Irrlicht - Alina Bach - E-Book

Irrlicht E-Book

Alina Bach

4,9

Beschreibung

Es ist ein zurückgezogenes Leben, das Adrian führt. Der ehemals hingebungsvolle Geschichtenerzähler findet nach dem Tod seiner Frau nichts, das seinen Schmerz lindern kann, und wartet still darauf, dass es auch mit ihm zu Ende geht. Auf ebenso einsamen Pfaden wandelt Miran, ein Irrlicht, das den Sinn seiner Existenz nicht kennt, doch den Mut findet, eine lange Suche nach Antworten anzutreten. Als sich das ungleiche Paar eines Nachts zufällig begegnet wird beiden schnell klar, dass sie voneinander lernen können. Zusammen ergründen sie die Geheimnisse des Irrlichts, die den Stoff für eine letzte Geschichte bilden, die Adrian erzählen will ...

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Seitenzahl: 153

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Gewidmet allen, die noch an Märchen und Wunder glauben

Inhaltsverzeichnis

Adrians Erzählung

Mondlicht

Eins

Honigregen

Zwei

Musik

Erinnern und Vergessen

Drei

Ein ungleiches Paar

Licht

Irrlicht

Vier

Der Friedhof

Blau

Bittersüß

Die Geschichte

Fünf

Ein Mädchen namens Ellie

Bewegungslos

Geheimnisse

Zweisamkeit

Winter

Die letzten Stunden

Träumen

Adrians Erzählung

Als der alte Mann das Haus verließ, sah er dabei exakt so aus wie vor fünfzig Jahren. Er war gekleidet in seinen dunkelgrünen, schweren Mantel, der fast bis zu seinen Waden hinabreichte, und einer grauen, weichen Baskenmütze. Wenn man genauer hinsah, erkannte man aber die ersten silbernen Strähnen im gelockten Haar, das unter seiner Kopfbedeckung hervorschaute, und auch sein Gang hatte die ausschweifende, jugendliche Sorglosigkeit über die Zeit verloren.

Aber das Lächeln, das andächtig auf seinen Lippen lag, war dasselbe.

Adrians Atem war sichtbarer, weißer Dunst in der Luft und die Kühle des Abends ließ ihn schaudern. Die Lichter der gusseisernen Straßenlaternen hingen als verwischte, orange Farbtupfer im Nebel. Am Morgen hatte es geregnet, grau in grau, und der Pflasterstein glänzte vor Nässe.

Keine Menschenseele war in diesen Gassen unterwegs. Hätte er seinen Gehstock nicht an den Schirmständer gelehnt zuhause gelassen, wäre das Klackern des Holzes ein lautes, durchdringendes Geräusch gewesen, das die mystische Atmosphäre aus Nebel und Laternenlicht durchbrochen hätte.

Adrian lächelte breiter, atmete die kühle, aufgefrischte Luft ein und begann seinen Weg zum Marktplatz.

Allmählich brach die Nervosität über ihn herein, legte sich als flaues Gefühl in seinen Magen. Ganz automatisch wanderte seine Hand in die linke Tasche seines Mantels und ertastete den rauen Stoffumschlag, in den er seine Flöte eingewickelt hatte. Das Gefühl beruhigte ihn und beiläufig zupfte er seine Mütze zurecht.

Der Lärm hallte ihm entgegen, lange bevor er den Markt erreichte. Trotz des schlechten Wetters vergnügte sich eine beachtliche Anzahl Menschen an den Ständen mit Bier oder versuchte, ihre Kinder in der Menge ausfindig zu machen. Über Gespräch und Gelächter hinweg klang eine feine Geigenmelodie, deren Ursprung er auf dem kleinen Podest fand, das eigens für diesen Abend aufgebaut worden war. Dort stand ein junger Mann, der ein Lied auf der Violine zum Besten gab und dazwischen die Zeit fand, den Damen im Publikum ein charmantes Lächeln zuzuwerfen.

