Irrlichter - Barbara Kühl - E-Book

Irrlichter E-Book

Barbara Kühl

4,7

Beschreibung

Das ist die Geschichte einer schwierigen, nicht konfliktfreien Annäherung. Christian, der in einem Heim in Berlin lebt, seit seine Eltern bei einem Badeunfall ums Leben gekommen waren, soll wieder Eltern bekommen. Wieder richtige Eltern. Inselfischer Hinnerk Puttbreese und seine Frau wollen den Jungen adoptieren und laden ihn probeweise zu sich an die Küste ein. Puttbreese, der einen eigenen Kutter besitzt, hat allerdings auch einen Hintergedanken. Gern möchte er, dass aus Christian eines Tages ein Fischer wird wie er und dass er den Kutter übernimmt. Aber taugt denn Christian überhaupt für das Leben an der Ostsee und für diesen Beruf? Ein bisschen spillerig sieht er ja man aus, dieser schmächtige Hüpper aus Berlin, denkt Puttbresse. Außerdem müssen sie sich alle erst mal aneinander gewöhnen. Und da gibt es noch ganz anderen Schwierigkeiten für Christian. Gut, dass da plötzlich sein Freund Rotfuchs, der wiedermal aus dem Heim abgehauen ist, an der Küste auftaucht … LESEPROBE: Als Stunden später im Hafen neben Rotfuchs auch Christians Kopf aus der dämmrigen Vorderpiek taucht, verschlägt es Hinnerk Puttbreese zunächst die Sprache. Dann jedoch unterzieht er - vor der Kapp knieend - die Jungen einem strengen Verhör: Was und wie, und wann und warum? Und wer überhaupt diese dreimal verrückte Idee gehabt hätte. „Na, raus mit der Sprache!“ Rotfuchs schweigt. Er hat genug von Puttbreeses Wutausbrüchen. Christian dagegen sausen tausend Gedanken durch den Kopf. Womit könnte er den Onkel beschwichtigen, damit er ihn nicht schon morgen zurückschickt nach Berlin? „Ich!“, sagt er schließlich. „Es war meine Idee, Rotfuchs unseren Kutter zu zeigen. Und außerdem ... außerdem wollten wir dir ein bisschen helfen beim Fischen.“ Das letzte ist zwar eine Lüge, aber sie wirkt Wunder auf den erzürnten Puttbreese. Dieser Bengel! staunt er. Scheint mehr Courage zu besitzen, als man ihm zutraut, wenn er auch man lütt und spillerig ist und einem Puttbreese so ganz und gar unähnlich von Gestalt. Egal, Ansch hat sich immer ein Kind gewünscht zum Bemuttern und Betuddern, zum Herausputzen und zum Liebhaben ... „Und wie soll ich euch Bande unbemerkt vom Kutter schmuggeln?“, fragt er daher weit weniger wirsch. „Duster wird’s erst in ein paar Stunden.“ Der alte Katlow nimmt ihm die Antwort ab. „Da hab ich denn ja doch richtig gesehen da draußen! Ich dacht’, du hast Besuch vom Klabautermann, Hinnerk, und nu sind’s sogar zwei! Oha, Hans-Heinerich! Oha!“

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 172

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
12
6
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Barbara Kühl

Irrlichter

ISBN 978-3-86394-678-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1986 in Der Kinderbuchverlag Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Erika Godemann

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Christian lehnt am geöffneten Fenster. Ob Puttbreeses wohl kommen? Noch ist der parkähnliche Krankenhausgarten menschenleer wie an jedem Tag zu dieser frühen Stunde. Spatzen lärmen in der Fliederhecke. Eine Katze schnürt durch den Zaun. Irgendwo tschackert eine Elster. In den hohen Kiefern harft der Wind. Vom nahen Bahnhof weht ein Summton herüber, verebbt allmählich. Ein S-Bahn-Zug eilt Richtung Berlin.

