Isartod - Harry Kämmerer - E-Book + Hörbuch
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Isartod Hörbuch

Harry Kämmerer

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Beschreibung

Eine Wasserleiche in der Isar, ein sauber filetierter Mann vor der Allianz-Arena: Die Mordserie, die offenbar viel mit Fleisch und Wellness und makabrer Fantasie zu tun hat, reißt Hauptkommissar Mader und sein Team aus dem Trott – direkt hinein in den klassisch-bayrischen Filz.

Es könnte so schön sein. Die ersten Biergärten geöffnet, der Föhn lässt die Berge leuchten. Frühlingsstimmung. Auch in der Mordkommission I. Die Frauenleiche in der Isar beunruhigt Chefermittler Mader noch nicht sehr. So was kommt vor. Als aber an der Allianz-Arena ein grausam filetierter Mann gefunden wird, werden Mader und seine beiden Kollegen Hummel und Zankl dann doch unruhig. Dem Teufel sei Dank bekommen sie Unterstützung: die rustikale rothaarige Doris „Dosi“ Roßmeier aus Niederbayern. Nur schade, dass sie optisch an das Sams erinnert. Doch die vier müssen sich zusammenraufen, denn das Arbeitspensum nimmt rasant zu: noch mehr verstümmelte Leichen, Menschen fallen aus Fenstern, ein russisches Inkassoteam stirbt im Kugelhagel. Und das alles wegen eines bizarren Wellnessprojekts im Isartal, in das allerlei Prominenz aus Politik und Wirtschaft verwickelt ist. Zwischen Pasing, Fröttmaning und dem Münchner Süden schlagen sich Mader und seine Kollegen mit schrägem Humor, bösen Witzen und bayrischer Gelassenheit durch.

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Zeit:12 Std. 42 min

Sprecher:Michael A. Grimm

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Zum Buch:

In der Mordkommission I in München arbeitet ein erstaunliches Ermittlerteam: Kriminalrat Karl-Maria Mader, Mitte fünfzig, ist Dackelbesitzer und wohnhaft im betonierten Neuperlach. Klaus »Soulman« Hummel ist ein fantasievoller Kriminalbeamter, der gerne Krimiautor wäre und unsterblich verliebt ist in die Schwabinger Kneipenwirtin Beate. Hummels Kollege Frank Zankl verfügt über große Testosteron-Reserven und ist der natürliche Feind der rustikalen Kollegin Doris »Dosi« Roßmeier aus Niederbayern. Rechtsmedizinerin Dr. Gesine Fleischer kümmert sich hingebungsvoll um Verletzungen und Todesursachen aller Art, und der gut geölte Dezernatsleiter Dr. Günther wacht zumindest über einen Restbestand an korrekten Dienstwegen bei seinem Personal.

Zum Autor:

Harry Kämmerer, Jahrgang 1967, lebt in München und arbeitet in einem Buchverlag. Er ist Autor zahlreicher Kurzgeschichten und hat zwei Hörspielserien fürs Radio geschrieben und produziert. Zu seinen Kriminalromanen zählen die Bände mit dem Ermittlerteam rund um den Münchner Kriminalrat Karl-Maria Mader, die mit »Isartod« beginnen. Weiterhin gibt es die Krimireihe »Mangfall ermittelt« und die Romane »Drachenfliegen« und »Oh, Mama!«. Harry Kämmerers Liebe zu Musik und Kabarett prägt seine Bücher und seine Lesungen mit Livemusik.

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem TitelIsartod bei Graf Verlag.

© 2024 by Harry Kämmerer

Neuausgabe

© 2024 HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie Werbeagentur

Coverabbildung von Anselm Baumgart / Shutterstock

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749907076

www.harpercollins.de

Widmung

Für Tini & die Gang

Gedicht

Kleiner Fluss und große Stadt

Klischee genug und Vielfalt satt

Von Weißblau bis Dunkelheit

Alles hat hier seine Zeit

O MONACO!

Das Feine und das Leichte, das Unentschiedene. Das Liebenswerte und das Gscherte, das Gspickte und das Erdige, das Schweben zwischen zwei Extremen. Weder das eine tun noch das andere lassen müssen. Einfach raus und an die Isar setzen. Warten, was passiert. Wenn’s regnet, wird man nass. Schon klar. Wenn’s schneit, dann … Nein, im Sonnenschein. Es einfach zulassen. So wie in Dock of the Bay von Otis Redding.

Ich sitz hier am Isarstrand,

Zeit ist Wachs in meiner Hand,

ich denk nach und trink ein Bier,

vielleicht auch drei oder vier,

und hör, was die Isar rauscht,

oder ist es nur der Verkehr?

Und dann pfeifen, ganz leise, ganz zart. – Na super, schon rauschillen, bevor man überhaupt anfängt. Aber so ist das hier. Entspannt. Ja. München ist ein Klischee, ein schönes freilich: Millionendorf, nördlichste Stadt Italiens, Biergarten an Biergarten, Hofbräuhaus und Schmalznudel, Viktualienmarkt und Stachus, Apple Store und Kustermann, Sushi und Brezen, Ludwig Beck am Rathauseck, Straßen ohne Dreck.

Der weite Blick. Die Alpenkette, zum Greifen nah. Und vor allem: Isar – die Wilde, mitten in der Stadt. Eiskalt, aus den Bergen, in die Herzen. Der Surfer, Radler, Jogger, Müßiggänger. Stimmt alles. Aber die andere Seite gibt es auch – in jedem Viertel: Giesing, Sendling, Milbertshofen. Sogar in Schwabing. Das Betonierte, Abweisende, Schmutzige. Hätte man es nicht amtlich, so könnte man an manchen Ecken glauben, man wär in Bukarest oder wo sonst die Modefarbe Grau heißt. So einfach ist das nicht mit München. Und in der Nacht sieht alles noch mal ganz anders aus.

HUNDERTSIEBENUNDZWANZIG KUBIKMETER

Quiddestraße, Neuperlach, hässliche Wohnblocks am Ostpark. Kein Klischee. Echt. Echt greislig. Könnte Ruhrpott sein oder Frankfurt an der Oder – wo sonst das Leben eher schmucklos geführt wird. Aber nicht auf die Form kommt es an, sondern auf den Inhalt: In einem der Blocks wohnen Hauptkommissar Karl-Maria Mader und sein Dackel Bajazzo. Dreizimmerwohnung. Sechsundfünfzig Quadratmeter. Zwei Meter sechsundzwanzig Raumhöhe. Macht hundertsiebenundzwanzig Kubikmeter. Genug zum Atmen, wenn man keine großen Ansprüche hat. Hat Mader nicht. Mader erwartet mit seinen fünfundfünfzig Jahren nicht mehr viel. Sein Privatleben eine Eiswüste. Die Einrichtung seiner Einmannwohnung das Resopalbild seiner Seele: Möbel von Segmüller, Schrankwand in Gelsenkirchener Barock, hellbraune Auslegware. Nur ein paar Requisiten in Maders Leben. Nicht die leiseste weibliche Ahnung. Schade eigentlich. Denn Mader ist ein cooler Typ. Auf seine Art. Und jobmäßig: Spitzenmann. Erfahrung. Dreißig Jahre Kriminaler. Bisschen ausgebrannt, aber nur ein bisschen.

00:18. Digital und grün. Eine Fliege knallt immer wieder an die Scheibe des Schlafzimmerfensters. Selbstmordversuche. In einem Raum, der etwas streng riecht. Herr und Hund. Letzterer aber im Flur. Maders Atem rasselt wie die Entlüftungsklappe eines altersschwachen Boilers. BrrrbkrüüBrrrbkrüüBrrrbkrüü…BrrrbkrüüBrrrbkrüüBrrrbkrüü…

Mader träumt von Catherine Deneuve: »Oh, Karl-Marie, ah, oui, je t’aime, maintenant, viens!« Das Telefon unterbricht seine Träume. Er wirft sich im Bett herum und greift zum Hörer: »Oui, Madér?«

»Ich bin’s. Hummel.«

»Hummél? Qu’est-qu’il y a?«

»Was soll das? Mader, wo sind Sie?«

»À Paris.«

»Was?!«

»Mei, Hummel! Im Bett, wo denn sonst?!«

»Mader, wir ham ’nen neuen Fall. Eine Wasserleiche.«

»Wo?«

»Maria-Einsiedel.«

»Sauber. Ja, äh, holen Sie mich ab. Mein Auto …«

»… ist kaputt, weiß ich. Bin schon unterwegs.«

Mader knipst die Nachttischlampe an und kneift die Augen zusammen. Rote Sterne. Wie beim Silvesterfeuerwerk in der Glotze. Er sinkt zurück ins Kissen und sinniert über sein alljährliches Ritual der Einsamkeit am 31.12. Einsam ist nicht ganz korrekt. Sein haariger Gefährte ist stets zugegen. Bajazzo. Der Gute. Selbiger kratzt schon an der Tür. Mader schält sich aus dem Bett und betrachtet erstaunt seine Wasserlatte. Eindrucksvoll. Wigwam. Was würde Catherine sagen? Nichts? Nur ein wissender Blick? Ein Lächeln? Ein herzhaftes Lachen? Mader schüttelt den Kopf und öffnet die Tür zum Flur, wo ihn sein Hund freudig begrüßt. »Na, Bajazzo, wo ist die Wurscht?«, nuschelt Mader und drückt sich an ihm vorbei aufs Klo. Dort schwierig. Vor lauter Latte kann er nicht pinkeln. Auch sonst schwierig. Warum war er so spät noch beim Haxnwirt? Sehr belastend. Mader massiert seinen runden Bauch und strengt sich an. Nix. Kein Wunder. Mitten in der Nacht.

