Ja, das bin ich und das ist meine Geschichte - Julia Ganterer - E-Book

Ja, das bin ich und das ist meine Geschichte E-Book

Julia Ganterer

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Beschreibung

Frauen enttabuisieren das Sprechen über Gewalterfahrungen Gewalt in Familien spielt sich meist hinter verschlossenen Türen ab. Umso wichtiger ist es, das Schweigen zu durchbrechen. Denn Gewaltbeziehungen hinterlassen Spuren bei Frauen und ihren Kindern – ein Leben lang. Ausgehend von Gesprächen mit Frauen und Frauenhausmitarbeiter*innen in Südtirol stellt sich Julia Ganterer die Frage: Wie ist es möglich, dass immer wieder Gewalt in Beziehungen geschieht? Dieses Buch hilft dabei, über Gewalt sprechen zu lernen und gibt den Betroffenen eine Stimme. Sie berichten von ihren Erfahrungen, aber auch davon, wie sie es geschafft haben, einen Weg aus der Gewalt zu finden. » gesellschaftlich relevantes Thema » Vortragsreihe geplant » Autor*in ist Co-Projektleiter*in der ersten sprachgruppenübergreifenden Studie zu sexualisierter Gewalt in Südtirol

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Julia Ganterer

„Ja, das bin ich, und das ist meine Geschichte“

Frauen und ihre Wege aus der Gewalt

Julia Ganterer

„Ja, das bin ich und das ist meine Geschichte“

Frauen und ihre Wege aus der Gewalt

Gedruckt mit Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur

1. Auflage

© Edition Raetia, Bozen 2023

Projektleitung: Eva Simeaner

Lektorat: Katharina Preindl

Korrektur: Helene Dorner

Umschlaggestaltung: Philipp Putzer, Farbfabrik

Umschlagabbildungen: unsplash/Tim Russmann; freepik/kues; pixastock

Druckvorstufe: Typoplus

Druck: Printed in Europe

ISBN: 978-88-7283-890-7

ISBN E-Book: 978-88-7283-694-1

Unseren Gesamtkatalog finden Sie unter

www.raetia.com.

Bei Fragen und Anregungen wendenSie sich bitte an [email protected].

Inhalt

Vorworte

STAND UP!

Gewalt – eine Geschlechterfrage?

Sexualisierte Gewalt – (k)ein Thema in Südtirol

Gewalt, Macht und Sozialwesen

„Ich will einfach nicht mehr still sein“

Beratungs- und Anlaufstellen

Literatur

Anmerkungen

Vorworte

Glücklicherweise leben wir in einer Zeit, in der in Italien die Gleichstellung der Geschlechter erreicht ist – zumindest formal. Auf den ersten Blick könnte es fast so scheinen, als wäre das Thema Gleichberechtigung mittlerweile überholt, vom Tisch sozusagen. Aber leider trügt der Schein.

Im allgemeinen Bewusstsein herrschen auch heute noch Geschlechterstereotype und alte Rollenbilder vor, die auf einer Diskriminierung des weiblichen Geschlechts beruhen bzw. diese zur Folge haben. Die kontinuierlichen Gewaltepisoden an Frauen und jenen Menschen, die sich als Frauen fühlen, sind eine Konsequenz daraus. Dabei nehmen wir als Gesellschaft meist nur jene Fälle wahr, die mit einem tragischen Frauenmord enden. Die Anzahl von Gewalttaten an Frauen ist aber weit höher, das traurige Phänomen noch viel weiter verbreitet, als oft wahrgenommen wird. In Italien werden laut dem Nationalen Institut für Statistik (ISTAT) mehr als 30 % aller 16- bis 70-jährigen Frauen mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Gewalt. In den meisten Fällen kommen die Täter aus dem nahen Umfeld der Frauen, häufig geschieht die Gewalt sogar in der Familie, aber auch am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit. Häufig werden diese Fälle von Gewalt an Frauen als Privatsache der Betroffenen abgetan, es werden läppische Begründungen gesucht, fast so, als würde eine Gewalttat dadurch gerechtfertigt. Es sind Episoden von Gewalt, die mitten in unserer Gesellschaft geschehen und trotzdem häufig nicht gesehen, nicht als solche wahrgenommen und nicht angesprochen werden. Gewalt an Frauen gilt auch heute noch vielfach als Tabuthema, umso wichtiger ist es, Menschen zu bestärken, darüber zu sprechen. „Wir müssen lernen, die Gewalt beim Namen zu nennen“, wie die Autorin Julia Ganterer schreibt. Dieses Buch leistet einen wertvollen Beitrag dazu, indem es von Gewalt betroffenen Frauen eine Stimme gibt und schonungslos dazu mahnt, die Augen nicht vor der Realität zu verschließen.

Katharina Zeller

Gewalt gegen Frauen ist in Italien zu einer regelrechten Plage geworden. Alle 72 Stunden wird eine Frau getötet. Dabei sind die Femizide nur die Spitze des Eisbergs. Die vielfältigen Formen körperlicher, psychischer und ökonomischer Gewalt schaffen es oft gar nicht in die Schlagzeilen. Umso wichtiger ist es, dass sie unermüdlich thematisiert werden, so wie im vorliegenden Buch.