Tage sind vergangen, seit Christian und sein Freund Rotfuchs hier auf der Unfallstation erwachten, Tage und Nächte, die die Jungen im gleichen Zimmer verbringen. Und wenn es da nicht Schmerzen gäbe und den hinderlichen Verband am Bein von Rotfuchs, wären sie längst zueinander ins Bett geschlüpft in aller Heimlichkeit wie so manchen Abend im Heim. Christian lag gern mit dem Zwölfjährigen unter einer Decke, flüsternd und kichernd. Und in der Nase diesen erregenden Schweißgeruch. Erst neulich hatte Rotfuchs ihm gezeigt, an wie viel Stellen seines Körpers rote Haare wachsen. Sagenhaft!

Ja, Christian - schmächtig und zimperlich - mag den robusten Uwe mit dem brandroten Schopf, den die Schulkameraden „Assi“ spotten wegen seiner Eltern. Als wenn Rotfuchs was für den Lebenswandel seiner Eltern kann! Hat er sie sich etwa ausgesucht - den Säufer und die Diebin? Und Christian? Nicht einmal solche Eltern hat er seit mehr als einem Jahr, nur zwei Gräber im Urnenhain von Blumwerder. Etwas zum Liebhaben - er braucht es genauso wie jemanden, der seine Zärtlichkeit erwidert, der ihn behütet oder aufmunternd in die Seite knufft. Denn Christian ist kein Held, ist nie einer gewesen.

Der Junge atmet tief auf. Wenn Puttbreeses kommen, darf er heute das Krankenhaus verlassen. Die Schnittwunden an den Händen sind verheilt. Auf Stirn und Schläfe wulstet eine blaurote hässliche Narbe. Rotfuchs muss noch bleiben. Das Heim ist nicht eingerichtet auf humpelnde Halbkranke. Armer Kerl! denkt Christian und fühlt sich ein ganz klein wenig schuldig. Bisher hatten es die Jungen vermieden, miteinander über ihr gefährliches Abenteuer zu sprechen. Sie wissen, dass sie ihr Leben einem Zufall verdanken, einem riesigen Haufen Torfmull, der in das Gewächshaus gefahren worden war. Nie wieder würde er ... schwört sich Christian, nie wieder! Oder vielleicht doch? Bei so einem Grund?

Und noch einmal steht Christian im Erzieherinnenzimmer des Kinderheimes Kastanienallee Nummer sieben vor Frau Männel, gegen Übelkeit und schlechtes Gewissen ankämpfend. Blutsbrüderschaft hatten sie miteinander geschlossen, er und Rotfuchs, dazu die in die Unterarme geritzten winzigen Wunden aufeinandergepresst. Was wollte die Heimleiterin? Hatte sie etwas gemerkt?

„Wie gefällt es dir bei uns, Christian?“, fragte sie den blassen Jungen, den man ihr vor einem reichlichen Jahr gebracht hatte.

„Ich weiß nicht ...“ Christian zögerte. „Zu Hause war es besser.“

„Und ein neues Zuhause - könntest du dir das vorstellen?“

„Das Heim ist nicht mein Zuhause!“

„So meinte ich es nicht, Christian. Der Anruf eben ... es gibt da Menschen, die sich für dich interessieren. Ein Ehepaar, das dich vielleicht adoptieren möchte.“

„Was ist das - adoptieren?“

„Sie wollen dich aufnehmen wie einen Sohn, wollen dir Vater und Mutter sein. Verstehst du das?“

Christian glaubt, sich verhört zu haben, und misstrauisch fragt er: „Ich soll wieder Eltern kriegen? Richtige Eltern? Geht denn das überhaupt?“

„Warum soll das nicht gehen?“

Da war sie wieder, die Sehnsucht nach den Eltern. Und auch Hoffnung war da, das Leben könne noch einmal so werden wie mit Mama und Papa.

„Kenn ich die? Wohnen die auch hier in Berlin? Und - wann holen sie mich?“

„Christian, Christian, eins nach dem anderen.“ Lachend hob Frau Männel die Hände und betrachtete den zehnjährigen Jungen. Röte hatte sein bleiches Gesicht überzogen bis in die dünnen blonden Haare hinauf, die Augen glänzten ungewöhnlich.