Im Schein der trüben Klolampe studiert Mader seine Fußnägel. Verdammt schlecht geschnitten. Spröder Schiefer im Steinbruch seines einsamen Lebens. Wenn Catherine seine Zehen sehen würde! Nicht auszudenken! Ach, Catherine! Er tröstet sich. Solche Frauen gibt’s in Wirklichkeit nicht. Mader denkt an die Frau vom Nagelstudio um die Ecke. Solche gibt’s. Die mit den nikotingelben Haaren. Die immer vor dem Laden steht und an ihrer Zigarette saugt, als wäre es die allerletzte. Aber vielleicht sollte er mal hingehen. Zehennägel auf Vordermann bringen lassen. Alles zieht sich in ihm zusammen. Ein Stein fällt ihm vom Herzen. Kaltes Wasser spritzt an seine Backen. In dem Moment klingelt es an der Tür.

GROOVY

Hummel atmet die feuchtscharfe Nachtluft ein und sieht zu Mader hoch. Dritter Stock des garstigen Silos. Nicht das erste Mal hier, aber er kann es nicht fassen. Wie kann man so wohnen? Fort Knox mit Rüschen: geraffte Vorhänge, Geraniengeschwüre an den Balkonen. Wir kriegen euch alle! Ein Wald von Satellitenschüsseln. Dieses Haus hat tausend Ohren! Hummel dreht sich um. Die Straße runter. Er kennt die Gegend. Jugendbanden, Alkohol, Drogen, Autodiebstahl, Schlägereien. Der ganze Scheiß. Von wegen München-Chic, das hier ist Endstation. Wer kann, zieht weg. Nur wer mit allem fertig ist, wohnt hier. Denkt Hummel. Der natürlich keine Vorurteile hat und im lauschigen Bohemien-Viertel Haidhausen wohnt. Hier könnte er nicht leben.

Hummel klingelt noch mal. Warum rührt sich nichts? Er tritt ein paar Schritte zurück und blickt nach oben. Licht im geeisten Klofenster. Kann er lange klingeln. Chef auf Schüssel. Hummel setzt sich ins Auto und raucht. Prince Denmark. Seine Marke. Weil der Name ihm gefällt. To smoke or not to smoke. Jeder Zug eine Manifestation existenziellen Willens. Da ist was faul im Staate Dänemark. Er dreht das Autoradio an. Soul FM. Smokey Robinson and the Miracles mit Tears of a Clown. Tausendmal gehört. Kitsch und Verzweiflung, die verspielten Bläser, der wuchtige Einsatz von Bass und Schlagzeug. Hummel liebt Soul, auch Motown. Eigentlich besonders Motown. Geht nicht kaputt. Er macht lauter und lehnt sich zurück. Entspannen. Gefährlich. Weil: Gedanken – sein Leben, seine Arbeit. Viel Arbeit, wenig Geld. Ansehen kann man komplett knicken. Besonders bei Frauen. Welche will schon ’nen Bullen? Und eigentlich hätte er jetzt seit zwei Stunden frei. Wäre in seiner Stammkneipe in der Kurfürstenstraße in Schwabing. In der Blackbox. Wo das echte Leben spielt. Ein paar Bier zischen, immer mal wieder ’nen Euro in die Jukebox und Beate hinterm Tresen mit seinen Soulkenntnissen beeindrucken: »Die späten Curtis-Mayfield-Sachen, die san echt nix, aber Miss Black America, ey, Beate, davon gibt’s ’ne geile Liveversion, kleine Band, Supergroove. Du, ich hab zu Hause jede Menge alte Platten – LPs, Singles, alles Vinyl. Stax, Motown, Chess, Atlantic, Hi, Kent. Wenn du mal nach der Arbeit ein bisschen chillen willst? – Beate!«

Unsinn natürlich. Wenn er bei Beate mal drei gerade Wörter rausbringt, dann ist das schon viel. Aber Beate ist genau sein Typ: hochgewachsen, blondes langes Haar, forellenblaue Augen. Schönste Wirtin Münchens. Und clever. Studiert Psychologie und hat echt Ahnung von Leuten. Niemand versteht ihn so wie sie. Stellt er sich zumindest vor. Denn normalerweise beschränkt sich ihre Kommunikation auf »Ein Helles, bitte!« und »Hier, Hummel, dein Helles.« Aber allein, wie sie »Helles« sagt! Da geht die Sonne auf!

In Sachen Liebe ist es mit ihrer Menschenkenntnis leider nicht weit her. Sonst wäre sie nicht mit diesem blöden Testfahrer von BMW zusammen. »Beate, du brauchst jemanden, der dich versteht. Jemanden mit der nötigen Sensibilität. So wie ich, also mich.« Das wäre sein ganz persönlicher Tipp. Aber keine Chance. Wie auch? Testfahrer gegen Bulle! Welten. Auch finanziell. Würde er genauso machen, an Beates Stelle. Oder?

Smokey singt immer noch Tears of a Clown. Ach, ich bin der Clown, denkt Hummel, ich sitz hier und wart, dass der Chef seinen Stuhlgang beendet.

Als Mader mit seinem Hund aus dem Haus kommt, ist Hummel eingeschlafen. Träumt mit den Delfonics: »Lalalalala means: I love youuhuu …«

Mader schlägt mit der flachen Hand auf die Frontscheibe. Uuhmmpf! Hummel schreckt hoch, seine Hand fährt zum Schulterholster.

»Morgen, Hummel«, grüßt Mader durchs offene Seitenfenster.

Hummel sieht Mader mit verquollenen Augen an. »Chef … Ah? ’n Abend.«

»Was hören Sie da für einen Eunuchensound?«

»Ich glaub nicht, dass Sie davon was verstehn.«

»Und wenn. Machen S’ den Schmarrn aus!«

Genervt schaltet Hummel das Radio aus. »Ich wart schon ’ne ganze Weile auf Sie!«

»Sie haben nicht gewartet, Sie haben geschlafen. Unterschied.«

Mader geht um den Wagen und steigt ein. Bajazzo springt auf seinen Schoß und stellt die Vorderpfoten aufs Armaturenbrett. Schnüffelt an dem quietschgelben Wunderbaum, der am Rückspiegel hängt. Schnappt danach. Bäumchen baumelt weg.

»Kann er ruhig fressen«, sagt Hummel. »Bringt seine Verdauung bestimmt auf Vordermann.«

Bajazzo furzt knatternd seine Antwort. Hummel schickt Bajazzo mit einem scharfen Blick ins Reich der Toten und lässt den Wagen an.

Sie fahren durchs Laternengelb der nächtlichen Straßen. Kaum Verkehr. Feiner Sprühregen bricht das Licht. Chrom und Lack. Abertausend Sterne. Scheibenwischer quietschen leise, effektiv. Draußen. – Drinnen: zwei Männer. Weit entfernt und doch so nah.

»Also, Hummel, eine Wasserleiche?«, fragt Mader schließlich. »Details?«

»Hab ich noch nicht. Zankl ist dort. Wasserleichen sind ja nicht so ganz mein Geschmack.«

»Aha. Und wie ist der so – Ihr Geschmack?«

»Erlesen.«

»Aha. Geschmack …«, murmelt Mader und durchforstet seine Taschen.

»Is was, Chef?«, fragt Hummel.

Mader wühlt weiter in seinen Taschen. Bajazzo sieht sein Herrchen erwartungsvoll an. Schließlich findet Mader, was er sucht: kleine silberne Würfel. Konfekt? Er pult die Silberfolie von einem Würfel und beißt die Hälfte ab. Reicht Bajazzo die andere. One for me, one for you. Sie lutschen. Zwei Genießer.

Hummel beobachtet die beiden argwöhnisch aus dem Augenwinkel.

»Wollen Sie auch?«, fragt Mader schmatzend. »Die san super. Echt.«

»Ja, warum nicht.«

Mader gibt ihm einen Würfel. Hummel pult einhändig die Folie ab, Blick immer auf die Straße. Deutet mit dem Kopf zu Bajazzo. »Muss ich nicht teilen, oder?!«

»Nein. Genießen Sie es ganz allein.«

Klebriges Teil. Hummel schmeißt es ein – und ab geht die Post! Er verreißt das Lenkrad, das Auto gerät ins Schlingern und kommt mit pfeifenden Reifen am Straßenrand zum Stehen.

»Was, was ist das?!«, röchelt Hummel.

»Unkonzentrierte Fahrweise, würd ich sagen.«

»Was für ein Teufelszeugs?«

»Brühwürfel«, sagt Mader.

»Brüh…«

»Maggi – die besten.«

»Das ist krank.«

»Im Gegenteil – sehr gesund! Lebenswichtige Salze. Und jetzt fahren S’ endlich weiter.«

FINGERZEIG

Vor dem Maria-Einsiedel-Bad steht die ganze Karawane. Einsatzfahrzeuge, Notarztwagen, Feuerwehr. Es schüttet ohne Unterlass. Trotzdem ist das Absperrband gesäumt von Schaulustigen. Unter Schirmen die ganze Haute Couture des benachbarten Campingplatzes: Jogginghosen und Trainingsanzüge in grellen Farben, Bademäntel, Adiletten, Ganzkörper-Goretex an Bermudashorts. Alt und jung, sogar Kinder.

»Zefix, warum san die ned in ihren Wohnwagen?«, mosert Mader.

Hummel parkt den Wagen vor der Holzwand des FKK-Bereichs.

Der Wind peitscht den Regen gegen die Autoscheiben. Hummel zieht den Zündschlüssel und will aussteigen. Mader hält ihn zurück. Er konzentriert sich, schließt die Augen, zählt: »Oans, zwoa … drei!« Er reißt die Tür auf. Regen stoppt schlagartig.

Hummel starrt Mader an.