Leider leben wir in einer patriarchalen Gesellschaft; es wird noch sehr viel Zeit und Mühe kosten, eine grundlegende Veränderung herbeizuführen.

Das ist auch kein Wunder, wenn wir bedenken, dass das Kassationsgericht erst 1956 das „ius corrigendi“ des Ehemannes, d. h. das Recht zur körperlichen Züchtigung der Ehefrau, für verfassungswidrig erklärte. Die differenzierte Behandlung des Ehebruchs für Männer und Frauen bestand bis zum Jahr 1968. Bis dahin war der Ehebruch von Frauen immer strafbar, der von Männern nur, wenn sie die Geliebte in der Familienwohnung unterbrachten. Die mildernden Umstände für den Ehrenmord wurden sogar erst 1981 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.

Wir haben zwar in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts die formale Gleichberechtigung erreicht, von der tatsächlichen Gleichstellung sind wir jedoch noch weit entfernt.

Oft passiert die Gewalt genau dort, wo Männer auf ihre Vormachtstellung pochen. Wenn die Frau das nicht akzeptiert, reagieren sie, indem sie das einzige ihnen bekannte Mittel anwenden: Gewalt.

Es gilt daher, alle unsichtbaren Mechanismen der Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche zu erkennen und zu bekämpfen. Diese finden sich nach wie vor in der medialen Darstellung, und auch in der italienischen Sprache, welche die weibliche Form nur für rangniedrige Positionen kennt, während sie für Spitzenpositionen ausschließlich das Männliche verwendet.

Für all jene, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter und gegen Gewalt an Frauen einsetzen, gibt es also noch viel zu tun.

Julia Unterberger

Ich möchte all jenen Menschen danken,

die zur Verwirklichung

dieses Buches beigetragen haben.

Ich muss keine Namen nennen,

denn jene, die ich meine, wissen es.

Gewidmet ist dieses Buch all jenen Frauen,

die mir ihr Vertrauen geschenkt

und mir über ihre Erfahrung von Gewalt

erzählt haben.

Danke!

STAND UP!

„Reden mit jemand und nicht schweigen. Gleich reden, schon beim ersten Schlag! Weil ich habe auch erst lernen müssen, wo die Grenzen sind. Ich habe die Grenzen von Gewalt auch nicht gekannt. Ich habe nicht gewusst, wo jetzt die Grenze ist zwischen dem Normalen und Nicht-Normalen. Und ich denke mir, wenn eine Frau in einer Beziehung ist, wo Gewalt Alltag ist, kennt sie vielleicht auch nicht die Grenzen. Es ist dann wichtig, vielleicht auch einmal in sich selber reinzuhorchen und sich zu fragen: ‚Ist das für mich normal?‘“

Es braucht Kraft, Selbstbewusstsein, Sicherheit und Klarheit, wenn man sich mit Gewalt befasst, egal in welcher Form. Ich forsche, lehre und arbeite zu geschlechtsspezifischer Gewalt und schreibe nun dieses Buch. Es soll nicht eines von vielen sein, die von Gewalt und Missbrauch sprechen. Was macht dieses Buch aber anders, sodass es von so vielen Menschen wie möglich gelesen wird? Und das vielleicht nicht nur einmal, sondern auch ein zweites und ein drittes Mal? Die Besonderheit dieses Buches liegt darin, dass es versucht, nach Worten zu greifen und eine Sprache zu finden, die uns sonst oft verwehrt ist. Es geht darum, zu diskutieren und auch ein Stück weit zu frustrieren, aber auch zu reflektieren und zu partizipieren. Dabei soll es Menschen weder verurteilen noch verletzen, demütigen oder beschämen. Gleichzeitig soll das Buch die erlebten Gewalterfahrungen von Frauen durch ihre ehemaligen Liebespartner oder Familienmitglieder weder beschönigen noch bagatellisieren.

Gewalt soll kein Tabuthema (mehr) sein, sondern wir wollen lernen, darüber zu sprechen. Gewalt zu thematisieren und nicht zu verheimlichen und damit zu verschleiern. Wir wollen versuchen, den eigenen Erfahrungen von Gewalt im sozialen Nahraum eine Stimme zu geben, sie in Worte zu fassen. Es ist ein Lernprozess, der sich nicht von heute auf morgen vollzieht. Lernen bedeutet staunen und stutzen zugleich. Lernen bedeutet, durch die eigenen Erfahrungen zu wachsen. Dies beginnt dort, wo das Vertraute, das aus der Vergangenheit Erfahrene versagt und das Neue noch nicht zur Verfügung steht. Diese für das Lernen so bedeutsame Zeit ist oft intensiv und führt zu Irritationen und Verwirrungen. Denn gerade der Versuch, Erfahrungen zu unterdrücken und zu verdrängen, ist oft eine Quelle großen Schmerzes.