„Sie werden herkommen, Christian. Am Sonntag schon.“

„Und mich mitnehmen?“

„Aber nein! Zuerst müsst ihr euch doch wohl ein bisschen beschnuppern, müsst herausfinden, ob ihr euch mögt - sie dich und du sie. Und nicht nur für einen Tag! Einen fremden Menschen lieb haben, so, wie er ist, Christian, das lässt sich nicht befehlen. Das kommt auch nicht von heut auf morgen. Geduld gehört dazu und viel, viel Zeit. Eine Probezeit sozusagen für sie und für dich. Sie heißen übrigens Puttbreese.“

„Und wann adoptieren sie mich?“, fragte Christian hartnäckig.

„Na, ein bisschen dauern wird das wohl“, meinte die Heimleiterin unbestimmt, obwohl sie genau wusste, dass Kinder und Pflegeeltern oft ein Jahr und länger aufeinander warten müssen, ehe alle notwendigen Bescheinigungen eingeholt sind und die gestrengen Leute von der Jugendhilfe einer Adoption zustimmen. Daher tröstete sie: „Wenn du dich übermorgen von deiner besten Seite zeigst, darfst du sie sicher bald besuchen auf der Insel.“

„Was für eine Insel?“

„Die Insel, auf der sie wohnen.“

Für Sekunden war Christian sprachlos. „Mann“, stotterte er dann, „Mann, das muss ich Rotfuchs erzählen! Neue Eltern vielleicht. Und eine Insel dazu!“

Etwas wie Freude trieb ihn durch den Flur, ließ ihn Sprünge machen und übermütig an die Zimmertüren donnern. Wie stark er sich plötzlich fühlte, wie leicht! Selbst die merkwürdigen Halsschmerzen waren verschwunden, die ihn seit dem Unglück quälten.

Im Essenraum wischte Rotfuchs die Tische ab. Er war allein.

„Na endlich!“, knurrte er, als Christian auftauchte. „Dein Mittagessen sollst du dir aus der Küche holen.“

Christian schüttelte den Kopf. Ihm war nicht nach Essen. „Rotfuchs!“ stieß er hervor, „Rotfuchs, ich krieg vielleicht neue Eltern!“

„Na und?“

„Eltern, Rotfuchs, richtige, echte! Ist das nicht super?“

„Du freust dich doch nicht etwa?“

„Und wie! Ich könnt sonst was anstellen.“

„Ach, du armer Irrer ...“

„Rotfuchs ...“ Christian begann zu schwärmen, „Rotfuchs, wenn das klappt! Den Schornstein von der Gärtnerei würd ich hochklettern!“

Rotfuchs ließ den Lappen um den Finger kreisen. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Hast du einen gesoffen, oder was? Du willst den Schornstein rauf? Du mit deinen mickrigen Streichholzärmchen? Das traust du dich nie!“

„Wetten, dass ich mich traue? Wetten?“

„Okay, wetten wir! Und um was?“

„Um die Ehre.“

„Pah, Ehre!“ Rotfuchs spuckte aus dem Fenster. „Deinen Plüschhund gegen mein Taschenmesser. Und nicht weniger.“

Den Plüschhund! Warum ausgerechnet den? Er war Mamas letztes Geschenk. Nur ungern willigte Christian ein.

„Aber bescheuert bist du trotzdem“, sagte Rotfuchs nach einer Weile. „Da kommen irgendwelche Leute, schnüffeln hier herum. Dann piken sie mit dem Finger auf dich und sagen: ,Den da, der hat so schöne traurige Augen.‘ Ein paar Stempel und ’ne Unterschrift, und du bist ihr Eigentum. Sie nehmen dich mit wie ein Stück Möbel aus dem Laden, können mit dir machen, was sie wollen. Und dafür flippst du Blödmann aus.“

„Warum sagst du so etwas, Rotfuchs?“, keuchte Christian. Er wollte nicht, dass ihm jemand seinen Traum zertrampelte.

„Was erwartest du?“, höhnte Rotfuchs. „Das Paradies? Das gibt es nirgends, solange Erwachsene mitmischen. Auch nicht auf einer Insel, du Traumtänzer! Sie sind alle Egoisten - einer wie der andere. Und die sogenannten Adoptiveltern erst recht. Ich kenn die Sorte!“

„Aber deine Schwester, die hat es doch gut, denk ich?“, fragte Christian unsicher.

