaltete er den SonJet einfach aus. Das Bike sackte weg, die Flugbahn verwandelte sich in eine steile Kurve und er fiel vom Himmel wie ein Stein. Zweihundert Meter, dreihundert Meter, schwer und schwerelos zugleich. Das Kreischen des Aggregats war verstummt, nur der Wind pfiff um seinen Helm und fegte Nebeltröpfchen über das Visier. Er kam ins Trudeln, starrte dem Erdboden entgegen, der auf ihn zuraste, näher und näher, bis er Einzelheiten erkennen konnte.
Menschen, Gesichter, aufgerissene Augen. Plötzlich zuckte seine Hand, das Aggregat fauchte und der SonJet erwachte donnernd wieder zum Leben. Wie im Traum fing Dreyfus den Absturz mit einem halben Looping und einer Rolle ab und jagte in eine schmale Straße, durch ein Gewirr aus Drähten und Kabeln, Lampions und nasser Wäsche, die ihm die Sicht nahmen.
Dreyfus knirschte mit den Zähnen, ließ seinen Instinkten freien Lauf und nahm wahr, wie er sich hindurch fädelte. Er kämpfte damit, nicht nach der Kontrolle zu greifen. Dies war nicht die digitale Welt. Er war in physischer Gefahr. Eine falsche Bewegung, und er würde sich in einem der Hindernisse verheddern und einfach sterben, innerhalb eines Wimpernschlags.
Die Wände der Gasse rasten vorbei. Er konnte nicht genug sehen und wusste nicht mehr genau, in welche Richtung er unterwegs war. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Dreyfus wartete eine Lücke ab, dann riss er den Lenker an sich und stieg senkrecht nach oben, hinaus aus der Gasse, zurück ins Getümmel der SkyCars. Dort atmete er unwillkürlich auf.
Der erste Zapper schoss unter ihm hindurch. Dann ging eine Erschütterung durch das Bike. Der SonJet stotterte. Der zweite Zapper war direkt vor dem kleinen Windschild aufgeschlagen. Das SkyBike zuckte, überschlug sich und bremste ab, ohne auf seine Steuerung zu reagieren. Schließlich stand er reglos in der Luft. Kopfüber. Dreyfus konnte das Hochfrequenzfeld beinahe spüren, dass der Zapper auf das Chassis übertrug. Er wollte nach dem Monothread greifen und das Scheißteil einfach abreißen, aber schon knallte es ein zweites und drittes Mal. Seine Displays wurden schwarz.
Dreyfus verdrehte den Kopf und blickte in einen Abgrund aus spiegelnden Häuserwänden. Eine künstliche Stimme hallte durch die Zapperdrähte.
„Halten Sie sich zur Festnahme bereit!”
Die Drohnen bildeten ein gleichmäßiges Dreieck um ihn. Sie hielten das SkyBike vorsichtig in ihrer Mitte. Miniatur-Plasmawaffen folgten jeder Bewegung seines Kopfes.
„Transport angefordert!”
Die Drohnen feuerten nicht. Wenn Dreyfus versucht hätte, einen der Zapper zu lösen, hätten sie ihm vielleicht die Hand weggebrannt. Aber solange er sich ruhig verhielt, würden sie das empfindliche Diebesgut, dass er mit sich führte, nicht gefährden. Von unten kam etwas Großes auf sie zu. Ein kreisförmiger Korpus, der von wie angeklebt wirkenden Hochleistungs-SonJets an den Seiten gehalten wurde. In der Mitte spannte sich ein Kevlarnetz. Dreyfus zwang sich zur Ruhe. Sein Crawler arbeitete noch immer ununterbrochen, zeigte ein unüberschaubares Durcheinander von codierten Netzwerken. Kryptische Adressen, ohne Hinweis auf Ursprung oder Art der Daten. Dreyfus schloss die Augen. Dann atmete er langsam aus und ließ die Gedanken treiben. Die physische Welt war nicht mehr wichtig. Dort hatte er verloren. Aber er kannte eine andere Welt. Die Datenkolonnen zogen vorüber, bedeutungsvolle Symbole, wie Zaubersprüche in einer fremden Sprache. Dreyfus dehnte sein Bewusstsein aus, vergaß alles um sich herum. Vergaß die Gefahr, vergaß den Ort, an dem er sich befand, vergaß für einen Moment, wer er war.
Der Crawler fütterte Codes in ein ganz bestimmtes Netzwerk. Der Datenstrom kam direkt aus seinem Broca-Scanner. Ohne dass sie Dreyfus bewusstwurden, erzeugte sein Sprachzentrum Zeichenfolgen, scheinbar ohne Sinn. Wie bei jemandem, der im Schlaf spricht oder in Zungen redet. Doch dies war alles andere als Unsinn. Dreyfus ließ es geschehen. Nicht bewusst eingreifen, einfach fühlen … Das Netzwerk hob sich langsam von den anderen ab. Gewann immer mehr an Bedeutung, an Struktur. Es wurde geradezu greifbar. Was mochte es sein? Dreyfus bändigte seine Neugier.
Jetzt hieß es, alles Bewusste loszulassen. Er trieb im Datenrauschen, empfand Farben und Formen, Strukturen. Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten, Chancen. Leben und Tod. Dreyfus versuchte nicht, zu verstehen. Es war einfacher, den Wahrscheinlichkeitsraum nach Gefühl zu navigieren. Das Netzwerk war heller als der restliche Daten-Ozean, es fühlte sich … leichter an. Es verhieß Leben.
