Kalter Kaffee - Harry Kämmerer - E-Book

Kalter Kaffee E-Book

Harry Kämmerer

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Beschreibung

Sergio Baroli hat ein Enthüllungsbuch über die Mafia geschrieben und lebt in ständiger Bedrohung. Im Münchner Circus Krone nimmt der Bestsellerautor den Bayerischen Verdienstorden entgegen. Es kommt zu Tumult und Schießereien. Kriminalkommissar Hummel dient dem Italiener unversehens als Bodyguard. Es folgt ein Katz-und-Maus-Spiel voller Finten, Überraschungen und wilder Action. Aber ist der Autor vielleicht gar nicht der große Aufklärer? Geht es nur um den schnöden Mammon? Ist der vermeintliche Löwe Baroli letztlich nur ein käuflicher Papiertiger?

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Seitenzahl: 337

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Zum Buch:

Wie viel Schmutz verbirgt sich unter der seidigen Crema des italienischen Caffè?

Ein italienischer Bestsellerautor im Visier der Mafia. Ein Kaffeefabrikant und ein Journalist, beide tot. Politische Morde? Wirtschaftsverbrechen? Und mitten in der Schusslinie Kommissar Hummel von der Münchner Mordkommission in seinem sechsten Fall.

Zum Autor:

Harry Kämmerer, Jahrgang 1967, lebt in München und arbeitet in einem Buchverlag. Er ist Autor zahlreicher Kurzgeschichten und hat zwei Hörspielserien fürs Radio geschrieben und produziert. Zu seinen Kriminalromanen zählen die Bände mit dem Ermittlerteam rund um den Münchner Kriminalrat Karl-Maria Mader, die mit »Isartod« beginnen. Weiterhin gibt es die Krimireihe »Mangfall ermittelt« und die Romane »Drachenfliegen« und »Oh, Mama!«. Harry Kämmerers Liebe zu Musik und Kabarett prägt seine Bücher und seine Lesungen mit Livemusik.

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem TitelKalter Kaffee bei Heyne Verlag.

© 2024 by Harry Kämmerer

Neuausgabe

© 2024 HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie, Zürich

Coverabbildung von Alfred Strobel / bridgeman Images

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749907052

www.harpercollins.de

WIDMUNG

Für Hummel

PROTAGONISTEN

Nach Isartod, Die schöne Münchnerin, Heiligenblut, Letzte Halbzeit, Harte Hunde ist Kalter Kaffee der sechste Kriminalroman mit dem Ermittlerteam um den Münchner Kriminalrat Karl-Maria Mader und seinen Dackel Bajazzo.

Karl-Maria Mader: Chef der Mordkommission I in München. Mitte fünfzig, geschieden, Dackelbesitzer, wohnhaft im betonierten Neuperlach, liebt Frankreich und Catherine Deneuve (Fernbeziehung, einseitig).

Klaus »Soulman« Hummel, fantasievoller Kriminalbeamter mit einer Schwäche für Soulmusik der Sechzigerjahre. Unsterblich verliebt in die Schwabinger Kneipenwirtin Beate. Mit der es wieder groovt nach seiner Zwischenbeziehung mit der alleinerziehenden Karla, die aber nicht wirklich mit ihm und seinem unsteten Berufsleben harmoniert hat. Jetzt alles wieder cool, denn alte Liebe – Oh, Beate! – rostet nicht. Als Hobbyautor hat Hummel endlich seinen ersten Kriminalroman am Start. Er hat sich dabei stark von Dosis und Zankls letztem Auswärtseinsatz in den Tiefen des Bayerischen Walds inspirieren lassen. Der Roman ist allerdings nicht ganz so geworden, wie er sich das vorgestellt hat. Seinen Brotjob hat Hummel natürlich weiterhin – als Ermittler bei der Mordkommission.

Frank Zankl hat seine großen Testosteron-Reserven weitgehend aufgebraucht. Zumindest privat ist er domestiziert. Zu Hause haben Frau Jasmin und Tochter Clarissa die Hosen an. Der frisch geschlüpfte Sohn Angelo trägt noch Windeln.

Doris »Dosi« Roßmeier ist nach wie vor die niederbayerische Seele der Münchner Mordkommission: loses Mundwerk und fintenreich. »Klein, stark, rothaarig – das Sams« (Zitat Zankl). Ihr Freund Fränki liebt sie abgöttisch.

RechtsmedizinerinDr. Gesine Fleischer kümmert sich mit Hingabe um Tote und Verletzungen aller Art.

Dezernatsleiter Dr. Günther ist wie immer besorgt um das gute Ansehen der Polizei. Will Mader inzwischen nicht mehr wegloben, sondern ist ganz froh, ihn in München zu haben. Dr.Günther hat diesmal sogar Gelegenheit, seinen Laden von außen zu betrachten – ungeplant, aber sehr erhellend.

Literaturagentin Gerlinde von Kaltern ist happy. Endlich hat Hummel geliefert. Mit dem Resultat ist sie durchaus zufrieden, auch wenn sie heftig intervenieren musste. Was ihr mit starken Nerven und ausreichend Cognac gelungen ist. Sie hat Hummel einen erfahrenen Krimiautor an die Seite gestellt.

Die beiden Eventbestatter Andi und Diego von der Trauerhilfe Miller in München-Giesing sind auch wieder mit von der Partie. Sie üben ihren Job nicht nur im schönen München aus.

Bajazzo ist und bleibt der klügste Dackel Münchens. Teilt mit Mader so manche Ansicht und Brühwürfel. Bajazzo versteht sein Herrchen blind. Meistens. Bajazzo ist momentan etwas irritiert, dass Mader ihn so oft der Obhut seiner Kollegen überlässt. Na ja, der Boss braucht auch mal Zeit nur für sich, denkt Bajazzo. Er behält den Überblick und zieht die Fäden im Hintergrund.

GEDICHT

München, Munich, Monaco

O sole mio, sowieso!

München, Munich, Monaco

Wenn nicht hier, dann sag mir, wo?

ENTSPANNT

Nur dem beherzten Einsatz des Münchner Polizeibeamten Klaus H. ist es zu verdanken, dass die Bombe in der Sporttasche des Attentäters nicht an ihrem Bestimmungsort explodiert ist – auf den Zuschauerrängen der Allianz Arena. Noch schlimmer als die Sprengkraft der drei Kilo TNT wäre die damit verbundene Panik in dem mit 75000 Besuchern ausverkauften Stadion bei dem Freundschaftsspiel Deutschland – Kroatien gewesen. Der Schaden an der Kläranlage Großlappen, wohin der Beamte die Tasche mit der Bombe entsorgte, hielt sich in Grenzen, auch wenn der Klärschlamm Pkws, Busse und Lkws auf der Autobahn mit einer zähen braunen Schicht überzog. Es kam nur deshalb zu keinen Kollisionen, da sich der Verkehr gerade in beiden Richtungen staute. Ein Cabriofahrer erstattete Anzeige.

