Irrlicht 7 – Mystikroman - Melissa Anderson - E-Book

Irrlicht 7 – Mystikroman E-Book

Melissa Anderson

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Beschreibung

Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. Melanie Simpson schloß mit einem Ruck den Reißverschluß ihrer Reisetasche. Unsicher sah sie zu ihrem Vater hinüber. »Daddy, soll ich nicht lieber doch…«, begann sie zögernd, doch ihr Vater schnitt ihr das Wort ab. »Unsinn, Kind. Du fährst zu deiner Tante Faye, und damit basta. Schließlich ist es schon lange so abgemacht.« »Aber Mom…«, begann Melanie erneut. Ihr Vater hob den Kopf und faltete seine Zeitung zusammen. »Deine Mutter hat sich lediglich den Arm gebrochen und wird in einigen Tagen wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden«, bemerkte er etwas ungeduldig. »Glaubst du, ich schaffe das bißchen Haushalt nicht allein? Weshalb habe ich mir denn Urlaub genommen?« Melanie seufzte. »Ich hätte die Fahrt nach Tulameen City verschieben können«, wandte sie ein. »Wie denn, Mädchen? Ferien lassen sich nicht verschieben, und die Hotelfachschule solltest du auch nicht schwänzen. Mach dir doch nicht so viele Gedanken.

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Irrlicht – 7 –

Nächte in der Geisterstadt

Die Vergangenheit kann schrecklich sein, Melanie Simpson…

Melissa Anderson

Melanie Simpson schloß mit einem Ruck den Reißverschluß ihrer Reisetasche. Unsicher sah sie zu ihrem Vater hinüber. Harry Simpson saß in der Küche am Frühstückstisch und studierte die Zeitung:

»Daddy, soll ich nicht lieber doch…«, begann sie zögernd, doch ihr Vater schnitt ihr das Wort ab.

»Unsinn, Kind. Du fährst zu deiner Tante Faye, und damit basta. Schließlich ist es schon lange so abgemacht.«

»Aber Mom…«, begann Melanie erneut. Ihr Vater hob den Kopf und faltete seine Zeitung zusammen.

»Deine Mutter hat sich lediglich den Arm gebrochen und wird in einigen Tagen wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden«, bemerkte er etwas ungeduldig. »Glaubst du, ich schaffe das bißchen Haushalt nicht allein? Weshalb habe ich mir denn Urlaub genommen?«

Melanie seufzte. »Ich hätte die Fahrt nach Tulameen City verschieben können«, wandte sie ein.

»Wie denn, Mädchen? Ferien lassen sich nicht verschieben, und die Hotelfachschule solltest du auch nicht schwänzen. Mach dir doch nicht so viele Gedanken. Du wirst sehen, es wird auch ohne dich alles bestens laufen. Hast du überhaupt schon was gegessen.«

»Nein. Ich habe keine Hunger.«

»Du setzt dich her und ißt«, befahl ihr Vater. »Mit leerem Magen fährst du mir nicht weg.«

Melanie gehorchte widerstrebend und steckte zwei Brotscheiben in den Toaster. Dann setzte sie sich zu ihrem Vater an den Tisch und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Ihr Vater betrachtete sie prüfend durch seine Brillengläser.

»Sag bloß, du bist aufgeregt«, meinte er mit gutmütigem Spott, »du hast gerade vier Stunden Fahrt vor dir, keine Weltreise.«

Melanie bestrich sich ihren Toast.

»Aber es ist schließlich die erste weitere Reise, die ich allein mit meinem Auto unternehme. Wann bin ich denn schon mal aus Spokane herausgekommen?« Sie nahm einen Schluck Kaffee und warf das braune lange Haar zurück. »Außerdem fahre ich ins Ausland«, setzte sie noch trocken hinzu.

Harry Simpson grinste breit.

»Über die kanadische Grenze zu fahren ist natürlich eine ungeheuere Anstrengung. Hast du überhaupt deinen Reisepaß eingesteckt?«

»Ja. Liegt alles im Handschuhfach.«

»Du solltest dir auch lieber ein Lunchpaket zurechtmachen«, empfahl er. »In Kanada haben sie recht saftige Preise. Du solltest mit deinem Geld etwas sparsam umgehen.«

»Okay, wenn du meinst.« Melanie ging zum Kühlschrank und nahm Käse, Schinken und Thunfisch heraus. Damit belegte sie ein paar Sandwiches und nahm sich noch einen Apfel und eine Banane vom Obstkorb auf der Anrichte. Dann goß sie sich noch mal eine Tasse Kaffee ein und zündete sich eine Zigarette an.