Mader lächelt. »Das ist erst der Anfang!«

Hummel schüttelt den Kopf und öffnet die Fahrertür. Seine Füße sinken in den Morast. Oh, nein. Seine neuen Wildlederboots! Mit denen er sich bei Beate als hoffnungsloser Romantiker outen wollte. Original Achtziger-Jahre-Robin-Hood-Gedächtnisstiefel. – Verdammt!

Sie gehen über die matschige Liegewiese bis zu der Stelle, wo der Eiskanal in das Gelände des Schwimmbads mündet.

»War ich oft beim Schwimmen, als Bub«, sagt Mader.

»Ich auch«, sagt Hummel. »Vorne rein, hinten raus. An der Brücke, vor den Fangnetzen.«

»Andere Zeiten«, sagt Mader und stapft davon, zum gleißenden Lichtteppich der mobilen Flutlichtanlage, die den Fundort der Leiche beleuchtet. Hyperrealistisch. Jeder nasse Grashalm ein Statement, das Wasser im Eiskanal wie Quecksilber, oben glatter Film, unten zerrend, wild. Strudel am Fanggitter. Zwei Taucher mühen sich im Wasser. Räumen Äste, Blattwerk, Müll beiseite, um an die Leiche zu kommen. Von der sieht man im Moment nur einen nackten weißen Arm. Fingerzeig in den Nachthimmel. Dort ist das Jenseits!

Hummel schaudert.

Mader scannt die Umgebung.

Bajazzo mustert misstrauisch das gurgelnde Wasser.

Und da ist auch Zankl, Maders zweiter Assistent. »Servus, Mader. Hummel.«

»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragt Mader.

»Der Hund von so ’nem Campingtypen. Wartet in der Umkleide.«

»Der Hund?«

»Beide.«

Die Taucher sind jetzt bei der Leiche und versuchen, sie herauszuziehen. Schwierig. Starke Strömung. Makabres Schauspiel. Slapstick. Nur nicht lustig.

Schließlich bekommen sie die Leiche frei. Einer hält sie an den Füßen, einer an den Händen. Gleich haben sie es geschafft. Doch da stolpert der hintere, taucht unter, der vordere versucht mit aller Kraft, die Leiche zu halten, sie entgleitet auch ihm. In Händen hält er eine … Hand! Nein, nur die Haut der Hand! Wie ein Handschuh. Der Taucher sieht die Haut schockiert an und schleudert sie an Land.

Hummel und Zankl starren auf das schlabbrige weiße Etwas in der grün glänzenden Wiese. Maders Gesichtsausdruck sagt gar nichts.

Bajazzo schnüffelt interessiert.

Schließlich auch der Rest im nassen Gras. Eine Frau. Weiß, aufgequollen, voller Flecken. Schwarze Unterwäsche, viel zu eng für den aufgedunsenen Körper. Rotes lockiges Haar. Gesicht entstellt von Treibholz und Metallgitter. Trotzdem Ahnung von Schönheit. Hand spektakulär: Knochen, Sehnen, Muskeln. Haut und Nägel daneben im Flutlichtgras.

»Waschhaut«, sagt Dr. Fleischer, die wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. »Kann man ausziehen wie einen Handschuh. Liegt schon länger im Wasser, die Gute.«

Mader nickt stumm. Hummel starrt sie an – Dr. Fleischer! Blaupause seiner erotischen Träume. Jenseits von Beate. Dr. Fleischer – die heiße Seite der Macht! Die langen schwarzen Haare, die vorwitzige schmale Nase und die messerscharfen Augenbrauen. In dieser Reihenfolge. Das Beste zum Schluss: Ihr spitzer Busen sticht durch die Ballonseide des Overalls und erzeugt bei ihm ein flaues Gefühl.

Dr. Fleischer durchschaut seine Assoziationskette. Bis ins letzte Glied. Lächelt. Wie ein Skalpell.

»Dr. Fleischer, können Sie auf den ersten Blick schon was sagen?«, fragt Mader. Und deutet auf die Leiche.

»Tot.«

»Das seh ich auch. Irgendeine Idee. Todesursache, Todeszeit?«

»Schwierig. Die Leiche kann schon mehrere Wochen hier liegen. Fettwachsbildung tritt in der Regel nach vier bis sechs Wochen post mortem auf, infolge hydrolytischer Spaltung und Verflüssigung von Körperfett in Glyzerin und Fettsäure. Wenn man nun …«

»Halten Sie uns keine Vorträge, Dr. Fleischer«, unterbricht Mader sie.

»Das sind schon interessante Vorgänge.«

»Aber wir sind nicht Ihre Studenten.«

»Nein. Die sind höflicher.«

»Dr. Fleischer, jetzt mal konkret, haben Sie eine Idee zur Todesursache?«

»Ob sie ertrunken ist, weiß ich erst, wenn ich in sie reingeschaut habe. Was aber auffällig ist, sind die Strangulationsmale an Fuß- und Handgelenken. Vielleicht hat sich deshalb die Haut an der Hand so leicht abgelöst.«

Interessiert betrachtet Mader die dunkelbraunen Streifen an den Gelenken.

Auch Hummel und Zankl treten näher.

»Was das genau ist, können wir mit ein bisschen Glück noch klären«, meint Dr. Fleischer. »Histologisch auf alle Fälle interessant.«

»Reden S’ bitte normal mit uns«, sagt Mader.

»In der Regel lässt sich im Bereich der Strangmarken eine erhöhte Histaminkonzentration nachweisen. Histamin wird durch Irritation der Hautzellen mittels des Strangwerkzeugs in der Strangfurche vermehrt freigesetzt. Wenn sie die Male am Hals hätte, die auf die Todesursache Erwürgen hindeuten, dann könnte man im Labor etwas über den ungefähren Todeszeitpunkt erfahren. Aber Strangmale an den Extremitäten sind nicht tödlich. Beziehungsweise, wir wissen nicht, ob diese hier in einem kausalen Zusammenhang mit dem Ableben der Dame stehen.«

»Aber man könnte bestimmen, wann sie entstanden sind?«

»Vielleicht. Obwohl – das ist schwierig. Die Dame war recht lang im Wasser. Und noch eins ist auffällig. Die Narben sind so ausgeprägt, dass ich sagen würde: Die sind relativ alt und immer wieder aufs Neue entstanden.«

»Sexspiele?«, fragt Zankl.

»Vielleicht. Wir kennen das zum Beispiel von autoerotischen Praktiken, die statt in Ekstase manchmal im Exitus gipfeln.«

»Wohl gesprochen«, meint Mader. »Kriegen Sie raus, wie die Frau gestorben ist?«

»Wie gesagt, wenn ich den Leichnam geöffnet habe, wissen wir mehr. Vermutlich. Und noch was ist auffällig – die Unterwäsche.«

»Ja, die ist speziell, oder?«

»Ein raffinierter Mix aus Latex und Spitze«, erklärt Dr. Fleischer. »N.N.«

»N.N.?«, fragt Mader.

»Nuit Noire, eine sehr teure Dessousmarke. Sehr speziell. Bisschen Fetisch. So um die fünfhundert Euro, die zwei Teile. Schätz ich mal.«

Mader nickt nachdenklich. »Was Sie alles wissen.«

»Jenseits meiner Einkommensverhältnisse.«

»Meiner auch. Vielen Dank, Dr. Fleischer, das war schon sehr hilfreich. Ich bin gespannt auf Ihren Bericht.« Er wendet sich zum Gehen.

Hummel bleibt wie angewurzelt stehen.

»Hummel, alles klar bei Ihnen?«, fragt die Fleischer.

»Ja, alles klar. Faszinierend, was Sie alles wissen, ich mein, für mich ist das ja nichts. Also die Leichen. Aber Sie, na ja, Sie lesen in den Toten wie in einem Buch.«

»Danke schön, aber jetzt lassen Sie mich in Ruhe arbeiten.« Sie zwinkert ihm zu. »Wir sprechen uns morgen.«

Hummel wird knallrot. Ihn durchflutet ein warmes Gefühl trotz der klammen Nachtluft. Was für eine Frau! Hui! Bevor er Mader und Zankl in die Umkleidekabinen folgt, wo der Mann wartet, der die Leiche gefunden hat, raucht er noch schnell eine Zigarette. Hummel ist aufgewühlt. Blickt zurück auf die Liegewiese. Dr. Fleischer in ihrem schneeweißen Overall. Jenseits des Zauns die Schaulustigen. Und die Beamten, die die Neugierigen auf Distanz halten. Ihm schwirrt der Kopf. Alles ein bisschen viel – Wasserleiche, Strangulationsmale, Dessous, Waschhaut. Jetzt macht er den Job schon so lange, Wasserleichen hat er schon genug gesehen, aber das mit der Hand! Als ob das Leben etwas ist, was man einfach ausziehen und wegwerfen kann. Er schüttelt den Kopf und tritt die Kippe ins nasse Gras.

In der Umkleide muffelt es: feuchte Badesachen, Holz, Gummi und kalter Estrich. Diese ganz spezielle Mischung, die Hummel sofort in seine Kindheit zurückversetzt. Die schwachen Neonröhren an der Decke summen. Zwielicht.

Passt zu dem Typen, der die Leiche gefunden hat. Er ist in eine Wolldecke gehüllt und hält ein dampfendes Teehaferl in Händen. Dass da nicht nur Tee drin ist, verrät ein feiner scharfer Duft. Der Hund des Mannes, groß wie ein Kalb, hat sich zu dessen Füßen eingerollt. Hummel betrachtet das Gesicht des Mannes. Rot, fleischig, großporig, stechende Augen. Die Knastträne unter dem rechten Auge registriert er sofort.

»Sie sind Dauercamper, Herr Hartl?«, fragt Mader.

