Irrlicht 32 – Mystikroman - Judith Parker - E-Book

Irrlicht 32 – Mystikroman E-Book

Judith Parker

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Beschreibung

Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. »Josephine!«, rief ich. »Josephine, was ist geschehen?« Ich wünschte, ich hätte den Kerzenleuchter noch bei mir gehabt. Aber das Mondlicht war hell genug, um sehen zu können, dass ein Stück ihres Nachthemdes eingeklemmt war, und zwar in der Mauer zwischen den Quadersteinen. Wie war das möglich? Die grünen Augen funkelten mich wie gehetzt an. Die Frau stammelte zusammenhanglose Worte. Ihrem wirren Gerede konnte ich nichts entnehmen. Ich kniete mich neben sie nieder. »Josephine, komm zu dir. Ich bin ja bei dir. Bitte, Josephine«, flehte ich. »Was ist geschehen? Weshalb bist du hier oben? So sprich doch!« Ich schüttelte sie leicht. Tatsächlich reagierte sie, ihr Blick wurde klarer, aber das geisterhafte Licht des Mondes, das nun voll durch das Fenster fiel, ließ ihr Gesicht aschgrau erscheinen. »Jemand … war bei mir im Zimmer.

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Irrlicht – 32 –

Vom Teufel besessen

… verfolgt Josephine de Lombard ihren irrwitzigen Plan

Judith Parker

»Josephine!«, rief ich. »Josephine, was ist geschehen?« Ich wünschte, ich hätte den Kerzenleuchter noch bei mir gehabt. Aber das Mondlicht war hell genug, um sehen zu können, dass ein Stück ihres Nachthemdes eingeklemmt war, und zwar in der Mauer zwischen den Quadersteinen. Wie war das möglich? Die grünen Augen funkelten mich wie gehetzt an. Die Frau stammelte zusammenhanglose Worte. Ihrem wirren Gerede konnte ich nichts entnehmen. Ich kniete mich neben sie nieder. »Josephine, komm zu dir. Ich bin ja bei dir. Bitte, Josephine«, flehte ich. »Was ist geschehen? Weshalb bist du hier oben? So sprich doch!« Ich schüttelte sie leicht. Tatsächlich reagierte sie, ihr Blick wurde klarer, aber das geisterhafte Licht des Mondes, das nun voll durch das Fenster fiel, ließ ihr Gesicht aschgrau erscheinen. »Jemand … war bei mir im Zimmer. Oh, es war grauenvoll. Ein seltsames Wesen, eine unheimliche Gestalt, die von innen hell erleuchtet war.« Sie stöhnte auf und hob matt die rechte Hand. »Es war der Geist von Charlotte de Lombard. Die arme Seele findet keine Ruhe. Sie wandelt noch immer auf Erden und will sich rächen. Sie …«

Bis zu meiner Hochzeit hatte ich die wichtigsten Ereignisse meines bisherigen Lebens in mein in grünes Leder gebundenes Tagebuch fein säuberlich eingetragen. Mein Vater hatte mir das Büchlein aus Versailles mitgebracht. Auch meine Schwestern besaßen solche Bücher. Ob sie diese jemals benutzt hatten, entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht hatte Nadine einige Seiten mit ihrer großen ungleichmäßigen Schrift beschrieben. Aber Josephine und Charlotte waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um sich dafür die Zeit zu nehmen. Sie waren flatterhaft.

Ich blickte hinaus durch das kleine Fenster der Dachgeschosswohnung in einem Mietshaus in Paris, wo ich seit einigen Monaten lebte.

Ganz am Anfang war ich hier un­endlich glücklich gewesen und ausgelassen vor Freude, endlich in dieser Stadt mit dem quirlenden Leben sein zu dürfen. Jeden Tag hatte es etwas Neues für mich zu sehen gegeben. Mein Mann hatte sich in den ersten Wochen für mich noch Zeit genommen. Nun aber … Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.

Wir liebten uns noch ebenso wie einst, aber er hatte einen Beruf, der ihn ganz forderte. Manchmal klagte er sich selbst an, weil er mir ein solches Leben zumutete, ein Leben voller Einsamkeit, oft kam er erst gegen Mitternacht heim.

Ich jedoch beklagte mich niemals, obwohl ich vor Heimweh nach Schloss Fontenay häufig heimliche Tränen vergoss. Ja, es fiel mir noch immer schwer, in dieser kleinen Wohnung zu leben. Aufgewachsen in einem herrlichen Schloss mit prunkvollen Gemächern, Salons, Sälen, Erkern und Türmchen, in denen ich mich frei bewegen konnte, kam ich mir zwischen den engen Wänden wie eine Gefangene vor, wie ein Vogel in einem kleinen Käfig. Vom Fenster der guten Stube aus konnte man ein Stück von der Seine überblicken und auch die hässlichen Häuser auf dem gegenüberliegenden Ufer deutlich erkennen.

