IRRLICHT 1: Absturz - Hendrik Thomsen - E-Book

IRRLICHT 1: Absturz E-Book

Hendrik Thomsen

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Beschreibung

"Du bist Material. Eine Ressource – jedenfalls Teile von dir. Also stell dich nicht so an. Dein Leben war nicht völlig sinnlos." Trish ist nur eine Orph, ein Niemand auf den Straßen von Xinjia II – daran werden die bescheuerten Pläne ihres Bruders ebensowenig ändern wie die illegalen Stims oder die One-Night-Stands, über die er sich so aufregt. Als sie in einem künstlichen Irrlicht einen Hauch von Leben spürt, wird sie aus der Belanglosigkeit ihres Daseins gerissen – doch ihre Traumtänzerei wird bald zum Alptraum: Ein wertvoller Speicherkern, skrupellose SYNC-Hacker und eine Selbstmörderin mit vertrautem Gesicht stellen alles in Frage, was Trish zu wissen glaubt. Jemand ist hinter ihr her, und sie ist nicht vorbereitet... IRRLICHT "Absturz" ist der Beginn einer spannungsgeladenen Cyberpunk Serie.

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Seitenzahl: 303

Veröffentlichungsjahr: 2025

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IRR­LICHT 1

(AB­STURZ//)

1 – Drey­fus –

Der Schweiß brann­te in Drey­fus’ Au­gen. Sei­ne Un­ter­li­der zuck­ten wild, aber er er­laub­te sich nicht, zu blin­zeln.

Er blen­de­te den Schmerz aus, eben­so wie das pro­tes­tie­ren­de Kreis­chen des Son­Jets, als er den Gas­he­bel über die Si­cher­heits­gren­ze hi­n­aus auf­riss. Da war es! Ein win­zi­ger ro­ter Licht­blitz im Rück­spie­gel. Drey­fus hielt die Luft an. Eins, zwei … Er riss den Len­ker he­r­um und im sel­ben Mo­ment zisch­te et­was nur Mil­li­me­ter ent­fernt an sei­nem Vi­sier vor­bei. Der Zap­per zog ei­ne schim­mern­de Spur hin­ter sich her, als die Monoth­read-Spu­le sich nutz­los in die Luft ab­spul­te.

Er tauch­te senk­recht ab, ge­ra­de­wegs durch den Ge­gen­ver­kehr. Karbon­ka­ros­sen sto­ben aus­ein­an­der, wü­ten­des Hu­pen dröhn­te ihm hin­ter­her. Er biss die Zäh­ne zu­sam­men, steu­er­te auf zwei Gla­stür­me zu, auf das Ge­wirr von Fuß­gän­ger­brücken und schwe­ben­den Ein­kaufs­in­seln da­zwi­schen, such­te sei­nen Weg, oh­ne ab­zu­brem­sen, stra­pa­zier­te sein Glück, un­ter­drück­te die Angst vor ei­ner Kol­li­si­on. Aber er mach­te sich kei­ne Il­lu­sio­nen. So leicht lie­ßen sich die Schwei­ne nicht ab­schüt­teln. Er fühl­te, wie das Ag­gre­gat un­ter ihm im­mer hei­ßer wur­de, wie die Kno­chen sei­ner Hän­de un­ter der pul­sie­ren­den Über­last­war­nung des Gas­he­bels vi­brier­ten. Schwe­ben­de Platt­for­men, Fracht­droh­nen, Sky­Cars und Re­kla­me­ta­feln saus­ten ihm ent­ge­gen und ver­schwam­men vor sei­nem Blick. Glas­klar da­ge­gen die blau­en Gly­phen in sei­nem pe­ri­phe­ren Ge­sichts­feld, wo die Da­ten­ko­lon­nen ei­nes Net-Craw­lers durch die Sicht roll­ten. Im­mer­hin schie­nen Tri­ple C ih­re Haus­auf­ga­ben ge­macht zu ha­ben. Sie ver­such­ten erst gar nicht, draht­los in sein Sys­tem rein­zu­kom­men. Sonst hät­te er den Spieß auch in Null­kom­ma­nichts um­ge­dreht.

Er fühl­te den Druck des klei­nen Pa­kets un­ter sei­ner Ja­cke und grins­te. Na­tür­lich hat­ten sie ver­sucht, ihn zu rein­zu­le­gen.

„Ein ein­zel­nes al­tes Kris­tall-Lauf­werk aus ei­nem still­ge­leg­ten Da­tencen­ter. Kaum Se­cu­ri­ty. Ein Spa­zier­gang für einen Di­ver mit dei­ner Re­pu­ta­ti­on …“

Sie hat­ten ihn un­ter­schätzt. Na­tür­lich. Ih­re rück­stän­di­gen Ge­hir­ne wa­ren gar nicht in der La­ge, die Welt zu er­fas­sen, die ihm of­fen­stand. Er hat­te es so­fort ge­spürt: Wel­che Da­ten er auch im­mer ent­hielt, der Spei­cher war … be­deu­tungs­schwer war das rich­ti­ge Wort. Sein Wert muss­te deut­lich hö­her sein als das, was sie ihm ge­bo­ten hat­ten. Die Wich­ser dach­ten, sie könn­ten ihn kon­trol­lie­ren, ob­wohl er ih­nen evo­lu­tio­när weit vor­aus war. Über­heb­li­che klei­ne Idio­ten.

Sein Ab­gang war kei­ne schwe­re Ent­schei­dung ge­we­sen. Und er wür­de sich loh­nen, wenn er das Über­ra­schungs­mo­ment nutz­te, so­lan­ge es noch auf sei­ner Sei­te war. Er gab dem Soft­wa­re-Rik­ker einen Ge­dan­ken­be­fehl und ließ ihn die In­jekt­o­ren des Bikes noch wei­ter über­tak­ten. Der Son­Jet heul­te ge­quält auf, das Chas­sis er­zit­ter­te und un­ter ihm quoll Rauch aus dem Lüf­tungs­git­ter. Drey­fus schnauf­te. Er hat­te ein klei­nes Ver­mö­gen für das Bi­ke be­zahlt. Aber wenn er jetzt nicht schlapp­mach­te, wür­de er sich um Geld kei­ne Sor­gen mehr ma­chen müs­sen. Dann konn­te er sich weitaus bes­se­re Bikes leis­ten. Ge­ne­rell bes­se­res Equip­ment. Und an­ge­neh­me­re Ent­span­nung als die bei Ta­kes­his An­gels, wo er die Na­sen­fil­ter auf un­durch­läs­sig stell­te und sich hin­ter­her ei­nem ve­ne­ro­lo­gi­schen Scan un­ter­zog …

Ei­ne Be­we­gung im Rück­spie­gel riss ihn aus den Ge­dan­ken. Sie hin­gen im­mer noch an ihm dran. Und sie wa­ren viel zu nah! Er schlug Ha­ken, ließ das Bi­ke in un­vorherseh­ba­ren In­ter­val­len hin- und her zu­cken, doch die Droh­nen schos­sen durch den dich­ten Ver­kehr, als gä­be es kei­ne Hin­der­nis­se. Sie schlos­sen im­mer mehr auf und lie­ßen sich durch kei­nes sei­ner Kunst­stücke ab­schüt­teln. Drey­fus puls­te den Rik­ker auf 200 Pro­zent. Sein Kopf wur­de nach hin­ten ge­schleu­dert. Die Ge­len­ke sei­nes Corax-Arms knack­ten ge­fähr­lich, aber die klei­nen, schwar­zen Ku­geln im Rück­spie­gel wur­den trotz­dem un­er­bitt­lich grö­ßer.

Drey­fus fluch­te. Hin­ter sei­ner Stirn krib­bel­te ei­ne Ein­ge­bung. Er wuss­te, was er tun konn­te, und auch wenn es ihm nicht ge­fiel, sei­ne be­son­de­ren Fä­hig­kei­ten auf die­se Wei­se ein­zu­set­zen, war es ei­ne Chan­ce. Oh­ne einen wei­te­ren Ge­dan­ken schal­te­te er den Son­Jet ein­fach aus. Das Bi­ke sack­te weg, die Flug­bahn ver­wan­del­te sich in ei­ne stei­le Kur­ve und er fiel vom Him­mel wie ein Stein. Zwei­hun­dert Me­ter, drei­hun­dert Me­ter, schwer und schwe­re­los zu­gleich. Das Kreis­chen des Ag­gre­gats war ver­stummt, nur der Wind pfiff um sei­nen Helm und feg­te Ne­beltröpf­chen über das Vi­sier. Er kam ins Tru­deln, starr­te dem Erd­bo­den ent­ge­gen, der auf ihn zu­ras­te, nä­her und nä­her, bis er Ein­zel­hei­ten er­ken­nen konn­te.