„Na ja, Angelika ... wo die so niedlich ist. Aber schließlich haben die Leute kassiert für sie, ganze fünfhundert Piepen. Für Geld tun Erwachsene eben alles. Für Geld sind sie sogar nett zu dir.“

„Du lügst!“, stieß Christian hervor, „du lügst!“ Eben noch war alles so einfach gewesen. Da würde am Sonntag ein Ehepaar kommen, nett und freundlich, würde mit ihm durch den Tierpark bummeln oder Eis essen gehen. Und irgendwann würde er mitfahren auf ihre Insel für ein paar Tage, den Unfall vergessen und das Heim. Und er würde glücklich sein. Und da redete Rotfuchs von Egoisten, vom Freundlichsein gegen Geld, zerredete alles, wofür Christian sogar eine Schornsteinbesteigung riskieren wollte. Zweifel gespensterten heran, und plötzlich war da ein böser Gedanke: Rotfuchs ist neidisch. Ja, er ist neidisch, weil er im Heim bleiben muss, während sein Freund zu einem Ausflug auf eine Insel startete. Und Christian schrie es dem Älteren ins Gesicht und rannte, um sich mit seinen Zweifeln zu verkriechen.

An dem bewussten Sonntag hielt es Christian nicht in seinem Bett. Auf Zehenspitzen durchquerte er den Raum. Rotfuchs und die anderen schliefen noch. Nachdem er sich beim Pförtner abgemeldet hatte, trottete er durch die menschenleere Straße, bückte sich hin und wieder nach kleinen Steinen, um sie nach Elstern und Spatzen zu schleudern. Den Gärtnereischornstein musterte er abschätzend. Er schien gewachsen zu sein seit der Wette mit Rotfuchs.

Die Gittertür zum Waldfriedhof war noch abgesperrt. Prüfend schaute sich Christian um, ehe er die feldsteingefügte Mauer überwand. Unmittelbar neben der Kapelle lag der Urnenhain. Noch fehlte die Grabplatte mit der Inschrift, doch Christian kannte die Stelle, wo die Eltern beigesetzt worden waren. Vorsichtig ruschelte er trockene Blättchen von den noch dürftigen Buchsbaumbürstchen.

Von einer nahen Linde schwang sich eine Elster, landete auf dem Kiesweg, beäugte den frühen Besucher und wippte aufreizend mit dem langen Schwanz. Instinktiv fuhren Christians Fäuste in die Hosentaschen.

„Blumen hab ich heut keine“, sagte er und zögerte ein wenig, als er die aufsteigenden Tränen spürte. Dann legte er rasch zwei Murmeln in das geharkte Rondell, wandte sich um und begann seine Jagd auf den schwarz-weißen Spöttervogel.

Nach dem Frühstück postierten sich Christian und Rotfuchs, die sich längst wieder vertragen hatten, in Bahnhofsnähe, um auf den lnselfischer Puttbreese und dessen Frau zu warten, die irgendwann Christians Pflegeeltern werden wollten. Es wurde eine harte Geduldsprobe für die beiden Jungen. Aus jedem S-Bahn-Zug quollen sonnenhungrige Menschen, durchquerten die Parkanlagen und den angrenzenden lichten Wald von Blumwerder, um zum See zu gelangen.

„Alles Berliner“, knurrte Christian, denn nicht einer fragte nach dem Heim in der Kastanienallee. Und nicht ein Ehepaar sah so aus, wie Christian es erträumte: der Mann groß und elegant in weißem Leinenanzug, mit Strohhut und Sonnenbrille, die Frau - umweht vom Duft nach „Schwarzem Samt“ - nur ein wenig kleiner, den roten Ledergürtel um das helle Kleid, die schlanken braunen Beine nackt, an den Füßen Ledersandalen. Aber niemand winkte wie sie damals im Juli, wie Mama und Papa, bevor der Zug sie an die Ostsee entführte. Noch hatte niemand gewinkt, noch nicht. Aber da würden zwei Menschen eintreffen, irgendwann an diesem Sonntag. Und Christian fühlte eine Hoffnung in sich aufkeimen, die sich bewegte irgendwo zwischen Vaters Stimme und Mutters Geruch.