»Am Platz kennt mi jeder. I bin der Tscharly.«

»Gut, Tscharly. Kommt es oft vor, dass Sie mit Ihrem Hund so spät noch unterwegs sind?«

»Mei, wenn der Orkan scheißn muss. Kann er ja ned aufm Platz.«

Mader wirft einen sorgenvollen Blick auf den riesigen Hund. Bajazzo hat sich in eine ferne Ecke des Raums verkrümelt. Atmet lautlos. Hält den Ball flach.

»Wenn Sie also mit Orkan so spät noch Gassi gehen, dann nehmen Sie immer denselben Weg?«

»Ned immer, aber meistens. An der Floßlände. Bei de Laternen.«

»Ist Ihnen da mal was aufgefallen auf Ihren Spaziergängen, vielleicht auch schon vor ein paar Wochen?«

»Was zum Beispiel?«

»Eine Person, ein Auto. Irgendwas. Irgendwoher muss die Leiche ja kommen.«

»Mei, die wird halt wer in die Isar gschmissen ham.«

»Ja, vermutlich.« Mader stöhnt leise auf.

»Warum ist denn Ihr Hund da ins Wasser gesprungen?«, fragt jetzt Zankl.

»Na, der wird halt was gsehn ham, der Orkan Katz oder Antn.«

»Und da springt er gleich ins Wasser? Bei der Strömung?«

»Da kennt der nix. Der Orkan« Tscharly tätschelt den riesigen Kopf des riesigen Hundes.

Zankl nickt. »Und Sie mussten ihn dann rausziehen?«

»I war scho mit de Fiaß drin, aber der Orkan is a harter Hund. Des hat er selber gschafft. Grad so. Und im Wasser, da war er dann.«

»Wer?«

»Der Arm.«

»Ja. Gut. Und dann haben Sie gleich bei der Polizei angerufen?«

»Ja, freilich.«

Jetzt übernimmt Mader wieder: »Haben Sie immer ein Handy dabei, wenn Sie mal kurz Gassi gehen?«

»Freilich. Du weißt ja nie, was für a Gschwerl da unterwegs ist. San eh schon lauter Ausländer am Platz.«

»Ja, bei Touristen ist das manchmal so«, sagt Mader. »Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns.«

Mader ist schon auf der Türschwelle, als er sich noch mal umdreht. »Ach, Tscharly, kann ich mal kurz Ihr Handy sehen? Wegen der Anrufzeit fürs Protokoll.«

»Warten S’ …« Hartl entsperrt den Bildschirm. Blitzschnell schnappt sich Mader das Handy. »Hey, was wird des?!«, zischt Tscharly. »Derfan Sie des?«

»Ich darf«, sagt Mader und tippt sich durchs Menü. Fotos. Der weiße Arm im schwarzen Wasser. Gespenstisch erhellt vom Handyblitz. Mehrfach. »Souvenir, Souvenir«, murmelt er und löscht die Bilder. »Ich will so was nicht in der Zeitung sehen. Oder auf Facebook. Ist das klar, Herr Tscharly?«

»Des gibt Ärger!«, zischt der.

»Des is mir wurscht«, sagt Mader. »Ich hab Sie im Auge.« Er tippt sich mit dem Finger ans Jochbein, wo Tscharly die Knastträne hat.

Draußen am Kanal. Immer wieder Blitzlichter. Die Zaungäste können es nicht lassen. Selbst wenn sie nur die Sichtschutzplane und die Leute von der Spurensicherung fotografieren können. Oder die Kollegen mit dem Sarg, die inzwischen eingetroffen sind und hinter der Absperrung verschwinden, um unter Dr. Fleischers fachkundiger Anleitung die tote Dame ins kalte Bett aus Zink zu bugsieren.

Wo etwas zu Ende geht, fängt etwas anderes an – die Ermittlungen. Mader verteilt die Rollen. Hummel darf sich die Gaffer vorknöpfen, und er selbst widmet sich mit Zankl den Leuten auf dem Campingplatz. »Vielleicht gab es ja in den letzten Wochen irgendwas Besonderes. Zum Beispiel eine Party, wo man sich ein paar Ladys kommen ließ.«

Zankls Einwurf: »Klar, mit Unterwäsche für fünfhundert Euro«, lässt Mader unbeantwortet verhallen. Aber viel Hoffnung hat auch er nicht.

Die Resultate sind ernüchternd. Von wegen wilde Partys bei den Dauercampern. Gesehen hat natürlich niemand irgendwen oder irgendwas. Also etwas, das aus der Reihe fällt im entspannten Camperleben. Mader und Zankl erfahren nur Dinge, die sie nicht wirklich interessieren: Wer hier was mit wem hat und wie oft. Wer hier säuft oder wer sich Katzenfutter kauft, obwohl er oder sie gar keine Katze hat. Wer zu faul ist, in der Nacht bis zum Sanitärgebäude zu gehen, und hinter den Wohnwagen brunzt. Ein feines Netz aus perfiden Verdächtigungen, gespeist von Langeweile und Alkohol, geknüpft von alteingesessenen Dauercampern wie Tscharly.

»Und das ist der Normalzustand«, resümiert Zankl. »Was ist dann hier zur Wiesn los?«

»Hey-ey, Ba-by!«, singt Mader.

Die Schaulustigen sind weg. Die Leiche auch. Aber auf der Liegewiese brennt immer noch das Flutlicht. Spurensicherung und Taucher suchen alles im und rund um den Kanal ab. Beim Auto treffen sie Hummel. Er lehnt am Kotflügel und raucht.

»Und, Hummel?«, fragt Mader. »Haben Sie etwas Interessantes erfahren?«

»Ja, über die menschliche Natur. Die stehen da und gaffen, malen sich aus, wie die Frau zu Tode gekommen ist. Kein Mitleid. Nix. Als wär’s Fernsehen. ›Tatort‹ oder ›Polizeiruf‹. Und die Scheißhandyfotos. Mir glangt’s.«

FAST SCHON TAG

Hummel tigert durch seine Wohnung. Er ist hundemüde, aber er kann nicht schlafen. Zu viele Eindrücke. Für ein Bier ist es aber sogar ihm zu spät. Oder zu früh. Die Uhr in der Küche zeigt Viertel nach vier. Er greift zu seinem Tagebuch und lässt die Mine seines Kugelschreibers herausklicken.

Liebes Tagebuch,

Mann, das war vielleicht ein Tag! Oder besser: eine Nacht. Statt Beate zu sehen und ein Bier in der Blackbox zu trinken, durfte ich mit Mader und Zankl eine aufgeweichte Wasserleiche anschauen. Abgefahren – die Sache mit der Hand! Wie ein Handschuh hat sich die Haut gelöst, als die Taucher daran gezogen haben. Schon eklig. So was greift mein empfindliches Gemüt an. Schrecklicher Fall! Das wird sehr schwierig. Warum kann es nicht mal so sein wie im Fernsehen oder im Kino, wo die Cops ein bisschen kombinieren, sich durch eine Datenbank mit Verbrechervisagen klicken und die Typen dann einfach verhaften? Nein, mein Alltag sieht anders aus. Immer raus aus der Komfortzone. Ich sitze nicht am PC, sondern stapfe in kalter Nachtluft mit meinen jetzt ruinierten neuen Wildlederboots durch Matsch und Regen und frage diese ganzen bescheuerten Heinis, ob sie irgendwas gesehen haben. Und die sind ganz aufgepeitscht, weil da ein blässlicher nackter Frauenkörper in der Wiese liegt. Aber die Fleischer, die ist schon toll! Beruflich und als Frau. Wie sie da stand in dem weißen Anzug aus Ballonseide. Eine Erscheinung! Wie sie gedampft hat unter den 1000-Watt-Strahlern! Wie ein Vulkan! Wow! Die ist echt interessant. Na ja, mehr so dienstlich. Beate, ich bin dir treu, ich schwöre. Für immer und ewig. Und du, mein Tagebuch, bist mein Zeuge.

BELLA FIGURA

»Schön, dass Sie auch mal vorbeischauen«, wird Mader am nächsten Tag im Büro begrüßt. Mader mustert Dezernatsleiter Kriminaloberrat Dr. Günther auf seinem Besucherstuhl und hängt seelenruhig seine Jacke an den Haken hinter der Tür. Bajazzo bezieht sein Kissen neben der verwilderten Yuccapalme, und Mader setzt sich hinter seinen Schreibtisch. »Was verschafft mir die Ehre zu dieser frühen Stunde, Dr. Günther?«

»Lassen Sie Ihre Witzchen. Warum kommen Sie erst jetzt, um Viertel nach zehn? Und wo sind Hummel und Zankl? Die Mordkommission ist nicht besetzt!«

»Wissen Sie was, Dr. Günther, stellen Sie sich doch mal bis drei Uhr früh in Thalkirchen auf den Campingplatz und ermitteln, und ich warte dann morgens gut ausgeruht auf Sie im Büro. Mal sehen, ob wir es mittags noch gemeinsam in die Kantine schaffen.«

»Mader, ich weiß, dass Sie eine harte Nacht hatten. Aber erklären Sie mir das!« Er schiebt ihm drei Zeitungen über den Tisch.

Mader mustert die Fotos mit dem Arm der Wasserleiche. »So schnell sind die?«

»Ja, so schnell sind die. Wenn’s was Interessantes gibt. Das hätten Sie unterbinden müssen!«

»Was erwarten Sie? Da war schon ein Riesenauflauf, als wir beim Schwimmbad ankamen. Da hatten viele bereits ihr Erinnerungsfoto gemacht.«

»Das ist nicht alles!« Günther deutet auf die TZ. »Warum sind Sie den Typen, der die Leiche gefunden hat, so hart angegangen? Ein halbseitiges Interview! Und wir kommen dabei nicht gut weg!«

Mader stöhnt innerlich. Denn er weiß, was jetzt kommt: Günthers Monolog über das Image der Polizei, für das er verantwortlich zeichnet. Außenwirkung und so. Aber Günther sagt nichts, also sieht sich Mader den Artikel doch genauer an. Das Foto von Tscharly und Orkan wirkt fast schon romantisch. Tierlieber Single sucht Gefährten für gemeinsame Erlebnisse in der Natur. Die Knastträne hat man wegretuschiert. Allerliebst.