Men­schen, Ge­sich­ter, auf­ge­ris­se­ne Au­gen. Plötz­lich zuck­te sei­ne Hand, das Ag­gre­gat fauch­te und der Son­Jet er­wach­te don­nernd wie­der zum Le­ben. Wie im Traum fing Drey­fus den Ab­sturz mit ei­nem hal­ben Loo­ping und ei­ner Rol­le ab und jag­te in ei­ne schma­le Stra­ße, durch ein Ge­wirr aus Dräh­ten und Ka­beln, Lam­pi­ons und nas­ser Wä­sche, die ihm die Sicht nah­men.

Drey­fus knirsch­te mit den Zäh­nen, ließ sei­nen In­stink­ten frei­en Lauf und nahm wahr, wie er sich hin­durch fä­del­te. Er kämpf­te da­mit, nicht nach der Kon­trol­le zu grei­fen. Dies war nicht die di­gi­ta­le Welt. Er war in phy­si­scher Ge­fahr. Ei­ne falsche Be­we­gung, und er wür­de sich in ei­nem der Hin­der­nis­se ver­hed­dern und ein­fach ster­ben, in­ner­halb ei­nes Wim­pern­schlags.

Die Wän­de der Gas­se ras­ten vor­bei. Er konn­te nicht ge­nug se­hen und wuss­te nicht mehr ge­nau, in wel­che Rich­tung er un­ter­wegs war. Schließ­lich hielt er es nicht mehr aus. Drey­fus war­te­te ei­ne Lücke ab, dann riss er den Len­ker an sich und stieg senk­recht nach oben, hi­n­aus aus der Gas­se, zu­rück ins Ge­tüm­mel der Sky­Cars. Dort at­me­te er un­will­kür­lich auf.

Der ers­te Zap­per schoss un­ter ihm hin­durch. Dann ging ei­ne Er­schüt­te­rung durch das Bi­ke. Der Son­Jet stot­ter­te. Der zwei­te Zap­per war di­rekt vor dem klei­nen Wind­schild auf­ge­schla­gen. Das Sky­Bi­ke zuck­te, über­schlug sich und brems­te ab, oh­ne auf sei­ne Steue­rung zu re­agie­ren. Schließ­lich stand er reg­los in der Luft. Kopf­über. Drey­fus konn­te das Hoch­fre­quenz­feld bei­na­he spü­ren, dass der Zap­per auf das Chas­sis über­trug. Er woll­te nach dem Mo­noth­read grei­fen und das Scheiß­teil ein­fach ab­rei­ßen, aber schon knall­te es ein zwei­tes und drit­tes Mal. Sei­ne Dis­plays wur­den schwarz.

Drey­fus ver­dreh­te den Kopf und blick­te in einen Ab­grund aus spie­geln­den Häu­ser­wän­den. Ei­ne künst­li­che Stim­me hall­te durch die Zap­per­dräh­te.

„Hal­ten Sie sich zur Fest­nah­me be­reit!”

Die Droh­nen bil­de­ten ein gleich­mä­ßi­ges Drei­eck um ihn. Sie hiel­ten das Sky­Bi­ke vor­sich­tig in ih­rer Mit­te. Mi­nia­tur-Plas­ma­waf­fen folg­ten je­der Be­we­gung sei­nes Kop­fes.

„Trans­port an­ge­for­dert!”

Die Droh­nen feu­er­ten nicht. Wenn Drey­fus ver­sucht hät­te, einen der Zap­per zu lö­sen, hät­ten sie ihm viel­leicht die Hand weg­ge­brannt. Aber so­lan­ge er sich ru­hig ver­hielt, wür­den sie das emp­find­li­che Die­bes­gut, dass er mit sich führ­te, nicht ge­fähr­den. Von un­ten kam et­was Großes auf sie zu. Ein kreis­för­mi­ger Kor­pus, der von wie an­ge­klebt wir­ken­den Hoch­leis­tungs-Son­Jets an den Sei­ten ge­hal­ten wur­de. In der Mit­te spann­te sich ein Kev­lar­netz. Drey­fus zwang sich zur Ru­he. Sein Craw­ler ar­bei­te­te noch im­mer un­un­ter­bro­chen, zeig­te ein un­über­schau­ba­res Durch­ein­an­der von co­dier­ten Netz­wer­ken. Kryp­ti­sche Ad­res­sen, oh­ne Hin­weis auf Ur­sprung oder Art der Da­ten. Drey­fus schloss die Au­gen. Dann at­me­te er lang­sam aus und ließ die Ge­dan­ken trei­ben. Die phy­si­sche Welt war nicht mehr wich­tig. Dort hat­te er ver­lo­ren. Aber er kann­te ei­ne an­de­re Welt. Die Da­ten­ko­lon­nen zo­gen vor­über, be­deu­tungs­vol­le Sym­bo­le, wie Zau­ber­sprü­che in ei­ner frem­den Spra­che. Drey­fus dehn­te sein Be­wusst­sein aus, ver­gaß al­les um sich he­r­um. Ver­gaß die Ge­fahr, ver­gaß den Ort, an dem er sich be­fand, ver­gaß für einen Mo­ment, wer er war.

Der Craw­ler füt­ter­te Co­des in ein ganz be­stimm­tes Netz­werk. Der Da­ten­strom kam di­rekt aus sei­nem Bro­ca-Scan­ner. Oh­ne dass sie Drey­fus be­wusst­wur­den, er­zeug­te sein Sprach­zen­trum Zei­chen­fol­gen, schein­bar oh­ne Sinn. Wie bei je­man­dem, der im Schlaf spricht oder in Zun­gen re­det. Doch dies war al­les an­de­re als Un­sinn. Drey­fus ließ es ge­sche­hen. Nicht be­wusst ein­grei­fen, ein­fach füh­len … Das Netz­werk hob sich lang­sam von den an­de­ren ab. Ge­wann im­mer mehr an Be­deu­tung, an Struk­tur. Es wur­de ge­ra­de­zu greif­bar. Was moch­te es sein? Drey­fus bän­dig­te sei­ne Neu­gier.

Jetzt hieß es, al­les Be­wuss­te los­zu­las­sen. Er trieb im Da­ten­rau­schen, emp­fand Far­ben und For­men, Struk­tu­ren. Mög­lich­kei­ten, Wahr­schein­lich­kei­ten, Chan­cen. Le­ben und Tod. Drey­fus ver­such­te nicht, zu ver­ste­hen. Es war ein­fa­cher, den Wahr­schein­lich­keits­raum nach Ge­fühl zu na­vi­gie­ren. Das Netz­werk war hel­ler als der rest­li­che Da­ten-Ozean, es fühl­te sich … leich­ter an. Es ver­hieß Le­ben.

Drey­fus ließ sein Be­wusst­sein von die­sem Ge­fühl durch­strö­men, es zum Aus­druck ei­nes neu­en Sin­nes­or­gans wer­den. Es war mehr als nur rei­ner In­stinkt. Er kann­te die­sen Mo­dus nur zu gut. Das war es, was ihn und an­de­re Di­ver von den nor­ma­len Men­schen un­ter­schied. Drey­fus tauch­te im SYNC.

Der Bro­ca-Scan­ner be­en­de­te sein Flüs­tern, und der Craw­ler zeig­te einen be­stä­tig­ten Zu­griff. Sonst nichts. Drey­fus trieb im Da­ten­meer, und ge­noss, wie sein sieb­ter Sinn ihn durch­drang, die an­ge­neh­me An­span­nung, die sich durch sei­nen Schä­del und sei­nen gan­zen Kör­per zog. Er wuss­te, dass je­der Tauch­gang für das Ge­hirn äu­ßerst an­stren­gend war. Die Ge­fahr aus­zu­bren­nen, stieg mit je­der Se­kun­de, aber er woll­te nicht auf­tau­chen. Es war be­rau­schend … Er dach­te an den Co­de. Was hat­te er be­wirkt? Er öff­ne­te die Au­gen.