Er war gut, das konnte Adrian nicht bestreiten. Aber irgendetwas an ihm verriet, dass er nicht die Musik selbst, sondern vielmehr die Aufmerksamkeit liebte, die er dafür bekam. Mit seinem Talent würde er die Menschen zwar unterhalten, nie aber wirklich berühren können, und genau das war Adrians Gabe. Er wandte sich von dem Burschen ab, schaute über den Platz und blieb mit seinem Blick an den Feuerschalen hängen, die überall zwischen Bänken verteilt aufgestellt worden waren. Es überraschte ihn ein wenig, dass sie in der feuchten Luft überhaupt brannten. Durch den Nebel wirkte das Licht nicht wie von dieser Welt. Auf beinah magische Art wurden Haare darunter heller, Haut weicher und in allen Augen, die seinen Blick streiften, tanzte träge das Feuer.

Wenn er mit seiner Erzählung fertig war, würde es lichterloh brennen.

Adrian drehte sich um, als er eine Berührung an der Schulter spürte. Seine Tochter stand vor ihm, lächelte sanft zu ihm auf und strich routiniert den Mantel vor seiner Brust glatt, während sie fragte: »Du bist dir ganz sicher? Ist das auch wirklich nicht zu viel? Du bist doch nicht mehr der Jüngste…«

Der alte Mann nickte schmunzelnd und schloss sie in die Arme. Im Lärm war sie schwerer zu verstehen, deshalb hob er für sie die Stimme. »Du findest also, ich bin alt geworden?« Sie seufzte und ihr Lächeln wurde nachsichtig, als sie sagte: »Vor allem sturer.«

Mit einem Blitzen in den Augen sah sie ihn an.

»Du erzählst mir also endlich diese neue Geschichte, die du dir ausgedacht hast?«

Adrian lächelte geheimnisvoll, senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ja. Aber sie ist nicht erfunden…«

Seine Tochter ließ ihn leise lachend los, trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn von oben bis unten. Anscheinend zufrieden mit dem Ergebnis hob sie die Hände und griff nach seinen. Sanft erwiderte er den Druck ihrer Finger.

»Ich werde mich zurück zu deiner Enkelin setzen, in Ordnung? Sie kann kaum noch stillsitzen.«

Als er in ihre blauen Augen sah, die genau wie die ihrer Mutter waren, lächelte er weich. Er freute sich schon seit Tagen darauf, vor allem ihr Gesicht zu sehen, wenn er erzählte.

In diesem Moment donnerten Applaus und Zurufe über den Platz und sie drehten sich beide zur Bühne. Seine Tochter entzog ihm vorsichtig ihre Hände und verabschiedete sich mit einem letzten »Viel Glück!«, sodass er allein zurückblieb. Der junge Geiger verbeugte sich vor der Menge, dann trat er die wenigen Stufen hinunter und rauschte an Adrian vorbei, der sich gemächlich auf den Weg zum Podest gemacht hatte.

Er wartete geduldig darauf, dass man für ihn einen Stuhl und eine Flasche Wasser herantrug. Nur wenige hatten überhaupt bemerkt, dass er die Bühne betreten hatte, und unwillkürlich musste er schmunzeln. Er würde sich die Aufmerksamkeit also verdienen müssen.

Mit ruhiger Hand holte er die Flöte aus ihrem Stoffumschlag, hob sie an seine Lippen und prüfte die Beweglichkeit seiner Finger, die er trotz seines Alters nicht eingebüßt hatte. Einen letzten, tiefen Atemzug gestattete er sich, dann begann er zu spielen. Bereits beim ersten Ton wandten sich die ersten Köpfe zu ihm, aber als er die erste Strophe anspielte, hatte jeder das Lied erkannt. Er hatte sich ein altes Volkslied ausgesucht, und diejenigen, die zu seinem Eisen gehörten oder bereits mehr als ein Bier getrunken hatten, stiegen lautstark mit dem Text ein. Der schnelle, springende Rhythmus, der nur auf der Flöte seine ganze Wirkung entfalten konnte, verleitete schon bald die ersten zum Tanzen, und es dauerte nicht lange, da war die ganze Menge in Bewegung.