»Dieser Tscharly ist ein Ex-Knacki«, erklärt Mader. »Ich schätze mal Einbruch und Körperverletzung. Wir können uns gerne mal die Akte zusammen anschauen.«

Günther will schon etwas erwidern, aber im Büro nebenan rührt sich jetzt was. Hummel und Zankl treffen ein. Günther winkt sie zu sich und sieht in ihre müden kleinen Augen. Ansprache: »Ich weiß, Männer, das ist kein schöner Fall, und die Presse wird ihn genüsslich breittreten. Aber nach diversen Fällen, in denen der Polizei Gewaltexzesse vorgeworfen wurden, sind die Journalisten aktuell ziemlich scharf darauf, uns schlechtzumachen. Dazu dürfen wir keinen Anlass geben! Wir müssen hier eine gute Figur machen! Hierfür gibt es aber noch einen anderen Grund.« Er macht eine bedeutungsschwangere Pause. »Der Oberbürgermeister hat mich heute in aller Herrgottsfrüh angerufen. Höchstpersönlich. Er fürchtet, dass diese Wasserleiche beim Maria-Einsiedel-Bad das Image des familienfreundlichen Naherholungsgebiets Isarauen beschädigt. Er findet …«

»Dem seine Sorgen möcht ich haben«, rutscht es Zankl heraus. Günther bringt ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen und konkretisiert sein Anliegen: »Ich will, dass dieser Fall umgehend gelöst wird. Die Leute sollen sich sicher fühlen, wenn sie dort draußen spazieren gehen, den Biergarten besuchen oder zu Gast sind auf dem Campingplatz.«

Mader zuckt mit den Achseln. »Jeder Mord ist schlecht für das Image dieser Stadt. Egal, ob in den Isarauen oder in Milbertshofen. Denken die Mörder leider nicht dran.«

»Da haben Sie durchaus recht, Mader. Aber wenn der OB schon mal höchstpersönlich Interesse an unserer Arbeit zeigt, sollten wir uns schon ein bisschen anstrengen. Finden Sie nicht?!«

Mader lächelt. »Und wie sollen wir Ihrer Meinung nach vorgehen?«

»Effizient und geräuschlos.«

»Ich mein eher so personell. Wir haben hier noch ein paar andere Aufgaben.«

»Die habe ich auch!«, zischt Günther und rauscht aus dem Büro.

WIRKLICH SCHÖN

Dr. Fleischer hat ganze Arbeit geleistet, wie die Ermittler feststellen. Denn das Gesicht der Wasserleiche sieht jetzt richtig menschlich aus, friedlich. Dr. Fleischer entfernt auch noch den Rest des Leichentuchs. »Aber Vorsicht, bitte nichts anfassen, die Nasenflügel sind mit ein paar Stichen fixiert. Da hatten allerdings schon andere Kolleginnen oder Kollegen ihre Finger beziehungsweise Skalpelle dran.« Dr. Fleischer gibt den Kollegen einen konzisen Einblick in ihre bisherigen Erkenntnisse: »Todeszeitpunkt: grob geschätzt vor vier bis sechs Wochen. Wegen der Waschhaut. Todesursache: Fraktur der oberen Halswirbel. Aber kein Schlag, kein Sturz. Dort sind keine äußeren Verletzungen. Eventuell geht die Fraktur auf eine Überdehnung zurück. Darauf komme ich gleich noch mal. Ansonsten haben wir Narben und Striemen am ganzen Körper. Auch älteren Datums. Ich tippe auf sadomasochistische Praktiken. Dazu passen auch die Strangulationsmale an den Extremitäten. Bemerkenswert: keine Fasern, keine spezifischen Spuren wie etwa von einem geflochtenen Seil. Auch keine scharfen Schnitte von Kabelbindern wie bei Entführungsopfern. Ich tippe auf Leder. Vielleicht geht es um eine dunkle Spielart von Erotik. Eventuell war da eine Streckbank im Spiel.«

Hummel hakt ein: »Der Halswirbel. Was genau ist da passiert, wie kam es zu dem Bruch?«

Fleischer winkt ihn an einen freien Obduktionstisch. »Hummel, legen Sie sich bitte mal hier auf den Tisch.«

Hummel sieht sie irritiert an. Sie nickt aufmunternd, und er tut schließlich, wie ihm geheißen.

»Ganz entspannt bleiben. Mader, Sie ziehen unten an den Füßen, Zankl, Sie oben an den Händen. Aber bitte nicht zu fest.« Im Folgenden demonstriert sie, wie es passiert sein könnte. Sie umfasst Hummels Kopf und deutet eine plötzliche seitliche Bewegung an. Hummel ahnt den Schmerz schon und verzieht das Gesicht. »Bei einer derartigen plötzlichen Bewegung sind zwei Halswirbel gesplittert, und die Frau war vermutlich sofort tot«, erklärt sie. »So könnte es gewesen sein.«

»Also ein Unfall bei einem Folterspiel?«, fragt Mader. »Eine Prostituierte mit Spezialgebiet?«

»Kann sein. Muss nicht sein. So exotisch ist das nicht. Aber auf alle Fälle jemand mit einschlägigen Erfahrungen. Abgesehen von den Narben ist die Frau ein sehr gepflegter Typ. Die Nasen-OP ist hervorragend ausgeführt – nix Billiges. Ich kann falschliegen, aber der helle Hautton könnte auf einen osteuropäischen Typ hinweisen, die Haare sind eigentlich schwarz, aber rot gefärbt. Sie ist circa dreißig Jahre alt. Wenn sie wirklich eine Prostituierte war, dann von einem recht exklusiven Escortservice. Auch wegen der Unterwäsche. Die kostet locker fünfhundert Euro. Sagte ich schon, oder? Nuit Noire gibt es nicht in jeder Boutique. Mader, fragen Sie mal bei Domina’s Heaven in der Rosenheimer Straße, das ist ein ziemlich gut sortierter Laden.«

Mader nickt nachdenklich. »Für das Campingplatzmilieu ist das jedenfalls zu avanciert. Da ist sicher eher Feinripp angesagt. Was hatte die Frau im Magen?«

»Nicht mehr viel. Die Verdauung beziehungsweise Verwesung ist schon stark fortgeschritten. Das Einzige, was sich sicher klären lässt: Knochensplitter und Knorpel von Hähnchen, Chickenwings. Und ein paar kleine Gräten.«

»Hendl und Steckerlfisch«, murmelt Hummel. »Passt doch zu den Campingheinis. Theoretisch. Und wie lang war die Frau im Fluss unterwegs? Eine weite Strecke?«

Dr. Fleischer zuckt mit den Achseln. »Kann ich nicht sagen. Ich kenn mich da draußen in Thalkirchen nicht aus, aber ich würde davon ausgehen, dass die Leiche mehr Verletzungen aufweisen müsste, wenn sie eine weitere Strecke im Fluss zurückgelegt hätte.«

GEBIETERIN

Meeresrauschen, donnernde Brecher. Nordsee? Nein, es ist der Sound der Blechlawine, die auf der Rosenheimer Straße stadteinwärts und stadtauswärts rollt und die Fenster der Gebäude erzittern lässt. Als die Tür hinter Zankl ins Schloss klickt, bleibt nur ein sanftes Vibrieren. Ansonsten elektrostatische Stille. Es riecht nach Leder und Gummi. Zankls Augen gewöhnen sich nur langsam an das gedimmte Licht.

»Hallo, kann ich Ihnen helfen?«, fragt eine weibliche Stimme aus der Dämmerung.

»Ich, also, äh, ja …«

»Sie sind zum ersten Mal hier?« Die Besitzerin der Stimme taucht jetzt hinter einem Kleiderständer auf.

»Ja. Äh. Schöne Sachen haben Sie hier.«

»Danke. Suchen Sie was Bestimmtes?«

»Ja, äh, eine Kollegin, äh, Freundin hat mir Ihren Laden empfohlen.«

»Ihre Gebieterin?«

»Nein! Äh, ich … Sagen Sie, führen Sie Nuit Noire?«

»Oh, Ihre Gebieterin hat einen exquisiten Geschmack. Nuit Noire wird selten verlangt. Recht kostspielig. Aber hervorragende Qualität, auch im härtesten Einsatz. Dehnbar. Reißfest. Sehr robust.«

Zankl nickt stumm. Er kommt sich vor wie im Baumarkt. Oder im Outdoorladen. So ganz ist das nicht das Seine, hier in Domina’s Heaven in der Rosenheimer Straße. Er sieht in die fragenden Augen der Verkäuferin, die keineswegs Reizwäsche trägt, sondern einen legeren Kapuzensweater. Zankl beschließt, jetzt doch seinen Dienstausweis zu zücken. Entgegen seiner Erwartung ist die Verkäuferin hocherfreut, dass er Polizist ist. Aber logisch: Recht, Ordnung, Disziplin gelten hier noch was.

»Wie schade, dass ihr Jungs bei der Kripo keine Uniform tragt.«

»Zumindest haben wir Handschellen«, sagt er und klopft sich an den Gürtel.