Polizist Klaus H., der mit Freunden und Kollegen im Stadion war, verhinderte durch seinen mutigen Einsatz eine Katastrophe. Der Beamte lehnte es ab, zu seiner riskanten Aktion ausführlich Stellung zu beziehen. »Das hätte doch jeder in meiner Situation gemacht«, äußerte er sich gegenüber der Presse knapp.

Das klingt in seiner aufgesetzten Bescheidenheit ziemlich eitel, findet Hummel und nimmt den ein Jahr alten Zeitungsartikel von der Pinnwand in der Küche. Warum er damals nicht gerne über seine Heldentat sprach, lag nicht nur in seinem zurückhaltenden Wesen begründet, sondern vor allem an seiner damaligen Flamme Karla. Er war mit ihrem zwölfjährigen Sohn Paul im Stadion und wollte von ihr nicht der Verletzung seiner Aufsichtspflicht bezichtigt werden. Denn bei seiner spontanen Rettungsaktion hatte er Pauls Beaufsichtigung an Dosis Freund Fränki delegiert. Natürlich sauste hinterher der mütterliche Vorwurf – »Aufsichtspflicht!« bzw. »Verantwortung!« – wie ein Holzhammer auf ihn nieder. Explizit: »Du hast Paul in eine lebensgefährliche Situation gebracht!«

Sehr schwarz-weiß gedacht. Und egoistisch. Findet Hummel. Immerhin waren sie nicht die einzigen Besucher in dem rappelvollen Stadion! Und wer rechnet schon bei einem Freundschaftsspiel mit einer Bombe? Na ja, heutzutage ist das auch nicht mehr ausgeschlossen, denkt er jetzt. Aber Karla ist jetzt auch schon längst Geschichte. Paul trifft er noch gelegentlich auf dem Heimweg von der Arbeit, wenn Paul und seine Freunde mit den BMX-Rädern auf dem Mariahilfplatz in der Au ihre Runden drehen.

Hummel betrachtet das Foto an der Pinnwand. Das ist ziemlich neu. Bisschen unscharf. Handyschnappschuss. Seine geliebte Beate und er auf der Piazza Navona im milden Abendlicht. Die fünf Tage Rom im Herbst waren ein Traum. Alles zurück auf Anfang nach der langen Trennung. Leider ist das Bild nur eine Momentaufnahme. Nach dieser Liebesreise waren gleich wieder Wolken am Horizont aufgezogen. Seine Schuld: Er hatte sich neben seinem zeitlich sehr fordernden Job als Kriminalbeamter auch noch in die Arbeit an seinem Romandebüt gestürzt. Denn entgegen aller Wahrscheinlichkeit hatte er endlich einen Verlagsvertrag ergattert. Mit Terminen und allem Drum und Dran. Da blieb wenig Zeit für Beate. Zu wenig. Auch sonst lief es nicht rund. Seine Autorenschaft stand unter keinem guten Stern. Weil seine Literaturagentin Gerlinde von Kaltern mit seinem Manuskript nicht zufrieden war, hat sie ihm einen »erfahrenen« Co-Autor aufs Auge gedrückt. Horst Krämer, einen mittelbekannten Münchner Krimiautor. Und der hatte die Sache großspurig an sich gerissen. Er, der Debütant Klaus Hummel, verschwand im Rahmen der Marketingüberlegungen des Verlags schließlich sogar vom Buchcover. Was ihn vollends auf die Palme brachte. Seine Gereiztheit kam bei Beate und den Kollegen nicht gut an. Aber geschenkt, damit ist er durch. Jetzt ist er eigentlich ganz froh, dass er nicht selbst mit dem Buch ins Rampenlicht muss. Er ist ja eher der Held im Hintergrund, wie es der Zeitungsbericht zu der Stadiongeschichte im letzten Jahr durchaus treffend schildert. Quatsch! Was für ein eitler Bullshit! Er zerknüllt den Zeitungsartikel und wirft ihn in den Mülleimer. Nein, das geht auch nicht! Er holt den Artikel wieder heraus, streicht ihn glatt und deponiert ihn im Arbeitszimmer in der Schreibtischschublade. Da befinden sich auch die letzten Korrekturfahnen »seines« Buchs. Trotz des ganzen Gezerres im Hintergrund ist er neugierig, was nun passieren wird. Auf dem Anrufbeantworter war heute eine Nachricht vom Verlag, dass die Belegexemplare unterwegs seien. Ja, er ist gespannt, wie es sich anfühlt, wenn er morgen »sein« Romandebüt in Händen hält.

Hummel geht in die Küche und öffnet das Fenster zum Hof, lässt die milde Nachtluft herein. Ein Bier, eine Zigarette. Viel mehr braucht er nicht. Klar, Beate. Und Musik. Er denkt an Beate und singt leise: »This old heart of mine, you broke a thousand times …« Seine Gedanken ziehen mit dem Zigarettenrauch aus dem Fenster in den Nachthimmel. Der ist endlos weit jenseits der engen Mauern des Hinterhofs. Hummel beugt sich nach vorn, schaut nach oben. Ja, er kann die schwarze Weite sehn, wo all die hellen Sterne stehn.

GESCHÄFTE

Kriminalrat Karl-Maria Mader ist im nächtlichen Ostpark unterwegs. Sein Dackel Bajazzo hat dringende Termingeschäfte. Mader ist nachdenklich. Ausnahmsweise nicht dienstlich. Da ist es momentan angenehm ruhig. Er hat ganz private Gedanken. Er will endlich etwas tun, was er sich schon lange vorgenommen hat: nach Regensburg fahren und seine Halbschwester kennenlernen, von deren Existenz er im letzten Sommer erfahren hat, aber bislang einfach keine Zeit gefunden hat, sich wirklich zu kümmern. Er hatte endlich Licht in eine dunkle Geschichte gebracht: Sein Vater war ebenfalls Polizist und hatte sich 1972 in Regensburg bei einem missglückten Banküberfall gegen die Geiseln austauschen lassen. Eine Woche später hatte man ihn tot aus der Donau gezogen. So viel wusste Mader vorher schon. Kindheitstrauma für ihn.

Als Dezernatsleiter Dr. Günther ihn letztes Jahr nach Regensburg wegloben wollte und er dort seinen potenziellen neuen Arbeitsplatz besichtigte, sichtete er Akten zum Fall seines Vaters. Er vergrub sich in die alten Ermittlungen und Protokolle, und tatsächlich gelang es ihm, den bis dato ungeklärten Fall von 1972 zu klären. Dabei stieß er auch auf das private Geheimnis seines Vaters: seine Geliebte, die in der überfallenen Bank beschäftigt war. Das war der Grund, warum sich sein Vater für einen Geiselaustausch ins Spiel gebracht hatte. Ob er damals wusste, dass seine Geliebte schwanger war, denn sie ist bereits verstorben. Aber ihre Tochter ist am Leben: Helene Schirnharl, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Uni Regensburg. Ein erster Telefonkontakt zwischen ihnen hat bereits vor Monaten stattgefunden, aber ein gemeinsamer Termin hat sich bislang nicht ergeben. Zu viel Arbeit. Auch sie ist beruflich sehr eingespannt. Wie auch er. Jetzt hat er ein zumindest für ihn passendes Zeitfenster gefunden. Morgen wird er sich unter die Zuhörer ihrer Vorlesung um neun Uhr an der Uni Regensburg mischen. Wenn es passt, wird er sie ansprechen.