Er hätte noch hundert andere Lieder spielen können, doch er hatte mehr erreichen wollen als den schnellen Blick zur Bühne – und so flogen seine Finger förmlich über das Holz, schneller und schneller, bis die ersten Kinder lachend über ihre eigenen Füße fielen, weil sie nicht mehr mithalten konnte. In einer kurzen Pause, die die Menge mit Klatschen füllte, lächelte er.

Vor Kindern hatte er schon immer am liebsten gesprochen. Sie waren die besten Zuhörer, glaubten noch an Wunder und Magie und ließen sich ohne Zögern auf den Zauber seiner Worte ein. Erwachsene lauschten ihm zwar, hauchten seinen Geschichten aber nicht dasselbe Leben ein wie die Kinder.

Als der letzte Ton verklang, ging ein Laut der Enttäuschung durch die Menge. Adrian setzte die Flöte ab, konzentrierte sich auf seine Stimme und ließ sie so laut klingen, wie es ihm möglich war, ohne zu schreien: »Guten Abend!«

»Pfeifer!«, schallte es zu ihm auf und der Klang dieses Namens rollte in einer sanften Woge über ihn hinweg. »Kannst du noch so ein Lied spielen?«

Adrian schmunzelte und entgegnete: »Ja!« Die Menge jubelte, da fuhr er fort: »Aber ich bin nicht als Musiker hier.«

Augenblicklich war es still. In den meisten Gesichtern stand Enttäuschung und Verwirrung geschrieben, aber er wartete absichtlich noch einen Moment, ehe er sich nach vorne lehnte und erklärte: »Ich bin Geschichtenerzähler.«

»Eine Geschichte!«, rief das erste Kind begeistert aus und drängelte sich nach vorne. »Welche? Welche?«

»Eine ganz neue«, raunte er. »Etwas, das noch nie jemand gehört hat.«

Vor dem Podest hatte man den Kindern die Bänke freigemacht und mit großen Augen schauten sie zu ihm auf. Behutsam packte er die Flöte zurück in seine Tasche, richtete seinen Blick auf eine der Feuerschalen und ließ sich von den Funken davontragen. Seine Stimme schien dunkler geworden zu sein, als er wieder zum Sprechen anhob.

»Ich möchte euch von einer Reise erzählen«, begann er. »Von der Reise eines Kindes, das keines mehr ist und doch nie mehr war als das.«

Ein paar der Kleinsten schnappten nach Luft. Ein Junge hatte sich hinter seiner großen Schwester versteckt. »Ist das eine Gruselgeschichte? Ist das Kind ein böser Geist?«

Adrian lächelte sanft. »Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein«, versicherte er. »Nein, das Kind, von dem ich spreche, ist Licht. Ein Irrlicht, um genau zu sein, denn als ich es fand, hatte es sich verirrt und seinen Weg verloren.«

Gebannt hingen die Kinder an seinen Lippen, da warf ein Junge plötzlich ein: »Aber Irrlichter sind kleine Feuer in den Mooren. Das hat mir mein Papa gesagt!«

Vereinzelt lachte jemand aus der Menge bei diesen Worten auf, und Adrian stimmte mit ein. »Du hast einen sehr klugen Papa«, lobte er den Jungen, der sich sichtlich stolz nach diesem umsah.