»Rauch nicht so viel«, mahnte ihr Vater, »und versprich mir, daß du ordentlich essen wirst. Du bist ohnehin viel zu dünn. Naja, Faye wird dich schon ein bißchen aufpäppeln.«

Melanie verzog das Gesicht und warf ihrem Vater einen schrägen Blick zu, sagte aber nichts weiter.

»Hast du auch genügend Benzin im Tank?« fuhr er genüßlich fort, »und hast du dir warme Sachen eingepackt? Abendkleid und Stöckelschuhe kannst du daheim lassen. So was brauchst du in Tulameen City nicht.«

Melanie trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

»Daddy«, begann sie drohend, »ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und gehe schon seit emiger Zeit nicht mehr in den Kindergarten, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest.«

Harry Simpson grinste vergnügt. »Siehst du, du kannst es auch nicht leiden, wenn man dir dauernd dreinredet und dich wie ein kleines Kind behandelt. Dasselbe tust du nämlich schon seit zwei Tagen mit mir. Mir gefällt es genauso wenig daß du mich offensichtlich für unfähig hältst, Mutter und das Haus zu versorgen.«

Melanie kicherte. »Okay, Daddy. Du kommst allein klar, und ich ebenfalls.

Also keine gegenseitigen guten Ratschläge und erhobene Zeigefinger mehr.«

»Einverstanden. Aber eines muß ich dir trotzdem noch sagen, junge Lady: keine Abenteuerchen, hörst du? Da läßt du mir die Finger davon. Du tust nichts weiter, als Faye zu besuchen, ihr ein wenig zur Hand zu gehen und Urlaub zu machen, verstanden?«

Melanies Herz tat plötzlich einen aufgeregten Schlag. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihren Vater

an.

»Abenteuerchen?« wiederholte sie gedehnt. »Gäbe es denn dort welche zu erleben?«

»Das hätte ich wohl besser erst gar nicht gesagt«, brummte Harry Simpson, als er die glänzenden Augen seiner Tochter sah. »Jedenfalls ist Tulameen City eine Ghost Town, wie du weißt. So was beflügelt natürlich die Fantasie. Die Goldmine ist schon seit fast achtzig Jahren stillgelegt, doch während dieser ganzen Zeit sind Abenteurer aus der ganzen Welt nach Tulameen City gekommen, um nach dem… ach was, du brauchst auch nicht alles zu wissen. Ich hoffe nur, daß Faye sich noch sehr gut daran erinnern kann, daß du deine neugierige kleine Nase schon von klein auf in Dinge hineingesteckt hast, die dich absolut nichts angehen und die obendrein noch gefährlich sind.«

Melanie wollte protestieren, schwieg aber dann. Stirnrunzelnd dachte sie über das nach, was ihr Vater eben gesagt hatte. Warum hatte er nicht weitergesprochen? Was war es, was sie nicht zu wissen brauchte? Und weshalb kamen immer noch Abenteurer nach Tulameen City? Gab es dort noch Gold? Einen versteckten Schatz?

Sie wurde immer aufgeregter, bemühte sich aber, ihrem Vater gegenüber gelassen zu wirken. Plötzlich hatte sie das untrügliche Gefühl, in der Ghost Town etwas Aufregendes zu erleben. Irgendwas mußte es da schließlich geben, sonst hätte ihr Vater sie nicht gewarnt. Und sie würde natürlich nicht eher Ruhe geben, bis sie es herausgefunden hatte.

Melanie nahm ihre Reisetasche und die Sonnenbrille und verabschiedete sich von ihrem Vater.