Die Dame gluckst vergnügt. »Kommen Sie nach hinten. Ich zeig Ihnen, was wir von Nuit Noire haben.«

Als Zankl wieder im Wagen sitzt, ist er ein bisschen schlauer, aber vor allem zweihundertachtzig Euro ärmer. Zum Einkaufspreis! Darf man das eigentlich als Beamter? Ist das Vorteilsnahme? Egal. Zu spät. Er starrt die braune Papiertüte an. Zweihundertachtzig Euro für einen BH und einen Slip. Wahnsinn! Aber das Zeug schaut schon super aus. Und wie hat die Fleischer zu Mader gesagt: »Jetzt san S’ mal ned so spießig.« Na ja, Mader. Bei dem ist das Feuer der Leidenschaft sicher schon vor Jahrzehnten erloschen. Er selbst hingegen hat noch einiges vor. Bei der nächsten Gelegenheit wird er seiner Frau das modische Präsent überreichen. Bringt vielleicht ein bisschen Schwung in ihr Sexleben. Momentan ist da ja eher Pflicht als Kür angesagt. Der noch unerfüllte Babywunsch seiner Frau macht sein Privatleben ein bisschen stressig.

Gut, ermittlungstechnisch hat er auch ein bisschen was erfahren. Die Wäscheträgerin war keine Kundin hier. In Domina’s Heaven verkehren nur Stammgäste. Und zu denen gehörte sie nicht. Er hat Gaby – sie waren schnell beim vertrauten Du gelandet – erklärt, dass es sich bei der Dame auf dem Handyfoto um eine Wasserleiche handelt, die eben Nuit Noire am leblosen Körper trug. Gaby war ziemlich schockiert, aber sehr hilfsbereit, und hat ihm ein paar Spielregeln aus der Sadomasoszene erklärt. »Goldene Regel: Wenn jemand Stopp! sagt, dann heißt das auch Stopp!« War hier dann offenbar nicht der Fall gewesen. Gaby will sich mal in der Szene umhören, ob jemand die Frau kennt. Er hat ihr das Foto gemailt.

Wer weiß, denkt Zankl, die kennen sich in der Szene bestimmt alle. Spare ich mir wenigstens die Fusselrecherche. Er schnüffelt. Was ist das? Er öffnet die Tüte und steckt seine Nase hinein. Klar, der Gummi. Ungewohnt. Aber gar nicht übel. Mal sehen, was Jasmin dazu sagt.

ARSCHBOMBE

Müde flattern Absperrbänder im kühlen Aprilwind. Mader tritt an das betonierte Ufer des Eiskanals. Er hält Bajazzos Leine kurz. Wieder hat sich Astwerk am Gitter verfangen. Dafür ist es auch da.

Hummel raucht und lässt den Blick über die zertrampelte Liegewiese wandern. Ab Mai werden sich hier die Badegäste tummeln. Ob der Leichenfund die Leute vom Baden abhält? Na ja, die Großstadtjugend findet das vielleicht gerade hip. Ihn hätte das früher auch nicht gestört. Er sieht sich selbst eine Arschbombe von der Brücke in den Eiskanal machen. Lange her. Unbeschwerte Zeit. Oder wie Mader sagte: »Andere Zeiten …«

»Die Frage ist, Hummel, wo ham’s die Frau neigschmissn.«

»Woanders auf alle Fälle. Also nicht direkt an der Abzweigung.«

»Warum?«

»Weil man von dort aus deutlich das Gitter sieht. Wenn einer eine Leiche in die Isar schmeißt, will er ja, dass sie weg ist. Und nicht, dass sie nach fünf Metern gleich hängen bleibt.«

Mader nimmt einen Stock und schleudert ihn in den breiten Kanal, von dem der Eiskanal abzweigt. Bajazzo will schon losspurten, wird aber unsanft von der Hundeleine gebremst. Maders Augen folgen dem Stock. Er bleibt an der Böschung hängen. »Woher kommt die Leiche?«, überlegt Mader laut.

»Maximal vom Wehr bei der Großhesseloher Brücke. Sonst wär sie schon dort hängen geblieben oder sähe noch schlimmer zugerichtet aus. Wenn es nicht nur Einzelteile wären.«

Mader nickt. »Des probiern ma aus. Aber heut nimmer. Fahrn ma ins Präsidium.«

ABPFIFF

Auch Polizisten haben ein Privatleben. Und durchaus unterschiedliche Vorstellungen von gelungener Freizeitgestaltung.

Mader sitzt im Kino. Stadtmuseum. Der Typ an der Kasse kennt ihn und lässt auch Bajazzo rein. Ohne Karte. Mader ist ganz erregt. Genießt die letzten Minuten von Belle de Jour im Original. Catherine Deneuve und Michel Piccoli. Was hat er, was ich nicht habe?, denkt Mader.

Zankl ist immer noch schweißgebadet. Gerade wurde in der Allianz-Arena das Spiel abgepfiffen. So was hat er noch nicht erlebt. 7:0 gegen Hoffenheim. Schlachtfest. Kollektiver Siegestaumel. Er steigt mit seinen Kumpels in die völlig überfüllte U-Bahn, um nach Schwabing zu fahren. Das muss gefeiert werden. We are the Champions!

Hummel ist gerade heimgekehrt. Er war im Glatteis, der Krimibuchhandlung in der Nähe des Gärtnerplatzes. Auf der Lesung eines amerikanischen Thrillerautors. Sehr cool. Er steht auf diese hardboiled Sachen. Auch wenn sie nicht ganz realistisch sind. Mann, wenn die Autoren wüssten, wie banal der Alltag bei der Kripo oft ist. Wobei ihre Wasserleiche schon was Besonderes ist. Doch, er hätte auch was zu erzählen. Ein Buch schreiben wäre sein Traum. Damit vielleicht sogar den Lebensunterhalt verdienen. Den Berufsalltag nur noch als Archiv benutzen für ein spannendes Ermittlerleben auf dem Papier. Träum weiter, Hummel!, denkt er. Wobei – solche Gedanken kommen ja jetzt nicht ganz aus dem Blauen. Denn da war diese Frau auf der Lesung. Die Chefin von dem Verlag, wo der Ami rausgekommen ist. »Schreiben Sie doch mal auf, was Sie so erleben«, hat sie gemeint, nachdem er ihr gestanden hat, dass er bei der Kripo arbeitet. Warum hat er ihr das erzählt? Sonst ist er auch nicht so auskunftsfreudig, was seinen Beruf angeht. Bei Frauen schon gar nicht, denn in der Regel stehen die nicht auf Polizisten. Denken, dass das alles Machos mit unguten Arbeitszeiten sind. Für ihn gilt natürlich nur Letzteres. Aber in dem Gespräch ging es ja nicht ums Flirten, sondern ums Schreiben. Zwei Themen, von denen er nicht besonders viel Ahnung hat. Trotzdem hat er in einem Anflug von Größenwahn »Warum nicht?« geantwortet, als sie ihn fragte, ob er nicht auch mal was schreiben könne. Yes, why not? Schließlich schreiben auch andere Kriminaler. Na ja, meistens erst, wenn sie nicht mehr im Dienst sind. Aber Genies sind die auch nicht alle. Worüber könnte er denn schreiben? Schon klar, Mord und Totschlag. Über eine Wasserleiche?

Hummel sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sein Reich. Alle Wände sind mit Billy belegt, bis knapp unter die hohe Altbaudecke. Nicht die Regale sind erstaunlich, sondern ihr Inhalt. Ein paar Tausend Bücher. Hohe Literatur? Lyrik? Shakespeare, Goethe, Pynchon? Nein. Krimis. Natürlich. So viele. Ein Vermögen hat er investiert, abgespart von den Lippen seiner mageren Kriminalerexistenz. Hummel ist nicht knickerig, wenn es um seine Hobbys geht. In wichtige Dinge investiert er. Sein Leben – das private – steht auf zwei Säulen: Krimis im Wohnzimmer, Soulplatten im Schlafzimmer. Die dritte Säule wäre vielleicht noch sein Kühlschrank in der Wohnküche. Er steht vom Sofa auf und setzt sich auf das breite Fensterbrett. Blickt in die Nacht. Auf die Straße. Sein Privatkino. Jeder Tag ein neuer Film. Auch die Kulissen sind immer ein bisschen anders. Man muss nur genau hinsehen. Die Bushaltestelle. Momentan Palmers-Plakate. Nur wenige Meter weiter glänzt ein makelloser Frauenkörper in mintfarbener Unterwäsche im Leuchtkasten. Mint. Merkwürdig. Kalt und heiß zugleich. Die Frau auf dem Plakat besteht fast nur aus Strümpfen. Kein Gesicht, nur lange rote Haare, wie ein Wasserfall. Jetzt taucht Dr. Fleischer wieder in seinen Gedanken auf. Wie sie ihn heute Morgen herausfordernd angesehen hat. Warum kommt er jetzt auf sie und nicht auf Beate? Aber die Gedanken sind frei. Er geht in die Küche und holt sich ein Augustiner aus dem Kühlschrank. Dann setzt er sich an den Küchentisch, wo bereits sein aufgeschlagenes Tagebuch auf ihn wartet.

Liebes Tagebuch,

ich habe heute schon wieder eine interessante Frau kennengelernt. Also, wenn man das so sagen kann. Ich war auf einer Krimilesung, und da haben wir gesprochen. Hinterher. Sie ist Verlegerin. Frau König vom Kronen-Verlag. Den kenn ich sogar. Die haben ein paar tolle Krimis im Programm. Sie hat mich gefragt, ob ich auch mal was schreiben würde. Weil ich mich ja auskenne mit Verbrechen. Mit dem Bösen. Da hat sie nicht ganz unrecht. Ich war ein bisschen zögerlich. So nach außen. Ich wollte mir meine Überraschung und Begeisterung nicht gleich anmerken lassen. Innerlich bin ich aber fast geplatzt vor Freude! Natürlich will ich schreiben! Das ist doch mein sehnlichster Wunsch! Ist das jetzt ein Wink des Schicksals, das es endlich mal gut meint mit mir? Ja, ich werde schreiben! Und, mein liebes Tagebuch, sei beruhigt, ich werde es nicht hinter deinem Rücken tun. Du wirst all meine Gedanken lesen können, denn ich werde meine Gedanken auf deinen Seiten zum Leben erwecken.

