Jade und Obsidian - Die Legende der Zwillingsschwerter - June CL Tan - E-Book

Jade und Obsidian - Die Legende der Zwillingsschwerter E-Book

June CL Tan

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei magische Schwerter, eine jahrtausendalte Legende und eine verbotene Liebe

***Je nach Verfügbarkeit wird das Buch mit oder ohne Farbschnitt geliefert. Der gestaltete Buchschnitt ist auf eine limitierte Stückzahl begrenzt.***

Ahn hat weder Familie noch Vergangenheit.
Altan war einst der Thronerbe, bis seine Familie gestürzt und er ins Exil vertrieben wurde.

Eine Zufallsbegegnung führt die beiden Einzelkämpfer zusammen. Sie könnte eine Schlüsselrolle bei seinen Racheplänen spielen, er die Geheimnisse ihrer Vergangenheit aufdecken. Doch schon bald merken die beiden, dass sie in größere Machenschaften verstrickt sind. Dabei scheint sich alles um die Legende der Zwillingsschwerter zu drehen: zwei verschollene Schwerter – eines jadeweiß, das andere obsidianschwarz – eines bedeutet die Rettung des Kaiserreichs, das andere seinen Niedergang.

Ahn und Altan müssen entscheiden, ob sie an ihren eigenen Plänen festhalten oder für das Wohl des Kaiserreichs kämpfen wollen. Sie ahnen nicht, welchen Preis sie diese Entscheidung kosten wird …

Chinesische Mythologie, Kampfkunst und uralte Magie: ein umwerfendes Fantasy-Debüt!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 598

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



June CL Tan

Die Legende der Zwillingsschwerter

Aus dem Amerikanischen von Mareike Weber

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2021 by June CL Tan

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien erstmals unter dem Titel »Jade Fire Gold« bei HarperTeen, ein Imprint von HarperCollins Publishers, New York

Dieser Titel wurde vermittelt durch die Agentur Agence Hoffman GmbH

Aus dem Amerikanischen von Mareike Weber

Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff

Umschlag- und Innenillustration: AdobeStock.com (tananddda, februaryprod, pinchukao, pixelrobot, kharchenkoirina, LIGHTFIELDSTUDIOS, naiaekky, Tom Wang, studybos, ATKWORK888, lumerb, Kalleeck, Santi)

Charakterillustrationen: © moconmokeke

Landkarte: © 2021 by June CL Tan

skn · Herstellung: UK

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30073-9V002

www.cbj-verlag.de

Für C & Z

Wenn der Drache sich in die Lüfte erhebt und der Phönix tanzt, wird das Volk Jahre des Glücks erfahren, die allen unter dem Himmel Ruhe und Frieden bringen.

VORHER

Der Junge umklammerte die Hand seiner Schwester, als sie aus dem Palast flohen. Er hatte Angst, sie loszulassen und damit womöglich für immer zu verlieren. Zu Hause waren sie nicht mehr sicher – nicht, nachdem ihr Vater tot war und der üble Geruch von Verrat in der Luft hing.

Nach Einbruch der Nacht folgten sie ihrer Mutter durch die Straßen von Beishou in Richtung der westlichen Grenze und hofften, an dem letzten Ort Zuflucht zu finden, wo man sie nicht suchen würde.

In der Wüste.

Es war kein Ort für eine königliche Familie, doch Kaiserin Odgerel betete zu ihren Göttern, das Labyrinth der Wanderdünen möge sie verbergen.

Sie folgten den Nomadenpfaden und schliefen jede Nacht an einem anderen Ort.

Aber irgendwann kamen die Soldaten doch.

Und mit ihnen ein Mann in einem Totengewand aus schwarzem Rauch und rotem Zorn. Der Mann, der nicht ruhen wollte, bis die königliche Familie tot war.

Entgegen allen Erwartungen überlebte der Junge.

Eine vorbeiziehende Karawane von Nomaden fand ihn ein paar Tage später, nach einem heftigen Sandsturm. Mutterlos. Schwesterlos. Dehydriert und fiebernd taumelte er am Rande des Todes. Die Nägel ganz abgerissen, die Finger verkrustet mit getrocknetem Blut.

Die Nomaden stellten diesem merkwürdigen Jungen keine Fragen.

Der Junge, der die Wüste mit jeder Faser seines Körpers hasste, war dennoch gezwungen, in ihrem Schutz zu verharren. Der Junge, der innerlich so gebrochen war, dass sie dachten, er würde vielleicht nie wieder lächeln. Seine Augen würden nie wieder das Licht erblicken. Der Junge, der nicht sprechen konnte oder wollte. Und als er es endlich doch noch tat, klang es, als hätte er den Mund voller Kies. Nur ein einziges Wort brachte er heraus. Wieder und wieder.

Ein Name, den er in seinem Schlaf wiederholte. Manchmal murmelnd, oft schreiend.

Sarangerel.

Der Name seiner geliebten Zwillingsschwester. Die Schwester, die er nicht hatte beschützen können.

In der ersten Zeit fürchteten sich die Nomaden vor ihm, aber sie hielten ihn am Leben. Sie versorgten seine Wunden, gaben ihm zu essen und lehrten ihn ihre Sprache und Sitten. Trotz ihrer Güte glaubte der Junge, es wäre sein Schicksal, für immer durch den Sand zu irren, gefangen in seinen Albträumen.

Doch die scharfsinnigen Götter hatten andere Pläne.

Eines Tages kam jemand, um ihn zu holen. Ein Getreuer des toten Kaisers. Er führte den Jungen aus der Wüste, brachte ihn in ein fernes Land in den wärmeren Kolonien des Südens. Langsam begann der Junge, selbst seine inneren Wunden zu flicken, auch wenn die Risse nie perfekt verheilen würden. Ein unbändiges Verlangen wuchs in ihm, tief und bitter wie Galle. Ein Verlangen, das erst gestillt sein würde, wenn Unrecht in Recht verwandelt wäre.