Plötzlich verpasste Rotfuchs dem kleineren Freund einen kräftigen Knuff. „Achtung, Blutsbruder! Bullaugen auf! Was siehst du? Blaue Tuchhosen, Lederjacke, Schiffermütze und einen Kerl wie ein Mast - passt! Daneben vollbusige Fregatte unter buntem Sommersegel und Südwester, keine Kriegsbemalung - passt auch samt dem suchenden Rundumblick. Das sind deine Leute, Krischi, da wett ich. Das sind der Fischer und sine Fru! Heb die Klötzer, wir wollen sie begrüßen.“ Rotfuchs stürmte los, den verblüfften Christian hinter sich herziehend. „Good morning“, sagte er forsch, zog einen unsichtbaren Hut und machte einen Bückling. „Sind Sie Puttbreeses? Von irgend so ’ner Insel? Ja?“

Nicken. „Tje, aber ...“

„Also ja! Dann herzlich willkommen in Blumwerder. Und vor Ihnen steht ihr zukünftiger Sohn Christian.“

„Was denn, du?“

„Nee, der Spacke da. Ich bin bloß das Empfangskomitee. Uwe Brose mein Name.“ Rotfuchs war richtig in Fahrt. „Darf ich Ihnen die Tasche abnehmen, gnädige Frau? Hatten Sie eine angenehme Reise? Ihr Netz, mein Herr! Geben Sie es ruhig dem Christian. Und nun, wenn ich bitten darf ... ab geht’s in die Kastanienallee Nummer sieben. Sie werden bereits erwartet.“

Mensch, kneif mich mal! dachte Christian und musterte den Freund. Wie der sich wieder schafft! Typisch Rotfuchs!

„Düwel noch eins, ihr legt ja ein banniges Tempo vor, Jungs!“, wunderte sich auch der Fischer Hinnerk Puttbreese, der fast eine Weltreise unternommen hatte an diesem Sonntag, um ein fremdes Kind zu besuchen. „Das wird doch wohl allens seine Richtigkeit haben, Anni?“ Die so Angeredete nickte. „Wird ja wohl“, meinte sie und ärmelte Christian unter. „Und du bist also der Christian?“ Sie sagte Chris-ti- an. „Du sagst ja gar nichts, min Lütten.“

„Na ja ...“ Christian spürte die forschenden Blicke, spürte Verlegenheit. Und verwirrt von einem eigenartigen Geruch, vermochte er nur eines zu denken: Sie sind ganz anders, ganz anders ...

Trotzdem war er dann am Schornstein emporgeklettert, Sprosse für Sprosse, nachdem sie Puttbreeses ins Erzieherinnenzimmer geleitet hatten. Auf dem obersten Stück Metall stehend, presste ganz plötzlich Angst seinen Körper. Verdammt, er konnte nicht zurück! Lehnte mit den Ellenbogen auf dem Schornsteinrand und konnte nicht zurück. Rotfuchs - tief unter ihm - hatte längst begriffen, in welch tödlicher Gefahr sein Freund schwebte.

„Mensch, mach keinen Mist und komm runter! Komm runter, Mensch!“, brüllte er wieder und wieder.

Aber Christian konnte nicht. Sowie er nach unten sah, begannen Erde und Himmel einen schwankenden Tanz, und Übelkeit sammelte sich im Magen. Er musste die Augen schließen.

„Schisser, du!“, drang es wütend von unten herauf, dann war da nur noch Stille, eine entsetzlich lange Weile. Wo war Rotfuchs? Hatte er sich davongestohlen? Ein furchtbarer Gedanke!

„Kannst loslassen, aber ganz langsam.“ Rotfuchs! Er war da, umfasste Christians Beine, seinen Leib. Und Christian ließ los, ließ sich gleiten in die Arme des Freundes. Wenig später durchschlugen die beiden Jungenkörper das gläserne Gewächshausdach.