Ur­plötz­lich tauch­te ein rie­si­ger Schat­ten über ihm auf. Erst be­griff er nicht, was ihm ent­ge­gen­stürz­te. Bun­te Lich­ter zuck­ten über ei­ne rie­si­ge, matt­schwar­ze Flä­che. Dann wur­de er in die Tie­fe ge­ris­sen. Aus den Droh­nen dröhn­ten Alarm­si­re­nen, neue Zap­per zisch­ten un­ko­or­di­niert in al­le Rich­tun­gen. Die Mo­noth­reads wi­ckel­ten sich um die stür­zen­de Re­kla­me­ta­fel, ver­wan­del­ten die Droh­nen in hilf­los um­her­schleu­dern­de Ge­wich­te. Drey­fus er­hob sich über das Wind­schild, griff nach vor­ne und riss den ers­ten Zap­per ab. Dann lang­te er nach hin­ten, zerr­te an dem zwei­ten Thread und spür­te, wie er sich mit ei­nem kleb­ri­gen Schmat­zen lös­te. Das Sky­Bi­ke schwang he­r­um, und er wur­de mit vol­ler Wucht ge­gen die Sei­te der Re­kla­me­ta­fel ge­schleu­dert. Glas- und Plas­tik­scher­ben flo­gen um­her. An den drit­ten Zap­per kam er nicht he­r­an. Er woll­te sich aus­stre­cken, aber die Bio­nik­haut sei­nes An­zugs hielt ihn fest im Sat­tel. Mit ei­nem oh­ren­be­täu­ben­den Don­nern traf die Re­kla­me­ta­fel auf die auf­stei­gen­de Las­ten­droh­ne. Das Bi­ke schwang am ver­blie­be­nen Thread wie ei­ne Ab­riss­bir­ne he­r­um und wie­der hi­n­auf. Auf sei­nem höchs­ten Punkt brach das Ver­klei­dungs­teil, an dem der drit­te Zap­per hing, ab. Drey­fus war frei. Er star­te­te das Sys­tem neu und das stür­zen­de Sky­Bi­ke stell­te sich au­gen­blick­lich auf. Die Ta­fel und das Knäu­el aus ge­fes­sel­ten Droh­nen stürz­ten dem Ab­grund ent­ge­gen.

Er schwenk­te in Rich­tung Ha­fen und gab Voll­gas. Als er an den nied­ri­gen Ge­bäu­den der Ha­fen­an­la­gen vor­bei- und der rie­si­gen Kai­mau­er ent­ge­gen ras­te und schon wie­der das Dröh­nen der Droh­nen-Son­Jets hör­te, wur­de der Schmerz zu viel für ihn. Sein Schä­del brauch­te drin­gend ei­ne Pau­se. Ein selt­sa­mes Krib­beln in sei­nem Rücken – Drey­fus ließ das Bi­ke ab­sa­cken und ent­ging dem Zap­per, der Se­kun­den­bruch­tei­le spä­ter an der­sel­ben Stel­le durch die Luft fauch­te. Er sank zwi­schen die fla­chen Ge­bäu­de, kon­zen­trier­te sich aufs Äu­ßers­te, aber die Welt ras­te an ihm vor­bei und ver­schwamm vor sei­nen Au­gen. Die Far­ben ver­blass­ten, sei­ne Hän­de wur­den kalt. Er kann­te die Stu­fen des SYNC-Bur­nout: Hy­po­glyk­ämie, Zit­tern, Herz­ra­sen, Übel­keit. Dann das Ab­ster­ben von Ner­ven, von au­ßen nach in­nen, ge­folgt von Ohn­macht, Ko­ma, Tod. Er hät­te nicht tau­chen sol­len. Die Son­Jets dröhn­ten dumpf und ver­zerrt, wie un­ter Was­ser, er konn­te nicht sa­gen, ob von nah oder fern. Vor Drey­fus tat sich ein dunk­ler Tun­nel auf. Wa­bern­de Schat­ten ström­ten hi­n­ein und he­r­aus. Er zö­ger­te nicht. Der Tun­nel ver­schluck­te ihn. Ne­bel­haf­te Um­ris­se von Men­schen. Ei­ne Fuß­gän­ger­pas­sa­ge. Drey­fus krall­te sei­ne Hand um die Brem­se. Ver­schwom­me­ne Fle­cken schos­sen an ihm vor­bei, schwar­ze Bal­ken, Fuß­gän­ger­schran­ken. Das dump­fe Fau­chen von Ta­zer­waf­fen, ge­schrie­ne Be­feh­le wie von fern. Der Rumpf des Sky­Bikes ruck­te un­ter ei­ner Rei­he von dump­fen Auf­schlä­gen. Schat­ten spran­gen bei­sei­te oder wur­den weg­ge­schleu­dert. Er ließ al­les ge­sche­hen, un­fä­hig, et­was an­de­res zu tun, als sich an der Brem­se fest­zu­klam­mern. Dann wur­de ihm schwarz vor Au­gen.

2– Trish –

Trish hat­te am Vor­abend zwei Trig­ger und ei­ne hal­be Plu­me ge­nom­men und ih­re Adern glüh­ten noch im­mer an­ge­nehm nach. Ih­re Mus­keln zuck­ten leicht, er­in­ner­ten sich an den Beat der Hy­drau­lic Blood Pumps. Gei­ler Scheiß. Kei­ne ge­ne­rier­te Mu­sik, kein ste­ri­ler Al­go­rith­mus, son­dern ei­ne ech­te Band aus Men­schen, die man se­hen, rie­chen und an­fas­sen konn­te. Sie hat­ten so­gar Flyer aus Pa­pier.

Das traf ge­nau Tris­hs Ge­schmack. Sti­lecht, hyper­re­al. An je­dem an­de­ren Tag wä­re sie noch län­ger im *HA­ZE* ge­blie­ben, aber sie war echt spät dran, und sie hat­te noch nicht ein­mal ein Ge­schenk.

Trish schlürf­te ap­pe­tit­los ihr pseu­do-Kaeng-Phet aus der Papp­scha­le und be­ob­ach­te­te das Kon­sum­vieh, das an ihr vor­über­zog.

Ko­nami-Boots "An­thra­zit", ca. 40 YIT

Ziem­lich cool, so­gar sei­ne Grö­ße. Aber ir­gend­wie … piek­sig. Lie­ber nicht. Nor­ma­ler­wei­se schenk­ten sie sich so­wie­so nichts, aber es war ein runder Ge­burts­tag.

Ei­ne Ray­Ben! Und der Typ sah nicht be­son­ders vor­sich­tig aus …

Ray­Ben-Im­mer­si­on, ca. 120 YIT

Der Preis leuch­te­te im Fens­ter der Ap­prai­se-App auf, das ih­re IOs in den un­te­ren Rand ih­res Sicht­fel­des pro­ji­zier­ten. In die­sem Teil der Stadt ließ sie sie un­un­ter­bro­chen lau­fen. Die Bril­le wär echt was ge­we­sen, hät­te Zac die pas­sen­den Hand­schu­he nicht erst vor ’ner Wo­che an Zooms ver­tickt. Au­ßer­dem wirk­te sie bei nä­he­rer Be­trach­tung ganz schön rau, bei­na­he scharf … Trish schüt­tel­te sich und schlen­der­te wei­ter. Sie hat­te ge­lernt, ih­rer Syn­äs­the­sie zu ver­trau­en, was so et­was an­ging. Das Plu­me ver­stärk­te die­se selt­sa­me Fä­hig­keit noch, auch wenn es jetzt, wo sie wi­der­wil­lig ih­ren Ma­gen füll­te, im­mer mehr nachließ. Da! Wie wär’s mit der Ta­sche die­ser klei­nen Bü­ro­tus­si?

Ha­leph-Sim­ba mit in­te­grier­tem Zap­per, ca. 80 / 90 YIT

Die war ganz kühl, ein Kin­der­spiel. An­de­rer­seits … Zac ’ne Da­men-Hand­ta­sche zu schen­ken kam schon ir­gend­wie schräg. Trish zuck­te mit den Schul­tern und ging wei­ter. Nor­ma­ler­wei­se konn­te sie sich auf ih­ren In­stinkt ver­las­sen, wenn sie Loo­ten ging. Aber das Ge­schenk war ja nicht für sie selbst. Was ihr ge­fiel, muss­te noch lan­ge nicht das rich­ti­ge für Zac sein. Ei­gent­lich wünsch­te er sich im­mer bloß ir­gend­was, dass sich leicht ver­ti­cken ließ. Da war er wahn­sin­nig ein­di­men­sio­nal. Aber sie nicht. Sie woll­te et­was Pas­sen­des, wenn sie schon zu spät kam.