Man sagt, die Götter testen einen Menschen nie ohne Grund. Sie würden ihm nie eine Last auferlegen, die er nicht tragen könnte. Doch das sah der Junge anders. Die Götter waren grausam, und die Menschen waren nichts als Marionetten in einem großen Bühnenstück für die gelangweilten Unsterblichen.

Er schwor, sein Schicksal aus ihren Händen zu reißen.

Und so wartete er auf seinen Moment, wartete auf ein Zeichen.

Eines Morgens, bei Sonnenaufgang, war ein seltsamer Ruf aus den nebelverhangenen Bergen von Wudin zu hören. Einige Dorfbewohner behaupteten, sie hätten den scheuen Fènghuáng um die schroffen Gipfel kreisen sehen. Es war eine Wiedergeburt – seit über einem Jahrhundert war der Phönix nicht gesehen worden.

Etwas erwachte dort in den Bergen, und der Junge war bereit.

DIE EWIGE WÜSTE

DIE EWIGE WÜSTE

1. AHN

1.

AHN

Eine silberne Münze.

Sie entscheidet über Leben und Tod.

Darüber, ob ich eine Großmutter habe oder allein auf der Welt bin.

Mein Herz rast und mein Mund wird wüstentrocken, als der Heiler nur einen flüchtigen Blick auf meinen kleinen Stapel Münzen wirft. Kupfer, nicht Silber. Er muss sie nicht erst zählen. Der Stapel hat nicht die richtige Höhe und Farbe. Zu niedrig ist er, und es fehlt ihm das Wichtigste: wertvolleres Metall.

Seltsam, wie etwas, das aus der Erde gegraben wird, sich als so tödlich erweisen kann. Aus den Bergen gefördert und zu Schwertern geschmiedet. Der Grund, warum einige von uns unsere Mägen nicht füllen können.

Mit einem verächtlichen Schnauben dreht der Heiler sich zu den Holzschubladen um, die eine Wand der Apotheke bekleiden. Er öffnet eine und holt mit einer feinen Pinzette ein paar Zungenkernkeulen heraus. Vorsichtig legt er die wurmartigen braunen Pilze auf ein rundes Metallschälchen, das an einem schmalen Holzstab befestigt ist. Er kneift die Augen zusammen, linst argwöhnisch auf die ins Holz geschnitzten Zahlen und verschiebt das Gewicht am anderen Ende, um die Menge abzuwiegen. Nicht ein einziges Mal sieht er mich an.

Es ist, als würde ich nicht existieren.

»Bitte«, flehe ich trotz des auflodernden Feuers in meiner Brust. »Ich zahle Euch den Rest des Geldes in einer Woche. Es ist doch nur eine Silbermünze. Das Fieber meiner Großmutter klingt seit Tagen nicht ab. Lasst mich das Medikament mitnehmen.«

Er tut, als würde er mich nicht hören. Er stellt seine Waage zur Seite und geht zu einem großen Glasbehälter mit einer dicken rotbraunen Flüssigkeit, in der krüppelige Wurzeln schwimmen.

Meine Nägel bohren halbrunde Abdrücke in meine Handflächen, als ich die Worte herunterschlucke, die in einem Hexenkessel von Flüchen in mir brodeln. Vielleicht würden ein paar Tränen das verdorrte Herz dieses Mannes erweichen.

»Bitte.« Meine Stimme zittert und ich blinzle schnell, während ich ein paar Mal tief durchatme. »Meine Großmutter hat doch Eurem Sohn auf die Welt geholfen, oder? Es war eine schwierige Geburt und sie hat Eurer Frau das Leben gerettet –«

»Und Großmutter Jia wurde für ihre Dienste gebührend entlohnt! Es tut mir leid, dass sie noch krank ist, aber ich muss meine eigene Familie ernähren. Du glaubst, dein Leben ist hart? Dann geh auf die Straße, schreie dein Unglück heraus und sieh, ob es irgendjemanden kümmert. Die Wüste ist kein Ort für Rührseligkeit.«

»Aber –«

»Ich habe dir genügend Wohlwollen entgegengebracht, Ahn. Vergiss nicht, dass du mir noch etwas für die Medizin von letzter Woche schuldest. Warum fragst du den Schankwirt nicht nach einer Lohnvorauszahlung? Der Bastard ist der Einzige, der in dieser elenden Stadt noch etwas Geld verdient.«

»Das habe ich ja, aber es ist nicht genug«, lüge ich, während sich in meinem Magen ein Knoten zusammenzieht.

Vor zwei Wochen habe ich meine Arbeit bei dem einzigen Dienstherrn, der mich anstellen wollte, verloren. Der Schankwirt ist ein Prinzipienreiter, wenn es um Pünktlichkeit geht, und ich bin in diesem Monat einige Male zu spät zur Arbeit gekommen. Immer wieder habe ich meine Mitfahrgelegenheit von unserem Dorf nach Shahmo verpasst, nachdem ich nachts an Amas Krankenbett gesessen habe. Es ist unmöglich, in dieser drückenden Hitze die ganze Strecke zu rennen. Ich habe es versucht, aber manchmal ist versuchen nicht genug.

Der Heiler mustert mich mit einem seltsamen Blick. »Wie alt bist du eigentlich? Sechzehn?«

Ich nicke und zupfe verlegen an den zwei Zöpfen, die bis zu meiner Taille reichen. Mädchen in meinem Alter tragen ihre Haare normalerweise hochgesteckt und mit einer Fāzān fixiert – der zeremoniellen Haarnadel, die zeigt, dass sie im heiratsfähigen Alter sind. Ama wollte mir eine besorgen; sie fand, es sei ein wichtiger Ritus auf dem Weg ins Erwachsenenleben. Ich sehe keinen Sinn darin. Eine Heirat ist das Letzte, was ich im Moment im Sinn habe, und das Geld ist besser angelegt, wenn wir dafür Essen kaufen oder unsere heruntergekommene Hütte reparieren.