»Mach’s gut, Daddy.« Sie küßte ihn herzlich auf beide Wangen. »Und gib Mom auch noch einen Kuß von mir. Sieh zu, daß sie nicht gleich wieder hier herumwerkelt, sobald sie zu Hause ist.«

»Wird gemacht, Darling.« Harry Simpson drückte seine einzige an sich. »Und grüße mein Schwesterherz von mir. Faye kann sich bei uns ruhig auch mal umsehen.«

Er wurde ernst. »Versprich mir, daß du nichts auf eigene Faust unternimmst und dich nicht leichtsinnig in Gefahr begibst. Sieh dir alles an, es ist sicher sehr interessant, aber nur das, was man für die Touristen freigegeben hat. So viel ich weiß, werden dort auch Führungen unternommen. Nicht, daß du allein in irgendwelchen verlassenen Stollen herumkrabbelst. Gold gibt es dort ohnehin keines mehr, also laß die Finger davon.«

Melanie seufzte, versprach ihm aber alles, um ihre Ruhe zu haben und endlich wegzukommen. Es war schon fast Mittag. Ursprünglich hatte sie eine gemütliche Fahrt geplant gehabt und ein paar gute Aufnahmen unterwegs machen wollen. Inzwischen mußte sie sich sputen, wenn sie die Ghost Town noch vor dem Abend erreichen wollte.

Melanie warf die Reisetasche zu den beiden Koffern im Kofferraum und stieg dann in ihren Subaru. Wenig später fuhr sie über Colville der kanadischen Grenze entgegen.

*

Die Gegend war herrlich, das Wetter konnte nicht besser sein. Melanie stoppte bei jeder Gelegenheit, um die schöne Aussicht zu fotografieren. Einmal lief ihr ein kleiner Bär über den Weg, mit einem Büschel Löwenzahn im Maul. Bei Ymir fuhr sie auf einen Rastplatz und verzehrte ihre Sandwiches. Sie genoß ihre erste selbständige Fahrt in vollen Zügen.

Melanie versuchte, sich die alte Ghost Town Tulameen City vorzustellen. Viel wußte sie nicht darüber, nur, daß sie vor hundert Jahren eine blühende Goldgräberstadt gewesen war und jetzt eine Touristenattraktion mit einem kleinen Museum, das ihre Tante Faye leitete. Melanie fuhr unwillkürlich etwas schneller. Es wäre doch gelacht, wenn sich dort nicht wenigstens ein kleines Abenteuerchen, wie ihr Vater es ausgedrückt hatte, erleben ließe.

Sie hatte keine Ahnung davon, daß sie schon sehr bald in Lebensgefahr geraten sollte…

Melanie war bester Dinge und summte vergnügt die Melodie mit, die aus dem Autoradio kam.

Nur eines trübte ihre Freude etwas: der Gedanke an ihre Mutter, die mit einem komplizierten Armbruch im Krankenhaus lag. Ursprünglich hatten ihre Eltern mitfahren wollen, wenn auch nur für zwei Wochen. Und nun mußte ihr Vater seinen Urlaub dazu verwenden, den Haushalt zu besorgen und sich um seine Frau zu kümmern.

Melanie seufzte, als sie daran dachte. Harry Simpson war Computerfachmann und ein wahres Genie, wenn es darum ging, neue Programme für die High School in Spokane zu entwickeln. Aber sie wußte auch genau, daß er nicht in der Lage war, ein ordentliches Essen zuzubereiten…

Die Sonne stand schon ziemlich tief, als Melanie zu ihrem großen Ärger bemerkte, daß sie sich verfahren hatte. Statt nach links in Richtung New Denver abzubiegen, war sie ganz in Gedanken geradeaus weitergefahren. Sie merkte es, als die Asphaltstraße immer schmaler und schlechter wurde und schließlich in eine holprige Schotterstraße überging. Sogar zum Wenden bestand keine Möglichkeit. Zur Linken erhob sich ein steiler Berg, rechts unten in der Tiefe lag ein gletscherblauer See. Dabei hatte ihr Vater ihr noch eingeschärft gehabt, unbedingt auf diese Abzweigung zu achten.

»Teufel noch mal!« ärgerte sie sich laut.

Nach einer Weile fand sie zum Glück einen kleinen Rastplatz, auf dem sie wenden konnte. Melanie beruhigte sich wieder und stieg aus, um sich den geheimnisvollen See unter ihr genauer anzusehen. Er war einfach zauberhaft. Unweit vor ihr stand sogar ein Baum mit wilden Kirschen, und sie nahm ihren Fotoapparat, um beides auf den Film zu bannen.

Als Melanie wieder an die Abzweigung kam, konnte sie gar nicht mehr verstehen, wie sie sie hatte übersehen können. Das war nur daher gekommen, daß sie mit ihren Gedanken bereits bei all dem Aufregenden war, das sie womöglich in Tulameen City erwarten würde.

Es dauerte nicht lange, da sah sie an der Straße ein Hinweisschild: »Tulameen City, Ghost Town«.