»Tatsächlich wurde unser Irrlicht in einem Moor geboren«, fuhr er dann fort, »aber nicht als Feuer, sondern als Licht. Und Licht… nun, Licht ist etwas ganz Anderes als Feuer.«

Er lächelte und schloss die Augen, ganz in eine Erinnerung versunken. »Licht ist ganz wundersam. Kennt ihr das rote Licht einer Flamme? Das Gelb der Straßenlaternen und Lampen in euren Zimmern? Das Gold eines Abendhimmels, das Rosa einer Morgendämmerung und das Weiß des Mondes? Kennt ihr das kühle Leuchten der Sterne in der Nacht, oder die Sonnenstrahlen, die wie magische Schwerter aus alten Legenden Wolkenberge zerteilen?«

Seine Stimme war ein Flüstern geworden. »Licht ist Farbe. Wärme und Kälte. Es kann fern sein, oder ganz nah. Und manchmal hat es die Fähigkeit, die Wirklichkeit so unwirklich erscheinen zu lassen, dass wir innehalten und plötzlich wieder an Wunder glauben.«

Er ließ sich in den Stuhl zurücksinken, zupfte seine Mütze zurecht und hob die Stimme. »Das alles ist Licht. Ein viel zu kleiner Begriff für ein so großartiges Ding, nicht wahr?«

Er lächelte weicher. »Unser Irrlicht hat das alles in sich getragen, als es zu seiner Reise aufgebrochen ist; ohne sich darüber bewusst zu sein, natürlich. Sein Name ist Miran…«

Und er begann zu erzählen.

Mondlicht

Irgendwo in der Ferne schlugen die Glocken eines Kirchturms.

Der Klang flog weit, weit über das Moor hinweg, ein Dröhnen, das Miran durch den ganzen Körper fuhr. Erschrocken hob er den Kopf und blieb stehen, um zu lauschen. Fünf Schläge. Der Laut schien den dichten Nebel aufzuwirbeln wie ein sanfter Atemhauch eine Kerzenflamme, und für einen Moment waren Gurgeln und Zischen der Schlammgruben vergessen.

Dann war der Moment vorbei und das Moor hatte die Glocken verschluckt.

Obwohl der Abend wieder still geworden war, verharrte das Irrlicht noch an Ort und Stelle, ganz auf den feinen Nachhall konzentriert. Eine seltsame Vertrautheit ging von dem Klang aus, die ihm gleichzeitig Angst machte und ihn anzog. Der Glockenklang ließ ihn jedes Mal aufs Neue erschauern, und dass er nie umhin kam zu lauschen, verunsicherte ihn zutiefst. Erst, wenn das Geräusch vollends verstummt war, war der Zauber gebrochen und alles so, als hätte es die Glocke nie gegeben.

Miran lächelte. Jetzt war er frei zu tun, was er wollte – Schlaf hatte er seit über einem Jahrzehnt nicht gebraucht, denn Licht schlief nicht. Und die Nächte im Moor waren lang.

Langsam setzte er sich in Bewegung, fing in dem Augenblick an zu laufen, als sich der Abend stahlblau herabsenkte und das Moor aufweckte. Bald schon trug der Wind ein leises Raunen wie von weit entfernten Stimmen zu ihm heran. Äste schlugen knarrend aneinander und kleine Tiere huschten raschelnd durchs Unterholz. Das Moor zog schwarz und blau an ihm vorbei und er blieb erst stehen, als er die Eisenbahn erreichte.

Die Schienen waren endlos, reichten silbrig glänzend bis hin zum Horizont, eingebettet zwischen sanften Hügeln und sich träge wiegenden Kronen schmaler Bäume. Er drückte sich an den Stamm einer krummen Eiche, die Rinde rau und voller kleiner Schatten, das Gras unter seinen Füßen plattgedrückt von Wasser und Wind, und sah sich zögernd um.

Tagsüber wagte er sich selten zu den Schienen, aber nachts fuhren die Züge nicht, und wenn sich eine Menschenseele im Dunkeln doch hierher verirrte, konnte er sofort wieder im Wald verschwinden.

Schaudernd vor Vorfreude trat er näher. Das Metall glänzte bläulich in seinem Widerschein, und als er den Blick über die Gleise schweifen ließ, fand er noch ein anderes Licht, das sich im Eisen verfangen hatte.