Christian wird unruhig. Wie unendlich langsam die Zeit zertröpfelt! Ob Puttbreeses Wort halten und ihn abholen werden? Schon oft hatte er von dem Fischerehepaar geträumt, und von Traum zu Traum war es Mama und Papa ähnlicher geworden. Beim Erwachen dann jedes Mal die gleiche Enttäuschung: Mama und Papa sind tot, unwiederbringlich. Und niemand ist da, der an ihre Stelle treten könnte. Und Puttbreeses?

Es klopft. In Christian spannt sich jeder Muskel. Doch in der Tür erscheint nur Frau Männel mit Grüßen aus dem Heim und einem Atlas unterm Arm, in dem sie gemeinsam nach der Hufeiseninsel suchen.

„Da!“ Frau Männel tippt auf einen winzigen Punkt oben im Norden. Welch eine Entfernung!

„Fast Südschweden“, kommentiert Rotfuchs trocken. „Da kannste lange warten.“

Wenn’s nur das Warten wäre! Vielleicht wollen sie mich gar nicht mehr? grübelt Christian.

„Wirst zum Ladenhüter wie ich, jetzt, wo dein Lack beschädigt ist“, meint Rotfuchs leichthin und lacht über seinen fabelhaften Witz.

Christian wird weiß im Gesicht, und seine Augen sehen so blank aus.

„Gräm dich nicht, Blutsbruder, so bleiben wenigstens wir zusammen“, tröstet Rotfuchs.

Und dann steht er plötzlich im Zimmer, der Fischer von der Hufeiseninsel. Und Christian fliegt ihm in die Arme, lässt sich hochstemmen und beschnüffeln wie ein Bündelbaby.

„Na, min lütten Butscher, wie geht uns das? Willst mit?“

Ob Christian mit will? Was für eine Frage!

„Jawohl, Herr Puttbreese“, sagt er steif, aber wie sein Herz klopft!

„Hm“, brummelt der dunkelhäutige Mann und mustert ihn ein Weilchen aus hellgrünen Augen. „Den Herrn Puttbreese“, sagt er dann, „den lass nu man gut sein. Magst du nicht Onkel Hinnerk zu mir sagen?“

Unsicher wendet sich Christian zu Rotfuchs um. Der aber zeigt weder Zustimmung noch Ablehnung und verkneift sich sogar die übliche spitzfindige Bemerkung. Mit einer lässigen Kopfbewegung winkt er dem Freund, um mit ihm zu tuscheln.

„Alles klar“, sagt Christian und gibt ihm die Hand.

Ein Duft von frischgebackenem Heilbutt durchschwebt das Haus in der Kastanienallee Nummer sieben, dem Christian noch rasch den erbettelten Besuch abstatten darf. Während Hinnerk Puttbreese wartend die Diele durchmisst, eilt Christian in den Schlafraum. Auf seinem Bett sitzt der Plüschhund. „Für Dich“ kritzelt Christian auf einen Zettel und setzt das Stofftier auf den Nachttisch des Freundes. In ein paar Tagen wird er beide wiedersehen. Das von Rotfuchs beschriebene Versteck im Schrank findet er sofort. Unter den Bodenbrettern aalt sich vor kahlem Geäst eine nackte Frau. In Farbe, versteht sich. Überraschung und Scham färben Christians Gesicht dunkelrot. Sein Versprechen aber hält er und bringt Rotfuchs das „Magazin“-Foto.

2. Kapitel

Die Reise von Berlin bis hinauf in den Norden von Mecklenburg erscheint Christian endlos. Der Zug fährt und hält, fährt und hält, und die vorbeihuschende Landschaft verschwimmt allmählich in der Dämmerung. Christian weiß nicht, wie er sitzen soll. Im Rücken meldet sich Schmerz, im Arm ebenfalls.

„Sind wir nicht bald da?“, fragt er den Fischer.