Am Morgen, wenn ich den hölzernen Ladenflügel öffnete und das Butzenscheibenfenster aufstieß, hörte ich das Gekreische der Frauen, die ihre Wäsche im Fluss wuschen, und die lauten Stimmen der Männer, die Frachtschiffe ent- oder beluden, bis zu mir herüber.

»Es ist ja nicht für lange«, versprach mir mein Mann immer wieder. »Ar­lette, bald werden wir wieder daheim sein. Aber du weißt ja, dass ich …«

»Aber ja«, antwortete ich jedes Mal mit einem kleinen Lachen. »Ich fühle mich wohl hier. Ganz bestimmt.«

Dass er mir nicht glaubte, wusste ich, aber wir benahmen uns ganz so, als wäre alles in bester Ordnung – das war es im Grunde genommen auch. Wir waren jung und …

Ich unterbrach mich in meinen Gedanken und blickte hinaus. Drückende Schwüle lag über der Stadt, und der Wind trug den Gestank der engen Gassen zu mir herüber. Ich hätte das Fenster schließen können, aber dann wäre es noch heißer, noch stickiger in der Wohnung geworden. Außerdem hatte ich mich an diese übelriechenden Düfte mittlerweile schon gewöhnt.

Ich zwang mich, den Gestank zu ignorieren und dachte an Schloss Fontenay und den herrlichen Park, der es umgab. Ich eilte in Gedanken die breite Eichenallee entlang, bog in einen gewundenen Seitenweg ein, der bei einem zwischen blühenden Sträuchern und uralten Bäumen versteckten See endete. Auf dem Wasser schwammen Seerosen, und ein Kahn war an dem Steg vertäut. Das leise Rauschen in den Kronen der Laubbäume glaubte ich deutlich zu hören …

Das Heimweh trieb mir die Tränen in die Augen, und ich schlug die erste Seite des vor mir liegenden Tagebuches auf. Durch Zufall hatte ich es am heutigen Nachmittag zwischen meinen Dessous in der Kommode gefunden. Mein erster Impuls war, das Büchlein im Kamin zu verbrennen, um die schrecklichste Zeit meines Lebens aus meinem Gedächtnis zu streichen. Aber kann man derartige tragische Ereignisse vergessen? Nein, das war leider unmöglich. Sie hinterließen tiefe Wunden, deren Narben bis zum Tode schmerzten.

Gedankenvoll blätterte ich die Seiten um. Sollte ich tatsächlich alles lesen, was ich einst niedergeschrieben und auf diese Weise festgehalten hatte? Vielleicht würde es mir helfen, endlich einen Schlussstrich unter die ersten achtzehn Jahre meines Lebens zu ziehen? In diesen Jahren hatte ich Freud und Leid erlebt und mich von klein auf dagegen gesträubt, stets das fünfte Rad am Wagen zu sein. Wenn man drei auffallend hübsche Schwestern hat und selbst um einige Grade von der Natur benachteiligt worden ist, hat man es bestimmt nicht einfach im Leben. Tragisch für mich war es auch, dass meine Geburt meiner Mutter das Leben gekostet hatte.

Mein Vater hatte mich das all die Jahre spüren lassen. Was für eine Ungerechtigkeit! Sind nicht die Eltern für das Leben ihrer Kinder verantwortlich?

Wäre Mouchette nicht gewesen, hätte ich eine einsame Kindheit gehabt. Als jüngste von vier Schwestern hätte ich stets im Hintergrund gestanden, aber Mouchette, die Beschließerin von Fontenay, hatte mich besonders in ihr Herz geschlossen.

Ihre mütterliche Liebe, die mich wie ein warmer Mantel umhüllt hatte, war unendlich tröstend für mich gewesen. Sie hatte mir wunderschöne Geschichten erzählt, Legenden und Märchen aus der Bretagne. Denn sie ist Bretonin und litt wohl auch heute noch unter Heimweh. Da mein Vater meine drei älteren Schwestern mit Geschenken überhäufte, weil jede von ihnen auf ihre Art eine Schönheit war, blieb für mich nie etwas übrig. Ich musste die getragenen Kleider meiner Schwestern anziehen, doch das störte mich nicht sehr. Ich war weder eitel noch hoffärtig, weil ich davon überzeugt war, dass ich bestimmt niemals heiraten würde.