In diesem Buch geht es nicht darum, zu erfahren, was richtig oder falsch ist, sondern darum, über Gewalt sprechen zu lernen. Unser Ziel sollte es sein, ein Vokabular für erlittene Gewalt in Partnerschafts- und Familienbeziehungen zu finden, damit die Vergangenheit verarbeitet werden kann, gegenwärtig drohenden und eskalierenden Situationen nicht mit Gegengewalt begegnet wird, sondern zukünftig gewaltfrei gelebt werden kann. Wir müssen lernen, Gewalt beim Namen zu nennen und Worte zu finden, die unsere eigenen Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken darüber zur Sprache bringen. Damit diese für andere hörbar, wahrnehmbar und begreifbar werden. Nur dadurch kann der Schmerz gelindert und bestenfalls weiteres Leid verhindert werden.

Mit diesem Buch sollen Menschen aufgeklärt und gebildet, nicht belehrt werden, sich Wissen aneignen. Nicht beschuldigt oder für das eigene Handeln oder die eigenen Gewalterfahrungen bestraft werden. Dieses Buch soll einen Einblick in die Komplexität und Mehrdimensionalität des Gewaltphänomens geben und damit die gesellschaftliche Relevanz sichtbar und begreifbar machen. Es geht um Sensibilisierung, Aufklärung und Reflexion. Es geht um Besinnung und Begegnung, um das Hineinhören und das gleichzeitige Aussprechen, um das Lautwerden und um gemeinsames Aufstehen.

STAND UP!

Geschlecht, Gewalt und Sprache: eine Gratwanderung

Vorab möchte ich einige Schreib- und Ausdrucksweisen klären, die in diesem Buch verwendet werden. Denn es besteht die Gefahr, dass durch sprachliche Bilder klischeehafte Vorstellungen von Geschlecht und Partnerschaftsgewalt sowie von „Opferschaft“ und „Täterschaft“ reproduziert und verfestigt werden. Ich gehe davon aus, dass Geschlecht und Gewalt von der Gesellschaft konstruiert sind und reproduziert werden. Um die Vielfalt der Geschlechter zu markieren, werden seit Jüngstem der Doppelpunkt (:) oder der Genderstern (*) verwendet. Mir ist es wichtig, uns als Gesellschaft anzusprechen, als Individuen in einer kollektiven Welt. Nicht die Geschlechtsidentität – weder das soziale, das selbst empfundene noch das biologische Geschlecht – soll hier im Fokus stehen, sondern das Gewaltphänomen in partnerschaftlichen und familialen Beziehungen. Dies ist der wichtigste Grund, warum hier auf ein Sonderzeichen verzichtet wird, nicht aber auf eine geschlechtersensible Schreib- und Denkweise. Keinesfalls soll das generische Maskulinum gefördert werden, doch sind sowohl der Doppelpunkt als auch der Genderstern Erkennungszeichen und damit auch ein Stück weit identitäre Markierungen, die in den Dienst der Distinktion gestellt werden (können). Dies kann persönliche Empfindlichkeiten fördern und dazu führen, dass Moralvorstellungen konfrontativ verhandelt werden. Dabei geht es mir gerade um gruppenübergreifende und damit soziale Gemeinsamkeiten im Kampf gegen geschlechtsspezifische Unterdrückung und Diskriminierung respektive Gewalt und Machtmissbrauch. Dieses Hochschrauben persönlicher Empfindlichkeit hängt mit der Machtzuschreibung an Sprache zusammen.