„Bald“, tröstet der Mann und bettet den Jungenkopf behutsam in seinen Schoß. Auch er wünscht, sie wären schon zu Hause. Die Nacht würde man kurz werden. Denn bereits im Morgengrauen wartet der Bootsmann Fiete im Hafen auf seinen „Schipper“. Und Schlag sechs - wie alle Tage - heißt es „Leinen los“, und der Fischkutter SE 17 legt ab. Solange Wetter ist, gibt es keinen freien Tag. Die Herbststürme kommen noch früh genug und hindern die Boote am Auslaufen. Ja, Fischer sein - ein harter Beruf, der einen ganzen Kerl fordert.

„Warum hast du mich nicht mit dem Auto abgeholt?“, fragt Christian in die Gedanken des Fischers hinein. Es klingt wie ein Vorwurf.

„Weil wir kein Auto haben“, sagt Hinnerk Puttbreese leicht verbiestert.

„Da seid ihr wohl arm?“, will Christian wissen.

„Oha!“, staunt der Fischer. Dann lacht er los, ein herrliches, aus der Tiefe seiner Brust herauskollerndes Lachen. „Da ... nimmst du uns wohl nicht, oder wie?“

„Doch, doch!“, versichert Christian eilig. „Das ist nur, weil Rotfuchs gemeint hat, ein Auto …“

„Auto!“, schnieft Puttbreese geringschätzig. „So ein Ding kann sich doch jeder leisten heutzutage. Aber einen Kutter, Jung, einen eigenen! Ich hab einen! Gediegen und aus bestem Holz, gebaut vor dreißig Jahren. Der überlebt dir jedes Auto und jeden neumodischen Plastkutter, jawoll! Da könnten noch drei Generationen Puttbreese mit rumschippern.“

Ja, könnten, überlegt der Fischer, wenn er nicht der letzte Puttbreese wäre. Ach ja, einen Sohn! Wie gerne hätte Hinnerk Puttbreese einen Sohn gehabt! Seine Frau aber konnte keinen zur Welt bringen. Ernüchtert betrachtet er den zusammengerollten Jungenkörper. Sieht nicht gerade wie der geborene Seemann aus, diese halbe Handvoll. Und zum Hantieren mit Fanggeschirr und Fischkisten braucht es nun mal Kraft und Geschick. So was Schmalitziges aber auch! Na, Anni wird ihn schon hochpäppeln die eine Woche! Seeluft macht bekanntlich Appetit. Was der Jung wohl zu dem Kutter sagt? Gleich morgen muss er ihn bewundern. In die Vorderpiek soll er steigen und in den Maschinenraum und im Ruderhaus die Hände auf Ganghebel und Steuerrad legen wie ein Schipper. Vielleicht findet er Spaß daran, vielleicht erwacht da sogar ein Wunsch in dem Jungen ...

„Und der Kutter gehört ganz allein dir?“

Christians Frage geht unter im Geräusch der Räder, die über Weichen knallen. Der Zug schlingert und schlägt. Bremsen kreischen bis zur Unerträglichkeit. Dann endlich ein Halt mit plötzlichem Ruck.

„Steigen wir jetzt aus? Bitte, Onkel Hinnerk, mir tut alles weh. Und Durst hab ich auch.“

In dem langen Zug gibt es keine Getränke. Hinnerk Puttbreese merkt, dass der Junge am Ende seiner Kräfte ist. Und sie sind längst noch nicht auf der Hufeiseninsel. Wenn der Zug so weitertrödelt, verpassen sie am Ende noch den letzten Bus über den Damm dorthin. Was dann? Der Junge ist noch krank. Und zum ersten Mal spürt Hinnerk Puttbreese die Last der Verantwortung für ein Kind. So ist das nun, denkt er verwundert, wenn man von einem Tag auf den anderen Vater spielen soll! Trösten müsste ich den lütten Hüpper irgendwie. Bloß einen Priem zwischen die Zähne - das geht wohl nicht gut an.