Trish schob sich lang­sam wei­ter den lär­men­den Bou­le­vard ent­lang. Aus ei­nem Ta­xi dröhn­te schmie­ri­ger Slow-Jazz. Aus der an­de­ren Rich­tung spül­ten Sli­ce­tu­nes auf die Stra­ße. Psy­che­de­li­sche Me­lo­di­en und ab­ge­hack­te Beats, zu de­nen man nur auf Whist­le tan­zen konn­te. Das war eher et­was für Trish, aber nüch­tern war es schwer zu er­tra­gen. Ver­zerr­te Ha­re Kris­hnas san­gen ge­gen den Mu­ez­zin aus der pa­trouil­lie­ren­den Al-Ara­ga­fi Droh­ne an, aber bei­de gin­gen un­ter im Ge­brüll aus den Me­ga­fo­nen der Crus­aders of Kong, die aus ei­ner Sei­ten­stra­ße mar­schiert ka­men. Die Crus­aders hat­ten sich nach der vor dem Na­no­krieg wie­der­ein­ge­glie­der­ten Hong Kong Zo­ne be­nannt und for­der­ten die Neu­er­rich­tung ei­ner Zen­tral­re­gie­rung. Ein ver­schwitz­ter Mit­drei­ßi­ger im An­zug hat­te ei­ne Vier­tel­stun­de lang ver­sucht, die Au­dio­an­la­ge des *HA­ZE* zu über­brül­len, um ihr das zu er­klä­ren. Er hat­te ihr zwei Drinks be­zahlt, aber an­sons­ten nur viel zu viel ge­la­bert. Warum aus­ge­rech­net fun­da­men­ta­lis­ti­sche Chris­ten nach ei­nem Sys­tem gier­ten, dass Re­li­gi­on in je­der Form un­ter­drückt hat­te, über­stieg Tris­hs Vor­stel­lungs­ver­mö­gen.

Sie fä­del­te sich zwi­schen den Fuß­gän­ger­ver­kehr und wech­sel­te die Stra­ßen­sei­te, vor­bei an Lohns­kla­ven in ne­bel­feuch­ten Plas­ti­kja­cken, SecDroh­nen, Gangs­tern mit ge­stalt­ver­schlei­ern­der Wob­b­ly-Ca­mo und im Schne­ck­en­tem­po da­hin krie­chen­den Last­wa­gen, grell bun­ten Schau­fens­tern und wan­deln­den Wer­be­flä­chen. Im Dis­play hin­ter den ani­ma­tro­ni­schen Man­ne­quins [IN­FI­Ni­te-Ex­TA­TiC ul­tra-slim Lu­mi­ki­ni!!!] spül­ten vir­tu­el­le Wel­len un­ter ei­ner vir­tu­el­len Son­ne an einen vir­tu­el­len Strand. [SUB­MER­GE! New­New­New!]

Im nächs­ten Mo­ment ver­wan­del­te sich die Sze­ne­rie in ei­ne tro­pi­sche Un­ter­was­ser­welt, die Trish so­fort an Dr. Jel­ly, die Ma­the-Qual­le den­ken ließ. Sie lä­chel­te. Un­ter Was­ser war es im­mer fried­lich. Und ru­hig. Und kühl. So hat­te sie es sich je­den­falls im­mer vor­ge­stellt. Wun­der­schön. Ob es einen sol­chen Ort wirk­lich ir­gend­wo gab? Oder je­mals ge­ge­ben hat­te?

Ihr Blick fiel auf ih­re ei­ge­ne Re­flek­ti­on in der Schau­fens­ter­schei­be, und ihr Lä­cheln ver­blass­te. Da stand je­mand, der in der Mas­se un­ter­ging. Ei­ne Per­son, auf die nie je­mand ach­te­te – und das war gut so. Die über­große Blast! - Ja­cke ver­schlei­er­te ih­re Kon­tu­ren und mit den bun­ten Haa­ren und dem wil­den Ho­lo-Ma­keup war es schwie­rig, ihr wah­res Aus­se­hen zu er­fas­sen. Was ja auch der Sinn war. Nur sehr we­ni­ge Men­schen wuss­ten, was sich un­ter der Mas­ke ver­barg. Trish rief mit ei­nem Zwin­kern ih­re PVI- Sei­te auf. Das Lo­go ver­deck­te die Sicht auf das Schau­fens­ter, wäh­rend ih­re IOs die Rea­li­tät aus­blen­de­ten. „Pri­va­te Vir­tu­al In­fra­struc­ture – a place of your own.” Sie öff­ne­te einen Link auf der Start­sei­te, der sie zu ih­rem Da­ting-Pro­fil brach­te. Auch hier be­kam nie­mand ihr ech­tes Ge­sicht zu se­hen. Sie hat­te kei­ne Ah­nung, wie pri­vat die Sei­te wirk­lich war. Bis­her hat­te sie kei­nen Är­ger ge­habt, aber warum soll­te sie et­was ris­kie­ren? Ihr Quar­reen-ge­ne­rier­ter Ava­tar sah ihr ähn­lich ge­nug. Viel­leicht et­was hüb­scher. Sau­be­rer auf je­den Fall. We­ni­ger Nar­ben.

Sie scroll­te durch die neu­en Nach­rich­ten, über­flog ein paar der üb­li­chen An­ma­ch­sprü­che, lösch­te die, die ihr gru­se­lig vor­ka­men und die, die so aus­sa­hen, als ob die Ty­pen hin­ter­her noch stun­den­lang re­den woll­ten. Dann sah sie sich noch ein­mal ih­ren Ava­tar an. Sie zuck­te mit den Schul­tern. Rea­lis­tisch ge­nug. Be­schwert hat­te sich je­den­falls noch kei­ner.

Zac hielt das Gan­ze für rei­ne Zeit­ver­schwen­dung und ge­fähr­lich noch da­zu. Viel­leicht war es das auch. Aber das ge­hör­te da­zu, wenn man sich ab und zu le­ben­dig füh­len woll­te. Au­ßer­dem mach­te es ihr Spaß, ihn zu är­gern. Trish schloss die Sei­te, dreh­te sich um und - blieb ste­hen. Di­rekt vor ih­rer Na­se schweb­te ein klei­nes Licht. Sie blin­zel­te.

Sie wur­den Wisps ge­nannt oder Ying oder AGUs, das be­deu­te­te al­les das­sel­be. Irr­lich­ter. Aus sol­cher Nä­he hat­te sie noch nie eins ge­se­hen. Nor­ma­ler­wei­se schweb­ten sie ein, zwei Me­ter über den Köp­fen der Leu­te. Trie­ben hin und her wie ver­glü­hen­de Plas­tik­schnip­sel über ei­ner Feu­er­ton­ne. Trish woll­te es bei­sei­te we­deln und wei­ter­ge­hen, aber et­was hielt sie zu­rück. Sie sah ge­nau­er hin. Aus der Nä­he be­trach­tet leuch­te­te es nicht gleich­mä­ßig, son­dern flim­mer­te ganz leicht. Trish streck­te vor­sich­tig ih­re Hand da­nach aus.

Das Irr­licht stieg so­fort ein paar Zen­ti­me­ter in die Luft. Trish griff da­nach, aber es wich zur Sei­te aus. Selt­sam. Sie ver­such­te es noch ein­mal, aber das Licht schwirr­te auf die an­de­re Sei­te. Trish schnauf­te. Sie hat­te nicht ge­wusst, dass die Din­ger in­tel­li­gen­ter wa­ren als frei­schwe­ben­des Kon­fet­ti. Da­bei moch­te sie die klei­nen Leucht­din­ger schon im­mer, auch wenn der Hy­pe dar­um längst ver­flo­gen war. Sie er­in­ner­te sich, wie im ers­ten Jahr noch al­le dar­über ge­rät­selt hat­ten, wo sie her­ge­kom­men wa­ren, wer sie her­stell­te und warum. Das Mys­te­ri­um wur­de ge­lobt und die Art, wie sie sich an­geb­lich jeg­li­chem re­ver­se en­gi­nee­ring ent­zo­gen, in­dem sie sich bei je­der noch so vor­sich­ti­gen Be­rüh­rung oder je­dem Scan ein­fach ver­flüs­sig­ten. Sie hät­ten al­les sein kön­nen. Kunst, ein po­li­ti­sches State­ment, Wer­bung … Aber die Mo­na­te ver­gin­gen, oh­ne dass sich ein Künst­ler zu Wort ge­mel­det hat­te oder ein Busi­ness et­was ver­kau­fen woll­te. Im zwei­ten Jahr in­ter­es­sier­te sich kaum noch je­mand da­für. Trish moch­te den Ge­dan­ken, dass sie ein­fach nur da­zu da wa­ren, die Men­schen ab­zu­len­ken. Sie aus der ewi­gen Tris­tes­se zu rei­ßen, und sei es nur für einen Au­gen­blick. In­zwi­schen hat­ten sie ih­re Ma­gie ver­lo­ren. Die Leu­te ho­ben nicht ein­mal mehr den Kopf. Höchs­tens me­cker­ten sie über die Fle­cken auf dem Lack ih­rer Sky­Cars.