Da ich mich in diesem Buch generell auf eine Unterteilung in die binären Kategorien von Frau und Mann beziehe und zumeist keine anderen Identitäten inkludiert werden, möchte ich vorweg festhalten, dass es eine Vielzahl von Geschlechtsidentitäten gibt, auch wenn diese hier nicht explizit genannt werden, wie etwa Queer, Inter, Trans, Agender, Nichtbinär usw. Auch wenn die Geschlechterdiversität noch nicht im gesamten (südtirolerischen) Alltag angekommen ist, kann doch gesagt werden, dass die Geschlechtervielfalt in unserer Gesellschaft für das Aufbrechen von stereotypen Bildern von Männlichkeit und Weiblichkeit sorgt. Ich möchte nicht die Dichotomie von Geschlecht aufrechterhalten, sondern zur Reflexion anregen. Gleichzeitig möchte ich mich bei all jenen Menschen entschuldigen, die sich aufgrund der gewählten Schreibweise verletzt oder nicht angesprochen fühlen.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch festhalten, dass ich es besonders im Kontext von partnerschaftlicher und familialer Gewalt als wichtig erachte, auch die gesellschaftlichen Zuschreibungen, wie Geschlechter sein sollen und was Weiblichkeit oder Männlichkeit (nicht) sind, mitzudenken. Beim Phänomen Gewalt in eigenen sozialen Beziehungen gilt es, sich die Frage zu stellen, wie wir als Einzelpersonen über Partnerschafts- und Familiengewalt sowie über die Konstruktion von Geschlechterrollen sprechen, denken und in weiterer Folge auch handeln können, ohne zum Beispiel die „Opfer“ zu schützenswerten Objekten zu degradieren und ins Zentrum der Gewalthandlung zu drängen. Denn dem Begriff „Opfer“ haften zahlreiche Vereinfachungen und teilweise diskriminierende Vorurteile an. Auch die Verwendung des Ausdrucks als Schimpfwort macht es für Menschen mit Gewalt- und Missbrauchserfahrungen nicht leichter, sich mit dieser Bezeichnung zu identifizieren. Die Komplexität und damit auch die Sensibilität bezüglich der Begrifflichkeiten von „Opfer(schaft)“ und „Täter(schaft)“ ergibt sich auch aus der Tatsache, dass mit diesen Begriffen zum einen juristische Vorstellungen und zum anderen historische Entwicklungen verknüpft sind: Für die Feststellung von Täterschaft und die Anerkennung des Opferstatus von Betroffenen sexualisierter Gewalt musste gekämpft werden. Der Opferbegriff ist damit keineswegs wertfrei, sondern bringt eine ganze Ladung von subjektiven Vorstellungen und Stereotypen mit sich. In dieser Vorstellung wird impliziert, dass die Menschen, denen etwas angetan wurde, wehrlos, passiv und ausgeliefert waren. Es ist anzunehmen, dass sich diese Personen – zumeist Frauen – in der Situation von Gewalt, Misshandlung oder Missbrauch ausgeliefert fühlten, vielleicht haben sie sich aber auch erfolgreich gewehrt. Wir wissen es zumeist nicht, doch macht der Begriff „Opfer“ alle gleichsam zu „passiven Opfern“. Hier ein Beispiel: Wenn mir jemand erzählt, dass eine gewisse Person einmal einen Autounfall gehabt hat, wird sich meine Wahrnehmung dieser Person wahrscheinlich kaum verändern. Genau das passiert jedoch, wenn wir „Autounfall“ durch „Vergewaltigung“ ersetzen. Der „Vorteil“ liegt nun darin, dass wir vorsichtig und respektvoll sind, wir das Geschehene ernst nehmen. Der negative Aspekt besteht hingegen darin, dass wir – egal was sich die Person von uns wünscht – ausschließlich vorsichtig sind, dass wir das Geschehen ernster nehmen als alles andere im Leben dieser Person oder dass wir die Person eben nicht ernst nehmen, weil wir eine sehr genaue Vorstellung davon haben, wie und wer Opfer sind und wie sie sich zu verhalten haben – oder eben auch nicht. Dasselbe gilt auch für die Täterschaft. In jüngster Zeit werden daher statt „Opfer(schaft)“ die Begriffe „Erlebende“ oder „Betroffene“ verwendet, um eine Verschiebung vom Passiven zum Aktiven vorzunehmen. Gleichzeitig findet ein Perspektivwechsel statt: Die Formulierung lädt ein, über die Wahrnehmung der erlebenden Person nachzudenken, und nicht darüber, was ein anderer Mensch mit dieser Person macht. Außerdem trifft das Wort „Erlebende“ noch keine Aussagen über Motivationen und Rollenverteilungen. Klassische Binaritäten wie aktiv/passiv werden aufgebrochen. Das Verb „leben“, das im Wort steckt, macht jedoch deutlich, dass das Erlebte durchaus lebensrelevant sein kann. Manche Erlebnisse müssen überlebt werden, mit manchen wird gelebt, manche werden durchlebt und dann abgeschlossen, so wie es in diesem Buch die betroffenen Frauen berichten, die Gewalt durch ihren Partner, Vater oder Bruder erlebt haben.

Kurzbiografien der Frauen1

Marlene ist Mitte zwanzig, kinderlos und arbeitet als Verkäuferin. Ihre Mutter verließ sie und ihren Vater, als Marlene vierzehn Jahre alt war. Marlene vermutet als Grund die Gewalttätigkeit ihres Vaters, der daraufhin noch aggressiver und brutaler gegenüber Marlene wurde: „Einmal hat er mir das Glas ins Gesicht gehaut. Einfach so, ohne Grund“, erzählt Marlene. Auch in ihren späteren Partnerschaftsbeziehungen erfuhr sie unterschiedlichste Formen von Gewalt. Ihre Tante gab ihr die Adresse der Beratungsstelle für Gewalt gegen Frauen. Erst mit den Mitarbeiterinnen im Frauenhaus konnte Marlene über die Gewalterfahrungen in ihrem Leben sprechen. Sie hatte das erste Mal das Gefühl, gehört und verstanden zu werden. Insgesamt war Marlene drei Mal in einem Frauenhaus. Die Zeit dort bezeichnet sie als die schönste ihres Lebens.

Resi ist Anfang vierzig, Alleinverdienerin und Alleinerzieherin von drei Kindern im Vorschulalter. Mit ihrem Ex-Mann lebte sie für einige Jahre in der norditalienischen Hauptstadt Bologna und ging nach der Trennung und Flucht ins Frauenhaus zurück nach Südtirol zu ihrer Familie. Für Resi macht es einen großen Unterschied, „ein Gewaltopfer als Frau oder aber als Frau mit Kindern zu sein“. Die rechtliche Situation in Italien wie auch das System des Sozialdienstes in Südtirol erschweren es Resi, sich endgültig von ihrem gewalttätigen Ex-Mann zu befreien. Denn das Gesetz besagt, dass der Kindesvater das Recht hat zu wissen, wo seine Kinder sind, und seine Kinder auch zu sehen, selbst gegen den Willen der Kinder und der Mutter. „Und das kann es nicht sein“, kritisiert Resi. Ohne Kinder wäre Resi nach „Honolulu ausgewandert … oder irgendwohin, einfach um zu wissen, ich bin sicher“.