Der Heiler wendet den Blick ab und murmelt: »Ich höre, Madam Liu sucht nach neuen Mädchen für ihr Etablissement. An diesem Wochenende ist endlich wieder Basar und da erwartet sie großen Zulauf. Selbst mit dieser Narbe auf deinem Gesicht würde ein Mädchen wie du dort sofort genommen werden.«

Der Knoten in meinem Magen zieht sich weiter zusammen. »Wollt Ihr mir etwa vorschlagen, im Bordell zu arbeiten?«

»Es liegt keine Schande in dem, was diese Frauen tun. Es ist ein ehrlicher Broterwerb«, sagt er schnell und macht eine beschwichtigende Handbewegung, um die Spannungen zwischen uns zu glätten. »Eine Cousine meiner Frau macht dort sauber. Sie könnte sicher ein Treffen mit Madam Liu arrangieren.«

»Ich werde darüber nachdenken«, bringe ich hervor.

Ein Anflug von Mitgefühl geht über das Gesicht des Heilers, bevor er sich wieder seinen Kräutern zuwendet, die schmalen Schultern hochgezogen. Ich nehme meinen armseligen Stoß Münzen und stolpere aus der Apotheke, während die Übelkeit in mir aufsteigt. Ich weiß, dass er recht hat. Die alte silbrige Narbe auf meiner linken Wange ist verblasst, kaum sichtbar in normalem Licht, und ich habe die Jugend auf meiner Seite.

Ein ehrlicher Broterwerb.

Für die Verzweifelten. Und ich bin verzweifelt.

Aber ich weiß nicht, ob ich verzweifelt genug bin. Ich schiebe diese Gedanken zur Seite. Ich kann später darüber nachdenken. Jetzt geht es erst einmal darum, dass ich nicht mit leeren Händen zurück nach Hause kommen kann.

Das furchtbare Geräusch von Amas tiefem rasselnden Husten hallt in meinem Kopf wider. Sie weiß nicht, dass ich meine Anstellung verloren habe. Ich bin weiterhin jeden Tag bei Morgengrauen aufgestanden, zur gewohnten Zeit in die Stadt gefahren, zurückgekommen und habe Geschichten von meinem Tag im Wirtshaus zusammengesponnen, wenn wir beim Abendessen saßen. Ein Essen, das immer spärlicher wird, je weniger Geld wir haben.

Zeit, das zu ändern.

Ich ziehe mir die Krempe meines alten Strohhuts tiefer in die Stirn und drapiere mein Leinentuch über Kinn und Nase. Auch wenn ich den Großteil meiner Zeit in Shahmo in der Küche des Wirtshauses verbracht habe und die meisten Leute mich nicht auf den ersten Blick erkennen würden, will ich lieber vorsichtig sein.

Dabei kommt mir zugute, dass vor einer Woche auf dem Marktplatz ein kaiserliches Dekret angeschlagen wurde: Für die nächsten 49 Tage sollen wir uns als Zeichen des Respekts für unseren verstorbenen Kaiser in weiße Gewänder kleiden. Doch neue Gewänder kosten Geld und weiße Gewänder sind schwer sauber zu halten. Die meisten von uns tragen stattdessen die billigeren, aber ordentlich gewobenen Leinen, mit denen die Wüstennomaden Handel treiben. Sie entsprechen nicht der Tradition und sind kein perfekter Ersatz, aber die kaiserlichen Truppen schenken diesem entlegenen Außenposten des Shi-Imperiums und den umliegenden Dörfern wenig Beachtung.

Als eine Stadt, die einst Teil eines anderen Landes war und – noch entscheidender –nicht dazu beiträgt, die kaiserlichen Staatskassen zu füllen, sind wir der Mühe nicht wert.

Ich tauche unter in der wimmelnden Menge aus Beige, mit gelegentlichen Tupfern aus Cremeweiß, und gehe schnell an den offenen Marktwagen vorbei. Meine flinken Finger schnappen sich ein paar Yóutiáo und zwei Mántou. Bis ich nach Hause komme, werden die Teigstangen eine durchweichte Masse sein und die luftigen gedämpften Brötchen hart wie Stein. Aber ich muss mich damit begnügen. Mit geübter Leichtigkeit, perfektioniert in Jahren des Mangels, verschwindet das Essen unter meinem Gewand.

Der Marktkarren vor mir verkauft Chuàn’r, gegrillte Fleischspießchen, die eine besondere Freude für Ama wären. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die scharfen Spitzen der Spieße womöglich meine geflickten Gewänder zerreißen würden. Während ich noch herumlungere, wende ich instinktiv den Kopf.

Ein kräftig gebauter Mann kommt auf mich zu, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Hat er gesehen, wie ich das Essen gestohlen habe? Mit klopfendem Herzen gehe ich zum nächsten Stand und beäuge die Auswahl von grob gewebten Baumwolltaschentüchern, als würde ich mich dafür interessieren. Langweilig und stümperhaft bestickt sind es erbärmliche Imitationen der Seidentaschentücher, welche die Damen aus den großen östlichen Städten des Reiches bei sich tragen.

Meine Schultern lockern sich, als der Mann ohne Zwischenfall an mir vorbeigeht. Um sicher zu sein, sehe ich ihm eine Weile nach. Er kann nicht von hier sein. Im Gegensatz zu den Männern des Shi-Reiches, die ihre Haare der Tradition nach lang tragen, sind seine Haare kurz geschoren. Seine raue rötliche Haut deutet auf eine südländische Abstammung oder zu viel Zeit in der Sonne hin. Entgegen dem offiziellen Dekret ist er in einen dunkelgrauen Hànfú gekleidet, ohne Stickerei oder Dekoration auf seiner Tunika oder seinen Hosen. Zivile Kleidung einer niederen Klasse. Ein Händler aus der Nandah-Nation im Süden vielleicht.

Oder ein Soldat auf Urlaub, ermahne ich mich. Es ist besser zu verschwinden. Außerdem muss ich Ama das Essen bringen.

»Ich hab gesehen, was du da gemacht hast.«

Ich wirbele herum und blicke in ein vorwitzig grinsendes Gesicht. Li Guo mustert die Beulen um meine Taille.