Wenig später bog sie in eine noch schlimmere Schotterstraße ein, die nach Tulameen City führte. Auf einem großen überdachten Schild stand anscheinend etwas Historisches über die Ghost Town. Melanie stieg aus, um den Text zu lesen und erfuhr so, daß Tulameen City einst dreiundzwanzig Hotels und Saloons, ein Dutzend Geschäfte und vieles mehr aufzuweisen gehabt hatte.

Die Sonne ging langsam unter und warf bereits lange Schatten. Seit einiger Zeit hatte Melanie schon kein anderes Fahrzeug mehr gesehen.

Sie war erst ein kurzes Stück gefahren, als ihr richtig unheimlich zumute wurde. Es war düster geworden. Rechts und links von der Straße kam der dichte Laubwald bis unmittelbar an die Fahrbahn. In der eigenartigen Atmosphäre fühlte sich Melanie unwillkürlich in die Zeit vor hundert Jahren zurückversetzt, als so mancher diesen Weg gegangen oder geritten war, in der Hoffnung, in der Goldgräberstadt Tulameen City das große Glück zu machen.

Endlich tauchte die Stadt vor ihr auf. Melanie war von dem Anblick so enttäuscht, daß sie ungewollt auf die Bremse trat. Dieser armselige Bretterhaufen in einer Geröllhalde sollte die sagenumwobene Ghost Town sein? Sie wirkte grau und gespenstisch. Der einzige Farbfleck war ein gelber großer Bagger neben einem gleichfalls gelben Bohrturm. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Eine Geisterstadt im wahrsten Sinne des Wortes!

In diesem verrotteten Ort mitten in der Wildnis sollte sie sechs Wochen lang Urlaub machen? Ach du guter Gott!

Melanie schluckte und fuhr weiter. Wieder zurück konnte sie ja schlecht. Doch im Vorbeifahren fand sie die zum Teil eingestürzten Gebäude irgendwie faszinierend. Auch ordentliche kleine Häuschen entdeckte sie jetzt am Hang, die aber gewiß nicht zu dem einstigen Tulameen City gehörten. Rechterhand erblickte sie eine weiße Holzkirche, die von den letzten Strahlen der Abendsonne rosa angehaucht wurde. Im Hintergrund konnte sie an einem steilen Hang die Gleise erkennen, die zum Minenschacht hinaufführten. Bei dem Anblick lief Melanie ein Schauer über den Rücken.

Und dann fand sie das Häuschen, in dem ihre Tante Faye lebte. An der Dachkante war ein hölzernes Brett angebracht mit der Aufschrift »Museum«. Es lag jenseits des Tulameen Rivers, einem ziemlich breiten Gebirgsbach, der mitten durch die Ghost Town floß. Die hölzerne, geländerlose Brücke, die hinüberführte, kam Melanie nicht recht geheuer vor. Nur zögernd lenkte sie ihren Wagen darüber.

Melanie mußte über Geröll und durch tiefe Wasserpfützen fahren, bis sie endlich vor dem Museum parken konnte. Das Haus war weiß gestrichen mit einem hellblauen Dach und einer weißblauen Veranda, die um das ganze Haus lief. In den unteren Räumen brannte Licht. Durch die vorhanglosen Fenster konnte Melanie eine Wand sehen, die über und über mit Bildern behängt war, offensichtlich das Museum. Sie konnte auch eine kleine mollige Frau sehen, die geschäftig umhereilte und hier und da etwas zurechtzurücken schien.

Übermütig drückte Melanie auf die Hupe.

Sofort kam Faye Simpson die Treppen der Veranda heruntergerannt. Trotz ihrer rundlichen Formen bewegte sie sich flink wie ein junges Mädchen. Mit ausgebreiteten Armen lief sie auf Melanie zu.