Trish schau­te sich um. Muss­te ja ziem­lich be­scheu­ert aus­se­hen, wie sie so da­stand und in der Luft rum­fuch­tel­te. Aber die Men­schen zo­gen ih­rer We­ge, oh­ne den Blick zu he­ben. In Xinjia II war man selbst in der größ­ten Men­schen­men­ge im­mer al­lein. Sie wand­te sich wie­der dem Irr­licht zu und stell­te er­staunt fest, dass es sich auf dem Rücken ih­rer aus­ge­streck­ten Hand nie­der­ge­las­sen hat­te. Trish zog sie lang­sam zu­rück und hob sie nah an ihr Ge­sicht.

Das Irr­licht äh­nel­te ei­nem durch­sich­ti­gen In­sekt, zier­li­cher als der Na­gel ih­res klei­nen Fin­gers. Wie ein Tho­pter auf dem Lan­de­feld saß das win­zi­ge Ding zwi­schen den hell­blau glim­men­den Be­di­en-Tat­toos ih­res Me­dia Players. Das Leuch­ten war et­was schwä­cher ge­wor­den, und Trish konn­te er­ken­nen, dass es Mi­nia­tur-Flü­gel hat­te, die trä­ge auf und zu klapp­ten. Da spür­te sie, dass es weich war. Weich und kühl, ge­ra­de­zu sei­dig.

War das Irr­licht … le­ben­dig?

Ei­ne selt­sa­me Er­re­gung über­kam Trish. Viel­leicht war es nur das Plu­me in ih­rem Blut, aber was auch im­mer das für ein Ding sein moch­te, es gab hun­der­te, tau­sen­de da­von in der Stadt! Sie woll­te ein paar da­von fan­gen. Sie woll­te sie fan­gen und Zac schen­ken. Scheiß’ auf den Markt­wert. Er war im­mer so gries­grä­mig und wenn er sich da­von nicht auf­hei­tern ließ, dann wuss­te sie auch nicht. Sie hob die an­de­re Hand und schloss sie vor­sich­tig um das Irr­licht.

Trish sah nach oben. Ein paar wei­te­re drif­te­ten zwi­schen den all­ge­gen­wär­ti­gen Lam­pi­ons da­hin, oh­ne von der leich­ten Bri­se be­ein­träch­tigt zu wer­den, die die ro­ten Pa­pier­ku­geln zum Schwin­gen brach­te. Zwei schweb­ten in ei­ni­ger Ent­fer­nung, in der Nä­he ei­nes Müll­con­tai­ners. Trish schob sich durch die Men­schen­men­ge, be­dacht dar­auf, die Leucht­punk­te nicht aus den Au­gen zu ver­lie­ren. Au­ßer­dem brauch­te sie et­was, worin sie die Irr­lich­ter auf­be­wah­ren konn­te. Ein schnel­ler Blick ins In­ne­re des Con­tai­ners ge­nüg­te. Ganz oben auf dem Berg aus Ein­kaufstü­ten und Cig­liq-Kap­seln lag ei­ne run­de Plast­do­se, die ei­ni­ger­ma­ßen sau­ber aus­sah.

Trish ließ ih­ren klei­nen Freund in die Öff­nung flat­tern und bog schnell den De­ckel hi­n­un­ter. Dann stieg sie auf den Blech­kas­ten und streck­te sich nach den an­de­ren Leuchtin­sek­ten aus. Sie wi­chen wie­der aus, al­so hielt Trish die Hand ganz ru­hig und war­te­te. Nach ei­ner Wei­le set­zen sie sich auf ih­re Fin­ger. Fas­zi­nie­rend. Trish zog die Hand lang­sam zu­rück und hielt den Be­häl­ter be­reit. Ge­schafft. Das war viel ein­fa­cher, als sie er­war­tet hat­te. Drei Irr­lich­ter sa­ßen am Bo­den der Do­se und tauch­ten das In­ne­re in ein bern­stein­far­be­nes Licht. Sie mach­ten kei­ne An­stal­ten, ihr Ge­fäng­nis zu ver­las­sen. Trish drück­te den De­ckel wie­der zu. Sie hoff­te, dass die klei­nen Din­ger da drin lan­ge ge­nug über­leb­ten, bis sie et­was Bes­se­res ge­fun­den hat­te.

Trish grins­te. Sie wan­der­te den gan­zen Abend durch die Stra­ßen, im­mer wei­ter und wei­ter. Sie klet­ter­te auf Ab­sper­run­gen, auf Zäu­ne und das ei­ne oder an­de­re Fahr­zeug und lock­te ein Tier­chen nach dem an­de­ren in ih­re Plast­do­se. Das gan­ze Be­hält­nis schim­mer­te vor sei­di­ger, zar­ter Küh­le. Trish kam in re­gel­rech­te Hoch­stim­mung. Als es dun­kel wur­de, wa­ren es schon über hun­dert. Es ging so ein­fach und mach­te so einen Spaß! Sie stieg auf ei­ne Müll­ton­ne, klet­ter­te einen Draht­zaun hi­n­auf und streck­te ih­re Hand nach ei­ner Grup­pe von drei Irr­lich­tern aus. Der Zaun gab nach und Trish rutsch­te ab. Sie fiel auf die an­de­re Sei­te, fiel im­mer tiefer, roll­te einen Ab­hang he­r­un­ter, fing sich, stand auf, stol­per­te zwei Schrit­te zu­rück, blieb mit dem Fuß hän­gen, kipp­te hin­ten über und knall­te hart auf den Bo­den. Die Do­se mit den Irr­lich­tern flog in ho­hem Bo­gen durch die Luft und lan­de­te ir­gend­wo weit weg in der Dun­kel­heit. Trish kniff die Au­gen vor Schmerz zu­sam­men und zog die Bei­ne an. Dann erst hör­te sie die Stim­men.

3– Drey­fus –

Drey­fus schlang die Ar­me um sich, rang um Luft wie ein Er­trin­ken­der. Sein don­nern­des Herz woll­te sich ein­fach nicht be­ru­hi­gen. Er öff­ne­te sein Vi­sier und sah durch trü­be Schlie­ren auf ei­ne Schnei­se der Ver­wüs­tung. Ren­nen­de Men­schen, Glas, Me­tall, Plas­tik­fet­zen. Ver­krümm­te Ge­stal­ten kro­chen in Pa­nik weg, ei­ni­ge la­gen still. Hil­fe­schreie, knir­schen­de Elek­tro­nik. Das Cha­os war per­fekt, doch noch war nie­mand auf die Idee ge­kom­men, Alarm zu schla­gen. Von den Droh­nen war nichts zu se­hen.

Er tas­te­te mit zit­tern­den Fin­gern nach dem In­jekt­or in sei­ner Schen­kel­ta­sche und drück­te den mick­ri­gen Rest Glu­co­se­lö­sung, der vom letz­ten Tauch­gang üb­rig­ge­blie­ben war, in sei­nen Un­ter­arm. Das Ge­rät zisch­te, sei­ne Sicht klär­te sich und das Zie­hen hin­ter der Stirn ließ lang­sam nach. Aber nun drang der Schmerz in sei­nem Ober­schen­kel zu ihm durch. Er fühl­te nach, und zog die Hand schnell wie­der zu­rück. Blut. Drey­fus kram­te in sei­ner Ta­sche und fand ei­ne Am­pul­le L-Doc. Er stach sie ne­ben die Wun­de und der Schmerz wich ei­ner an­ge­neh­men Taub­heit. Bald wür­de er sich dar­um küm­mern müs­sen. Aber jetzt nicht. Drey­fus zog sei­ne Beu­te her­vor. Er muss­te drin­gend einen an­de­ren Be­häl­ter für den zer­brech­li­chen In­halt fin­den. Der Crack­stick war noch an sei­nem Platz, aber er drück­te das Kle­be­band trotz­dem noch mal fest und ließ den Dau­men über die Kon­den­sa­tor­kas­ka­de glei­ten. Wenn das Teil zwi­schen­durch los­ging …

Si­re­nen heul­ten durch die Pas­sa­ge. Drey­fus’ Kopf fuhr hoch. Aus zwei Rich­tun­gen blit­zen Blau­lich­ter. Zwi­schen Trau­ben aus ver­ängs­tig­ten Passan­ten und Schau­lus­ti­gen blitz­ten die Sil­hou­et­ten von Si­cher­heits-Exoske­let­ten auf wie Kar­bon-Got­tes­an­be­te­rin­nen. Er stopf­te den Con­tai­ner zu­rück in sei­ne Ja­cke und star­te­te das Bi­ke, auf dem sei­ne bio­ni­sche Kluft ihn noch im­mer fest­kleb­te. Nicht ein­mal der Auf­prall hat­te ihn ab­lö­sen kön­nen.