Sieglinde, Ende dreißig, ist gelernte Krankenschwester und hat zwei Kinder. Ihren Ex-Mann lernte sie auf der Arbeit kennen und bis zur Geburt ihrer gemeinsamen Tochter „war eigentlich auch alles okay“ und „harmonisch“, so Sieglinde. Als sich der erhoffte Aufenthaltsstatus ihres aus Afrika stammenden Mannes durch die gemeinsame Tochter jedoch nicht änderte, fielen „alle Grenzen, alle Mauern“ der Gewaltbereitschaft. Sieglinde wurde beschimpft, geschlagen, bedroht und vergewaltigt. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion floh sie mit ihren Kindern in ein Frauenhaus, wo sie erstmals zur Ruhe kamen und „wirklich gut aufgefangen wurden, auch die Kinder“. Für Sieglinde war es sehr wichtig, dass ihre Kinder eigene Ansprechpersonen im Frauenhaus hatten. Sieglinde und ihr Sohn Moritz sind in Therapie, um die erlittene Gewalt zu verarbeiten. Mit Unterstützung der Frauenhausmitarbeiterinnen haben sie in einer anderen Stadt eine neue Wohnung bezogen. Moritz hat in seiner neuen Schule bereits gute Freunde gefunden und Sieglinde einen neuen Job. „Wir schauen einfach, wie es weitergeht … und das hoffentlich in Frieden und ohne Gewalt.“

Claudia ist Ende fünfzig, hat zwei erwachsene Söhne und war im Laufe ihres Lebens in den verschiedensten Bereichen der Tourismusbranche tätig. Über zwanzig Jahre lang arbeitete sie in einer Region in Italien am Meer. Kurz vor dem ersten Lockdown hatte sie „das Glück“, eine neue Stelle im Krankenhaus anzutreten. Claudia erfuhr durch ihren Ex-Mann vor allem emotionale, psychische und ökonomische Gewalt. Durch ihn fühlte sie sich immer schuldig und minderwertig: „Ich habe immer die Fehler bei mir gesucht, habe versucht, bei mir zu korrigieren“, so Claudia. Durch den psychischen Druck übernahm sie neben der emotionalen und finanziellen Schuld auch die Verantwortung für die gesamte Familie und unterschrieb bei allen Kauftätigkeiten ihres Ex-Mannes, sodass sie heute immer noch verschuldet ist. Claudia ist ihrem Wesen nach ein sehr positiver Mensch: „Eigentlich sehe ich immer alles gut, und das war vielleicht auch der Grund, warum man vieles nicht sehen will, vieles nicht sehen oder hören kann.“ Heute geht es Claudia und ihren zwei Söhnen gut, sie hat keine Angst mehr, dass sie ihr Leben nicht alleine schafft. Das möchte sie auch ihren Kindern und anderen gewaltbetroffenen Frauen mitgeben: „Es geht weiter, nur müssen wir den ersten Schritt setzen.“

Verena ist Anfang zwanzig, Studentin und erzählt im Interview die Geschichte ihrer Mutter, die als Kind von ihrem Bruder jahrelang vergewaltigt und sexuell missbraucht wurde. Verenas Mutter wuchs mit fünf Geschwistern in prekären Familienverhältnissen auf. Ihre Eltern arbeiteten beide hart und hatten für die Kindererziehung wenig Zeit. Jahrelang unterdrückte Verenas Mutter ihre Missbrauchserfahrungen, erst nach dem Tod ihres Vaters kamen sie wieder zum Vorschein. Daraufhin ging ihre Mutter auch zur Therapie, um ihre Erfahrung von sexualisierter Gewalt durch ihren Bruder aufzuarbeiten. Erst nach vielen Jahren konnte sie ihre Geschichte ihrer Mutter und ihren Geschwistern anvertrauen, woraufhin auch ihre beiden jüngeren Schwestern erzählten, dass sie vom Bruder vergewaltigt worden waren. Verenas Oma glaubte ihren Töchtern zwar nach einiger Zeit, konnte aber nur sehr schwer damit umgehen. Sie wich diesem Thema immer mehr aus und schwieg darüber. Verenas Beziehung hat sich durch die Geschichte ihrer Mutter verändert – auch wenn sie nicht selbst die Betroffene ist, so ist ihre Identität dadurch geprägt.

Leni ist in den 1950er Jahren geboren und im Pflegedienst tätig, hat zwei erwachsene Kinder und war dreißig Jahre lang verheiratet, bis sich ihr Mann das Leben nahm. Leni und ihr Mann heirateten jung, und „die ersten drei, vier Jahre waren auch sehr schön, bis er anfing zu trinken, so wie alle in seiner Familie“. Leni hat vor allem das ordinäre Gerede „kaputtgemacht“. Ihre beiden Söhne versuchte sie immer vor dem Vater zu beschützen, bis er auch auf die Kinder losging. Ihren Mann konnte Leni dennoch nicht verlassen, da er auf dem Bauernhof nur alleine war und ohne sie der ganzen Arbeit nicht nachgekommen wäre. Unterstützung bekam Leni schließlich vom Verein „Frauen helfen Frauen“. Vom Verein wurde sie auch ermutigt, ihre Vergewaltigungen in der Ehe zur Anzeige zu bringen. Nachdem sie ihrem Ehemann mit einer Anzeige gedroht hatte, ließ er sie körperlich und sexuell in Ruhe, „aber mit dem Mund hat er mich psychisch niedergemacht: ‚Eine Frau gehört hinter den Herd und ins Bett!‘“. Trotz der Erfahrungen in der Familie geht es ihren erwachsenen Söhnen heute gut, sie sind beide berufstätig und haben eigene Familien gegründet. Auch Leni ist zufrieden und mit sich im Reinen.