Dreyfus ließ sein Bewusstsein von diesem Gefühl durchströmen, es zum Ausdruck eines neuen Sinnesorgans werden. Es war mehr als nur reiner Instinkt. Er kannte diesen Modus nur zu gut. Das war es, was ihn und andere Diver von den normalen Menschen unterschied. Dreyfus tauchte im SYNC.
Der Broca-Scanner beendete sein Flüstern, und der Crawler zeigte einen bestätigten Zugriff. Sonst nichts. Dreyfus trieb im Datenmeer, und genoss, wie sein siebter Sinn ihn durchdrang, die angenehme Anspannung, die sich durch seinen Schädel und seinen ganzen Körper zog. Er wusste, dass jeder Tauchgang für das Gehirn äußerst anstrengend war. Die Gefahr auszubrennen, stieg mit jeder Sekunde, aber er wollte nicht auftauchen. Es war berauschend … Er dachte an den Code. Was hatte er bewirkt? Er öffnete die Augen.
Urplötzlich tauchte ein riesiger Schatten über ihm auf. Erst begriff er nicht, was ihm entgegenstürzte. Bunte Lichter zuckten über eine riesige, mattschwarze Fläche. Dann wurde er in die Tiefe gerissen. Aus den Drohnen dröhnten Alarmsirenen, neue Zapper zischten unkoordiniert in alle Richtungen. Die Monothreads wickelten sich um die stürzende Reklametafel, verwandelten die Drohnen in hilflos umherschleudernde Gewichte. Dreyfus erhob sich über das Windschild, griff nach vorne und riss den ersten Zapper ab. Dann langte er nach hinten, zerrte an dem zweiten Thread und spürte, wie er sich mit einem klebrigen Schmatzen löste. Das SkyBike schwang herum, und er wurde mit voller Wucht gegen die Seite der Reklametafel geschleudert. Glas- und Plastikscherben flogen umher. An den dritten Zapper kam er nicht heran. Er wollte sich ausstrecken, aber die Bionikhaut seines Anzugs hielt ihn fest im Sattel. Mit einem ohrenbetäubenden Donnern traf die Reklametafel auf die aufsteigende Lastendrohne. Das Bike schwang am verbliebenen Thread wie eine Abrissbirne herum und wieder hinauf. Auf seinem höchsten Punkt brach das Verkleidungsteil, an dem der dritte Zapper hing, ab. Dreyfus war frei. Er startete das System neu und das stürzende SkyBike stellte sich augenblicklich auf. Die Tafel und das Knäuel aus gefesselten Drohnen stürzten dem Abgrund entgegen.
Er schwenkte in Richtung Hafen und gab Vollgas. Als er an den niedrigen Gebäuden der Hafenanlagen vorbei- und der riesigen Kaimauer entgegen raste und schon wieder das Dröhnen der Drohnen-SonJets hörte, wurde der Schmerz zu viel für ihn. Sein Schädel brauchte dringend eine Pause. Ein seltsames Kribbeln in seinem Rücken – Dreyfus ließ das Bike absacken und entging dem Zapper, der Sekundenbruchteile später an derselben Stelle durch die Luft fauchte. Er sank zwischen die flachen Gebäude, konzentrierte sich aufs Äußerste, aber die Welt raste an ihm vorbei und verschwamm vor seinen Augen. Die Farben verblassten, seine Hände wurden kalt. Er kannte die Stufen des SYNC-Burnout: Hypoglykämie, Zittern, Herzrasen, Übelkeit. Dann das Absterben von Nerven, von außen nach innen, gefolgt von Ohnmacht, Koma, Tod. Er hätte nicht tauchen sollen. Die SonJets dröhnten dumpf und verzerrt, wie unter Wasser, er konnte nicht sagen, ob von nah oder fern. Vor Dreyfus tat sich ein dunkler Tunnel auf. Wabernde Schatten strömten hinein und heraus. Er zögerte nicht. Der Tunnel verschluckte ihn. Nebelhafte Umrisse von Menschen. Eine Fußgängerpassage. Dreyfus krallte seine Hand um die Bremse. Verschwommene Flecken schossen an ihm vorbei, schwarze Balken, Fußgängerschranken. Das dumpfe Fauchen von Tazerwaffen, geschriene Befehle wie von fern. Der Rumpf des SkyBikes ruckte unter einer Reihe von dumpfen Aufschlägen. Schatten sprangen beiseite oder wurden weggeschleudert. Er ließ alles geschehen, unfähig, etwas anderes zu tun, als sich an der Bremse festzuklammern. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Trish hatte am Vorabend zwei Trigger und eine halbe Plume genommen und ihre Adern glühten noch immer angenehm nach. Ihre Muskeln zuckten leicht, erinnerten sich an den Beat der Hydraulic Blood Pumps. Geiler Scheiß. Keine generierte Musik, kein steriler Algorithmus, sondern eine echte Band aus Menschen, die man sehen, riechen und anfassen konnte. Sie hatten sogar Flyer aus Papier.
Das traf genau Trishs Geschmack. Stilecht, hyperreal. An jedem anderen Tag wäre sie noch länger im *HAZE* geblieben, aber sie war echt spät dran, und sie hatte noch nicht einmal ein Geschenk.
Trish schlürfte appetitlos ihr pseudo-Kaeng-Phet aus der Pappschale und beobachtete das Konsumvieh, das an ihr vorüberzog.
Konami-Boots "Anthrazit", ca. 40 YIT
Ziemlich cool, sogar seine Größe. Aber irgendwie … pieksig. Lieber nicht. Normalerweise schenkten sie sich sowieso nichts, aber es war ein runder Geburtstag.