»Was machst du denn hier? Solltest du nicht bei der Arbeit sein?«, sage ich zu dem drahtigen Jungen vor mir. Sein Lachen lässt einen glauben, dass er ein leichtes Leben hat. Doch wie wir alle hier ist Li Guo ein wenig mager, was darauf hindeutet, wie oft wir mit leerem Bauch zu Bett gehen.

»Ich bin gerade mit meiner Schicht fertig und wollte nach Hause gehen, als ich dich sah.«

»Wie geht es allen?«, frage ich, als wir nebeneinander hergehen. Ich habe fast ein Jahr im Wirtshaus gearbeitet; Li Guo ist seit zwei Jahren dort, nachdem er aus unserem Dorf nach Shahmo gezogen ist. Er ist wahrscheinlich mein einziger Freund, aber die anderen Mitarbeiter im Wirtshaus waren zumindest höflich zu mir.

»Yingma sagt, sie vermisst dich. Ich hab versucht, ein gutes Wort für dich einzulegen, hab dem alten Pang erzählt, dass deine Großmutter krank ist.« Li Guos Lächeln verblasst. »Aber er wollte das alles nicht hören.«

Das wundert mich nicht. Wenn der Schankwirt der einzige erfolgreiche Geschäftsmann in dieser Barackenstadt geworden war, dann durch sein scharfes Augenmerk auf Profit und nicht durch Mitgefühl mit seinen Angestellten.

Li Guo drückt mir etwas in die Hand. Kupfermünzen. Ich schüttele meinen Kopf und reiche sie zurück. Er öffnet den Mund, doch als er meinen Blick sieht, macht er ihn wieder zu. Wir sind schon so lange befreundet, dass er versteht. Ich werde sein Geld nicht annehmen. Nicht, wenn er und sein Vater es doch genauso brauchen wie ich.

Er seufzt und lässt die Münzen in seine Hosentasche gleiten, bevor er einen roten Apfel herausholt und ihn mir anbietet. Den schnappe ich mir sofort. Frisches Obst ist in der Wüste schwer zu bekommen, und Äpfel mag ich am liebsten. Als ich hineinbeiße, läuft mir der Saft über das Kinn und ich schmecke die volle Süße auf meiner Zunge. Der Apfel hätte ihn ein Vermögen kosten müssen, aber ich weiß, dass er ihn wahrscheinlich von einem vorbeiziehenden Händler gestohlen hat.

Die Wahrheit ist, wenn man in einem ausgetrockneten Loch von einem Ort lebt, der nichts zu bieten hat als einen nächtlichen Unterschlupf in dem armseligen kleinen Wirtshaus, lernt man sich durchzuschlagen. Ich würde alles dafür geben, Shahmos ständiger Hitze zu entkommen, der Eintönigkeit, der endlosen beigefarbenen Landschaft, in der kaum ein grünes Fleckchen zu sehen ist. Nur Li Guo weiß von meiner Sehnsucht. Ama kann ich nicht davon erzählen. Nach allem, was sie für mich getan hat, würde ich nie so undankbar sein.

Wir machen uns auf den Weg zum gemeinschaftlichen Brunnen am Rande der Stadt. Die Straßen leeren sich und meine Gedanken werden so trostlos wie die heruntergekommenen Läden um mich herum. Ich erinnere mich, wie es war, als wir in unserem winzigen Dorf zusammen aufwuchsen, abgeschottet in unserer kleinen Seifenblase der Naivität. Wie ausgelassen wir als Kinder lachten und uns so sicher waren, dass wir nichts zu verlieren hätten.

Wir täuschten uns. Wir hatten alles zu verlieren.

Vor zwei Jahren platzte diese Seifenblase. Li Guos Brüder kehrten in Urnen aus dem Krieg zurück, einer nach dem anderen. Das Kaiserreich hatte nicht einmal den Anstand, ihre Leichname zurückzuschicken. Ihre Mutter starb vor Kummer. Sie konnte nicht wissen, ob die Asche in diesen polierten Keramikgefäßen die ihrer eigenen Kinder oder die ihrer gefallenen Kameraden war und fragte sich, wann ihr letzter Sohn für die Ambitionen eines anderen Mannes geopfert werden würde.

Und so blieb Li Guo allein zurück und versuchte verzweifelt, sich selbst und seinen Vater am Leben zu halten.

»Denkst du, der Krieg mit Honguodi ist jetzt wirklich zu Ende?«, frage ich.

Shahmo liegt an der sichersten Route Richtung Westen zwischen der unfruchtbaren Wüste und den toxischen Salzseen. Auch wenn wir Hunderte von Meilen von der Hauptstadt entfernt sind, erfahren wir oft Neuigkeiten von den Reisenden, die hier vorbeikommen. Und in letzter Zeit sprechen alle von dem neuen Friedensvertrag, der zwischen den zwei Nationen ausgehandelt wurde.

»Sieht so aus«, antwortet Li Guo. »Alle Handelsrouten sind wieder geöffnet.«

»Im Moment zumindest.« Dieser Frieden wird nicht halten. Mir kommt es vor, als befänden wir uns immer mit irgendeiner Nation im Krieg. »Was weißt du über den neuen Kronprinzen? Ist er genauso blutrünstig wie sein Vater?«

»Er ist jung, gerade mal sechzehn, habe ich gehört.«

Ich verdrehe die Augen. »Nicht zu fassen, dass irgend so ein verzogener Bengel auf dem Drachenthron über unsere Schicksale entscheiden soll.«

»Wahrscheinlich wird die Kaiserwitwe an seiner Stelle regieren, bis er erwachsen ist. Ich kann nicht behaupten, dass mir das gefällt. Wir brauchen einen Herrscher, eine starke Hand am Ruder, nicht jemand Weiches oder Schwächliches – au!«

Li Guo reibt sich die Stelle an seinem Arm, wo ich ihn geknufft habe.