Miran sah mit großen Augen nach oben. Wie Eisschollen trieben die Wolken durch den Nachthimmel. Der Mond, groß und hell und rund, färbte sie weiß wie Schnee, bis ihm ein besonders dichter, blaugrauer Wolkeneisberg die Sicht nahm.

Enttäuscht ließ er den Kopf wieder sinken. Im Mondlicht wanderte er am liebsten – es fühlte sich ein bisschen weniger einsam an, und sein eigenes Licht kam ihm auch ein bisschen weniger hell vor.

Miran trat auf den ersten Holzbalken zwischen den Schienen. Er atmete tief ein, obwohl er das in seinem Geisterkörper nicht musste. Das Gefühl allein beruhigt ihn irgendwie, und so atmete er wieder, zweimal, dreimal, und lauschte mit geschlossenen Augen in die Nacht hinein.

Er war wie immer mit sich allein.

Zehn, dachte er und öffnete die Augen, um nach oben in den Himmel zu schauen. Nicht einmal ein kleines Flimmern wies darauf hin, wo sich der Mond befand. Ich zähle bis zehn, und wenn der Mond bis dahin wiederauftaucht, laufe ich los und komme nicht wieder. Miran hatte sich bereits unzählige Male vorgenommen, das Moor zu verlassen. Manchmal war er die ganze Nacht durchgerannt, nur um im Morgengrauen vor unsichtbaren Mauern kehrtzumachen. Seit Jahren durchstreifte er die graue Landschaft, lebte nur für den Moment des Glockenschlags.

Aber irgendetwas war nicht richtig. Er spürte es tief in seinem schwerelosen Körper. Da war irgendetwas, das ihm sagte, dass er nicht hierhergehörte. Die Kirchenglocke schien ihm an manchen Tagen wie eine Mahnung.

Miran hatte Angst herauszufinden, was dieses Gefühl bedeutete. Aber noch mehr fürchtete, bis in alle Ewigkeit allein durch den Nebel zu ziehen. Und so holte er tief Luft und flüsterte mit seiner Geisterstimme in die Nacht hinaus.

Eins

»Eins«, sagte Adrian und lehnte sich erwartungsvoll nach vorne.

Einen Moment lang war es still - doch dann, ehe er den Mund wieder öffnen konnte, ertönte die erste Kinderstimme.

»Zwei!«

Er schmunzelte, nickte leicht und sagte: »Drei.«

»Drei! Drei!«, hallte es ihm mehrfach entgegen. Adrian stand gemächlich auf.

»Vier!« Die Kinder waren so laut, dass es über den ganzen Platz hallte. Langsam trat er an den Bühnenrand.

»Fünf!« Die ersten Erwachsenen riefen mit. In einer weiten, ausschweifenden Bewegung breitete Adrian die Arme aus. Seine Geste wurde sofort verstanden, er sah es an dem Lächeln, das durch die Menge ging.

»Sechs!« Die Kinder drängten sich an das Podest, jedes versuchte, den besten Blick auf ihn zu haben. Das Licht der Feuerschalen glänzte in ihren Augen.

»Sieben!« Adrian hob die Arme schwungvoll und auffordernd höher. Ein kleiner Junge ahmte die Geste nach. Sein Glucksen ging beinahe in dem nächsten Ruf unter.

»Acht!« Aus allen Kehlen drang die Zahl über den Platz.

»Neun!«

Ein letztes Stocken. Angehaltener Atem. Die Luft erfüllt von einer fast fieberhaften Spannung, die sich im letzten Ruf wie ein Donnerschlag entlud. »Zehn!«

Adrian konnte nicht zählen, wie viele den Blick zum Himmel hoben. Über ihnen blieb es schwarz. Der Feuerschein dämpfte jeden Stern und der Mond blieb hinter Wolken verschwunden. Gemächlich setzte er sich wieder, stützte die Ellbogen auf die Knie und ignorierte den feinen Schmerz, der dabei an seiner Wirbelsäule entlangkroch.