Aber glücklicherweise kann niemand in die Zukunft sehen. Wahrsagerinnen waren in keiner Weise zuverlässig. Wenn das zuträfe, was Madame Voisin meiner ältesten Schwester Josephine vorausgesagt hatte, hätte sie eine bedeutende Rolle am Hof von Versailles spielen müssen – und Charlotte? Auch ihr hatte die Voisin eine glückliche Zukunft prophezeit. Die Frau hatte dafür viel Geld eingesteckt und Josephine und Charlotte …

Ich warf abermals einen Blick zum Fenster hinaus. Es war bereits dunkel, eine wundervolle Nacht, der Mond stand voll am nachtblauen Himmel. Seltsamerweise verdeckte eine schmale Wolke die Mitte des Mondes.

Auch in der Nacht damals, als in dem Spuktürmchen ein goldgelbes Licht brannte, war Vollmond gewesen und auch damals …

Ich schlug die erste Seite des Tagebuches auf. Mit meiner damals großen Kinderhandschrift hatte ich nur wenige Zeilen eingetragen, kindliche Gedanken über kleine Erlebnisse, die einst eine große Bedeutung für mich gehabt hatten.

Josephine, Charlotte und Nadine waren mit meinem Vater nach Versailles gefahren. Mouchette und ich hatten der Kutsche nachgesehen, dann hatte die Frau meine Hand umfasst und war mit mir tiefer in den Park hineingegangen bis zu dem kleinen See. Und Baptiste, der Sohn von Dr. Fagon, war uns nachgelaufen und hatte uns auf den See hinausgerudert. Baptiste ist sechs Jahre älter als ich. Damals war er mit seinen sechzehn Jahren für mich bereits ein richtiger Mann. Dass er sich mit einem zehnjährigen Mädchen abgab, erschien mir seltsam und zugleich wunderbar. Meine Schwestern beachtete er kaum. Josephines rotes Haar und ihre großen grünen Augen schienen ihn in keiner Weise zu beeindrucken, auch Charlottes wundervolles dunkelbraunes Haar und ihre grauen Augen ließen Baptiste kalt. Nadine gefiel ihm scheinbar schon besser. Sie, die damals zwölf war, und ich sahen uns ähnlich. Allerdings hatte sie ein hübsches Gesicht mit großen rehbraunen Augen und aschblondem Haar, während ich einen etwas zu großen Mund hatte, und das Braun meiner Augen war sehr viel dunkler, ganz zu schweigen von meinem Haar. Es ließ sich nicht bändigen und hatte einen rötlichen Ton. Es war weder blond noch rot. Und meine Nase war viel zu kurz mit breiten Nasenflügeln. Zumindest sah ich mich so, wenn ich mal einen schnellen Blick in den Spiegel warf.

Baptiste war damals mit seinen langen dünnen Armen und Beinen und seinen schlaksigen Bewegungen auch keine Schönheit. Er war entsetzlich mager und hatte unregelmäßige Züge. Seine Nase war groß und saß ein wenig schief im Gesicht. Das Auffallendste an ihm waren seine blaugrauen Augen. Und sein Lachen. Ich kenne bis heute noch keinen Mann, der so herzlich lachen kann wie er. Seine Stimme war angenehm und wirkte beruhigend auf seine Umgebung. Schon als Sechzehnjähriger war er fest entschlossen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, der als Landdoktor Tag und Nacht auf den Beinen war. Manchmal fragte ich mich, wann er überhaupt einmal schlief.

Auf den nächsten Seiten erwähnte ich hin und wieder auch meine Schwestern, die ununterbrochen von unserem König und seiner Mätressenwirtschaft sprachen. Alle drei waren fest entschlossen, eines Tages die Mätresse des Königs zu werden. Ist es tatsächlich ein erstrebenswertes Ziel, diese Rolle am Hof von Versailles zu spielen? Niemals würde ich mich um diese Stellung reißen. Ich würde mich in Grund und Boden schämen, unverheiratet mit einem Mann zu leben und mir von ihm Schmuck, Kleider und Pelze schenken zu lassen.

So dachte ich mit zehn Jahren, und so denke ich auch noch heute. Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich zum ersten Mal das rotgoldene Licht im Spuktürmchen von Fontenay gesehen. In derselben Nacht war meine Großmutter mütterlicherseits gestorben, an der ich sehr gehangen hatte.