»Wie kommst du darauf, dass die Kaiserwitwe schwächlich ist? Im Übrigen ist das vielleicht genau das, was das Kaiserreich braucht: eine weibliche Hand. Maßvoll und bedacht. Nicht immer diese blödsinnige Kriegstreiberei«, gebe ich zurück.

»Vielleicht«, räumt er ein. Dann geht ein wehmütiger Ausdruck über sein Gesicht. »Weißt du noch, wie wir davon geträumt haben, in ein Abenteuer zu ziehen? Die Welt außerhalb dieser Stadt zu erkunden?«

Ich zucke die Achseln, als ließe mich das kalt. Aber so sehr ich es auch versuche, ich kann die Bilder nicht ausblenden, die jetzt vor meinem inneren Auge auftauchen. Gemälde, die ich im Wirtshaus und bei den Straßenverkäufern gesehen habe. Gemälde von farbenfrohen Städten; von unglaublich hohen, in Nebel gehüllten Bergen; von schneebedeckten Gipfeln, die den Himmel berühren; von Tälern, in denen sich Flüsse durch regenbogenfarbene Felsschluchten schlängeln. Bilder, die von unzähligen Abenteuern, wundersamen Kreaturen, köstlichem Essen und unentdeckten Ländern erzählen.

Ich erinnere mich an die Gespräche, die ich im Wirtshaus belauscht hatte. Wie ich aufgehorcht hatte, wann immer sie etwas über die Welt außerhalb dieser armseligen Stadt preisgaben, wie mein Herz dem Was-wäre-wenn nachgehangen hatte.

»Jetzt, wo der Krieg zu Ende ist, könnten wir Shahmo doch verlassen«, sagt Li Guo. »Ich weiß, dass du das willst.«

»Nur, wenn der Krieg nicht zurückkehrt. Und wo würden wir überhaupt hingehen? Ich kann doch nichts«, murmele ich. »Kann ja nicht einmal eine Arbeit behalten.«

Er legt einen Arm um meine Schultern und fährt mit der anderen Hand den Horizont entlang. »Wir könnten überall hingehen – Westen, Süden – unser Glück in den Städten des Ostens versuchen oder sogar in der Hauptstadt. Ich habe von meinem Vater ein paar Schreiner-Handgriffe gelernt. Ich könnte mir eine Arbeit suchen und du könntest auch ein Handwerk lernen. Das wird Spaß machen. Ein Abenteuer, wie wir immer gesagt haben.«

Das nagende Gefühl in meiner Brust wechselt von Sorge zu Sehnsucht. Aber ich kann nicht die Frau im Stich lassen, die mein Leben gerettet hat.

Das ist eine Blutschuld, die ich bezahlen muss.

»Ich kann doch Ama nicht allein lassen«, sage ich leise.

»Wir können ja warten, bis es Großmutter Jia besser geht.« Eine unbändige Hoffnung flackert in Li Guos Augen, wie damals, als er ein Kind war. Ich will diese Flamme beschützen, sie nicht erlöschen lassen. Aber ich sage mir, je früher er sich mit der Wahrheit abfindet, desto einfacher wird das Leben für ihn sein.

»Ich will nicht mehr weg. Wenn du das willst, dann solltest du es tun. Warte nicht – denn wenn du wartest, wirst du dein ganzes Leben genau dort verbringen, wo du jetzt bist.« Ich halte Li Guos Blick stand und hoffe, dass er meine Lügen nicht so gut durchschauen kann, wie er das damals konnte. Je früher ich mich mit der Wahrheit abfinde, sage ich mir, desto einfacher wird mein eigenes Leben sein.

»Aber –«

»Nicht jetzt, Guoguo.« Es ist lange her, dass ich ihn so genannt habe, und der Spitzname lässt ein Grinsen über sein Gesicht huschen.

Er drückt leicht meinen Arm. »Ich werde dich schon noch überzeugen.«

Ich kann nicht anders als zurückzulächeln. Seine Hoffnung ist ansteckend, auch wenn sie naiv ist.

Wir bleiben beim Brunnen am Stadtrand stehen, und ich löse den ledernen Wasserbeutel von meinem Gürtel. Mein Herz ist schwer wie ein Stein, als ich den Eimer in den Brunnen hinunterlasse. Es scheint länger zu dauern als sonst, bevor er das Wasser berührt. Wie lange noch, bis das Grundwasser ganz versiegt ist? Wie lange noch, bis Shahmo sich ganz in eine Geisterstadt verwandelt? Und wenn Shahmo zugrunde geht, was geschieht dann mit meinem Dorf? Das abgewetzte Seil schneidet in meine brennenden Handflächen, als ich den Eimer wieder hochziehe. Vielleicht kann man nur überleben, wenn man sich eine dickere Haut zulegt.

Etwas packt mich am Bein.

Ich taumele mit einem Aufschrei zurück und verschütte dabei kostbares Wasser.

Dort auf dem Boden liegt eine Frau und starrt zu mir herauf. Sie ist in Lumpen gehüllt, und ihre kurzen dunklen Haare sind verfilzt. Ihre knorrigen Finger lösen sich zitternd von meinem Fußgelenk. Sie hat nur noch ein Bein und der faulige Geruch von verwesendem Fleisch steigt mir in die Nase. Die Frau muss sich hinter dem Brunnen versteckt haben. Ich will wegschauen, aber mein Blick bleibt an dem Mal auf ihrer Stirn hängen.

Auch wenn ihr Gesicht dreckverschmiert ist, sticht das in ihre Haut gebrannte Shi-Schriftzeichen schmerzhaft scharlachrot hervor.

Verräterin.

Ich stolpere zurück zu Li Guo. »Wir sollten gehen.«

Die Frau stößt einen furchtbaren Laut aus. Ein unverständliches kehliges Gurgeln. Ich weiß, dass sie nicht sprechen kann. Niemand von den Verrätern kann es. Nicht ohne ihre Zungen.

Statt zu gehen, kniet sich Li Guo neben die Frau.