Maria wurde Anfang der 1960er Jahre in einer Kleinstadt geboren und wuchs in einer Familie auf, deren Alltag von Gewalt geprägt war. Maria erzählt: „Bei uns war es so, dass, wenn wir nicht brav waren oder wir nicht funktioniert haben, es immer Schläge gab, in welcher Art auch immer.“ Erst durch viele Gespräche und sehr viel Zeit, in der sie über ihre Vergangenheit reflektierte, wurde ihr bewusst, dass das, was sie in ihrer Kindheit erfahren hatte, bereits Gewalt war und es nicht zu einer „normalen“ Kindererziehung gehörte, „mit einem Pracker [Teppichklopfer] geschlagen“ zu werden. Erst nach vielen Jahren der Aufarbeitung wurde ihr bewusst, dass sich das Phänomen Gewalt in sozialen Beziehungen in ihrer gesamten Biografie stets wiederholte. Angefangen bei ihrem Vater über ihren Ex-Mann, die ihr beide Gewalt antaten, bis hin zu ihr selbst, die körperliche Züchtigung an ihren Kindern als Erziehungsmaßnahme anwandte. „Ich kannte es ja nicht anders und wusste nicht, wie man es besser machen könnte, auch ohne Schläge. Dass ich das meinen Kindern angetan habe, werde ich mir nie verzeihen. Das hat auch meine Beziehung zu meinen Kindern bis heute geschädigt.“

Ulrike, Ende vierzig, ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ihren Ex-Mann lernte sie durch eine Partnerschaftsvermittlung in Südtirol kennen und dachte, auf diesem Wege eine solide und sichere Partnerschaft zu finden. Gemeinsam haben sie zwei Kinder, wobei Ulrike auch zwei erwachsene Kinder aus einer früheren Beziehung hat. Ulrike hat Kunst studiert und ist ausgebildete Arbeitstherapeutin. Gerade aufgrund ihres Berufes „hätte ich es wissen müssen, und ich habe es auch geahnt, aber ich habe es auch nicht wahrhaben wollen“, erklärt Ulrike frustriert. Ulrike hat „den Psychopathen“ im Wesen ihres Ex-Mannes erst viel zu spät erkannt. Durch die gemeinsamen Kinder ist sie finanziell und auch rechtlich an ihren Ex-Mann gebunden. Die fünf gemeinsamen Jahre verbindet Ulrike nicht mit schönen Familienerinnerungen, sondern mit Gewalterfahrungen, die an ihrem Körper „Spuren hinterlassen“ haben. „Sie verenden durch so jemanden. So jemand macht einen kaputt.“

Neben den Frauen, die einen Einblick in ihre Gewaltbeziehungen geben, erzählen uns Mitarbeiterinnen aus dem Frauenhaus ihre beruflichen Erfahrungen von Gewalt in der Familie und Partnerschaft. Sofia, eine Sozialarbeiterin, schildert uns, wie es ist, mit Kindern zusammenzuarbeiten, die in einer gewaltvollen Familie aufwachsen und deshalb nun in einer speziellen Einrichtung betreut werden. Michaela, die eines meiner Seminare zu Gewalt besucht hat, wird uns durch ihre Geschichte das Thema Angst im Zuge erlebter Partnerschaftsgewalt näherbringen. Wir werden auch Martinas und Evas autobiografische Berichte lesen, in denen Martina über ihre Erfahrung von psychischer Gewalt und Eva über ihre sexualisierte Gewalterfahrung spricht.

„Geht schon!“

„Geht schon!“ Diese Worte habe ich von fast allen Frauen aus Südtirol gehört, als ich sie zu ihren Gewalterfahrungen befragt habe, die sie durch ihren ehemaligen Partner oder ihre Familienmitglieder erlitten haben. Die Aussagen der Frauen und die Gespräche mit den Frauenhausmitarbeiterinnen in Südtirol sind Zeugnisse der Gewalt in Partnerschaftsbeziehungen und Familien; dabei sind auch die sozialpolitischen Systeme und geschlechtsspezifischen Strukturen dafür verantwortlich, dass Gewalt geschehen kann und quasi gleichzeitig unges(ch)ehen bleibt.