Eine RayBen! Und der Typ sah nicht besonders vorsichtig aus …
RayBen-Immersion, ca. 120 YIT
Der Preis leuchtete im Fenster der Appraise-App auf, das ihre IOs in den unteren Rand ihres Sichtfeldes projizierten. In diesem Teil der Stadt ließ sie sie ununterbrochen laufen. Die Brille wär echt was gewesen, hätte Zac die passenden Handschuhe nicht erst vor ’ner Woche an Zooms vertickt. Außerdem wirkte sie bei näherer Betrachtung ganz schön rau, beinahe scharf … Trish schüttelte sich und schlenderte weiter. Sie hatte gelernt, ihrer Synästhesie zu vertrauen, was so etwas anging. Das Plume verstärkte diese seltsame Fähigkeit noch, auch wenn es jetzt, wo sie widerwillig ihren Magen füllte, immer mehr nachließ. Da! Wie wär’s mit der Tasche dieser kleinen Bürotussi?
Haleph-Simba mit integriertem Zapper, ca. 80 / 90 YIT
Die war ganz kühl, ein Kinderspiel. Andererseits … Zac ’ne Damen-Handtasche zu schenken kam schon irgendwie schräg. Trish zuckte mit den Schultern und ging weiter. Normalerweise konnte sie sich auf ihren Instinkt verlassen, wenn sie Looten ging. Aber das Geschenk war ja nicht für sie selbst. Was ihr gefiel, musste noch lange nicht das richtige für Zac sein. Eigentlich wünschte er sich immer bloß irgendwas, dass sich leicht verticken ließ. Da war er wahnsinnig eindimensional. Aber sie nicht. Sie wollte etwas Passendes, wenn sie schon zu spät kam.
Trish schob sich langsam weiter den lärmenden Boulevard entlang. Aus einem Taxi dröhnte schmieriger Slow-Jazz. Aus der anderen Richtung spülten Slicetunes auf die Straße. Psychedelische Melodien und abgehackte Beats, zu denen man nur auf Whistle tanzen konnte. Das war eher etwas für Trish, aber nüchtern war es schwer zu ertragen. Verzerrte Hare Krishnas sangen gegen den Muezzin aus der patrouillierenden Al-Aragafi Drohne an, aber beide gingen unter im Gebrüll aus den Megafonen der Crusaders of Kong, die aus einer Seitenstraße marschiert kamen. Die Crusaders hatten sich nach der vor dem Nanokrieg wiedereingegliederten Hong Kong Zone benannt und forderten die Neuerrichtung einer Zentralregierung. Ein verschwitzter Mitdreißiger im Anzug hatte eine Viertelstunde lang versucht, die Audioanlage des *HAZE* zu überbrüllen, um ihr das zu erklären. Er hatte ihr zwei Drinks bezahlt, aber ansonsten nur viel zu viel gelabert. Warum ausgerechnet fundamentalistische Christen nach einem System gierten, dass Religion in jeder Form unterdrückt hatte, überstieg Trishs Vorstellungsvermögen.
Sie fädelte sich zwischen den Fußgängerverkehr und wechselte die Straßenseite, vorbei an Lohnsklaven in nebelfeuchten Plastikjacken, SecDrohnen, Gangstern mit gestaltverschleiernder Wobbly-Camo und im Schneckentempo dahin kriechenden Lastwagen, grell bunten Schaufenstern und wandelnden Werbeflächen. Im Display hinter den animatronischen Mannequins [INFINite-ExTATiC ultra-slim Lumikini!!!] spülten virtuelle Wellen unter einer virtuellen Sonne an einen virtuellen Strand. [SUBMERGE! NewNewNew!]
Im nächsten Moment verwandelte sich die Szenerie in eine tropische Unterwasserwelt, die Trish sofort an Dr. Jelly, die Mathe-Qualle denken ließ. Sie lächelte. Unter Wasser war es immer friedlich. Und ruhig. Und kühl. So hatte sie es sich jedenfalls immer vorgestellt. Wunderschön. Ob es einen solchen Ort wirklich irgendwo gab? Oder jemals gegeben hatte?
Ihr Blick fiel auf ihre eigene Reflektion in der Schaufensterscheibe, und ihr Lächeln verblasste. Da stand jemand, der in der Masse unterging. Eine Person, auf die nie jemand achtete – und das war gut so. Die übergroße Blast! - Jacke verschleierte ihre Konturen und mit den bunten Haaren und dem wilden Holo-Makeup war es schwierig, ihr wahres Aussehen zu erfassen. Was ja auch der Sinn war. Nur sehr wenige Menschen wussten, was sich unter der Maske verbarg. Trish rief mit einem Zwinkern ihre PVI- Seite auf. Das Logo verdeckte die Sicht auf das Schaufenster, während ihre IOs die Realität ausblendeten. „Private Virtual Infrastructure – a place of your own.” Sie öffnete einen Link auf der Startseite, der sie zu ihrem Dating-Profil brachte. Auch hier bekam niemand ihr echtes Gesicht zu sehen. Sie hatte keine Ahnung, wie privat die Seite wirklich war. Bisher hatte sie keinen Ärger gehabt, aber warum sollte sie etwas riskieren? Ihr Quarreen-generierter Avatar sah ihr ähnlich genug. Vielleicht etwas hübscher. Sauberer auf jeden Fall. Weniger Narben.