Der Son­Jet er­wach­te kreis­chend zum Le­ben und er­hob sich schwan­kend vom Bo­den. Er wähl­te zu­fäl­lig ei­ne Rich­tung und schlüpf­te zwi­schen tau­meln­den Men­schen hin­durch auf et­was zu, dass wie ei­ne Rei­he von Roll­trep­pen aus­sah. Fuß­gän­ger hech­te­ten schrei­end bei­sei­te, als er über ih­re Köp­fe hin­weg di­rekt in ei­ne der Röh­ren und den Schacht hi­n­un­ter­schoss. Das Dröh­nen des Son­Jets hall­te oh­ren­be­täu­bend von den Me­tall­wän­den wi­der. Drey­fus knirsch­te mit den Zäh­nen.

Un­ten stand be­reits ein Exo und riss sein Kom­bi­ge­wehr hoch. Drey­fus duck­te sich hin­ter den Wind­schild und gab Gas. Der Auf­prall war kurz und hef­tig, der Si­cher­heits­mann flog zur Sei­te, schlit­ter­te über den Bo­den und knall­te ge­gen einen Glas­kas­ten mit Cig­liq-Wer­be­ho­los, der un­ter dem Auf­prall aus­ein­an­der­platz­te und für zu­sätz­li­che Pa­nik un­ter den flie­hen­den Men­schen sorg­te.

Jetzt hat­ten sie auch Drey­fus be­merkt und rann­ten kopf­los durch die Hal­le. Händ­ler zerr­ten mo­bi­le Fress­stän­de weg, Alarm­blit­ze spie­gel­ten sich in den Scher­ben. Der Exo lag wie ein Kä­fer auf dem Rücken und zap­pel­te laut schimp­fend, um wie­der auf die Bei­ne zu kom­men. Wei­te­re Exo-An­zü­ge rat­ter­ten he­r­an, brüll­ten Be­feh­le ste­hen­zu­blei­ben in den sie­ben häu­figs­ten Spra­chen. Es knall­te, und et­was zisch­te an Drey­fus vor­bei. Er fuhr wei­ter zick­zack, nutz­te die ren­nen­den Passan­ten als De­ckung.

Am En­de der Pas­sa­ge stand ein Schild Rich­tung Pod-Tun­nel. Noch mehr Trep­pen­schäch­te. Drey­fus jag­te hin­ab. Men­schen stürz­ten über die Gum­mi­ge­län­der und schri­en mit den Si­re­nen um die Wet­te. Un­ten am Bahn­steig dräng­ten Leu­te den schma­len Geh­weg ent­lang, klet­ter­ten über die Draht­git­ter und über­ein­an­der. Drey­fus trieb sie vor sich her, di­rekt auf ein rot um­rahm­tes Recht­eck zu, ne­ben dem ein her­risch brül­len­der Os­hi­ya die Men­schen durch den Not­aus­gang zerr­te. Da­vor Be­ton­pfei­ler, kein Platz für das Bi­ke. Drey­fus lös­te mit ei­nem Griff an die Brust den kleb­ri­gen An­zug vom Sat­tel, sprang ab und stürz­te auf den Aus­gang zu. Die Tür schloss sich di­rekt vor sei­ner Na­se mit ei­nem sat­ten Schmat­zen. Drey­fus lief zu­rück, stieg wie­der aufs Bi­ke und wen­de­te. Vor ihm war al­les men­schen­leer. Ein Pod war­te­te ge­dul­dig in der Druck­schleu­se, doch sie wür­de sich nicht öff­nen. Der Not­aus­gang am an­de­ren En­de war auch ver­rie­gelt. Drey­fus kam ne­ben ei­nem Ge­trän­ke­au­to­ma­ten zum Ste­hen. Sack­gas­se.

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KEI­NE PA­NIK – KEI­NE HOFF­NUNG

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Die Buch­sta­ben tauch­ten oh­ne Vor­war­nung auf und glom­men rot vor sei­nen Au­gen. Drey­fus blin­zel­te. Dann griff er an sei­nen Hals und be­rühr­te den klei­nen gol­de­nen Wür­fel zwi­schen sei­nen Schlüs­sel­bei­nen. Die Schrift ver­blass­te. Ir­gend­et­was muss­te den das Teil ak­ti­viert ha­ben, so­dass es einen Psalm des CO­DEs aus­spuck­te. Bulls­hit. Sie pass­ten im­mer ir­gend­wie, al­le 3000. Trotz­dem … Hoff­nung war die Aus­re­de de­rer, die die Kon­trol­le ger­ne an an­de­re ab­ga­ben.

Er fo­kus­sier­te den Craw­ler. Zwei­hun­dert Netz­wer­ke, et­wa vier­zig da­von ein­deu­tig PinShan, die Zu­gangs­schlüs­sel wech­sel­ten mit ho­her Fre­quenz. In ei­nem da­von lag der Zu­gang zu den Alarm­pro­to­kol­len. Nur in wel­chem … Ein lau­ter Knall hall­te vom Trep­pen­ab­satz und der Au­to­mat ne­ben ihm ver­schwand in ei­nem Netz aus fei­nen Dräh­ten, die sich knis­ternd und Fun­ken schla­gend um das Ge­häu­se wi­ckel­ten.

Drey­fus hat­te kei­ne De­ckung. Links und rechts stäh­ler­ne War­te­bän­ke, fal­len ge­las­se­ne Ta­schen und zer­knit­ter­te Ho­lo­fo­li­en, sonst nichts. Durch die Druck­schleu­se sah er auf die vier­zig ab­ge­wetz­ten Plas­tik­sitz­rei­hen des Pods.

„Kei­ne Be­we­gung! Das war’s!”

Die ver­stärk­te Stim­me über­tön­te das Quä­ken der Si­re­nen. Exo­schrit­te rat­ter­ten über den ge­flies­ten Bo­den. Ei­ner kam von der Roll­trep­pe, zwei aus den Not­aus­gän­gen. In drei Se­kun­den war er um­stellt. Drey­fus hob die Hän­de.

Ein vier­ter Mann trat hin­zu. Er hob einen klei­nen Si­gnal­ge­ber und das Heu­len der Si­re­nen erstarb. Sei­ne Kev­lar­wes­te spann­te sich über ei­nem un­über­seh­ba­ren Wohl­stands­bauch. Das und die zwei sil­ber­nen Strei­fen an sei­ner Brust wie­sen ihn als Chief der Wa­che aus. Er kam vor­sich­tig auf Drey­fus zu, die Hän­de be­schwich­ti­gend er­ho­ben.

„Blei­ben sie ru­hig! Wir wer­den nicht feu­ern! Ver­ste­hen sie mich?”

Arg­wohn kroch an Drey­fus Rücken hoch. Er nick­te lang­sam. Ver­suchs­wei­se woll­te er die Ar­me wie­der sen­ken, aber ein Ru­cken der nächs­ten Kom­bi­waf­fe ließ ihn in­ne­hal­ten.

„Blei­ben Sie so ste­hen, ma­chen Sie kei­ne plötz­li­chen Be­we­gun­gen und war­ten Sie auf den Un­ter­händ­ler! Bit­te!”

Der Chief trug einen ge­zwun­gen freund­li­chen Ge­sichts­aus­druck zur Schau, aber sei­ne Stirn glänz­te. Drey­fus run­zel­te die Stirn.

„Un­ter­händ­ler? Was soll …”

Der Chief schüt­tel­te den Kopf.

„Ich bin nicht au­to­ri­siert, in Ver­hand­lungs­ge­sprä­che zu tre­ten. Bit­te war­ten sie!”

Drey­fus’ Herz häm­mer­te. Es fiel ihm schwer, sich zu kon­zen­trie­ren. Ver­hand­lungs­ge­sprä­che?