Kann ich denn überhaupt schreiben? Also ein Buch? Mehr als die persönlichen Worte, die ich an dich richte, mit denen ich versuche, meine Tage und Erlebnisse zu ordnen? Kann ich das? Aber wenn das andere Kriminaler machen, warum sollte ich das nicht auch können? Klar! Was wäre denn mein Thema? Ich möchte etwas schreiben, das bewegt, Emotionen hervorruft, das klug ist, meine Erfahrungen und meine Träume widerspiegelt, meinen eigentümlichen Blick auf die Welt und meine Stadt. Einen Text, dessen Tiefe und Originalität Beate in Ehrfurcht erstarren lassen, wenn sie mein Buch liest. Das sie dazu bringt, in mir endlich das zu sehen, was ich bin: ein tiefsinniger Mann voller Gedanken, voller Fantasie. Der es versteht, die Stadt, in der auch sie lebt, so wunderbar zu beschreiben, der sich beweisen muss in grauenhaften Kriminalfällen, die nur ein Mann klären kann, der tief in die menschliche Seele hineinschaut. Es muss natürlich ein hammerharter Fall sein. Am besten ein Serienmörder. Mindestens!

Ja, mindestens, denkt er jetzt. Denn als normaler Kriminaler erlebt man ja nicht so viel. Also besondere Sachen. Und so richtig aufregend ist so eine Wasserleiche auch nicht. Ja, ich würde schon gern ein spannendes Leben führen, sinniert Hummel weiter und macht sich noch ein Bier auf. Er steckt sich eine Zigarette an und geht ins Wohnzimmer, raucht am offenen Fenster, sieht in die Nacht hinaus. Das Licht in der Bushaltestelle ist erloschen. Frau Palmers schläft bereits.

WÜRSCHTLHIMMEL

Morgenstund in Maders Büro. Mader ist erschreckend munter. Großes Lamento: »Überstunden, Stress, zu wenig Geld, zu wenig Personal. Und jetzt noch diese Wasserleiche. Wir brauchen dringend Verstärkung!«

»Allerdings«, sagt Hummel.

Zankl nickt.

»Tja, bisher ging da ja gar nix. Aber ganz plötzlich bekommen wir …«

»… einen Mann zusätzlich?«, fragt Zankl ungläubig.

»Nein.«

»Nein?«

»Keinen Mann. Eine Frau.«

Hummel und Zankl starren ihn an.

»Habt’s ihr ein Problem?«

Die beiden sagen immer noch nichts.

Aber Mader: »Die ist echt super für ihre achtundzwanzig. Jahrgangsbeste auf der Polizeischule, in Passau bei der organisierten Kriminalität, dann zwei Jahre bei der Drogenfahndung in Starnberg und jetzt bei der Mordkommission. Bei uns.«

»Ab wann?!«, fragt Zankl mit mehr als einem Anflug Panik.

»Ab sofort«, sagt Mader und lächelt zuckersüß. »Macht’s euch auf frischen Wind gefasst. Sie kommt um zehn. In ein paar Minuten.«

Zankl sieht Hummel vielsagend an.

Schon klopft es an der Tür.

Boah!, denkt Zankl.

Boah!, denkt Hummel.

Kongruenz. Auch wenn beide diese Lautmalerei im Normalfall anders einsetzen würden. Kein oberweitendefinierter Machotraum betritt den Raum. Eine kleine stämmige Person mit kurzen rotblonden Haaren und Sommersprossen im bäuerlichen Gesicht.

»Das Sams!«, stöhnt Zankl. Zum Glück lautlos.

»Servus, ich bin die Rossmeier Doris«, sagt das Sams mit fester Stimme und streckt Zankl die Hand hin. Der ergreift sie zögerlich und lächelt gequält. »Zankl.«

Ihr Händedruck ist fest. Zu fest für seinen Geschmack.

»Servus, Zankl. Ich bin die Doris. Für Freunde: Dosi. Und Obacht: Mein Vater ist Pferdemetzger.«

»Ja, wir brauchen jemanden fürs Grobe.«

Dosi lacht.

Und Mader strahlt. »Der Rossmeier. Das waren noch Zeiten. Damals in Passau.«

Jetzt strahlt auch Dosi.

Zankl sieht Mader erstaunt an. »Wann waren Sie denn in Passau?« Er spricht den Ortsnamen aus, als würde er in einen fauligen Apfel beißen.

Mader lächelt versonnen. »Vor Ihrer Zeit. Interessante Stadt. Viel Licht, viel Schatten. Aber der Rossmeier in Salzweg: ein heller Stern am Würschtlhimmel. Wunderbare Knacker. Wunderbar.«

Dosi strahlt immer noch.

Gleich holt sie eine Tupperdose mit Souvenirs aus Papas Wurschtküche raus, denkt Zankl. Tut sie nicht. Sie gibt Hummel die Hand. Der kriegt das besser hin als Zankl: »Servus, ich bin der Hummel. Klaus Hummel, also Klaus. Oder einfach Hummel. Äh, wir sagen hier du zueinander, also Hummel und Zankl.«

Sie lacht und drückt auch seine Hand sehr fest. Ein zartes Wesen ist das nicht.

Mader winkt sie jovial zu sich. »Doris, setzen Sie sich. Wir erzählen Ihnen ein bisschen, was wir hier so machen.«

AN DER BACKE

»DOOSI! Ich fass es nicht!«, stöhnt Zankl, als er sich später auf den Kantinenstuhl fallen lässt. »Und Mader: ›Ich erzähle Ihnen mal ein bisschen, was wir hier so machen.‹ Mann, immer der harte Hund und jetzt plötzlich Bussibussi. ›Doris, kommen Sie, ich lad Sie ein, zum Einstand, zum Italiener. Da gibt’s eine wunderbare Osteria in der Karlstraße.‹ – Wahnsinn! Die geht doch maximal zu Pizza Hut, die Bauernblunzn! Bah!«

Hummel blickt von seinem Rollbraten auf. »Jetzt sei halt ned so! Sie scheint doch ganz okay zu sein. Ganz blöd kann sie jedenfalls nicht sein, wenn sie’s bis zur Münchner Mordkommission geschafft hat.« Er sieht kurz den Faden an, den er von seinem Rollbraten gezogen hat. Beobachtet den Tropfen dunkle Soße, der sich in Zeitlupe abseilt.

»Ich hab mich bei den Kollegen erkundigt über unsere liebe Dosi«, erklärt Zankl. »In Passau wurde sie wegbefördert, weil sie allen auf die Eier gegangen ist mit ihrem Arbeitseifer. Die mögen es da unten nicht so hektisch. In Starnberg hat sie dann mit der Soko Neuschnee die Drogenszene so aufgemischt, dass die Promis dem Bürgermeister gedroht haben wegzuziehen, wenn die Razzien nicht aufhören. So was ist nicht optimal für die Steuereinnahmen.«

»Ist doch okay, wenn sie sich reinhängt«, meint Hummel.

»Aber jetzt haben wir sie an der Backe. Bestimmt wegen der hervorragenden Beziehungen von Dr. Günther und Mader. Günther wartet doch nur drauf, Mader eins auszuwischen.«

»Ach komm! Sei froh, dass wir endlich Verstärkung haben.«

»Ich sag dir eins: Das Sams verursacht Mehraufwand!«

Hummel antwortet nicht, sondern konzentriert sich jetzt ganz auf seinen Semmelknödel, den er in viele kleine Stücke geschnitten hat und jetzt zu einem geometrischen Muster in dem braunen Soßenspiegel arrangiert.

Zankl schüttelt den Kopf. »Ich seh schon, auf dich ist kein Verlass.«

Hummel sieht von seinem Kunstwerk auf. »Was heißt’n hier Verlass? Sind wir etwa eine Burschenschaft? Die Monachia? Burschen zäh wie Ziegenleder? Dosi kann doch auch nix dafür, dass sie ausgerechnet bei uns landet. Und wir können jede Unterstützung brauchen.«

Zankl schiebt schlecht gelaunt seinen Teller weg.

Auch wenn Zankl es nicht weiß, er hat gar nicht so unrecht, denn Dr. Günther hat Doris Rossmeier tatsächlich absichtlich in Maders Abteilung platziert. Denn Mader ist wegen seiner unkonventionellen Arbeitsmethoden und seiner konsequenten Umgehung der Bürokratie ein lästiger Reißnagel in seinem Beamtenhintern. Kann nicht schaden, wenn Mader sich an der ehrgeizigen Polizistin aus der Provinz abarbeiten muss. Götterdämmerung. Nein, das wäre zu viel der Ehre. So Dr. Günthers Gedankengang. Außerdem soll Frau Rossmeier wirklich für mehr Tempo bei der Mordkommission sorgen. Wenn jetzt schon der Bürgermeister auf der Matte steht wegen der Wasserleiche, brauchen sie schnell Ergebnisse.

Mader selbst sieht das ganz cool. Bei ihm darf jeder seine Talente entfalten. Und dass für Doris der Einstieg in sein Team wohl nicht ganz einfach wird – na ja. Wo läuft es schon wirklich rund? Soll sie mal zeigen, was sie kann, denkt er. Dann wird sich auch Zankl beruhigen.

RUMTREIBER

Später Nachmittag. Sie sitzen zu viert um Maders Besprechungstisch. Hinter ihnen an der Pinnwand hängen die Fotos vom Schwimmbad und eine Karte von München. Beim Maria-Einsiedel-Bad steckt eine rote Nadel im Isarkanal.