Sie scrollte durch die neuen Nachrichten, überflog ein paar der üblichen Anmachsprüche, löschte die, die ihr gruselig vorkamen und die, die so aussahen, als ob die Typen hinterher noch stundenlang reden wollten. Dann sah sie sich noch einmal ihren Avatar an. Sie zuckte mit den Schultern. Realistisch genug. Beschwert hatte sich jedenfalls noch keiner.
Zac hielt das Ganze für reine Zeitverschwendung und gefährlich noch dazu. Vielleicht war es das auch. Aber das gehörte dazu, wenn man sich ab und zu lebendig fühlen wollte. Außerdem machte es ihr Spaß, ihn zu ärgern. Trish schloss die Seite, drehte sich um und - blieb stehen. Direkt vor ihrer Nase schwebte ein kleines Licht. Sie blinzelte.
Sie wurden Wisps genannt oder Ying oder AGUs, das bedeutete alles dasselbe. Irrlichter. Aus solcher Nähe hatte sie noch nie eins gesehen. Normalerweise schwebten sie ein, zwei Meter über den Köpfen der Leute. Trieben hin und her wie verglühende Plastikschnipsel über einer Feuertonne. Trish wollte es beiseite wedeln und weitergehen, aber etwas hielt sie zurück. Sie sah genauer hin. Aus der Nähe betrachtet leuchtete es nicht gleichmäßig, sondern flimmerte ganz leicht. Trish streckte vorsichtig ihre Hand danach aus.
Das Irrlicht stieg sofort ein paar Zentimeter in die Luft. Trish griff danach, aber es wich zur Seite aus. Seltsam. Sie versuchte es noch einmal, aber das Licht schwirrte auf die andere Seite. Trish schnaufte. Sie hatte nicht gewusst, dass die Dinger intelligenter waren als freischwebendes Konfetti. Dabei mochte sie die kleinen Leuchtdinger schon immer, auch wenn der Hype darum längst verflogen war. Sie erinnerte sich, wie im ersten Jahr noch alle darüber gerätselt hatten, wo sie hergekommen waren, wer sie herstellte und warum. Das Mysterium wurde gelobt und die Art, wie sie sich angeblich jeglichem reverse engineering entzogen, indem sie sich bei jeder noch so vorsichtigen Berührung oder jedem Scan einfach verflüssigten. Sie hätten alles sein können. Kunst, ein politisches Statement, Werbung … Aber die Monate vergingen, ohne dass sich ein Künstler zu Wort gemeldet hatte oder ein Business etwas verkaufen wollte. Im zweiten Jahr interessierte sich kaum noch jemand dafür. Trish mochte den Gedanken, dass sie einfach nur dazu da waren, die Menschen abzulenken. Sie aus der ewigen Tristesse zu reißen, und sei es nur für einen Augenblick. Inzwischen hatten sie ihre Magie verloren. Die Leute hoben nicht einmal mehr den Kopf. Höchstens meckerten sie über die Flecken auf dem Lack ihrer SkyCars.
Trish schaute sich um. Musste ja ziemlich bescheuert aussehen, wie sie so dastand und in der Luft rumfuchtelte. Aber die Menschen zogen ihrer Wege, ohne den Blick zu heben. In Xinjia II war man selbst in der größten Menschenmenge immer allein. Sie wandte sich wieder dem Irrlicht zu und stellte erstaunt fest, dass es sich auf dem Rücken ihrer ausgestreckten Hand niedergelassen hatte. Trish zog sie langsam zurück und hob sie nah an ihr Gesicht.
Das Irrlicht ähnelte einem durchsichtigen Insekt, zierlicher als der Nagel ihres kleinen Fingers. Wie ein Thopter auf dem Landefeld saß das winzige Ding zwischen den hellblau glimmenden Bedien-Tattoos ihres Media Players. Das Leuchten war etwas schwächer geworden, und Trish konnte erkennen, dass es Miniatur-Flügel hatte, die träge auf und zu klappten. Da spürte sie, dass es weich war. Weich und kühl, geradezu seidig.
War das Irrlicht … lebendig?
Eine seltsame Erregung überkam Trish. Vielleicht war es nur das Plume in ihrem Blut, aber was auch immer das für ein Ding sein mochte, es gab hunderte, tausende davon in der Stadt! Sie wollte ein paar davon fangen. Sie wollte sie fangen und Zac schenken. Scheiß’ auf den Marktwert. Er war immer so griesgrämig und wenn er sich davon nicht aufheitern ließ, dann wusste sie auch nicht. Sie hob die andere Hand und schloss sie vorsichtig um das Irrlicht.
Trish sah nach oben. Ein paar weitere drifteten zwischen den allgegenwärtigen Lampions dahin, ohne von der leichten Brise beeinträchtigt zu werden, die die roten Papierkugeln zum Schwingen brachte. Zwei schwebten in einiger Entfernung, in der Nähe eines Müllcontainers. Trish schob sich durch die Menschenmenge, bedacht darauf, die Leuchtpunkte nicht aus den Augen zu verlieren. Außerdem brauchte sie etwas, worin sie die Irrlichter aufbewahren konnte. Ein schneller Blick ins Innere des Containers genügte. Ganz oben auf dem Berg aus Einkaufstüten und Cigliq-Kapseln lag eine runde Plastdose, die einigermaßen sauber aussah.