Diese Publikation geht auf ein Forschungsprojekt zurück, in dessen Rahmen ich meine wissenschaftliche Qualifizierung begonnen, aber nicht abgeschlossen habe. Für das Projekt habe ich im Jahr 2020 Interviews mit Frauen, die Gewalt in ihrer Partnerschaft und/oder in ihrer Familie erlebt haben, sowie mit Mitarbeiterinnen von Gewaltschutzzentren und Frauenhäusern geführt. Den befragten Frauen bringe ich großen Respekt und Dankbarkeit dafür entgegen, dass sie sich für mich geöffnet und das Schweigen über häusliche Gewalt gebrochen haben. Aus diesem Grund ist nach meiner Rückkehr nach Südtirol die Idee entstanden, die Interviews in Form eines Sachbuchs mit Tatsachenberichten zu verarbeiten. Im Fokus steht das Phänomen Partnerschafts- und Familiengewalt in Südtirol, erzählt aus der Perspektive von Frauen, die Gewalt durch ihren ehemaligen Partner bzw. in ihrer Familie erfahren haben.

Ausgehend von dieser Perspektive haben sich mir weitere Fragen aufgetan: Was wissen wir eigentlich über die Situation von Partnerschafts- und Familiengewalt in Südtirol? Welche Zahlen und Studien gibt es dazu? Und was hat das mit Feminismen, Frauenhausarbeit und Generationenverhältnissen zu tun? Welche Rolle spielen dabei die Kirche, der Glaube und das bäuerliche Leben? Inwiefern sind Kinder und Jugendliche Zeuginnen und Zeugen von Gewalt und selbst Betroffene? Welche Rolle spielt es, ob die Frau in einem kleinen Dorf oder einer Stadt aufwächst und lebt? Ist die Sprache relevant? All diesen Fragen kann ich mich in diesem Buch nicht ausführlich widmen, geschweige denn klare Antworten geben. Dies ist aber auch nicht die Intention dieses Buches. Mir geht es darum, den Frauen eine Stimme zu geben, die Betroffene von Partnerschaftsgewalt geworden sind. Es geht mir um ein gemeinsames STAND UP! Ein Aufbegehren gegen Gewalt an Frauen und gegen Gewalt in der Familie! Ich will, dass wir endlich den Mut und eine gemeinsame Sprache finden, um über Gewalt zu sprechen, sei es über die selbst erfahrene Gewalt, sei es als Zeugin oder Zeuge oder als (Mit-)Täter bzw. Täterin.

Gewalt – eine Geschlechterfrage?

„Es macht so viel kaputt. Macht die Gesundheit kaputt, macht die Psyche kaputt. Macht mein Selbstbewusstsein kaputt, macht mein Lächeln kaputt. Meine Fröhlichkeit und Herzlichkeit, alles kaputt.“

Gewalt ist nichts Naturgegebenes, Gottgegebenes oder ein Teufelswerk. Gewalt ist ein vom Menschen geschaffenes Phänomen und eine Menschenrechtsverletzung. Gewalt hat viele Gesichter und umfasst viele verschiedene Formen: körperliche, psychische, ökonomische, sexualisierte usw. Eine Vielzahl von Gewaltformen ist auch in der geschlechtsspezifischen Gewalt zu finden. Um das geschlechtsspezifische Gewaltphänomen besser zu vermitteln, wird der Gewalt in Familien, der Gewalt in Partnerschaften sowie in Generationen und über Generationen hinaus nachgegangen. Dabei geht es nicht nur um personale, sondern auch um strukturelle Gewalt, die unter anderem innerhalb von Institutionen und sozialen Einrichtungen wirkt.

Was es dann für die einzelne betroffene Frau bedeuten kann, am eigenen Leib Gewalt zu erfahren, und warum es so schwierig ist, darüber zu sprechen, werden die Geschichten der Frauen deutlich machen. Zu den Erzählungen dieser acht Frauen, die ich zu ihren Erfahrungen über Partnerschaftsgewalt interviewt habe, treten drei autobiografische Berichte junger Frauen. Weitere Berichte aus dem Frauenhaus und wissenschaftliche Literatur beleuchten das Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven.

Die Frauenhäuser, Gewaltschutzzentren, Frauen- und Jugenddienste haben in den letzten Jahrzehnten sehr viel gegen Gewalt in Südtirol getan. Sie haben großartige Projekte initiiert und Aktionen ins Leben gerufen. Die Fachkräfte haben sich und andere weitergebildet, sich solidarisiert und emanzipiert. Dafür gilt es zu danken! Und dennoch gibt es noch so viel (mehr) zu tun. Viele Türen sind (noch) verschlossen und offene Räume begegnen uns mit Leere und einer Atmosphäre von Angst und Beschämung. Es sind Räume des Schweigens, die Menschen eingrenzen und verstummen lassen. Diesen Grenzen, Herausforderungen und Hürden gilt es im Kollektiv zu begegnen, gesellschaftlich und politisch wie auch persönlich und privat entgegenzutreten. Einer der wichtigsten Schritte besteht darin, zu lernen über Gewalt zu sprechen und die erfahrene Gewalt beim Namen zu nennen. Wenn wir fähig sind, von unseren Gewalterfahrungen zu erzählen, sei es als Betroffene, sei es als Zeugin oder Täterin, dann wird es uns auch möglich sein, diese Erfahrungen mit anderen zu teilen und so das Schweigen zu brechen, damit unsere Kinder und Kindeskinder etwas gewaltloser und freier leben können als wir heute und es irgendwann keine Frauenhäuser und Gewaltschutzzentren mehr braucht.