»Was machst du?«, flüstere ich und sehe mich ängstlich um. Es ist niemand zu sehen, nichts als verrammelte Häuser und Läden. Doch die Angst vor den Diyeh-Priestern sitzt so tief in mir, dass mein Herz bei dem bloßen Gedanken an sie zu trommeln beginnt.

Li Guo hat keine Angst.

»Gib ihr dein Essen«, sagt er.

»Nein! Was ist denn in dich gefahren? Wir können ihr nicht helfen. Was, wenn uns jemand sieht?« Ich zucke selbst zusammen, so hartherzig klinge ich.

Es ist besser auf der Hut zu sein, auch wenn man dafür sein Herz verschließen muss, erinnere ich mich. Das ist eine Redensart aus Shahmo.

Li Guo wirft mir einen verachtenden Blick zu. »Sei kein Feigling. Sie hat Hunger und sie wird sterben, wenn wir ihr nicht helfen.«

Aber sie wird doch so oder so sterben, will ich sagen.

»Was, wenn die Priester uns erwischen?« Meine Worte klingen hohl in meinen Ohren, als die Frau noch einmal diesen schrecklichen Laut von sich gibt und mit den Händen auf den Eimer deutet. In ihren leeren Augen leuchtet flehend ein schwaches Licht auf.

»Wenn du nicht helfen willst, dann geh aus dem Weg.«

Li Guo stößt mich zur Seite und lässt den Eimer noch einmal in den Brunnen hinunter. Er zieht ihn hoch, bückt sich und schöpft Wasser in seine Handflächen. Die Frau trinkt gierig, geräuschvoll, verschluckt sich fast vor eifriger Erleichterung. Jetzt sehe ich, dass sie jung ist, kaum älter als ich.

Verräterin.

Dieses rote Schriftzeichen auf ihrer Stirn scheint mich anzuprangern. Ich frage mich, wen das Mädchen versucht hat zu beschützen. Eine Mutter? Einen Bruder? Vielleicht auch eine Freundin. So oder so, ihr Verbrechen war furchtbar einfach: Sie hat einem Tiensai Schutz geboten. Die Tiensai sind mit Magie verflucht und die Priester durchkämmen die Städte und Dörfer nach diesen Menschen, um sie öffentlich auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, während ihre Familienmitglieder gezwungen werden zuzusehen.

Alle, die den Tiensai helfen, erleiden ein anderes Schicksal.

Wie bei diesem Mädchen wird ihnen die Zunge herausgeschnitten, das Haar abrasiert. Sie werden gebrandmarkt. Eine körperliche Strafe, die sich nicht verbergen lässt. Für den Rest ihres Lebens gemieden, weil niemand es wagt, ihnen zu helfen. Weil jeder weiß, was für ein Nachspiel solch eine Hilfe hat.

Sie muss sich verletzt und ihr Bein verloren haben, weil niemand mutig oder gütig genug war, um ihr Hilfe zu leisten. Immer wieder bietet Li Guo ihr eine Handvoll Wasser an. Sie trinkt dankbar.

Du glaubst, dein Leben ist hart? Dann geh auf die Straße, schreie dein Unglück heraus und sieh, ob es irgendjemanden kümmert.

Die Mántou stecken in den Falten meiner Gewänder, noch immer warm und frisch. Meine Hände nesteln an dem Stoff. Ich hole ein Brötchen hervor und drücke es dem Mädchen in die Hand. Ob sie mich anlächelt, kann ich nicht erkennen – ihre Lippen sind zu beschädigt.

Aber ich weiß, dass sie weint.

Li Guo sieht zu mir auf. Seine Augen flackern vor Entrüstung. »Weißt du, warum die Priester ihnen die Zungen abschneiden, statt sie zu töten?«

Darauf habe ich keine Antwort.

»Sie machen das, um jede Hoffnung zu vernichten, um Verzweiflung zu säen. Sie wissen, dass wir anderen diese sogenannten Verräter ignorieren werden, um unsere eigene Haut zu retten.« Er ballt die Fäuste. »Und da haben sie ja auch recht.«

Ich blinzele, um ein Bild loszuwerden, das sich mir ins Gedächtnis eingebrannt hat. Eine Erinnerung, die ich auch nach zehn Jahren noch nicht vergessen kann. Sie macht mir noch heute große Angst und erinnert mich daran, dass ich auf der Hut sein muss. Ich hätte dem Mädchen nicht helfen sollen; ich kann es mir nicht erlauben, in Schwierigkeiten zu geraten.

»Sie hat den Tiensai geholfen«, sage ich. »Sie sollte wissen, dass Magie im Kaiserreich verboten ist und zwar aus gutem Grund. Die Priester sagen, die Magie der Tiensai hat diese Wüste geschaffen und sie verursacht auch die Dürre in der südöstlichen Siedlung, wo der Reis nicht wachsen kann, und –«

»Willst du damit etwa sagen, dass sie das hier verdient hat?«, unterbricht mich Li Guo forsch.

»Nein! Ich sage nur, dass wir ihr nicht mehr helfen sollten. Die Priester –«

Li Guo hebt verärgert die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Wir haben dieses Gespräch schon einmal geführt und ich will es jetzt nicht ein weiteres Mal führen. Geh. Ich werde schon eine andere Möglichkeit finden, ihr zu helfen.«

Ich sehe die pure Hoffnung in den Augen des Mädchens, als sie zu Li Guo aufblickt. Sie denkt, er ist ihr Retter. Ich weiß es besser. Ich wünschte, ich könnte ihm die Wahrheit über mich selbst erzählen. Aber er ist sicherer, wenn er es nicht weiß. Ich wende mich von ihnen ab, zwinge mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Zwinge mich, nicht an diese Nacht zu denken, vor zehn Jahren, als ich verängstigt und allein durch die staubigen Straßen von Shahmo streifte.

Zwinge mich, dieses Bild von mir zu vergessen: ein verlassenes Mädchen mit nichts als den Kleidern an seinem Leib und den Schuhen an seinen Füßen. Ein Jadering in einer Hand und eine Schneeflocke in der anderen.

Eine Schneeflocke, die nicht schmelzen wollte, selbst in der Sommerhitze.