Trish ließ ihren kleinen Freund in die Öffnung flattern und bog schnell den Deckel hinunter. Dann stieg sie auf den Blechkasten und streckte sich nach den anderen Leuchtinsekten aus. Sie wichen wieder aus, also hielt Trish die Hand ganz ruhig und wartete. Nach einer Weile setzen sie sich auf ihre Finger. Faszinierend. Trish zog die Hand langsam zurück und hielt den Behälter bereit. Geschafft. Das war viel einfacher, als sie erwartet hatte. Drei Irrlichter saßen am Boden der Dose und tauchten das Innere in ein bernsteinfarbenes Licht. Sie machten keine Anstalten, ihr Gefängnis zu verlassen. Trish drückte den Deckel wieder zu. Sie hoffte, dass die kleinen Dinger da drin lange genug überlebten, bis sie etwas Besseres gefunden hatte.
Trish grinste. Sie wanderte den ganzen Abend durch die Straßen, immer weiter und weiter. Sie kletterte auf Absperrungen, auf Zäune und das eine oder andere Fahrzeug und lockte ein Tierchen nach dem anderen in ihre Plastdose. Das ganze Behältnis schimmerte vor seidiger, zarter Kühle. Trish kam in regelrechte Hochstimmung. Als es dunkel wurde, waren es schon über hundert. Es ging so einfach und machte so einen Spaß! Sie stieg auf eine Mülltonne, kletterte einen Drahtzaun hinauf und streckte ihre Hand nach einer Gruppe von drei Irrlichtern aus. Der Zaun gab nach und Trish rutschte ab. Sie fiel auf die andere Seite, fiel immer tiefer, rollte einen Abhang herunter, fing sich, stand auf, stolperte zwei Schritte zurück, blieb mit dem Fuß hängen, kippte hinten über und knallte hart auf den Boden. Die Dose mit den Irrlichtern flog in hohem Bogen durch die Luft und landete irgendwo weit weg in der Dunkelheit. Trish kniff die Augen vor Schmerz zusammen und zog die Beine an. Dann erst hörte sie die Stimmen.
Dreyfus schlang die Arme um sich, rang um Luft wie ein Ertrinkender. Sein donnerndes Herz wollte sich einfach nicht beruhigen. Er öffnete sein Visier und sah durch trübe Schlieren auf eine Schneise der Verwüstung. Rennende Menschen, Glas, Metall, Plastikfetzen. Verkrümmte Gestalten krochen in Panik weg, einige lagen still. Hilfeschreie, knirschende Elektronik. Das Chaos war perfekt, doch noch war niemand auf die Idee gekommen, Alarm zu schlagen. Von den Drohnen war nichts zu sehen.
Er tastete mit zitternden Fingern nach dem Injektor in seiner Schenkeltasche und drückte den mickrigen Rest Glucoselösung, der vom letzten Tauchgang übriggeblieben war, in seinen Unterarm. Das Gerät zischte, seine Sicht klärte sich und das Ziehen hinter der Stirn ließ langsam nach. Aber nun drang der Schmerz in seinem Oberschenkel zu ihm durch. Er fühlte nach, und zog die Hand schnell wieder zurück. Blut. Dreyfus kramte in seiner Tasche und fand eine Ampulle L-Doc. Er stach sie neben die Wunde und der Schmerz wich einer angenehmen Taubheit. Bald würde er sich darum kümmern müssen. Aber jetzt nicht. Dreyfus zog seine Beute hervor. Er musste dringend einen anderen Behälter für den zerbrechlichen Inhalt finden. Der Crackstick war noch an seinem Platz, aber er drückte das Klebeband trotzdem noch mal fest und ließ den Daumen über die Kondensatorkaskade gleiten. Wenn das Teil zwischendurch losging …
Sirenen heulten durch die Passage. Dreyfus’ Kopf fuhr hoch. Aus zwei Richtungen blitzen Blaulichter. Zwischen Trauben aus verängstigten Passanten und Schaulustigen blitzten die Silhouetten von Sicherheits-Exoskeletten auf wie Karbon-Gottesanbeterinnen. Er stopfte den Container zurück in seine Jacke und startete das Bike, auf dem seine bionische Kluft ihn noch immer festklebte. Nicht einmal der Aufprall hatte ihn ablösen können.
Der SonJet erwachte kreischend zum Leben und erhob sich schwankend vom Boden. Er wählte zufällig eine Richtung und schlüpfte zwischen taumelnden Menschen hindurch auf etwas zu, dass wie eine Reihe von Rolltreppen aussah. Fußgänger hechteten schreiend beiseite, als er über ihre Köpfe hinweg direkt in eine der Röhren und den Schacht hinunterschoss. Das Dröhnen des SonJets hallte ohrenbetäubend von den Metallwänden wider. Dreyfus knirschte mit den Zähnen.
Unten stand bereits ein Exo und riss sein Kombigewehr hoch. Dreyfus duckte sich hinter den Windschild und gab Gas. Der Aufprall war kurz und heftig, der Sicherheitsmann flog zur Seite, schlitterte über den Boden und knallte gegen einen Glaskasten mit Cigliq-Werbeholos, der unter dem Aufprall auseinanderplatzte und für zusätzliche Panik unter den fliehenden Menschen sorgte.
Jetzt hatten sie auch Dreyfus bemerkt und rannten kopflos durch die Halle. Händler zerrten mobile Fressstände weg, Alarmblitze spiegelten sich in den Scherben. Der Exo lag wie ein Käfer auf dem Rücken und zappelte laut schimpfend, um wieder auf die Beine zu kommen. Weitere Exo-Anzüge ratterten heran, brüllten Befehle stehenzubleiben in den sieben häufigsten Sprachen. Es knallte, und etwas zischte an Dreyfus vorbei. Er fuhr weiter zickzack, nutzte die rennenden Passanten als Deckung.