Der Mann zu sei­ner Rech­ten hob sei­ne Waf­fe ein paar Zen­ti­me­ter. Sein Ge­sicht war von den Nar­ben ei­ner al­ten Brand­wun­de über­zo­gen, die durch sei­ne an­ge­spann­te Gri­mas­se nicht un­be­dingt hüb­scher wur­den. Er mahl­te mit den Kie­fern, mur­mel­te et­was, das Drey­fus nur teil­wei­se ver­stand.

„Komm schon … ver­such was …”

„Hal­ten Sie sich zu­rück, Gru­nert!”

Der Chief warf dem Mann einen miss­bil­li­gen­den Blick zu. „Wir war­ten auf Ms. He!”

Drey­fus sah sich den Kerl ge­nau­er an. Der er­wi­der­te den Blick mit kal­tem Hass.

„Wir soll­ten das jetzt gleich er­le­di­gen, Chief. Be­vor der Scrat­cher ir­gend­wel­che Schei­ße pro­bie­ren kann. Ich ken­ne die­ses Pack, Sir, die …”

„Wir war­ten!”

Jetzt lag so­gar so et­was wie Au­to­ri­tät in der Stim­me des fet­ten Chiefs. Der Mann press­te wi­der­wil­lig die Lip­pen auf­ein­an­der. Ein klei­nes Tat­too an sei­ner Schlä­fe fiel Drey­fus ins Au­ge. Ei­ne bren­nen­de Trä­ne, ein­ge­bet­tet in das Rau­ten­mus­ter ei­nes ein­fa­chen Ma­trix­co­des. Der Exo mus­ter­te Drey­fus mit un­ver­hoh­le­ner Ver­ach­tung, wäh­rend sie war­te­ten. Drey­fus schluck­te.

Scrat­cher. Der Aus­druck der bra­ven Bür­ger für die Staub­kin­der aus dem Frin­ge. Mit de­nen hat­te er schon lan­ge nichts mehr zu tun ge­habt, aber viel­leicht war es in­zwi­schen ein all­ge­mei­ner Be­griff für Ab­schaum ge­wor­den. Das Vi­brie­ren des YIT-Pack-Alarms in sei­nem Hüft­kno­chen riss ihn aus sei­nen Ge­dan­ken. Sie ver­such­ten, sei­ne ID he­r­aus­zu­fin­den. Wie nied­lich. Der Chief rat­ter­te die Stan­dard­flos­kel he­r­un­ter.

„Ih­nen wird nun ein­ma­lig Ge­le­gen­heit ge­ge­ben, et­wai­ge au­to­ma­ti­sche Maß­nah­men zur Iden­ti­täts­mas­kie­rung zu un­ter­bin­den, an­sons­ten wird PinShan In­ter-Trans­port ih­nen ei­ne vor­über­ge­hen­de Stan­dar­di­den­ti­tät zu­wei­sen. Die­se un­ter­liegt in um­fas­sen­dem Ma­ße der Recht­spre­chung der PinShan In­dus­tries-Bank.“ Er er­war­te­te kei­ne Ant­wort.

„Er soll den Helm ab­neh­men. Las­sen Sie mich sein Ge­sicht se­hen …“

„Still! Ich will nichts mehr hö­ren!“

Die Au­gen des Chiefs fun­kel­ten den Exo bö­se an, der sich nur müh­sam zu­sam­men­riss. Was war los mit dem Ty­pen? Das muss­te die Nacht­schicht der Fre­aks sein, die letz­ten Res­te für PinS­hans Drecks­ar­beit. Drey­fus öff­ne­te vor­sich­tig einen Ka­nal zum öf­fent­li­chen Netz. Dort­hin hat­te er sich schon ewig nicht mehr ver­irrt. Sein lin­kes Au­ge wur­de dun­kel, be­reit, Wer­bung und Kom­merz wie­der­zu­ge­ben. Er gab den Ma­trix­co­de des Tat­toos ein und lan­de­te prompt auf der Pro­pa­gan­da­platt­form ei­ner Grup­pe von „Über­le­ben­den“: Flam­men und Mu­sik, di­gi­ta­le Ge­denk­stei­ne. Drey­fus über­flog die In­for­ma­tio­nen. Über­le­ben­de von Oxyd Ost … Sec­Tex Ein­heit kommt in Scrat­cher­fal­le um … ein See aus Ke­ro­sin … 40 Mann er­sof­fen UND ver­brannt … Drey­fus hör­te die Hym­ne der Über­le­ben­den. Kit­schi­ger ara­bi­scher Scheiß.

Wie vie­le Men­schen hat­te der Mann wohl ster­ben se­hen? Er sah ihn an. Pa­ra­noia und Hy­per­vi­gi­lanz – Ne­ben­wir­kun­gen vom ei­gen­mäch­ti­gen Ab­set­zen bio­che­mi­scher Trau­ma­the­ra­pie. Er woll­te wohl nicht ver­ges­sen … Drey­fus über­leg­te. Der Kerl war ein in­sta­bi­ler Fak­tor, ein Jo­ker, den er nut­zen muss­te. Er konn­te die Hym­ne auf den Au­dio­ka­nal des Helms le­gen. Der war nach in­nen ge­rich­tet, aber un­ter der Hör­schwel­le wür­de die Mu­sik beim Exo an­kom­men und ihn hof­fent­lich lang­sam über den Rand schie­ben. Und dann? Drey­fus Ge­dan­ken dreh­ten sich im Kreis. Was soll­te er dann tun?

Ein sir­ren­des Ge­räusch er­tön­te hin­ter dem Chief, der sicht­lich er­leich­tert auf­at­me­te. Dann schweb­te über sei­ner Schul­ter ei­ne knall­ro­sa Ku­gel mit weißem Kirsch­blü­ten-De­kor in Drey­fus’ Sicht­feld. Die Droh­ne schwenk­te und dreh­te ihm ein großes Dis­play zu. Das Bild fla­cker­te. Das Lo­go von PinShan In­ter-Trans­port, dann das Ge­sicht ei­ner blas­sen Chi­ne­sin in ei­nem schi­cken, aber förm­li­chen Out­fit. Sehr hübsch. Ir­gend­wie ver­traut. Ein freund­li­ches Lä­cheln, ei­ne höf­li­che Ver­beu­gung. An ih­rer lin­ken Schlä­fe der klei­ne sil­ber­ne Knopf ei­nes CC-Im­plan­tats. Die gan­ze Er­schei­nung strahl­te Ver­trau­ens­wür­dig­keit und Pro­fes­sio­na­li­tät aus. Er brauch­te nicht auf die Ana­ly­se der ETT-App in sei­nen IOs zu war­ten, um zu se­hen, dass sie kein Mensch, son­dern nur ei­ne Quar­reen war.

„Gu­ten Tag! Schön, dass wir mit­ein­an­der re­den. Ich ver­ste­he den Ernst Ih­rer La­ge. Aber ich bin hier, um Ih­nen zu hel­fen. Mein Na­me ist He Mu-Tan. Ich fun­gie­re als recht­li­che Ver­tre­tung von PinShan In­ter-Trans­port und möch­te mit Ih­nen ge­mein­sam ei­ne Lö­sung fin­den, um die­se Si­tua­ti­on für al­le zu ei­nem güt­li­chen En­de zu füh­ren. Ha­ben Sie das ver­stan­den?“

Die Stim­me war glo­cken­rein syn­the­ti­siert und schwang der­art vor Em­pa­thie und Ver­ständ­nis, das Drey­fus bei­na­he los­ge­lacht hät­te. Wahr­schein­lich la­gen be­ru­hi­gen­de Bi­n­au­ral-Fre­quen­zen dar­in. Si­mul­tan­über­set­zun­gen in ver­schie­de­nen Spra­chen scroll­ten am un­te­ren Bild­schirm­rand ent­lang.

Drey­fus nick­te. „Na, da bin ich ja mal ge­spannt.“

Was auch im­mer sie vor­hat­ten, er muss­te hier raus. Von der Glu­ko­se war nichts mehr üb­rig, aber wenn er es nicht ver­such­te, wür­den sie ihn hin­ter der nächs­ten Ecke ab­knal­len. Er ließ sich vom Rhyth­mus der Über­le­ben­den-Mu­sik in sei­nem Helm ein­lul­len, ließ los und sank tiefer, igno­rier­te das leich­te Zup­fen am Ran­de sei­ner Wahr­neh­mung, das Zie­hen in sei­ner Ma­gen­ge­gend. Er be­trach­te­te die vor­bei­hu­schen­den Gly­phen im Craw­ler. Die Netz­wer­ke wur­den spür­bar. Greif­bar.