»Da bist du ja endlich, Schätzchen!« rief sie überschwenglich und drückte Melanie herzlich an sich. »Ach, ich habe mich ja schon so auf dich gefreut! Wie war die Fahrt? Hast du gleich hierhergefunden? Wie geht es deiner Mutter? Wird Harry auch mit allem zurechtkommen? Nun sag doch schon was, Liebling. Gefällt es dir hier?«

»Halt, Tante Faye!« rief Melanie lachend. »Das sind ja tausend Fragen auf einmal, und du läßt mich gar nicht zu Wort kommen. Erst mal vielen Dank für die Einladung. Die Fahrt war herrlich, Mom geht es den Umständen entsprechend gut, und ob Daddy mit allem zurechtkommen wird, weiß ich nicht, hoffe es aber. Du kennst ja deinen Bruder. Technisch hochbegabt, aber auf praktischem Gebiet…«

»Eine Niete«, ergänzte Faye Simpson mit gutmütigem Lachen. »Sprich es ruhig aus, wir brauchen uns da nichts vorzumachen. Und sonst?«

»Ach, sonst ist alles in Ordnung, Tante Faye. Ich kann nur noch nicht sagen, ob es mir hier gefällt. Ich weiß nicht… es ist so… ja, ich finde es richtig unheimlich hier. Fühlst du dich eigentlich wohl in deiner Geisterstadt?«

Faye Simpson lachte. »Wohlfühlen, Kind? Ich liebe sie! Zugegeben, manchmal ist es hier tatsächlich ein wenig unheimlich, aber morgen, im strahlenden Sonnenschein, wirst du anders darüber denken. Nun komm erst mal ins Haus. Wo hast du dein Gepäck? Im Kofferraum? Ich helfe dir.«

Faye öffnete die Heckklappe des Subaru und stellte mit raschen Griffen die Koffer auf den Boden. Melanie lächelte. Ja, das war ihre Tante Faye, wie sie sie in Erinnerung hatte. Resolut, gutmütig und herzlich. Verändert hatte sie sich kaum. Sie war ein wenig älter geworden, aber noch immer so unkompliziert wie eh und je. Faye Simpson war Mitte fünfzig. Ihr schönes aschblondes Haar fiel in weichen Naturlocken offen auf die Schultern. Sie trug Jeans und Turnschuhe, und ein dunkelblaues T-Shirt mit dem silbernen Glitzeraufdruck: »Ich bin die Queen der Ghost Town.« Melanie kicherte in sich hinein. Das war typisch Tante Faye. Immer noch ein bißchen verrückt, aber liebenswert.

Melanie nahm ihre Reisetasche und den Fotoapparat und ging hinter ihrer Tante ins Haus. Bevor sie durch die Tür ging, warf sie noch einen Blick auf die Geisterstadt. Nur in einem einzigen Gebäude brannte Licht, und das schien überdies von einer Kerze zu stammen. Irgendwo in den Wäldern fiel ein Schuß. Ganz in der Nähe schrie ein Vogel. Sonst war alles still. Mit einem Schaudern schloß Melanie die Haustür.

*

Faye führte sie quer durch die Museumsräume auf eine ausgetretene Treppe zu.

Wir werden uns das alles morgen ansehen«, rief sie ihrer Nichte über die Schulter zu, »jetzt zeige ich dir erst mal dein Zimmer, und dann essen wir. Du hast doch sicher Hunger?«

»Und wie!« gab Melanie zu. »Hast du nicht gehört, wie mein Magen knurrt?«

»Ach, du Ärmste!« rief Faye. »Naja, dem kann abgeholfen werden. Das Essen ist schon fertig. Ich halte es ja schon die ganze Zeit über warm, weil ich nicht wußte, wann du kommst.«

Auch Melanies Zimmer hatte Museumsreife: Alte dunkle Möbel, ein hohes altmodisches Bett, ein handgewebter bunter Teppich und überall Spitzendeckchen und getrocknete Blumen. Melanie war begeistert. Allerdings hatte das Zimmer keine Tür, sondern nur einen Vorhang.

Auf dem dunklen Gang gegenüber befand sich Tante Fayes Reich. Den Eingang dazu bildete ebenfalls nur ein Vorhang.

Ein Badezimmer gab es nicht, dafür unten neben der Küche eine selbstgebastelte Sauna, einen Waschzuber und eine Dusche.

Nachdem Faye Simpson ihrer Nichte alles gezeigt hatte, führte sie sie in die gemütliche Wohnküche und drückte sie auf die gepolsterte Eckbank.

Melanie protestierte.

»Ich kann dir doch sicher etwas helfen, Tante Faye…«

»O ja. Aber nicht heute. Setz dich nur hin und ruhe dich aus nach der langen Fahrt. Ich sagte ja schon, daß ich das Essen bereits fertig habe. Du könntest höchstens den Tisch decken.«

Tante Faye holte Teller und Besteck aus dem Küchenschrank und reichte es Melanie. Dann holte sie einen lecker riechenden Nudelauflauf aus der Röhre. Dazu gab es frischen Salat, und hinterher einen Walnußkuchen und Kaffee.