Am Ende der Passage stand ein Schild Richtung Pod-Tunnel. Noch mehr Treppenschächte. Dreyfus jagte hinab. Menschen stürzten über die Gummigeländer und schrien mit den Sirenen um die Wette. Unten am Bahnsteig drängten Leute den schmalen Gehweg entlang, kletterten über die Drahtgitter und übereinander. Dreyfus trieb sie vor sich her, direkt auf ein rot umrahmtes Rechteck zu, neben dem ein herrisch brüllender Oshiya die Menschen durch den Notausgang zerrte. Davor Betonpfeiler, kein Platz für das Bike. Dreyfus löste mit einem Griff an die Brust den klebrigen Anzug vom Sattel, sprang ab und stürzte auf den Ausgang zu. Die Tür schloss sich direkt vor seiner Nase mit einem satten Schmatzen. Dreyfus lief zurück, stieg wieder aufs Bike und wendete. Vor ihm war alles menschenleer. Ein Pod wartete geduldig in der Druckschleuse, doch sie würde sich nicht öffnen. Der Notausgang am anderen Ende war auch verriegelt. Dreyfus kam neben einem Getränkeautomaten zum Stehen. Sackgasse.
~
(:::)((:)(:))
KEINE PANIK – KEINE HOFFNUNG
~
Die Buchstaben tauchten ohne Vorwarnung auf und glommen rot vor seinen Augen. Dreyfus blinzelte. Dann griff er an seinen Hals und berührte den kleinen goldenen Würfel zwischen seinen Schlüsselbeinen. Die Schrift verblasste. Irgendetwas musste den das Teil aktiviert haben, sodass es einen Psalm des CODEs ausspuckte. Bullshit. Sie passten immer irgendwie, alle 3000. Trotzdem … Hoffnung war die Ausrede derer, die die Kontrolle gerne an andere abgaben.
Er fokussierte den Crawler. Zweihundert Netzwerke, etwa vierzig davon eindeutig PinShan, die Zugangsschlüssel wechselten mit hoher Frequenz. In einem davon lag der Zugang zu den Alarmprotokollen. Nur in welchem … Ein lauter Knall hallte vom Treppenabsatz und der Automat neben ihm verschwand in einem Netz aus feinen Drähten, die sich knisternd und Funken schlagend um das Gehäuse wickelten.
Dreyfus hatte keine Deckung. Links und rechts stählerne Wartebänke, fallen gelassene Taschen und zerknitterte Holofolien, sonst nichts. Durch die Druckschleuse sah er auf die vierzig abgewetzten Plastiksitzreihen des Pods.
„Keine Bewegung! Das war’s!”
Die verstärkte Stimme übertönte das Quäken der Sirenen. Exoschritte ratterten über den gefliesten Boden. Einer kam von der Rolltreppe, zwei aus den Notausgängen. In drei Sekunden war er umstellt. Dreyfus hob die Hände.
Ein vierter Mann trat hinzu. Er hob einen kleinen Signalgeber und das Heulen der Sirenen erstarb. Seine Kevlarweste spannte sich über einem unübersehbaren Wohlstandsbauch. Das und die zwei silbernen Streifen an seiner Brust wiesen ihn als Chief der Wache aus. Er kam vorsichtig auf Dreyfus zu, die Hände beschwichtigend erhoben.
„Bleiben sie ruhig! Wir werden nicht feuern! Verstehen sie mich?”
Argwohn kroch an Dreyfus Rücken hoch. Er nickte langsam. Versuchsweise wollte er die Arme wieder senken, aber ein Rucken der nächsten Kombiwaffe ließ ihn innehalten.
„Bleiben Sie so stehen, machen Sie keine plötzlichen Bewegungen und warten Sie auf den Unterhändler! Bitte!”
Der Chief trug einen gezwungen freundlichen Gesichtsausdruck zur Schau, aber seine Stirn glänzte. Dreyfus runzelte die Stirn.
„Unterhändler? Was soll …”
Der Chief schüttelte den Kopf.
„Ich bin nicht autorisiert, in Verhandlungsgespräche zu treten. Bitte warten sie!”
Dreyfus’ Herz hämmerte. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Verhandlungsgespräche?
Der Mann zu seiner Rechten hob seine Waffe ein paar Zentimeter. Sein Gesicht war von den Narben einer alten Brandwunde überzogen, die durch seine angespannte Grimasse nicht unbedingt hübscher wurden. Er mahlte mit den Kiefern, murmelte etwas, das Dreyfus nur teilweise verstand.
„Komm schon … versuch was …”
„Halten Sie sich zurück, Grunert!”
Der Chief warf dem Mann einen missbilligenden Blick zu. „Wir warten auf Ms. He!”
Dreyfus sah sich den Kerl genauer an. Der erwiderte den Blick mit kaltem Hass.
„Wir sollten das jetzt gleich erledigen, Chief. Bevor der Scratcher irgendwelche Scheiße probieren kann. Ich kenne dieses Pack, Sir, die …”
„Wir warten!”
Jetzt lag sogar so etwas wie Autorität in der Stimme des fetten Chiefs. Der Mann presste widerwillig die Lippen aufeinander. Ein kleines Tattoo an seiner Schläfe fiel Dreyfus ins Auge. Eine brennende Träne, eingebettet in das Rautenmuster eines einfachen Matrixcodes. Der Exo musterte Dreyfus mit unverhohlener Verachtung, während sie warteten. Dreyfus schluckte.