Nach einer Stunde Fußmarsch erreiche ich mein Dorf. Der trostlose Anblick vor mir versetzt mir wie schon so oft einen Stich: von der Sonne ausgetrocknete Häuser aus hartem Lehm und grob behauenem Stein, jedes von einer niedrigen Steinmauer umgeben, um die Grenzen des Grundstücks zu markieren. Östlich der schwindenden Oase ist das Land hier so ausgedörrt, dass meine Füße mit jedem Schritt Staub aufwirbeln.

Ich habe nur wenige Erinnerungen an meine Ankunft hier vor zehn Jahren, aber ich weiß, es war damals nicht das Wüstendorf, das es heute ist. Es war ein florierender Ort voller Leben. Die Landschaft war nicht ohne Grün, und vereinzelt gab es fruchtbare Felder, auf denen Getreide wuchs. Ich liebte es, dem plätschernden Wasser zuzuhören, das durch die uralten Bewässerungsgräben strömte, und am Ende des Tages seine erfrischende Kühle zu spüren, wenn wir uns wuschen.

Doch die Jahre vergingen und die Wüste kroch immer näher und näher. Das Land wurde zu Staub und der Mutterboden war für immer dahin. Die Zahl der Nachbarn, die wir noch haben, kann ich an einer Hand abzählen. Die meisten sind weggezogen, auf der Suche nach fruchtbarerem Land.

Wenn ich könnte, wäre ich auch schon gegangen.

Ich trete durch die Öffnung in der alten Steinmauer des entlegensten und kleinsten Grundstücks. Dann streiche ich mit den Händen meine Haare und meine Gewänder glatt, verziehe meine Lippen zu einem Lächeln und stoße die Brettertür auf.

Jetzt, da wir das meiste von dem, was wir besaßen, verkauft haben, ist das Haus nur noch spärlich möbliert: ein Tisch, zwei alte Betten und ein paar klapprige Stühle. Spärlich, aber es ist das einzige Zuhause, das ich je gekannt habe. Und in diesem Zuhause erwartet mich ein freundliches und vertrautes Gesicht. Ama liegt im Bett, umgeben von einem Haufen zerschlissener Decken.

»Ahn, du bist aber früh zurück«, sagt sie und hebt vorsichtig den Kopf.

Ich lege das, was von meinem gestohlenen Essen übrig ist, auf den Tisch und gehe zu ihr. »Der alte Pang war so nett, mich heute früher nach Hause gehen zu lassen. Er weiß, dass es dir nicht gut geht, Ama.«

Es tut weh, sie anzulügen, aber es würde ihr noch mehr wehtun, die Wahrheit zu erfahren. Ihre welligen weißen Haare fallen ihr ins Gesicht, als sie sich mühsam aufrichtet, und ich schüttele ihr die Kissen auf, damit sie sich zurücklehnen kann. Selbst in der Wüstenwärme kann ich das Fieber spüren, das ihre Haut ausstrahlt.

»Wie fühlst du dich, Ama?«

»Es ging mir schon mal besser«, bemerkt sie trocken. Sie streicht mir ein paar schwarze Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich mache mir mehr Sorgen um dich. Stehst jeden Tag so früh auf und arbeitest so hart.«

»Mir geht es gut. Ich brauch nicht viel Schlaf.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln, um sie zu beruhigen. »Ich mach uns mal Abendessen.«

Ich wasche unseren letzten Reis, köchele einen dünnen Reisschleim über dem Feuer und gebe noch mehr Wasser hinzu, damit es für mehr als eine Mahlzeit reicht. Während wir essen, erzähle ich von meinem Tag – alles Lügen, aber ich bin so gut darin geworden, Geschichten zu erzählen, dass ich sie schon fast selbst glaube.

Wir gehen ins Bett, und nachdem ich eine Stunde oder länger wach gelegen habe, stehe ich wieder auf und gehe auf Zehenspitzen zurück in die Küche. Dort hebe ich so leise wie möglich eine der Holzdielen und greife nach dem kleinen Lederbeutel, der darunter versteckt ist.

»Ahn?«

Ich zucke erschrocken zusammen. »Ich dachte, du schläfst, Ama.«

»Was machst du da?«, fragt sie und kommt schlurfend näher.

Es ist zu spät, das zu verbergen, was ich in der Hand habe. Ich öffne meine Faust, und der Jadering glänzt im Licht der Lampe. Mein Daumen streicht über die silberne Gravur eines Fènghuáng – dem mysteriösen Phönix, der auf den Gipfeln des Wudin-Gebirges im Norden hausen soll. Das Metall ist matt geworden; das lange Gefieder, das sich am Ende in mehrere gelockte Federschweife teilt, ist dunkel angelaufen. Und in der Nähe der Vogelfüße ist eine Aussparung mit einem leichten Perlmuttschimmer zu erkennen. Ein fehlendes Stück muss dort abgebrochen sein. Trotzdem ist der Ring das Schönste, was ich besitze.

Ama setzt sich auf den Fußboden und wickelt die Decke um ihren Körper. »Überlegst du, deinen Ring zu verkaufen?«

Ich nicke.

»Nein«, sagt sie bestimmt. »Der Ring ist ein Erbstück, das Einzige, was du von deinen Eltern hast.«

»Eltern, an die ich mich nicht erinnern kann«, ergänze ich. Eltern, die mich vielleicht verlassen haben. Eltern, die wahrscheinlich tot sind. Alles, was ich habe, ist eine verschwommene Erinnerung an sie: eine Stimme und ein schemenhaftes Gesicht. Mein Vater und meine Mutter.

»Mein liebes Kind.«

Amas milchig graue Augen suchen meinen Blick. Ihr Lächeln ist so gütig und warm, wie ein Leuchtfeuer, das mich durch die trüben Tiefen eines Ozeans führt. Sie drückt mich an sich, und auch wenn sie schwach und mager geworden ist, fühle ich mich sicher. Hier ist eine Liebe, die mich immer beschützt.