„Las­sen Sie uns da­mit be­gin­nen, dass wir auf­hö­ren, ein­an­der zu be­dro­hen, ja? Wenn es Ih­nen recht ist, wer­den wir da­mit an­fan­gen. Chief?“ Ei­ne Stim­me wie flüs­si­ger Ho­nig. Der Chief gab sei­nen Män­nern ein Hand­zei­chen, und die Mün­dun­gen der Kom­bi­waf­fen senk­ten sich in Rich­tung Bo­den. Drey­fus run­zel­te die Stirn. Jetzt nicht ab­len­ken las­sen. „Se­hen Sie? Wir möch­ten ver­hin­dern, dass je­mand zu Scha­den kommt.“

Drey­fus zuck­te mit den Schul­tern. Er tauch­te. Sein Geist be­rühr­te die Netz­wer­ke, fühl­te nach Tex­tur, Form, Far­be. Je­des war um­ge­ben von ei­ner glas­har­ten Schicht. Das war et­was an­de­res als das In­ter­face die­ser Wer­be­ta­fel. Sein Atem ging schnel­ler. Aus dem Zup­fen wur­de ein Po­chen in sei­ner Brust. Er konn­te einen Zu­griff ver­su­chen, aber wenn er das falsche er­wisch­te, be­kam er viel­leicht bloß Zu­gang zu den Ver­kehrs­lei­t­si­gna­len oder der Ein­gangs­kon­trol­le.

Kal­ter Schweiß lief über sei­nen Rücken. Die Künst­li­che In­tel­li­genz lä­chel­te. Ihr Ge­sicht kam Drey­fus noch be­kann­ter vor als eben. Das Scheiß­ding pass­te sich in Echt­zeit sei­nen un­ter­be­wuss­ten Re­ak­tio­nen an – ob­wohl er den Helm noch trug. Im Craw­ler er­kann­te er den Stream, der von der Droh­ne aus­ging. Hoch­auf­lö­sen­de Echt­zeit­über­tra­gung, dicht ver­schlüs­selt. Ge­ra­de­zu gru­se­lig, wie vie­le In­for­ma­tio­nen sein Kör­per preis­gab.

Er dach­te an die Me­di­ta­tio­nen aus dem CO­DE, die so et­was ver­hin­dern soll­ten. De­niz Cho­lags Werk ent­hielt zig-ver­schie­de­ne. Das Trak­tat des Flei­sches, den Hy­per­tre­sor …

Drey­fus konn­te sich nicht er­in­nern. Die­sen Teil des CO­DEs hat­te er im­mer nur über­flo­gen. Me­di­ta­ti­on war nicht sein Ding. Sei­ne Hän­de zit­ter­ten. Nein … ru­hig blei­ben, nicht auf­re­gen …

„Da­mit wir uns in ei­ner At­mo­sphä­re von Re­spekt und Höf­lich­keit be­geg­nen kön­nen, möch­te ich Sie um et­was bit­ten. Sie füh­len sich in Ih­rer un­glück­li­chen La­ge ge­zwun­gen, ver­zwei­fel­te Maß­nah­men an­zu­wen­den. Wir ver­ste­hen das.

Ich kann Ih­nen je­doch ver­si­chern, dass es nicht nö­tig sein wird, da­von Ge­brauch zu ma­chen. Ver­trau­en Sie mir! Wenn wir ko­ope­rie­ren, kön­nen wir ge­mein­sam ei­ne fried­li­che und zu­frie­den­stel­len­de Lö­sung er­rei­chen. Ich möch­te Sie da­her bit­ten, Ih­ren Spreng­satz zu de­ak­ti­vie­ren.“

Drey­fus schwank­te. Was zur Höl­le? Er ver­lor das SYNC. Die Netz­wer­ke ver­blass­ten. Er ließ los, spür­te nach dem Schim­mer … sein Herz häm­mer­te, sei­ne Hän­de wa­ren eis­kalt. Er gab auf. Schei­ße. Es über­rasch­te ihn, dass er sei­ne Ar­me im­mer noch er­ho­ben hielt. Er muss­te mit­spie­len.

„Und was, wenn ich es nicht tue?“

Das Ge­sicht der Un­ter­händ­le­rin zeig­te nicht das ge­rings­te An­zei­chen von Ent­täu­schung. „Be­den­ken Sie bit­te, dass die Eva­ku­ie­rung ab­ge­schlos­sen ist. Die Röh­ren des Pod-Sys­tems sind durch ei­ne Pan­ze­rung der Stu­fe E98 ge­gen Be­schä­di­gun­gen ge­schützt. Sie wür­den nur sich selbst scha­den!“

Drey­fus schüt­tel­te den Kopf. In sei­nen Oh­ren rausch­te das Blut. Der dump­fe Rhyth­mus der ara­bes­ken Über­le­ben­den­hym­ne wa­ber­te und erstarb, dann be­gann sie von neu­em. Warum hör­te er solch selt­sa­me Mu­sik? Drey­fus fi­xier­te die Droh­ne. Was hat­te sie ge­sagt? Ach, ja …

„Bulls­hit! Zie­hen Sie die Wa­chen ab! Sie sol­len ver­schwin­den!“

Es war einen Ver­such wert. Na­tür­lich stie­gen sie nicht dar­auf ein.

„Ich bin lei­der an mei­ne Vor­schrif­ten ge­bun­den. Aber se­hen Sie, was wir Ih­nen bie­ten! Wir sind kei­ne Un­menschen. Wenn Sie ko­ope­rie­ren, er­hal­ten Sie Ge­le­gen­heit, den ver­ur­sach­ten Scha­den in zi­vi­li­sier­ter Wei­se zu be­glei­chen. Sie ha­ben uns auf ei­ne Si­cher­heits­lücke in un­se­rem Sys­tem auf­merk­sam ge­macht. Even­tu­ell könn­ten wir Ih­nen rück­wir­kend ei­ne Stel­le als Pe­ne­tra­ti­ons-Tes­ter an­bie­ten.“

Drey­fus muss­te grin­sen, auch wenn hin­ter sei­ner Stirn ein hef­ti­ges Zie­hen be­gann. Sie wür­den ihn nackt durch den Mes­ser­tanz schi­cken … Sei­ne Ar­me krib­bel­ten. Blei­er­ne Mü­dig­keit kroch an ihm hoch.

„Das klingt wie ’n Hau­fen Schei­ße!“

„Ich ver­ste­he, dass Sie miss­trau­isch sind, aber ich kann Ih­nen sa­gen, dass das ein über­aus gu­tes An­ge­bot ist! PinShan In­ter-Trans­port ist be­fugt, Sie für sämt­li­chen Schä­den an Ma­te­ri­al, Per­so­nal, Im­mo­bi­li­en, Re­pu­ta­ti­on und Image der Ge­sell­schaft zur Re­chen­schaft zu zie­hen. Von Rechts­we­gen ist Ihr Fall als Akt des Ter­ro­ris­mus zu ahn­den, nach Pa­ra­graf 6857.88 A des Bahn-Si­cher­heits­ge­set­zes ei­ne Tod­sün­de Klas­se P. Selbst falls Ih­nen Ihr Le­ben als wür­di­ger Ein­satz er­schei­nen mag, be­den­ken Sie bit­te, dass die Ge­samt­kos­ten ge­ge­be­nen­falls nach Pa­ra­graf 443.90 D Nach­lass­ver­wal­tungs­ver­ein­ba­rung aus Ih­ren per­sön­li­chen Be­sitz­tü­mern be­zahlt wür­den.“

Die Un­ter­händ­le­rin wirk­te ehr­lich be­sorgt. Ekel­haft. „Soll­ten die­se Mit­tel nicht aus­rei­chen, wä­re die PinShan In­ter-Trans­port da­zu au­to­ri­siert, den Dif­fe­renz­be­trag bei Ih­ren nächs­ten Ver­wand­ten ein­zu­trei­ben. Laut un­se­rer Phä­no­typ-Ana­ly­se liegt Ih­re Her­kunft mit 98,2-pro­zen­ti­ger Wahr­schein­lich­keit im öst­li­chen Teil der ver­las­se­nen Rand­ge­bie­te …“

Der Exo at­me­te scharf ein. Drey­fus sah ihm in die Au­gen. Er war zwar kein Scrat­cher, aber er war auf de­ren heu­ti­gem Ge­biet ge­bo­ren.

„… wür­de ei­ne um­fang­rei­che Un­ter­su­chung ein­lei­ten, um et­wai­ge Ver­wand­te aus­fin­dig zu ma­chen. Fol­ge­kos­ten für DNA Ab­glei­che etc. wür­den eben­so um­ge­legt …“