Hinter den beschlagenen Fensterscheiben steht Dunkelheit. Die Räder beginnen erneut ihr eiliges Lied gegen die Schienenstöße zu schlagen: Ich-hab-kein-Zeit-ich-muß-noch-weit, ich-hab-kein-Zeit-ich-muss-noch-weit ... Erinnerung wird wach beim Rädersingsang - ein Gesicht, und Hände, die Großmutter, die sich über den fiebernden Jungen beugt, im Dorf verschrien als „Püsterolsch“. Merkwürdig, der Fischer hat die Worte nicht vergessen. Und die plötzliche Sorge um das Kind in seinem Arm entlocken sie ihm zum ersten Mal:

„Laure, laure, lit-tit-tit, Finsterschweit un Kattenschiet, Hasenpoot un Düwelstung mokt gesund mi dissen Jung …

Und wie vor dreißig Jahren in einem Seehusener Fischerhaus geschieht auch hier Erstaunliches. Christians Körper entspannt sich und gleitet hinab in Schlaf.

Der Bus ist weg. Und wie so oft um diese späte Stunde ist auch ein Taxi nicht zu kriegen. Ein Trabantfahrer nimmt die beiden Nachtwanderer mit, setzt sie im nächsten Dorf ab. „SEEHUSEN 4 km“ steht auf dem Ortsausgangsschild.

„Da nützt kein Spektakeln“, brummelt Hinnerk Puttbreese und stemmt sich den Jungen auf die Schultern. Er spürt, wie ihm Kräfte zuwachsen nach einem beschwerlichen Tag, und neben der Ahnung von Mühsal meldet sich Entschlossenheit, dieses Kind, das ihm schon nicht mehr fremd ist, wenn nötig, bis ans Ende der Welt zu tragen. Schritt um Schritt stapft er über den künstlichen Damm, der Festland und Insel miteinander verbindet.

„Die See, Lütten, kannst du sie riechen?“, fragt er.

„Nein“, knurrt Christian. Er hat sich seinen Einzug auf die Insel anders vorgestellt, auf einem weißen Schiff lässig an der Reling lehnend, schreiende Möwen, Winken. Er aber reitet huckepack ein ins erträumte Paradies, von dem er in der Finsternis noch weniger als einen Katzenschwanz ausmachen kann. Plötzlich aber ist doch etwas da, dann wieder weg, wieder da, huscht hierhin und dorthin, gestaltlos, kaum wahrnehmbar - ein winzig-blaues Flämmchen. Ein Traum! meint Christian und reibt sich die Augen. Doch das Lichtlein tanzt und tanzt, und manchmal scheint es Christian, als wären es mehrere. Als er den Fischer fragt, bleibt dieser ruckartig stehen.

„Pscht!“, macht er, hebt Christian herab und zieht ihn hinter einen Strauch.

„Was ist das?“, stammelt Christian.

„De Lücht ... die Leuchte!“, flüstert Hinnerk Puttbreese und tut geheimnisvoll, während er seinen Nacken massiert. „Hat schon so manchen Fremdling ins Moor gelockt oder in den Bodden, verstehst du?“ Dass der Fischer dabei übers ganze Gesicht grient, vermag Christian in der Dunkelheit nicht zu erkennen.

„Nein“, haucht er, den unsteten Lichtschein beobachtend.

Da beginnt der Fischer zu erzählen:

„Solange Menschen auf diesem Fleckchen Land leben, sind sie frei gewesen, die Bauern und die Fischer. Nicht einmal den Schweden haben sie sich gebeugt, als sie über die Insel herrschten. Und in Notzeiten, weißt du, teilte ein Inselbewohner mit dem anderen sein Brot. Aber die Utlänner, die Fremden - oha, die konnten sie nie so recht leiden. Irgendwann vor weiß ich wie viel Jahren klopfte denn auch eines Abends ein Unbekannter bei einem Bauern an. Brot wollte er und einen Winkel zum Übernachten. ,Nicht einen Knust hab ich übrig‘, kriegt er zur Antwort, ,und sieben Kinder schlafen in meiner Kammer.‘ Tje, da verschwand der Fremde, hungrig und müde, wie er war. Und der Geizhals? Für seine Lügen wurde er eins-zwei-fix in eine Feuerkugel verwandelt, jawoll. Nu spukt er als Lücht über die Insel, bis ihn einer erlöst.“

Christian hat der Geistergeschichte mit wachsender Spannung zugehört. Dann lacht er plötzlich. „Erlösen! Wie das wohl gehen soll! Stimmt’s, das ist alles nur Schwindel?“