Spontan ist immer besser, denkt Mader und erinnert sich, wie allergisch seine Ex-Frau Leonore auf abgesagte oder verschobene Termine reagiert hatte. Schicksal aller Kriminalbeamter, denn gemordet wird schließlich zu jeder Tages- und Nachtzeit. Leonore – er muss sich mal wieder bei ihr melden. Muss er das? Doch. Denn allein wird man sonderbar. Wie seine Halbschwester wohl lebt? Sicher nicht wie er in einem Hochhaus in einer engen Wohnung mit niedriger Decke. Wahrscheinlich in einem großen alten Haus mit Garten. Vielleicht gibt es auch einen Hund. Hat sie Kinder? Bestimmt. Er selbst hat zumindest Bajazzo. Der jetzt im fahlen Licht der Parklaternen einen dampfenden Haufen auf der Wiese platziert hat. Mader kramt die Tüte raus und sammelt die zum Glück handfeste Wurst ein.

NIEMALS

»Fränki?«

»Ja?«

»Liebst du mich?«

»Ja.«

»Ehrlich?«

»Ja, klar.«

»Ganz ehrlich?«

Fränki knipst die Nachttischlampe an. »Was ist los, Dosi?«

»Ich hab schlecht geträumt.«

»Du hast noch gar nicht geschlafen.«

»Dann hatte ich eben schlechte Gedanken.«

»Musst du nicht, darfst du nicht.«

»Warum?«

»SFP.«

»Hä?«

»Selffulfilling prophecy.«

»Hä?«

»Wenn du dir etwas nur lange genug ausmalst, passiert es irgendwann auch.«

»Dass du mich verlässt?«

»Ja. – Äh, nein. Natürlich nicht! Niemals! Hör auf mit dem Unsinn!«

Er küsst sie und macht das Licht wieder aus.

»Das ist ja wieder typisch, Fränki.«

»Was ist typisch?«

»Ich will reden, und du drehst dich weg.«

»Hm.«

»Was? Hm?«

»Willst du mich heiraten?«

»Hä?«

»Willst du mich heiraten, Dosi?«

»Was soll das werden? Ein Antrag?«

»Ja, klar.«

»Fränki, so geht das nicht. Boh! Das sagt man nicht einfach so! Also wirklich! Das ist jetzt echt nicht der richtige Moment für so was!«

»Eben. Schlaf gut.«

SENFFARBEN

Frank Zankl sitzt in der Küche. Sein Sohn hängt malad auf seinem Unterarm. Gerade hat Zankl die explodierte Windel beseitigt und den Durchfall aus Angelos Speckfalten gewischt. Im trüben Küchenlicht sieht er die senffarbenen Ränder unter seinen Fingernägeln. Den Geruch nimmt er schon gar nicht mehr wahr. Ein bisschen vielleicht. Mango Chutney? Er sieht auf die Küchenuhr. Viertel nach vier. Er ist hundemüde. Aber eine falsche Bewegung, und Angelo wacht wieder auf. Zankl spielt Toter Mann und atmet ganz flach. Denkt nach. Alpha-Zustand. Angelo – was für ein schöner Name! Klingt nach Sonne, Wind, Meer. Angelo – mein Engel!

CARAVAGGIO

Hummel sitzt beim Frühstückskaffee, da klingelt der Postbote und drückt ihm das Paket in die Hände. »Belegexemplar-Versand« steht auf dem Rechnungszettel im Karton. Zehn Stück. Zu zahlen: 0,00 Euro. Hummel zählt bis drei, dann reißt er die Wellpappenpolsterung heraus und legt den Klotz mit den zehn eingeschweißten Exemplaren frei. Seine Finger bohren sich in die zähe Plastikfolie und befreien eins der Bücher aus der milchigen Haut. Gutes Gewicht, erstaunlich dick. Dreihundert Seiten. Pechschwarzer Umschlag mit dramatischem Covermotiv: ein Fingerhakelduell mit Lederhosentypen in einer Scheune. Eigentlich sieht man in dem spärlichen Licht nur fünf Trachtenhemden samt hirschlederbespannten Ärschen. Die gehören zu zwei Duellanten, zwei Sekundanten und einem Schiedsrichter. Aus einer Dachritze fällt ein scharfer Sonnenstrahl auf das dunkle Treiben der dunklen Gestalten. Licht und Schatten wie Caravaggio. Gefällt Hummel. Mal was anderes als diese grässlichen Jodelbilder, die man so oft als Krimicover sieht. Der Titel passt zu den Typen auf dem Umschlag: Heiße Hunde. Wenn jetzt noch sein Name auf dem Umschlag stünde – perfekt. Steht leider nur Horst Krämer drauf. Tja. Blöd gelaufen.

Nach den ersten Erfahrungen mit der Buchbranche ist Hummel die Lust am Buchgeschäft etwas vergangen. Das hat er sich einfacher vorgestellt. Aber was ist schon leicht im Leben? Er schnalzt mit der Zunge. Muss er sich jetzt wenigstens nicht von den Kollegen schräg anlabern lassen – von wegen, wie realistisch sein Roman ist und ob er eigentlich zu viel Zeit übrig hat, um nebenbei noch Krimis zu schreiben. Aber jeder Mensch hat ein Hobby – offen oder heimlich. Was dem einen seine Eisenbahn oder sein Mountainbike, das sind für ihn Stift und Papier. Er versteht das Schreiben als willkommene Ablenkung vom Unbill des Alltags. Als Gegengift zur Routine, die sich wie Mehltau über all das Schöne im Leben legt, bis man es irgendwann nicht mehr sieht. Ja, es ist nur ein Krimi, aber er kann auch anders. Im lyrischen Fach ist er ebenfalls zu Hause.

Oh, Beate, sagte ich es dir bereits,

deine Augen scheinen tiefer als das Jenseits,

strahlen heller als Kometen,

verzaubern den Planeten.

Ist dies der Sound eines Poeten?

Oder doch nur Worte eines Proleten?

Quatsch natürlich, aber irgend so was in der Art – große Gefühle in einfachen Bildern. Das ist sein Style. Er blättert versonnen durch die Seiten »seines« Buchs. Komisch, jetzt ist endlich der Moment gekommen, von dem er so lange geträumt hat, und er ist ganz anders. Viel kleiner als erwartet. Wie Beate das Buch wohl findet? Nein, er will es ihr gar nicht zeigen. Die Entstehung war ja von so viel schlechtem Chi begleitet. Und es steht ja nicht einmal sein Name drauf. Ach, Beate! Das war ziemlich kompliziert in der letzten Zeit. Erst war alles gut, alles glitzerte – doch dann kippte die Stimmung. Er hatte schlichtweg zu wenig Zeit für sie. Aber jetzt ist alles gut. Aber wie lange? Genug der melancholischen Gedanken, denkt Hummel und parkt das Buchpaket auf dem Couchtisch im Wohnzimmer.