Von da an konzentrierte ich mich nur noch auf Mouchette. Der Spuk in der Nacht, als Großmutter starb, veranlasste Mouchette, mir noch einmal die Geschichte von der Baronin Charlotte de Lombard zu erzählen, die in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts gelebt hatte – also vor ungefähr zweihundert Jahren. Sie war eine auffallend schöne Frau gewesen und sehr heißblütig. Ein Porträt von ihr hängt in der Ahnengalerie von Fontenay. Meine Schwester Charlotte ist ihrer Urahnin wie aus dem Gesicht geschnitten, und sie ist stolz drauf. Das Unglück des Lebens unserer Urahnin war das Alter ihres Mannes gewesen, der um mehr als zwanzig Jahre älter als sie war. Nachdem seine Frau ihm drei Söhne geschenkt hatte, berührte er sie nie mehr. Charlotte aber nahm das nicht so ohne Weiteres hin. Sie erhörte einen ihrer Verehrer und traf sich mit ihm in dem Türmchen. Es kam, wie es kommen musste. Die schöne Baronin wurde immer leichtsinniger, und unser Urahne erwischte das Liebespaar in einer eindeutigen Situation. Er tötete beide. Es hieß, dass er den von ihm getöteten junge Mann zum Fenster des Türmchens hinausgestoßen hätte. Die Leiche seiner Frau wäre nie gefunden worden. Jahrelang waren die Gerüchte nicht verstummt, und noch heute glaubte man, dass die Tote keine Ruhe fände und nachts im Türmchen spuke. Auch ich glaubte das.

Mit einem traurigen Lächeln überflog ich die Zeilen, die ich damals niedergeschrieben hatte, als meine Großmutter gestorben war und ich vorher das unheimliche Licht gesehen hatte. Und als Josephine zweiundzwanzig Jahre alt gewesen war, hatte ich das gespenstische Licht im Spuktürmchen ebenfalls gesehen. Auf meine Schwester war ein Giftanschlag verübt worden. Dr. Fagon, also Baptistes Vater, war es gelungen, meine Schwester zu retten. Bis zum heutigen Tag kannte niemand den Täter. In dieser Zeit lebten meine drei schönen Schwestern und mein Vater, der als kleiner Hofbeamter eine Wohnung in Versailles zugeteilt bekommen hatte, fast das ganze Jahr dort. Des Königs Mätresse Madame de Montespan führte am Hof von Versailles das große Wort. Dort herrschte ein Leben voller Intrigen, Eifersüchteleien und Völlerei. Einige Giftmorde hatten lähmendes Entsetzen ausgelöst.

Josephine, Charlotte und Nadine ließen sich dadurch nicht von ihrem Ziel abbringen. Wenn sie mal für einige Tage nach Fontenay zurückkehrten, erzählten sie triumphierend, dass Madame de Montespan noch dicker geworden sei und ihr majestätischer Liebhaber ein Auge auf sie alle drei geworfen hätte. So wie es meine Schwestern darstellten, schien es Seiner Majestät schwerzufallen, die richtige Wahl zu treffen. Das Lächerlichste daran war, dass jede meiner Schwestern fest davon überzeugt war, dass sie das Rennen machen würde. Josephine blieb vor jedem Spiegel stehen und bewunderte sich. Sie sah sehr viel jünger als vierundzwanzig aus mit ihren wie Alabaster schimmernden Schultern und dem zarten Teint. Ihre grünen Augen leuchteten siegessicher. Charlotte wirkte rassiger und bevorzugte Rot. Sie war kleiner als Josephine und hatte eine wunderschöne Figur. Sie war rundlich und dennoch wohlgeformt. Nadine mit ihren zwanzig Jahren sah noch kindlich aus. Sie hatte rosige Wangen, und ihre rehbraunen Augen glichen Topasen. Die langen dunklen Wimpern verliehen ihnen etwas Geheimnisvolles. Ja, jede von ihnen war auf ihre Art eine kleine Persönlichkeit. Vielleicht fiel dem König die Wahl tatsächlich schwer. Dass er Madame de Montespan nur noch selten besuchte war ein offenes Geheimnis.

Mein Vater stolzierte wie ein aufgeplusterter Gockel umher. Der Vater der Mätresse des Königs zu sein konnte ihm nur zugutekommen.

*

So war die Situation, als die eigentliche Geschichte meiner Schwestern begann und ihrem Höhepunkt zutrieb. Bereits am Morgen dieses Julitages war es sehr heiß. Mouchette erlaubte es mir, mich so leicht wie möglich zu kleiden. Das einfache himmelblaue Wollmusselinkleid ohne Unterröcke liebte ich besonders. Auch verzichtete ich auf ein Mieder. Mein Vater wäre entsetzt gewesen, wenn er das auch nur geahnt hätte. Aber er befand sich in Versailles. Unsere Dienerschaft hatte alle Hände voll zu tun, und Mouchette hielt sie trotz der Hitze in Trab.