»Wer fasst das alles für Doris zusammen?«, eröffnet Mader die Runde. »Sie, Hummel?«

»Gerne. Also, wir haben eine Wasserleiche. Eine junge Frau, Ende zwanzig, gepflegtes Äußeres, gute Zähne, Nasen-OP, sauteure Unterwäsche mit einem Hauch Fetisch. Sie hat zahlreiche Narben an Rücken und Gesäß und Strangulationsmale an Händen und Füßen. Eventuell handelt es sich um eine Prostituierte. Von der Sitte kennt sie keiner. Todesursache: Halswirbelbruch. Vielleicht infolge einer Überdehnung und einer plötzlichen ruckartigen Bewegung. Sie lag vermutlich vier bis sechs Wochen in der Isar. Mageninhalt: Reste von Hendl und Steckerlfisch.«

Die folgende Diskussion kreist vor allem um Tatort und Fundort. Sie sind sich einig, dass der Tatort nicht allzu weit vom Fundort entfernt sein kann. Dass Hendl und Steckerlfisch durchaus auf das Campingmilieu hindeuten, dass dazu aber definitiv die kostspielige Unterwäsche beziehungsweise die Profession der Dame als Edelprostituierte nicht passen. Soziales Gefälle sozusagen.

Doch Dosi hat einen ebenso profanen wie plausiblen Gedanken: »Bei der Brotzeit sind alle Bayern gleich.«

Der Gedanke leuchtet allen ein. Ja, Hendl und Steckerlfisch könnten auch im erlesenen Milieu von Grünwald, Pullach oder Solln zu Hause sein. Da würde eine Edelprostituierte finanziell auch hinpassen. Hummel denkt an die Waldwirtschaft, deren Parkplatz die ganze Palette an Autopreziosen des Münchner Geldadels bietet von Porsche Panamera über Mercedes SLK bis zu Jaguar Type E.

»Was ich aber nicht versteh«, sagt Dosi, »warum hatte die Frau noch die Unterwäsche an? Warum hat man die nicht entfernt, als man die Leiche entsorgt hat? Die Unterwäsche ist doch sehr auffällig und gibt uns einen Hinweis. Auf Sexspiele in besseren Kreisen? Soll da jemand durch den Leichenfund unter Druck gesetzt werden?«

»Interessante These«, findet Mader. Und spinnt sie fort: »Im Mai werden die Bäder geöffnet. Da wäre die Leiche dann definitiv aufgetaucht. Über kurz oder lang. Wenn sie absichtlich dort lag, ist sie wie eine Zeitbombe.«

»Dann sollte die Frau vielleicht auch dort gefunden werden«, murmelt Zankl.

Mader nickt. »Ist die Leiche den Fluss runtergetrieben, ist sie zufällig am Gitter gelandet? Schaut’s euch das Stauwehr an. Wenn sie da wer reingeschmissen hat, kann sie dann überhaupt beim Maria-Einsiedel-Bad rauskommen? Doris und Hummel, Sie überprüfen das bitte morgen. Nehmt’s euch einen Altkleidersack oder so was mit. Und Zankl, Sie fragen noch mal die Dame im Fetischladen. Ob sie schon was gehört hat aus der Szene. Mich würde auch interessieren, ob sie uns Adressen von professionellen Anbietern von Sadomasodiensten nennen kann.«

KIND OF BLUE

Eine Frau im kurzen blauen Kleid. Die Frau ist sehr schön. Und groß. Wie ein Fotomodell. Braune Locken, heller Teint, Sommersprossen. Sie wartet vor dem Eingang eines tristen Büroblocks im Westend.

Ein Mann drängelt sich die lange Rolltreppe hoch, nachdem ihn die U-Bahn an der Westendstraße ausgespuckt hat. Nackenhaar schweißnass, tellergroße Flecken unter den Achseln. Vor ihm blockiert eine Frau mit riesigem Samsonite die Rolltreppe. Sie versucht, den schwankenden Rollkoffer zu bändigen, lächelt ihn entschuldigend an. Für die blauen Augen und den tiefen Einblick in ihr Dekolleté hat er nichts übrig. Er ist in Eile.

Als sie auf der Rolltreppe fast oben angekommen sind, fragt die Frau: »Könnten Sie mir wohl kurz helfen?«

»Nein, keine Zeit«, knurrt er und drückt sich an dem Koffer vorbei.

»Arschloch!«, zischt sie ihm hinterher.

Hätte Zankl es gehört, würde er diese Einschätzung durchaus teilen. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was ihn gleich von seiner Frau erwartet, wenn er noch später kommt. Er sieht auf seine Uhr, als er die Straße entlanghastet. Zwölf Minuten über der Zeit. Verdammte Scheiße! Als er seine Frau erblickt, winkt er. Nein, er rudert mit den Armen wie ein Ertrinkender.

Empfang kühl. Gut. Gar nicht so emotionsgeladen wie erwartet.

»Du siehst aus wie der letzte Penner«, begrüßt ihn die Frau im blauen Kleid.

Betreten sieht er an sich herunter.

»Unrasiert, verschwitzt, Ketchup«, präzisiert sie und deutet mit ihrem perfekt manikürten Zeigefingernagel auf seinen Oberschenkel.

Beinahe rutscht ihm »Schussverletzung« raus. Aber das lässt er lieber. Ebenso die Erklärung, dass das mitnichten Ketchup auf seiner Hose ist, sondern Hagebuttenmarmelade aus einem Krapfen, den er sich noch schnell am Stachus gekauft hat, bevor er in die U-Bahn gesprungen ist. Kein Öl ins Feuer. »Sorry, Schatz, es war einfach so viel los im Büro. Sind wir viel zu spät?«

»Was heißt: wir?! Wenn hier einer zu spät ist, dann ja wohl du!«

»Ja, ich weiß, Jasmin. Es tut mir leid, aber …«

»Wir sind genau pünktlich«, unterbricht sie ihn sachlich. »Der Termin ist um halb sechs.«

»Aber du sagtest doch um fünf?«

»Dann wärst du erst in einer halben Stunde hier.«

Zankl antwortet nicht. Er ist deprimiert. Weil sie recht hat. In ihrer Gegenwart fühlt er sich immer wie der letzte Loser.

»Entschuldigung?«, sagt eine Stimme hinter ihm.

Jasmin zieht ihren Mann zur Seite, um der Dame mit dem Samsonite Platz zu machen. »Warten Sie, ich mach Ihnen die Tür auf«, sagt Jasmin und geht zum Eingang.

»Vielen Dank, das ist sehr freundlich. Sagen Sie: Ist das Ihrer?«, fragt die Frau mit einem Nicken in Zankls Richtung.

»Ja. Leider.«

Beide lachen, und die Frau mit dem Koffer verschwindet im Aufzug.

»Kommst du jetzt endlich!«, ruft Jasmin ihren Mann. »Sonst kommen wir wirklich zu spät.«

Zu spät ist relativ im Hormonzentrum von Dr. Röhrl. Denn hier stirbt die Hoffnung zuallerletzt. Wartezimmer immer voll und Wartezeiten immer lang. Riesenbedarf. Es brummt wie in einem Bienenstock. Keine ganz jungen Bienen. Hormontherapie heißt die Spezialität von Dr. Röhrl. Und er lebt gut davon. Der gediegene finanzielle Background seiner Patientinnen ist jedenfalls nicht zu übersehen. Außer ihnen ist nur noch ein jüngeres Paar anwesend. Blick voller Hoffen und Bangen. Neben Wechseljahren zweites Standbein von Röhrl: Wunschkindklinik, wie bunte Krakelbuchstaben fröhlich an der Wand verkünden.

»Frau und Herr Zankl«, erklingt die Stimme der Sprechstundenhilfe nach angemessenen fünfundvierzig Minuten Wartezeit. Als sie aufstehen, registriert Zankl, wie sich das junge Paar fester an den Händen greift und die älteren Ladys die Köpfe zusammenstecken. Eine grinst ihn frech an und drückt ihm die Daumen. Scotty, beam me up!, denkt Zankl.

Als sich die schwere, schallgedämmte Tür hinter ihnen sanft schließt, findet Zankl sich wieder in einem Designertraum in Weiß: weiße Ledersofas, weiße Stühle, weißer Marmorschreibtisch, ein monochrom weißes Bild an der Wand. Auf allem ein Hauch Rotgold. Denn die Sonne steht tief am Himmel. Draußen. Unter dem Feuerball: die Alpenkette.

»Faszinierend, nicht?«, sagt Dr. Röhrl aus dem kleinen Badezimmer, das an sein Büro grenzt und wo er sich gerade in aller Sorgfalt die Hände wäscht und abtrocknet. »Die Berge, der Himmel, die Sonne. Aber nichts ist so faszinierend wie das Wunder des Lebens.«

Er tritt näher. Halbgott in Weiß. Vor dem weißen Hintergrund sieht man nur sein braun gebranntes Gesicht und seine Hände. Bestimmt fünfzig. Aber bestens in Schuss, denkt Zankl und muss an Sean Connery denken.

Röhrl schüttelt beiden mit festem Druck die Hände und lächelt. »Setzen Sie sich doch.«

Sie nehmen vor dem riesigen Designerschreibtisch auf den harten Designerstühlen Platz. Büßerstühle, schießt es Zankl in Erinnerung an Maders Büro durch den Kopf. Mit ein bisschen mehr Style allerdings.

»Schön, dass auch Sie sich heute Zeit genommen haben, Herr Zankl. Zum Kinderwunsch gehören ja immer zwei. Noch.« Er lächelt unverbindlich.

Zankl nickt betreten.

»Nun, heute, das wissen wir ja alle, kommen die Kindlein ja leider nicht mehr einfach so. Also häufig. Aus vielen Gründen: jahrelanges Verhüten, schlechte Ernährung, zu wenig Bewegung, zu wenig Sex, zu viel Stress, zu viele Umweltgifte. All das beeinträchtigt die Fruchtbarkeit. Bei Frauen wie bei Männern.«

»Und erbliche Faktoren«, wagt Zankl einzuwerfen.