KAUZIG

Mader dachte, er würde altersmäßig mehr auffallen in einer Univorlesung. Von wegen. Die ersten Bankreihen des Hörsaals an der Regensburger Uni sind fest in Händen von Senioren. Da senkt er den Altersschnitt geradezu. In den hinteren Bankreihen aber auch viele junge Studenten trotz der frühen Stunde. Mader trägt heute Jeans. Hat er ewig nicht mehr gemacht. Er war ziemlich erstaunt, wie gut die Hose noch passt. Zur Vorbereitung auf die Vorlesung hat er sich gestern sogar einen schmalen Band mit Texten von Georg Christoph Lichtenberg gekauft und vorhin im Zug darin gelesen. Durchaus seins. Das kauzige Spiel mit den Perspektiven, den schrägen Blickwinkeln, aus denen der Göttinger Physiker und Schriftsteller seine Umwelt betrachtet. Passt zu Kriminalisten. Für solche Literatur interessiert sich also seine Halbschwester. Wie sie wohl ist? Die Fotos im Netz zeigen eine schöne Frau – ein bisschen unnahbar, beinahe wie eine Schauspielerin. Ein Hauch Catherine Deneuve mit dunkelbraunen Haaren. Wobei er die göttliche Catherine eigentlich in jede attraktive Frau hineinimaginiert.

Jetzt kommt ein Herr in einem grauen Kittel ans Rednerpult, stellt das Mikrofon und den Beamer an. Der Techniker verschwindet, überlässt ihr die Bühne: Helene. Mader schluckt, als sie den Saal betritt. Was für eine Erscheinung! Groß und dunkel. Apart – ein besseres Wort fällt ihm nicht ein. Doch: stilvoll. Wenn das nicht auch so altmodisch klingen würde. Mader grübelt über ihr Alter. Sie sieht aus wie Mitte dreißig. Das kann nicht sein. Sein Vater ist 1972 gestorben.

Ihre Stimme aus den Lautsprecherboxen holt ihn wieder auf den Teppich. Mittlere Stimmlage, angenehm, nichts Besonderes. Er hat eine tiefe warme Stimme erwartet, die mit seinem Bild von ihr korrespondiert – als Schauspielerin. Die sie nicht ist. Er sieht ihr beim Reden zu, versucht in ihren Gesichtszügen Ähnlichkeiten zu sich selbst oder zu seinem Vater zu erkennen. Gelingt ihm nicht.

Er schaut sich um. Die Senioren schreiben eifrig mit, viele Studenten schneiden mit ihren Smartphones die Vorlesung mit. Manche wischen auf ihren iPads durchs digitale Nirwana. Dafür hätte Lichtenberg heute bestimmt auch einen Aphorismus parat – was ist innen, was außen, suchen wir am Ende doch nur das, was wir kennen, in dem kleinen Displayfenster zur großen Welt? Mader schaltet sein Handy auf Flugmodus. Nichts wäre peinlicher, als wenn es jetzt klingelt.

Er sieht zu Helene. Ihr Mund bewegt sich unablässig. Er hört sie über die Lautsprecher. Und auch nicht. Der Inhalt der Worte interessiert ihn nicht. Aber ihr Klang – das ist die Stimme seiner Schwester! Halbschwester. Halb ist mehr als gar nichts. Viel mehr.

MORGENZAUBER

Als Hummel den Hinterhof seines Hauses betritt, lodert dort der Frühling. Die japanische Zierkirsche explodiert. Blütenmeer. Rosa Zuckerwatte. Gegenteil zum Wintergrau, das sich bis letzte Woche hartnäckig gehalten hat. Jetzt weggepustet. Pfeifend schiebt Hummel das Fahrrad über den Blütenteppich im Hof und durchs Treppenhaus. Er tritt raus auf die Orleansstraße. Reger Verkehr. Über die Kreuzung. Gebsattelberg runter. Corneliusbrücke. Er hält an und schaut in die Isarauen, auf die Uferwege. Hundebesitzer, Jogger, ein paar Radler. Über Flussbett und Wiesen noch sanfter Dunst. Morgenzauber.

Gärtnerplatz, Viktualienmarkt, Marienplatz. Hummel steigt vom Rad, schiebt. Kaufingerstraße, Neuhauser Straße. Ihm gefällt die Stimmung in der Einkaufsmeile – allerdings nur zu dieser frühen Stunde, bevor die Läden aufmachen. Er mag die Geschäftigkeit noch ohne Geschäft. Wenn aus den Lastern neue Waren ausgeladen, Altpapier und Verpackungen entsorgt werden. Vor der Augustiner Bierhalle werden Klapptische und -stühle aufgestellt. Heizpilze folgen gleich. Die Standbesitzer sortieren Trauben, Khakis, Mangos. Flugware! Faserfrei! Noch keine Menschenmassen, die sich hier durchwälzen, um in all den gleichen Klamotten- und Schuhläden all die gleichen Klamotten und Schuhe zu kaufen. An eins der Schaufenster von H&M kleben zwei Blaumänner neonrote Großbuchstaben: SPRING.

Wohin?, fragt sich Hummel.

Hummel biegt nicht rechts in die Ettstraße ab. Er geht ein paar Meter weiter als nötig. Denn er hat etwas entdeckt: In der Glasfassade von SportScheck spiegelt sich die St.-Michael-Kirche. Ist ihm bisher noch nie aufgefallen. Erstaunlich genug, denn es ist kaum zu übersehen. Vorsätzliche Reflexion eines spirituellen Einzelhändlers?, überlegt Hummel. Himmlische Segnung eines profanen Gebäudes des Freizeitkommerzes? Oder ein dezenter Hinweis, dass der Sport- und Modeladen doch mehr bietet als Freizeit und Kommerz? Mens sana in corpore sano auch als sakrale Aufforderung, eine Investition in die eigene Körperlichkeit zu tätigen? – Oh Mann, wo kommen die verspulten Gedanken her? Klar, Hummel weiß es: Tief im Herzen ist er ein Dichter, der die Strukturen des Alltags poetisch durchdringt. Oder zumindest das Besondere an ihnen wahrnimmt. Die Spiegelung ist jedenfalls besonders. Vielschichtig.