Scratcher. Der Ausdruck der braven Bürger für die Staubkinder aus dem Fringe. Mit denen hatte er schon lange nichts mehr zu tun gehabt, aber vielleicht war es inzwischen ein allgemeiner Begriff für Abschaum geworden. Das Vibrieren des YIT-Pack-Alarms in seinem Hüftknochen riss ihn aus seinen Gedanken. Sie versuchten, seine ID herauszufinden. Wie niedlich. Der Chief ratterte die Standardfloskel herunter.
„Ihnen wird nun einmalig Gelegenheit gegeben, etwaige automatische Maßnahmen zur Identitätsmaskierung zu unterbinden, ansonsten wird PinShan Inter-Transport ihnen eine vorübergehende Standardidentität zuweisen. Diese unterliegt in umfassendem Maße der Rechtsprechung der PinShan Industries-Bank.“ Er erwartete keine Antwort.
„Er soll den Helm abnehmen. Lassen Sie mich sein Gesicht sehen …“
„Still! Ich will nichts mehr hören!“
Die Augen des Chiefs funkelten den Exo böse an, der sich nur mühsam zusammenriss. Was war los mit dem Typen? Das musste die Nachtschicht der Freaks sein, die letzten Reste für PinShans Drecksarbeit. Dreyfus öffnete vorsichtig einen Kanal zum öffentlichen Netz. Dorthin hatte er sich schon ewig nicht mehr verirrt. Sein linkes Auge wurde dunkel, bereit, Werbung und Kommerz wiederzugeben. Er gab den Matrixcode des Tattoos ein und landete prompt auf der Propagandaplattform einer Gruppe von „Überlebenden“: Flammen und Musik, digitale Gedenksteine. Dreyfus überflog die Informationen. Überlebende von Oxyd Ost … SecTex Einheit kommt in Scratcherfalle um … ein See aus Kerosin … 40 Mann ersoffen UND verbrannt … Dreyfus hörte die Hymne der Überlebenden. Kitschiger arabischer Scheiß.
Wie viele Menschen hatte der Mann wohl sterben sehen? Er sah ihn an. Paranoia und Hypervigilanz – Nebenwirkungen vom eigenmächtigen Absetzen biochemischer Traumatherapie. Er wollte wohl nicht vergessen … Dreyfus überlegte. Der Kerl war ein instabiler Faktor, ein Joker, den er nutzen musste. Er konnte die Hymne auf den Audiokanal des Helms legen. Der war nach innen gerichtet, aber unter der Hörschwelle würde die Musik beim Exo ankommen und ihn hoffentlich langsam über den Rand schieben. Und dann? Dreyfus Gedanken drehten sich im Kreis. Was sollte er dann tun?
Ein sirrendes Geräusch ertönte hinter dem Chief, der sichtlich erleichtert aufatmete. Dann schwebte über seiner Schulter eine knallrosa Kugel mit weißem Kirschblüten-Dekor in Dreyfus’ Sichtfeld. Die Drohne schwenkte und drehte ihm ein großes Display zu. Das Bild flackerte. Das Logo von PinShan Inter-Transport, dann das Gesicht einer blassen Chinesin in einem schicken, aber förmlichen Outfit. Sehr hübsch. Irgendwie vertraut. Ein freundliches Lächeln, eine höfliche Verbeugung. An ihrer linken Schläfe der kleine silberne Knopf eines CC-Implantats. Die ganze Erscheinung strahlte Vertrauenswürdigkeit und Professionalität aus. Er brauchte nicht auf die Analyse der ETT-App in seinen IOs zu warten, um zu sehen, dass sie kein Mensch, sondern nur eine Quarreen war.
„Guten Tag! Schön, dass wir miteinander reden. Ich verstehe den Ernst Ihrer Lage. Aber ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Mein Name ist He Mu-Tan. Ich fungiere als rechtliche Vertretung von PinShan Inter-Transport und möchte mit Ihnen gemeinsam eine Lösung finden, um diese Situation für alle zu einem gütlichen Ende zu führen. Haben Sie das verstanden?“
Die Stimme war glockenrein synthetisiert und schwang derart vor Empathie und Verständnis, das Dreyfus beinahe losgelacht hätte. Wahrscheinlich lagen beruhigende Binaural-Frequenzen darin. Simultanübersetzungen in verschiedenen Sprachen scrollten am unteren Bildschirmrand entlang.
Dreyfus nickte. „Na, da bin ich ja mal gespannt.“
Was auch immer sie vorhatten, er musste hier raus. Von der Glukose war nichts mehr übrig, aber wenn er es nicht versuchte, würden sie ihn hinter der nächsten Ecke abknallen. Er ließ sich vom Rhythmus der Überlebenden-Musik in seinem Helm einlullen, ließ los und sank tiefer, ignorierte das leichte Zupfen am Rande seiner Wahrnehmung, das Ziehen in seiner Magengegend. Er betrachtete die vorbeihuschenden Glyphen im Crawler. Die Netzwerke wurden spürbar. Greifbar.
„Lassen Sie uns damit beginnen, dass wir aufhören, einander zu bedrohen, ja? Wenn es Ihnen recht ist, werden wir damit anfangen. Chief?“ Eine Stimme wie flüssiger Honig. Der Chief gab seinen Männern ein Handzeichen, und die Mündungen der Kombiwaffen senkten sich in Richtung Boden. Dreyfus runzelte die Stirn. Jetzt nicht ablenken lassen. „Sehen Sie? Wir möchten verhindern, dass jemand zu Schaden kommt.“
Dreyfus zuckte mit den Schultern. Er tauchte. Sein Geist berührte die Netzwerke, fühlte nach Textur, Form, Farbe. Jedes war umgeben von einer glasharten Schicht. Das war etwas anderes als das Interface dieser Werbetafel. Sein Atem ging schneller. Aus dem Zupfen wurde ein Pochen in seiner Brust. Er konnte einen Zugriff versuchen, aber wenn er das falsche erwischte, bekam er vielleicht bloß Zugang zu den Verkehrsleitsignalen oder der Eingangskontrolle.