So war ich mir selbst überlassen. Ich eilte durch den Park. Mein Ziel war der See. Bereits als Kind konnte ich gut wie ein Fisch schwimmen. Voller Freude streifte ich das Kleid ab und warf mich mit ausgebreiteten Armen in das kühle Wasser. Ich hätte jubeln können vor Lebensfreude. Wenn jemand glaubte, ich würde meine Schwestern beneiden, so irrte er sich gewaltig. Einige Male war auch ich in Versailles gewesen. Doch jedes Mal hatte ich aufgeatmet, wenn ich wieder in der Kutsche saß, die mich nach Schloss Fontenay zurückbrachte. Ich konnte dem Hofleben nichts abgewinnen. Das ewige Getuschel und Gekicher hinter vorgehaltenen Fächern stieß mich ab, und die Höflinge in ihren Seidenanzügen und den unzähligen Spitzenvolants fand ich widerlich. Ihr geziertes Benehmen, ihre näselnden Stimmen …

Nein danke, darauf verzichtete ich gern. Und meine Schwestern erinnerten mich an läufige Hündinnen. Warum heirateten sie nicht? Ihnen mangelte es gewiss nicht an Verehrern. Warum führte Nadine Jean-Claude de Patoulet an der Nase herum? Er war der Sohn von Graf Patoulet, dem das Nachbarschloss gehörte. Er liebte Nadine leidenschaftlich, aber die dumme Gans glaubte doch tatsächlich, eines Tages als Mätresse des Königs über Versailles und den Louvre herrschen zu können.

Charlotte wurde von Pierre de Timelon geliebt. Er war Lieutenant in der königlichen Leibgarde in Versailles. Obwohl er Charlottes hochstrebendes Ziel kannte, ließ er sich nicht entmutigen. Wahrscheinlich hielt er das für eine Jungmädchenlaune, aber ich wusste es besser.

Ich schwamm nun auf dem Rücken und blickte zum Himmel hinauf, an dem weiße Sommerwölkchen seltsame Wesen bildeten, Fabeltiere, die mich entzückten. Dann schweifte mein Blick hinüber zum Ufer, wo sich die Äste uralter Laubbäume im Wind wiegten.

Plötzlich sah ich einen Mann. Er trat hinter einem Busch hervor und starrte grinsend zu mir herüber. Es war ein unheimlicher Mann in einem speckig glänzenden Lederwams und verbeulten Hosen. Die langen Ärmel des einstmals weiß gewesenen Hemdes waren zerrissen.

Wieder einmal wurde mir bewusst, wie leichtsinnig es doch von mir war, allein und splitternackt im See zu baden. Vermutlich war es dem Landstreicher gelungen, über die an manchen Stellen schadhafte Parkmauer zu klettern, mit der Absicht zu stehlen.

Ich entfernte mich weiter vom Ufer und war entschlossen, so lange im Wasser zu bleiben, bis dieser schreckliche Kerl sich zurückgezogen hatte. Vielleicht aber …

Fast konnte ich es nicht glauben, als meine drei Schwestern in Begleitung des jungen Grafen Patoulet und des Lieutenants Timelon den Weg zwischen den hohen Bäumen auf den See zukamen. Der Landstreicher lief davon, und ich tauchte unter. Als ich wieder auftauchte, standen Nadine, Charlotte, Josephine und die beiden jungen Männer dicht am Ufer. Sie debattierten lebhaft miteinander und schienen sich dazu entschlossen zu haben, mit dem Kahn hinauszurudern. Was für eine peinliche Situation.

Nadine entdeckte mich zuerst. Nun richteten sich alle Augenpaare auf mich. Wie peinlich das alles ist, sagte ich mir und hoffte, dass die jungen Männer gehen würden.

Nadine erblickte mein Musselinkleid, das an einem Zweig hing, und lief am Seeufer entlang. Ich schwamm zu der Stelle hin, wo sie auf mich wartete.

Als ich in das Kleid schlüpfte, erwartete ich Vorwürfe, aber Nadine machte keine Bemerkung darüber. Sie sah schrecklich wütend aus und schien erregt zu sein.

»Du bist die Klügste von uns vieren«, stellte sie fest. »Ich kehre nicht nach Versailles zurück. Charlotte und Josephine sollen zum Teufel gehen. Eines Tages wird es mit ihnen noch ein schlimmes Ende nehmen. Madame de Montespan ist mehr denn je entschlossen, ihre Stellung zu behaupten. Ihr hier in Fontenay lebt hinterm Mond. Oder hast du schon etwas von dem Skandal gehört?«

»Was für ein Skandal?«, fragte ich und lockerte mein nasses Haar auf.