In St. Michael war Hummel noch nie. Obwohl die Kirche nur ein paar Gehminuten vom Präsidium entfernt ist. Er stellt sein Rad ab und betritt die Kirche. Aus der Betriebsamkeit der Anlieferzone taucht er in die dunkle Stille. Mehr Kontrast geht nicht. Sofort erfasst ihn ein eigentümliches Gefühl. Wird er beobachtet? Vom Chef persönlich? Hummel ist nicht wirklich gläubig, aber er ist sich sicher, dass es da oben jemanden gibt, der all die Geschicke hier unten lenkt oder zumindest im Blick hat. Eine Instanz, die über einen weiteren Horizont verfügt als das menschliche Spatzenhirn. Wäre jedenfalls wünschenswert.

Er nimmt Platz in der letzten Bankreihe. Scharf durchzieht Weihrauchduft die kühle Luft. Hummel kräuselt die Nase und lässt seinen Blick durch den prächtigen Raum streifen, sieht die Gemälde, all die grazilen Marmorformen, spürt, dass sich in den dunklen Ecken noch mehr Schönheit verbirgt. Mehr Sein als Schein. Hummels Blick versinkt in dem flackernden Schein der vielen Kerzen, besonders in dem einer reichverzierten mannshohen Kerze vorne am Altar. Sie glüht von innen heraus. Erleuchtung!

Ein paar Reihen weiter vorn sitzen zwei alte Damen, ins Gebet vertieft. Jetzt hört Hummel die Kirchentür knarren. Harte Absätze. Lederschuhe. Er dreht sich um. Großer Mann, Glatze, dunkler Anzug, guter Schnitt. Hummel sieht das Spiralkabel und den Ohrknopf. Okay …

Der Mann durchschreitet den Mittelgang zwischen den Bankreihen, blickt nach rechts und links, hat kurz Augenkontakt mit Hummel, sieht bis tief in seine Seele. So kommt es Hummel vor. Ausgecheckt. Wieder öffnet sich die Tür. Hummel dreht sich absichtlich nicht um, will sich überraschen lassen.

3, 2, 1 … Ein kleiner drahtiger Mann, um die dreißig, jugendlich, energisch, passiert seine Bankreihe. Im Gefolge noch ein Personenschützer. Der kleine Mann setzt sich in die erste Reihe, die Bodyguards postieren sich links und rechts außen.

Hummel ist hellwach. Wer ist das? Ein Politiker?

Auftritt: ein Priester im Ornat. Klein und dick. Hustet und ächzt, als er vorne in die Knie geht und sich bekreuzigt. Verschwindet in einem der Beichtstühle. Über dessen Eingangstür geht ein grünes Licht an. Startsignal für die beiden Sünderinnen. Erleichtere! Deine! Seele! Erst geht die eine Dame – Rotlicht – in den Beichtstuhl und kurz darauf, als ihre Sünden artikuliert sind (»Ich habe unkeusch gedacht«) und der Ablass verhandelt ist (»13 Ave Maria«) – Schichtwechsel, Licht grün –, betritt die zweite das Ablasskabinett. Licht rot, dann wieder grün. Gemeinsamer Abgang der Ladys. Jetzt ist der kleine Mann an der Reihe. Als auch er im Beichtstuhl verschwunden ist, steht Hummel auf und setzt sich näher an die Kammer der Vergebung. Ehe er sich versieht, haben die beiden Bodyguards in der Reihe hinter ihm Platz genommen, einer rechts, einer links. Hummel dreht sich langsam um. Ausdruckslose Gesichter. Er kennt solche Typen. Durchtrainiert, Nahkampfausbildung – Profis.

Die Tür vom Beichtstuhl knirscht. Der kleine Mann sieht Hummel direkt an, lächelt. Hummel nickt. Die feinen Züge, der gute Anzug, die teuren Schuhe – Italiener? Der Mann geht an ihm vorbei. Die Bodyguards sind bereits verschwunden, wie Hummel erstaunt feststellt. Die Kirchentür schließt sich. Weg. Vorbei. Wie ein flüchtiger Tagtraum. Soll auch er beichten? Nein. Soweit kommt‘s noch! Hummel steht auf und verlässt die Kirche.

Das Morgenlicht auf der Neuhauser Straße blendet ihn. Da stehen die drei. Rauchen und unterhalten sich. Hummel sieht auf die spiegelnde Glasfassade des Sporthauses. Riesenleinwand für die prachtvolle Fassade der Kirche. Er denkt an die Schule – alles mal gelernt: römischer Frühbarock, die Standbilder der Herzöge in ihren Nischen und ganz oben unter dem Kreuz Christus Salvator. Er sieht einen Handwerker bei der frei stehenden Statue links außen. Ja, die Luftverschmutzung lässt auch Herzog Theodo faltig werden. Ein Lichtreflex. Handwerker? Was …?!

Hummel stürzt nach vorn, die Bodyguards greifen unter ihre Sakkos, aber Hummel ist schon bei ihnen, reißt den kleinen Mann zu Boden. Tangtangtang! Hummel zieht den kleinen Mann hinter einen der Betonblumentröge. Er blickt nicht über den Betonrand, sondern nach hinten auf die Glasfront. Dort sieht er, dass der Mann auf dem Kirchendach ein Gewehr im Anschlag hat. Und sich nach vorn lehnt, erneut schießen will. Die Bodyguards eröffnen das Feuer. Herzog Theodo wird schwer getroffen. Die Leibwächter ebenfalls. Sie heulen auf.

»In Deckung, verdammt!«, schreit Hummel.

Er sieht nach oben. Niemand mehr. Die Bodyguards haben sich hinter den Blumentrog gerettet.

»Unten bleiben!«, zischt Hummel seinen Schützling und dessen Begleiter an und greift zum Handy.

PARIS

Als Helene im Hörsaal ihr Schlusswort sagt, sieht Mader verblüfft auf die Uhr. Schon anderthalb Stunden vorbei? Genauso ist es. Er schämt sich ein bisschen, dass er so unaufmerksam war, so tief versunken in Gedanken. Und jetzt – sie einfach ansprechen? Vor dem Pult ist bereits eine Menschentraube – Studenten, die noch Fragen haben, Seminararbeiten schreiben, abgeben oder Termine vereinbaren wollen. Da stört er nur. Er geht nach draußen. Sieht sich instinktiv nach Bajazzo um. Nein, der ist ja in München bei seiner Nachbarin.

Der Vorplatz des Unigebäudes ist ein freudloser Ort. Beton, gezeichnet von Jahren und Witterung, die Glasflächen des Gebäudes mit blindem Schleier, in aschfahlen Beeten verkümmern Alibipflanzen.

»Ja, besonders schön ist das nicht.«

Erschrocken dreht er sich um. Da ist sie. Zwei Meter Luftlinie, Zigarette in der Hand. Wo ist sie hergekommen? Jetzt sieht er die offene Glastür des Erdgeschossbüros.

»Wir haben telefoniert«, sagt sie. »Vor geraumer Zeit.«

»Woher wissen Sie …?«

»Ich hab mir Ihr Bild im Internet angesehen.«

Er lächelt. Genau das hat auch er getan. Dass sich jemand sein Foto auf der Homepage der Polizei anschaut, auf die Idee ist er allerdings nicht gekommen. Er weiß gar nicht, wie das aussieht. Vielleicht trägt er da sogar Uniform? Ihr schönes Foto im Netz entspricht jedenfalls nicht der Realität. In echt ist sie noch attraktiver.