Bei dem anschließenden Brandy mußte Melanie von zu Hause erzählen. Sie tat es zwar gern, weil sie auch ein echtes Interesse ihrer Tante verspürte, doch sie hätte viel lieber etwas über Tulameen City und seine Entstehung erfahren. Leider lenkte Tante Faye jedesmal ab, wenn Melanie eine dementsprechende Frage stellte und vertröstete ihre Nichte auf später. Kein Wunder, daß Melanie den Eindruck gewann, ihre Tante Faye wolle ihr etwas Wichtiges über Tulameen City verheimlichen.

Die alte Standuhr schlug Mitternacht. Melanie gähnte verstohlen. Tante Faye schien kein bißchen müde zu sein. Offensichtlich hatte sie nicht die Absicht, jetzt schon zu Bett zu gehen. Sie thronte mit hochroten Wangen auf ihrem abgewetzten Lehnstuhl und redete wie ein Wasserfall. Endlich machte sie eine Pause und nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Brandyglas.

»Lebst du ganz allein hier?« wollte Melanie wissen. Sie war zwar müde von der Fahrt, aber es machte ihr auch Freude, sich mit ihrer Tante zu unterhalten.

Faye Simpson lachte leise. Sie zündete sich ein Zigarillo an und blies den blauen Dunst gegen die Zimmerdecke.

»Wie meinst du das, Melanie?« fragte Faye dann. »Ich lebe zwar allein im Haus, aber nicht allein in der Ghost Town.«

»Wer lebt eigentlich alles sonst noch in dieser Stadt?« wollte Melanie wissen.

Faye kicherte. »Ich bin das einzige weibliche Wesen in Tulameen City. Das heißt, ich war es, bevor du gekommen bist. Es leben sonst nämlich nur noch vier Mannsbilder hier. Zwei davon gehen mir entsetzlich auf die Nerven, und einer ist der himmlischste Mann, der mir je begegnet ist.«

Melanie mußte über die funkelnden Augen ihrer Tante lachen.

»Hast du dich in ihn verliebt, Tante Faye?«

Faye hielt verschwörerisch ihren Finger an die Lippen. »Psst! Über ungelegte Eier gackert man nicht. Aber er ist wirklich hinreißend, so viel will ich dir verraten. Mehr nicht.«

»Oh, Tante Faye, du bist umwerfend! Warst du eigentlich jemals verheiratet?«

»Verheiratet?« entrüstete sich Faye Simpson. »Nie im Leben! Ich habe zwar mal einige Jahre mit einem Mann zusammengelebt, aber das war auch nichts Gescheites. Außerdem fühlte ich mich auch immer zu jung und unreif für die Ehe. Aber jetzt… mit Bill…« Sie brach ab und hüllte sich in bedeutungsvolles Schweigen.

Melanie unterdrückte ein Lachen. Ihre alte Tante Faye benahm sich wie ein verliebter Teenager. Sie fand das rührend und ein bißchen lächerlich und hütete sich, weiter in dem Privatleben ihrer Tante herumzustöbern. Sicher würde sie diesen sagenhaften Bill eines Tages kennenlernen.

»Und was ist mit den anderen Männern die hier leben?« fragte sie statt dessen.

Faye rümpfte die Nase. »Da sind zum Beispiel Chuck Rooney und sein Sohn Jim. Die beiden arbeiten hier als Verwalter und Fremdenführer. Sie zeigen den Touristen die Ghost Town und den Stollen in der Goldmine, der wieder geöffnet worden ist. Ganz unausstehliche Typen, das kann ich dir sagen. Geh ihnen bloß aus dem Weg, wo immer du kannst.«

»Huch, das klingt ja richtig gefährlich«, entfuhr es Melanie.

»Sie können es auch unter Umständen werden«, brummte Faye düster.

Melanie bekam eine leichte Gänsehaut bei der Vorstellung, daß an ihrem Ferienort zwielichtige Gestalten lebten. Aber vielleicht handelte es sich dabei auch nur um einen persönlichen Zwist zwischen ihrer Tante Faye und den Rooneys.

»Und wer ist der vierte im Bunde?« fragte Melanie dann. Das Gesicht ihrer Tante erhellte sich wieder.