»Zehn«, wiederholte er langsam und nachdenklich. Mit sanfter Stimme nahm er die Erzählung wieder auf. »Als Miran die Augen öffnete, lagen die Eisenbahnschienen ganz in Weiß vor ihm. Eine Sekunde verging, dann noch eine. Langsam, als wäre er gerade erst aus einem Traum erwacht und konnte die Wirklichkeit noch nicht begreifen, schaute er nach oben. Und da, genau über ihm, hing der Mond.«

Honigregen

Taubengrau und schwer ruhte der Nebel über dem Tal, das er vor einigen Tagen erreicht hatte. Die Morgendämmerung brach noch nicht hindurch, und der Tag begann für Miran trüb und lichtlos.

Das Irrlicht war eine kleine Ewigkeit den Gleisen gefolgt, bis sie in ein Dorf geführt hatten. Seitdem hielt es sich an den Wald, und nur manchmal, wenn es noch mitten in der Nacht war oder der Tag gerade erst anbrach, wagte Miran es, höher zu steigen und sich umzusehen.

Er wusste auch noch nicht ganz, was er fühlen sollte, seit er so überstürzt aufgebrochen war. In der ersten Nacht hatte er sich auf den Waldboden gesetzt und stumm darauf gewartet, ob ihn etwas zurückziehen würde, aber nichts dergleichen war geschehen. Weder in dieser Nacht, noch in einer der folgenden hatte er es bereut, das Moor verlassen zu haben. Der Glockenklang war eine verblassende Erinnerung.

Miran ließ sich ins taunasse Gras sinken, vergrub die Finger darin und beobachtete den Sonnenaufgang, bis der Himmel blassblau war. Das Tal lag noch schlafend vor ihm, und der Nebel über den Häuserdächern wirkte wie eine weiche Decke. Vereinzelt brach ein Sonnenstrahl durch das Weiß und brachte ein Fenster zum Leuchten.

Erst, als langsam Bewegung ins Dorf kam und die ersten Menschen auf die Straße traten, stand er auf und lief wieder los.

Miran hatte kein Ziel, das er erreichen wollte. Seit seinem Aufbruch tat er nichts Anderes, als einfach nur immer weiter zu gehen. Insgeheim hoffte er, dass er irgendwann wissen würde, wann er dort angekommen war, wo er hingehörte, doch er verschwendete keinen Gedanken daran, wie er dort hingelangen könnte. Er genoss es, einfach zu wandern, durch Wälder, weite Grasmeere und kleine Berge hinauf und wieder hinunter. Es hielt ihn nicht lange an einem Ort, denn viel zu groß war die Neugier, wie alles einen Hügel weiter aussehen würde.

Jeder Schritt, den er tat, brachte ihn weiter weg vom Moor und hinein in etwas, das ganz anders war als alles, was er sich erhofft hatte. Er hatte das Gefühl, dass er in dieses Etwas gehörte, obwohl er sich nicht erklären konnte, wieso.

Die Schatten am Abend waren schon sehr lang, als er auf einer kleinen Lichtung stehen blieb und den Blick zum Himmel hob. Der Wind hatte gedreht, das hörte er am Rascheln der Bäume. Der Himmel, der den ganzen Tag über blau gewesen war, wurde von einer Wolkenfront überzogen, die sich träge vom Horizont aus heranschob.

Es erstaunte ihn immer noch, wie anders hier alles wirkte; als hätte er eine ganz neue Welt betreten. Im Moor war es immer auf eine bedrückende Art und Weise düster gewesen, egal wie hell die Sonne geleuchtet hatte. Waren Wolken und Nebel im Moor grau und undurchdringlich gewesen, wirkten sie hier ganz leicht, als könnte man sie einfach wegwischen. Waren die Nächte