Kalter Schweiß lief über seinen Rücken. Die Künstliche Intelligenz lächelte. Ihr Gesicht kam Dreyfus noch bekannter vor als eben. Das Scheißding passte sich in Echtzeit seinen unterbewussten Reaktionen an – obwohl er den Helm noch trug. Im Crawler erkannte er den Stream, der von der Drohne ausging. Hochauflösende Echtzeitübertragung, dicht verschlüsselt. Geradezu gruselig, wie viele Informationen sein Körper preisgab.
Er dachte an die Meditationen aus dem CODE, die so etwas verhindern sollten. Deniz Cholags Werk enthielt zig-verschiedene. Das Traktat des Fleisches, den Hypertresor …
Dreyfus konnte sich nicht erinnern. Diesen Teil des CODEs hatte er immer nur überflogen. Meditation war nicht sein Ding. Seine Hände zitterten. Nein … ruhig bleiben, nicht aufregen …
„Damit wir uns in einer Atmosphäre von Respekt und Höflichkeit begegnen können, möchte ich Sie um etwas bitten. Sie fühlen sich in Ihrer unglücklichen Lage gezwungen, verzweifelte Maßnahmen anzuwenden. Wir verstehen das.
Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass es nicht nötig sein wird, davon Gebrauch zu machen. Vertrauen Sie mir! Wenn wir kooperieren, können wir gemeinsam eine friedliche und zufriedenstellende Lösung erreichen. Ich möchte Sie daher bitten, Ihren Sprengsatz zu deaktivieren.“
Dreyfus schwankte. Was zur Hölle? Er verlor das SYNC. Die Netzwerke verblassten. Er ließ los, spürte nach dem Schimmer … sein Herz hämmerte, seine Hände waren eiskalt. Er gab auf. Scheiße. Es überraschte ihn, dass er seine Arme immer noch erhoben hielt. Er musste mitspielen.
„Und was, wenn ich es nicht tue?“
Das Gesicht der Unterhändlerin zeigte nicht das geringste Anzeichen von Enttäuschung. „Bedenken Sie bitte, dass die Evakuierung abgeschlossen ist. Die Röhren des Pod-Systems sind durch eine Panzerung der Stufe E98 gegen Beschädigungen geschützt. Sie würden nur sich selbst schaden!“
Dreyfus schüttelte den Kopf. In seinen Ohren rauschte das Blut. Der dumpfe Rhythmus der arabesken Überlebendenhymne waberte und erstarb, dann begann sie von neuem. Warum hörte er solch seltsame Musik? Dreyfus fixierte die Drohne. Was hatte sie gesagt? Ach, ja …
„Bullshit! Ziehen Sie die Wachen ab! Sie sollen verschwinden!“
Es war einen Versuch wert. Natürlich stiegen sie nicht darauf ein.
„Ich bin leider an meine Vorschriften gebunden. Aber sehen Sie, was wir Ihnen bieten! Wir sind keine Unmenschen. Wenn Sie kooperieren, erhalten Sie Gelegenheit, den verursachten Schaden in zivilisierter Weise zu begleichen. Sie haben uns auf eine Sicherheitslücke in unserem System aufmerksam gemacht. Eventuell könnten wir Ihnen rückwirkend eine Stelle als Penetrations-Tester anbieten.“
Dreyfus musste grinsen, auch wenn hinter seiner Stirn ein heftiges Ziehen begann. Sie würden ihn nackt durch den Messertanz schicken … Seine Arme kribbelten. Bleierne Müdigkeit kroch an ihm hoch.
„Das klingt wie ’n Haufen Scheiße!“
„Ich verstehe, dass Sie misstrauisch sind, aber ich kann Ihnen sagen, dass das ein überaus gutes Angebot ist! PinShan Inter-Transport ist befugt, Sie für sämtlichen Schäden an Material, Personal, Immobilien, Reputation und Image der Gesellschaft zur Rechenschaft zu ziehen. Von Rechtswegen ist Ihr Fall als Akt des Terrorismus zu ahnden, nach Paragraf 6857.88 A des Bahn-Sicherheitsgesetzes eine Todsünde Klasse P. Selbst falls Ihnen Ihr Leben als würdiger Einsatz erscheinen mag, bedenken Sie bitte, dass die Gesamtkosten gegebenenfalls nach Paragraf 443.90 D Nachlassverwaltungsvereinbarung aus Ihren persönlichen Besitztümern bezahlt würden.“
Die Unterhändlerin wirkte ehrlich besorgt. Ekelhaft. „Sollten diese Mittel nicht ausreichen, wäre die PinShan Inter-Transport dazu autorisiert, den Differenzbetrag bei Ihren nächsten Verwandten einzutreiben. Laut unserer Phänotyp-Analyse liegt Ihre Herkunft mit 98,2-prozentiger Wahrscheinlichkeit im östlichen Teil der verlassenen Randgebiete …“
Der Exo atmete scharf ein. Dreyfus sah ihm in die Augen. Er war zwar kein Scratcher, aber er war auf deren heutigem Gebiet geboren.
„… würde eine umfangreiche Untersuchung einleiten, um etwaige Verwandte ausfindig zu machen. Folgekosten für DNA Abgleiche etc. würden ebenso umgelegt …“