»Kommen Sie rein«, fordert sie ihn auf und schnippt den Zigarettenstummel achtlos ins Gebüsch. Mader registriert die vielen Kippen auf der Erde. Er grinst und folgt ihr durch die karge Vegetation. Sie betreten ein chaotisches Büro. Überall Bücher – in den Regalen, auf dem großen Schreibtisch, auf dem Boden. Plus Papierstapel. Auf dem kleinen Besprechungstisch liegt eine offene Tupperware-Box mit geschnittenen Äpfeln, dezent gebräunt. Daneben eine angebrochene Flasche Mineralwasser.

»Wenn ich gewusst hätte, dass ich Besuch bekomme, hätte ich aufgeräumt.«

»Sieht bei uns so ähnlich aus. Nur Akten statt Bücher.« Er lächelt verlegen.

Sie deutet auf einen der Stühle.

Er nimmt Platz und überlegt, wie und wo er anfangen soll, was er sagen soll.

Sie sucht etwas in einem der Bücherregale, findet es schließlich: ein gerahmtes Foto. Sie legt es auf den Tisch. Das gelbstichige Schwarz-Weiß-Bild zeigt ein junges Paar, das angestrengt lächelt. Mader muss lange hinsehen, bis er seinen Vater erkennt. So ganz klar hat er ihn nicht vor Augen. Die Frau an seiner Seite ist jedenfalls nicht seine Mutter.

»Ist das dein Vater?«, fragt sie.

Mader geht auch zum Du über: »Und deine Mutter?«

»Ja, irgendwann hat sie mir das Bild gezeigt. Weil ich sie immer wieder gefragt habe. Aber sie hat mir keinen Namen genannt, keine Anhaltspunkte gegeben. Nur, dass er schon vor meiner Geburt gestorben ist. Ich hab versucht, mehr herauszukriegen. Ich bin zwar Forscherin, aber das hab ich nicht geschafft. Meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben. In ihren Hinterlassenschaften war das Foto der einzige Hinweis auf meinen Vater. Ich hatte die Suche aufgegeben. Und dann meldest du dich. Aber nie war Zeit. Und dann war ich auf einem Auslandssemester.«

»Wie war deine Mutter?«

»Eine wunderbare Frau. Wir waren sehr eng. Nur zu zweit. Es hat niemand gefehlt.«

Mader nickt nachdenklich. »Weißt du, wie mein, also, wie unser Vater gestorben ist?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Willst du es wissen?«

»Ja, klar.« Sie zündet sich eine Zigarette an. Hält ihm die Schachtel hin. Er winkt ab.

Er erzählt ihr die Geschichte von dem Banküberfall in Regensburg, wie sein Vater sich gegen die Geiseln austauschen ließ – unter denen auch ihre Mutter war –, und wie er schließlich nach mehreren Tagen Gefangenschaft aus der Donau gefischt wurde.

Sie hört gespannt zu, schnäuzt sich mehrmals. Versucht, ihre Gedanken zu ordnen.

»Was hast du heute noch vor?«, fragt sie schließlich.

Er schaut auf sein Handy, um die Zeit zu checken, sieht, dass es noch im Flugmodus ist. Er deaktiviert ihn und steckt das Handy wieder ein. Eine Nachricht piept.

»Arbeit?«

»Ich hab heute frei.«

»Schau ruhig nach. Vielleicht ist es dringend.«

Mader liest die Nachricht, erschrickt. »Ja, es ist dringend. Es tut mir leid, ich muss zurück nach München.«

»Bist du mit dem Auto hier?«

»Nein, Zug.«

»Ich bring dich zum Bahnhof.«

Als Mader im Zug sitzt, ist er durcheinander. Er hat gerade mit Zankl telefoniert. Ein Attentat in der Fußgängerzone. Hummel war dabei. Warum schlittert Hummel immer wieder in solche Geschichten? Wie damals – bei der Geschichte mit dem Geistlichen, der aus dem Obergeschoss eines Gebäudes in der Kardinal-Faulhaber-Straße fiel, als Hummel gerade dort vorbeikam. Jetzt ist Hummel schon wieder Augenzeuge. Hauptsache, ihm ist nichts passiert.

Maders Emotionen sind nicht nur dienstlich in Aufruhr. Die Abschiedsszene am Bahnhof hat ihn mitgenommen. Es war wie in einem Kitschfilm. Innige Umarmung, Wange an Wange, Helenes Parfüm, schwer, ein Hauch Zigaretten – eher Paris als Regensburg. So eine attraktive Frau! Das soll seine Halbschwester sein? Ihren Vater hat sie nie kennengelernt, ihre Mutter wird er nie kennenlernen. Und seine Mutter hat vom Doppelleben ihres Mannes nichts gewusst. Er hegt keinen Groll wegen der Untreue seines Vaters. Zu spät, zu lange her. Jetzt ist es ein spätes Geschenk – er hat Familie, Verwandtschaft. Es geht ja nicht nur um Helene. Ihr Mann ist freier Journalist, arbeitet von zu Hause, kümmert sich um die beiden Töchter. Moderne Beziehung. Ob die Mädchen erfahren, wie das mit dem Großvater war? Natürlich werden sie das, sobald sie ihren Onkel kennenlernen. Onkel – das klingt so blöd, so altmodisch. Nein, es klingt gut – amtlich, verlässlich. Bestimmt dauert es noch ein bisschen, bis er sie alle kennenlernt. Aber er hat keine Eile. Helene und er sind seit über vierzig Jahren Geschwister und haben sich gerade das erste Mal gesehen.

Ich bin kein Einzelkind, denkt er. Großartig! Mader sieht nachdenklich aus dem Fenster, in den Himmel, auf die vorbeifliegenden Felder, Häuser, Wälder. All die Schönheit im Schnelldurchlauf. Er schüttelt den Kopf, wundert sich, wie rührselig er ist.

Sie erreichen Landshut. Viele Menschen steigen jetzt in den Zug ein. Knappe Stunde noch. Mader schließt die Augen.

HARTES LAND

»Immer was los bei dir«, sagt Dosi zu Hummel, als er mit dem bulligen Leiter des SEK im Schlepptau das Büro betritt.

Mader begrüßt den Einsatzleiter. »Ganter, was habt ihr?«

Ganter streicht sich über den schwarzen Schnauzer. »Nichts, Mader. Der Typ ist weg. Der hat sich ausgekannt. Aufs Dach von St. Michael und zu den Statuen kommst du nicht einfach so. Bislang keine Spuren. Das war ein Profi.«

»Profikiller?«, fragt Mader.