„Wir wollten eigentlich Aufklärungsarbeit leisten und keine Frauenhausarbeit machen …“

Dank der Frauenbewegungen und Frauenhausarbeiterinnen wissen wir heute, dass in den vorherrschenden patriarchalen Geschlechterverhältnissen im Allgemeinen und den androzentrisch (männerzentriert) geprägten heterosexuellen Partnerschaften – insbesondere in der Ehe – im Besonderen die Möglichkeit geschaffen wird, dass in erster Linie Männer Gewalt und Macht gegenüber Frauen und Kindern ausüben können. Dank den Aktivistinnen wissen wir, dass es Frauen und Kindern oft schwer fällt, sich von diesen Gewaltverhältnissen zu befreien. Galt noch vor einigen Jahrzehnten die geschlechtsspezifische Gewalt zwischen Mann und Frau als individuelles und pathologisches Problem, wissen wir heute, dass es ein gesellschaftliches und strukturelles Problem ist. Insbesondere in der Kriminalsoziologie wurde lange Zeit die Ansicht vertreten, dass Vergewaltigung eine Handlung einzelner Täter mit „abnormem“ Sexualverhalten sei. Demgegenüber wiesen feministische Studien2 nach, dass Gewalt gegen Frauen keine Einzel- oder Randerscheinung, sondern alltägliche Realität ist und es sich bei den männlichen Tätern um keine besonderen Tätertypen oder abnormen Männer handelt, sondern um „ganz normale“ Männer, die zumeist der eigene Partner, Ehemann, Vater, Bruder oder der Freund aus dem Bekanntenkreis sind.

Geschlagen, beschimpft oder vergewaltigt zu werden, ist damit kein persönliches und privates Problem. Vielmehr ist es Effekt einer paternalistischen Gesellschaft, die Missbrauch duldet und die Gewalttaten gegen Frauen und Kinder möglich macht. Wir leben in einer Gesellschaft, die von maßgeblichen Normen und Werten geprägt ist, die (zumeist, aber nicht immer, männliche) Gewalttäter glauben lassen, dass ihre Taten unbestraft bleiben oder gar gerechtfertigt sind. Die Gewalt in sozialen und partnerschaftlichen Beziehungen geht nicht nur die Betroffenen, die Täterschaft, die Mitwissenden und Zeugenschaft, sondern uns alle an. Diese Gewalt kommt nicht am Rande der Gesellschaft vor und nicht in fremden Ländern. Nein. Sie ist mitten unter uns, in unser aller Alltag, wo wir ihr Tag für Tag, Nacht für Nacht begegnen; auch wenn sie nicht immer sichtbar und hörbar ist, so ist sie doch ein ständiger (Angst-)Begleiter im täglichen Leben.

Uns sollte also bewusst sein, dass Gewalt nichts Abnormales und Fremdes darstellt, sondern Normalität und Vertrautheit. Gewalt ist keine Verletzung des normalen Alltags, sondern Gewalt und Misshandlung schaffen unsere alltägliche Realität. Die Wurzeln der Gewalt finden sich in den politischen Strukturen, den sexistischen Werten und paternalistischen Normen. In veralteten kirchlichen Systemen und den hierarchischen Organisationen von Familie und Gesellschaft. Die Gewalt gegen Frauen wird durch die patriarchalen Besitzansprüche von Männern gegenüber Frauen legitimiert. Solange wir in einer männlich dominierten, sexistisch und hegemonial strukturierten Gesellschaft bzw. Geschlechterordnung leben, bleibt auch die Gewalt gegenüber Frauen in den weiblichen Lebensbedingungen und Biografien verankert und wird als normale Realität angesehen. Denn bis heute wird das Verhältnis zwischen Männern und Frauen unabhängig von der persönlichen Beziehung als ein Machtverhältnis definiert, wodurch die Frau in einer untergeordneten Position steht, die sie potenziell der Gewalt aussetzt und männliche Gewalttätigkeit legitimiert. Dieser Normierung und Legitimierung wollen unter anderem Gewaltschutzzentren und Frauenberatungsstellen entgegenwirken. Dabei war das Ziel der ersten Frauenbewegungen in Südtirol ein anderes.

„Wir wollten eigentlich Aufklärungsarbeit leisten und keine Frauenhausarbeit machen“, so eine Frauenhausmitbegründerin aus Südtirol. Für die Frauenbewegung in Südtirol war es nicht das Ziel, ein autonomes Frauenhaus zu gründen, sondern die Bevölkerung über Partnerschaftsgewalt und die Unterdrückung der Frauen aufzuklären. Sensibilisierung und Aufklärung standen im Vordergrund. Die Aktivistinnen wollten vor allem präventiv arbeiten und politisch etwas verändern, damit es überhaupt keine Frauenhäuser und Gewaltschutzzentren für von Gewalt betroffene Frauen und deren Kinder braucht. Damit kein Bedarf an der Gründung von Frauenhäusern und Schutzwohnungen besteht. Damit es nicht nötig ist, dass Frauen mit ihren Kindern Schutz suchen, weil ihr Ehemann oder Partner sie misshandelt.

Daten und Fakten zur Gewaltsituation in Südtirol3