»Gibt’s auch Hobbykiller?«

»Du weißt, wie ich’s meine. Was ist mit dem Opfer?«

»Die zwei Bodyguards sind leicht verletzt. Ihr Chef ist wohlauf.«

»Wer macht so was?«

»Keine Ahnung.«

»Ist der Typ Politiker?«

Jetzt rauscht Dezernatsleiter Dr. Günther herein. »Wo ist er?«

»Wer?«, fragt Zankl.

»Baroli.«

»Es heißt Barolo«, sagt Zankl.

»Hüten Sie Ihre Zunge, Zankl! Von Wein haben Sie eh keine Ahnung. Ich spreche von Sergio Baroli. Der Autor von Hartes Land. Das Enthüllungsbuch über die Machenschaften der Mafia im Immobiliengeschäft und bei der illegalen Müllentsorgung. Ein großartiges Buch. Und ein großer Bestseller! Wo ist er?«

»Der Bestseller ist nebenan«, meint Mader.

»Geht es ihm gut?«

»Wie es aussieht, hat Hummel ihm das Leben gerettet«, sagt Ganter.

»Nein, der Herrgott«, murmelt Hummel. »Es war Zufall. Ich war in St. Michael.«

Dr. Günther sieht ihn erstaunt an. »In der Kirche. Aha. Warum?«

»Zufall, Neugier.«

»Sie brauchen sich nicht für Ihren Glauben zu schämen. Also, was ist passiert?«

»Als ich rauskomm, seh ich den Typen auf dem Kirchendach, also an der Fassade, bei den Statuen. Nicht direkt, sondern in der Spiegelung. Der SportScheck hat ja so eine Glasfront.«

»Bravo, Hummel, bravo! Das ist es, was echte Kriminaler auszeichnet – der Blick fürs Detail, für die ungewöhnliche Perspektive. Die Fähigkeit, Dinge auch mal anders zu sehen.«

»Lichtenberg«, sagt Mader, mehr für sich.

»Oh, Herr Mader, ich staune. Lichtenberg – sehr schön! Aber, Herr Hummel, im Ernst: Das war sehr gut! Sie haben den richtigen Blick und vor allem: In-tu-i-tion – ein Gespür für die Situation, für die Bedrohung. Haben Sie eine Idee, wer der Schütze war?«

»Nein, woher soll ich das wissen? Was ich weiß: Der Typ hat scharf geschossen, und die Bodyguards sind verletzt.«

»Die werden die Ärzte im Rechts der Isar schon wieder zusammenflicken. Der italienische Botschafter hat mich angerufen. Er ist geschockt, aber auch sehr froh über den beherzten Einsatz unserer Polizeikräfte. Er legt größten Wert auf die Sicherheit seines Landsmanns. Ich habe ihm versichert, dass wir unser Möglichstes tun.«

»Wir sind keine Personenschützer«, sagt Mader.

»Jetzt seien Sie mal nicht kleinlich, Mader. Wie ich das sehe, war das heute Morgen ein Mordversuch. Also unser Tätigkeitsbereich. Wollen Sie etwa abwarten, bis ein Opfer stirbt, damit wir einen Mordfall haben und aktiv werden können?«

»Dr. Günther, wenn es da um irgendwelche Mafiageschichten geht, ist das ein Job für die Kollegen vom Organisierten Verbrechen. Oder gleich fürs LKA.«

»Da haben Sie nicht unrecht, Mader. Und was meinen Sie, was die gerade machen? Ermitteln. Mit Hochdruck. Trotzdem wird unsere Hilfe gebraucht, um die Sicherheit von Signor Baroli zu gewährleisten.«

»Er hat doch bereits Personenschützer?«

Günther lacht auf. »Mader, Sie sehen ja, was die können! Und Sie kennen doch meine Strategie von der letzten Sicherheitstagung: Es geht nichts über die Spezialkenntnisse der local forces. Im Hintergrund sind ab sofort auch wir präsent. Dann kann nichts mehr passieren. Das ist doch eine gute Gelegenheit, unseren europäischen Kollegen zu zeigen, was wir so draufhaben.«

»Sie sprechen in Rätseln, Dr. Günther. Welche ›Gelegenheit‹ meinen Sie?«

»Baroli war Gast auf unserem internationalen Symposium zur Bandenkriminalität in Europa. Er hat der deutschen Polizei äußerst wertvolle Einblicke in die Arbeit der Mafia gewährt.«

»Auf Italienisch?«

»Er spricht hervorragend deutsch. Er ist Südtiroler. Sein Vortrag auf dem Symposium war wirklich eindrucksvoll. Sehr lebensnahe Beispiele.«

»Aber das Symposium ist doch vorbei?«

»Ja, seit gestern Abend. Es verlief alles ohne Zwischenfälle.«

»Dann kann er doch heimfahren.«

»Noch nicht. Heute Abend gibt es noch eine große Festveranstaltung. Baroli bekommt den Bayerischen Ehrenpreis für besondere Verdienste um die öffentliche Sicherheit. Für seine Zivilcourage und seine Recherchen zu Mafia und Korruption. Vom Innenminister persönlich! Als Anerkennung für seine furchtlose journalistische Arbeit, von der auch die bayerische Polizei profitiert.«

»Aha. Und das soll wirklich heute Abend passieren? Trotz des Attentats heute Morgen?«

»Baroli will es so. Hat mir der italienische Botschafter gerade bestätigt. Und er hat recht. Man darf nicht nachgeben, man darf sich nicht einschüchtern lassen, wenn man für die Gerechtigkeit kämpft. Also müssen auch wir Einsatz zeigen.«

Mader, Zankl, Dosi und Hummel sehen sich vielsagend an. Einhellige Meinung: Günther, der Tagungshecht, der allen zeigen will, was für einen Superjob er macht. Na, spitze.

GENAU GECHECKT

»Mann, Hummel! Du hast sie doch nicht alle!«, fährt Dosi ihn an, als sie in der Cafeteria des Präsidiums sitzen. »Das kannst du nicht machen! Bodyguard für den Heini.«

»Warum denn nicht?«

»Darum nicht! Weil du kein Personenschützer bist! Die sind speziell trainiert für so was. Jetzt hast du dem Typen schon mal das Leben gerettet, da stellst du dich doch nicht noch einmal hin und wartest, dass sie beim nächsten Versuch auch dich erwischen!«

»Beruhig dich, Dosi! Die Veranstaltung ist streng überwacht.«

»Das ich nicht lache! Im Circus Krone … Weißt du, wie viele Menschen da reingehen? Bestimmt zweitausend.«

»Vorher wird jeder genau gecheckt. Die machen Taschenkontrollen. Und die haben Detektoren. Das ist wie am Flughafen, bevor du in den Flieger steigst.«

»Du fliegst doch nie.«

»Wer sagt das?«

»Hast du selbst mal gesagt.«

»Ja, wenn ich es vermeiden kann.«

»Und wenn du es vermeiden kannst, dann lässt du dich auch nicht abknallen, oder?«

»Nein, das tu ich nicht. Aber weißt du, da geht’s nicht nur um Personenschutz.«

»Sondern?«

»Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, die Macht des freien Wortes! Sich nicht einschüchtern lassen. Zivilcourage.«

»Bist du besoffen, Hummel?«

»Ich mein das ernst.«

Dosi sieht ihn verwundert an. »Du ziehst das durch, oder?«

»Ich zieh das durch.«

»Was sagt denn Mader dazu?«

»Dass ich das selbst entscheiden muss.«

»Der macht es sich einfach. Er ist doch dein Vorgesetzter!«

»Ich hab ihm gesagt, dass ich das möchte.«

»Oh Mann!« Sie mustert ihn, sieht, dass er es wirklich ernst meint. Dann nickt sie langsam. »Okay, ich bin dabei. Zankl auch.«

VORPROGRAMM

Eine Reihenhaussiedlung in Berg am Laim. Symmetrische Tristesse einförmigen Eigenheimglücks. Akkurate Kleinstgärten vor und hinter schmalen Häuschen. In einer der engen Reihenhausküchen traute Zweisamkeit. Zwei Frauen um die vierzig. Eine blass, hager, groß, mit strengem schwarzem Dutt und Designerhornbrille. Die andere klein und kräftig, Sonnenstudiobräune, Igelhaarschnitt und Lippenpiercing. Auf dem Tisch Filterkaffee und Fettgebäck aus dem Backshop an Spitzendeckchen mit Supermarkttulpen in Goldrandvase von Oma.

»Traudl, was wollen die?«, fragt der Dutt den Igel und stellt die Kaffeetasse hart auf der Tischplatte ab.

»Neues Sicherheitskonzept. Da muss noch einer mit aufs Podium«, sagt die Angesprochene und mustert mit Missfallen die Kaffeespritzer auf der Tischdecke. »Gerti, pass halt auf!«

»Der Laden ist doch eh schon voll mit Sicherheitstypen«, knurrt Gerti und trinkt einen großen Schluck Kaffee. »Traudl, so was brauchen wir nicht!«

»Wir nicht, aber die Polizei. Die braucht noch einen, von dem man nichts wissen darf. Auf der Bühne, direkt bei ihm.« Gerti stellt ihren Kaffeebecher wieder sehr hart ab. Einige der Rechnungen, die auf dem Tisch liegen, werden braun gesprenkelt.

»Gerti, jetzt pass doch auf!«

»Ich versteh’s nicht. Wer braucht wen für was?«

»Die Polizei braucht jemanden, der den ganzen Abend an seiner Seite ist.«

»Uh! Der Mann an seiner Seite. Süß!«

»Jetzt sei nicht zynisch. Die wollen einen Polizisten ganz nah bei Baroli haben. Einen, der nicht als Polizist zu erkennen ist. Er wird das Vorprogramm bestreiten.«

Gerti sieht sie verwirrt an. »Wie?«

»Als Autor.«

»Wir können doch einen Polizisten nicht einfach so irgendwas lesen lassen!«

»Er liest nicht irgendwas, Gerti. Er hat an einem Krimi mitgeschrieben.«

»Aha. Und an welchem?«

»Andem aktuellen vom Krämer. Heiße Hunde. Die Pressefrau vom Verlag hat uns doch die Fahnen geschickt.«

»Dieses Bayerwald-Massaker? Auf keinen Fall!«

»Ach komm, das ist gar nicht so schlecht. Wie dieses Biogaskraftwerk explodiert – mal was anderes.«

»Der Krämer kommt mir nicht in die Tüte! Der Depp!«

»Was hast du denn immer gegen den?«

»Ich mag ihn nicht.«

»Aber seine Shows sind gut. Und das letzte Buch auch.«

»Findet nicht jeder. Ich jedenfalls nicht.«

»Und der Krämer liest ja nicht selbst.«

»Trotzdem!« Gerti kratzt sich am Kinn.

Traudl schaut sie irritiert an.

»Is was?!«, faucht Gerti.

»Nein, muss das Licht sein.«

»Was?«

»Einen Moment dachte ich, du hast Bartstoppeln.«

»Dir geb ich gleich Bartstoppeln! Dieser Krämer und sein blödes Buch kommen mir jedenfalls nicht ins Haus. Hey, wir haben einen Ruf zu verlieren. Duo Mortale und Monaco Crime – das sind zwei Namen, die für höchste Qualität bürgen. Wir können uns keinen Schrott leisten!«

»Jetzt übertreib mal nicht. Ich sag‘s nochmal: Der Krämer liest nicht selber. Nur sein Co-Autor, dieser Klaus Hummel. Der ist ein unbeschriebenes Blatt. Und er arbeitet bei der Mordkommission.«

»Mordkommission. Hm …«

»Aber das dürfen wir natürlich nicht sagen.«

»Pah.«

»Aber hinterher. Das ist doch eine gute Story – Faction!«

»Was?«

»Fakten, Fiktion, Action – Faction«, erklärt Traudl. »Das Echte halt, nicht nur erfundene Geschichten. Echter Bodyguard, echte Bedrohung.«

Gerti lacht. »Faction! Meine kluge Frau. Geil. Mann, mit der Bodyguard-Geschichte könnten wir fett Werbung machen. Da gab’s doch mal ’nen super Film. Wie heißt der noch mal?«

»The Bodyguard?«

»Traudl, du Kinomaus, du hast es drauf! The Bodyguard. Klar! Spitzenstreifen!«

»Mit der blöden Whitney Houston.«

»Ey, die ist nicht blöd. Die ist voll super!«

»Voll super? Die Tante? Das meinst du jetzt nicht im Ernst, Gerti?«

»Hey, Traudl, das ist doch nur Kino!«

»Nur Kino, ja klar. Ich denk nur an diese abgegriffene LP-Hülle bei dir im Regal, wo sie diesen schrecklichen Badeanzug anhat.«

»In meinem Regal?«

»Nein, auf der Rückseite von der Platte.«

»Das ist ihr Debütalbum. So der Hammer! Und damals hatten alle solche Badeanzüge.«

»So? Du auch?«

»Ja, ich auch. Das war die Mode damals. Das V am Dekolleté und der hohe Beinausschnitt. Alle hatten das.«

»Ich nicht!«

»Schatzi, ist ja schon gut. Strand ist sowieso nicht deins. Weiß ich doch, meine Liebe. Du gehst lieber ins Sonnenstudio.«

»Was dagegen?«

»Nein. Außerdem ist die Whitney ja nicht mehr unter uns.«

»Aber in deinem Herzen.«

»Da bist nur du, Spatzl. Also, wenn dieser Polizist wirklich lesen muss, dann schlachten wir das werbemäßig auch aus. Das klingt doch voll spannend, wenn wir das posten – Polizeischutz, verdeckte Ermittler, Bodyguard …«

»Langsam, Gerti! Die Polizei sagt, wie es läuft.«

»Nein! Wir sagen, wie es läuft!« Gerti haut auf den Tisch. »Und wenn mir das nicht passt, dann …«