»Warum hast du mich eigentlich gerettet? Warum hast du mich nicht den Diyeh-Priestern überlassen?«, frage ich, während ich mich in ihren Arm kuschele. »Warum hattest du keine Angst, als du merktest, dass ich Magie in mir trage?«

»Weil jedes Leben wertvoll ist –«

»Und jedes Kind eine Chance verdient hat«, beende ich den Satz.

Ama streicht mir über das Haar. »Du warst nur ein Kind, kein Dämon oder Monster, was auch immer die Priester behaupteten.«

»Aber manchmal spüre ich sie in mir. Ich will keine Magie, sie macht mir Angst …« Ich breche schaudernd ab. All diese Jahre habe ich versucht, meine Magie zu unterdrücken, aus Angst davor, von den Priestern gefasst zu werden oder Ama in Schwierigkeiten zu bringen, weil sie mir Zuflucht gewährte. Es war einfacher, als ich jünger war. Alles, was ich tun musste, war, nicht daran zu denken. Zu vergessen, dass die Magie existierte. Aber in letzter Zeit fühlt sich irgendetwas anders an, und ich weiß nicht, warum.

Neulich erst, als ich noch im Wirtshaus arbeitete, habe ich aus Versehen den Tee in einer Tasse gefrieren lassen, weil der alte Pang mich wieder angeschrien hat. Ich war so wütend, dass ich mich vergaß. Dem Himmel sei Dank, dass er es nicht bemerkt hat.

»Mit Magie kenne ich mich nicht aus, aber ich kenne die Enkeltochter, die ich aufgezogen habe. Du wirst niemandem etwas zuleide tun.« Ama richtet sich entschlossen auf und sieht mich mit einem Gesichtsausdruck an, aus dem schmerzvolle Erfahrung spricht. »Ich bin alt genug, um mich an eine Zeit zu erinnern, als unsere Welt grün war – grüner noch, als du dich vielleicht erinnern kannst. Damals gab es hier Leben, nicht diese riesige Ödnis, die du jetzt um uns herum siehst. Warum aber sollte die Wüste sich noch immer ausbreiten, wenn diese falschen Priester weiter all jene töten, die sie Tiensai nennen?«

Die Diyeh falsche Priester zu nennen, ist schon für sich genommen eine Provokation. Doch Ama redet unbeirrt weiter. Dabei hat sie ein Funkeln in den Augen, als hätte sie mir all das schon lange sagen wollen.

»Es gab mal eine Zeit, als die Dinge anders standen. Wir sprechen nicht mehr von ihm, weil es verboten ist. Aber der Kaiser vor Gao Long glaubte nicht, dass die Tiensai Monster oder Dämonen wären. Er war ein guter Mann. Mögen die Götter seiner Seele gnädig sein.«

Ich habe von der friedlichen Herrschaft Ren Longs gehört, auch wenn ich mich selbst kaum daran erinnern kann. Er starb, als ich sechs Jahre alt war, bevor Ama mich adoptiert hat.

Sie versucht weiterzusprechen, doch ein Hustenanfall überkommt sie. Es ist eindeutig, dass sie ihre Medizin braucht. Der Vorschlag des Heilers schießt mir durch den Kopf und sofort wird mir wieder übel.

Ich hole einen Becher Wasser. »Ruh dich aus, Ama. Wir können morgen weiterreden.«

Ama geht zu Bett, und nachdem sie eingeschlafen ist, sitze ich im Dunkeln und denke, was für ein dreckiges kleines Ding ich damals war, als ich vor all diesen Jahren durch Shahmo irrte. Wie meine Füße schmerzten, wie fest ich diesen Ring umklammert hielt. Wie alle an mir vorbeigingen und mich nicht beachteten. Bis eine Hebamme auf ihrem Rückweg in ihr Dorf auf mich aufmerksam wurde. Die Schneeflocke in meiner Hand war ein Zeichen, dass ich Magie in mir trug. Jeder andere hätte mich meinem Schicksal überlassen oder mich zu den Diyeh-Priestern geschleppt, um eine Belohnung zu kassieren.

Aber nicht Ama.

Ich erinnere mich an das warme Lächeln der Frau und die freundlichen Fältchen um ihre Augen, als sie sich zu mir herunterbeugte und mich nach meinem Namen fragte.

Ahn, sagte ich.

Was für ein schöner Name, antwortete sie.

Amas Herz ist groß, auch wenn ihre Geldbörse es nicht ist. Ihre Kinder und Enkelkinder waren an einer verheerenden Seuche gestorben, die sich Jahre zuvor in mehreren Ländern verbreitet hatte, und sie zog mich auf wie ihre eigene Enkeltochter. Sie ist die einzige Familie, die ich heute habe. Und diesen Ring zu verkaufen, wird ihr Leben retten.

Aber es bedeutet auch, dass ich die einzige Verbindung verlieren werde, die ich noch mit meinen leiblichen Eltern habe.

Ich spüre das warme Kitzeln von Tränen in meinen Augenwinkeln und blinzele sie grimmig weg. Li Guo weiß vielleicht von meiner Sehnsucht, Shahmo zu verlassen, aber er wird nie verstehen, was ich Ama schuldig bin. Ich kann sie nicht zurücklassen, und ich werde nicht zusehen, wie sie leidet. Ich streiche noch einmal mit dem Daumen über den Ring, bevor ich ihn in den Beutel und unter mein Kopfkissen stecke und die Gefühle zurückdränge, die in meiner Brust aufsteigen.

Die Wüste ist kein Ort für Rührseligkeit. Hier lernt man, keine Tränen zu vergießen.

2. ALTAN

2.

ALTAN

Lauf, Altan!«

Mutters Gesicht verzerrt sich vor Anstrengung; wo der Mann sie geschlagen hat, schwillt ihr Auge zu. Blut tropft von ihrer Nase.

Ich sehe die Panik in ihrem Gesicht. Todesangst. Aber ich kann mich nicht rühren.

Der Mann reißt ihren Kopf an den Haaren zurück, zückt ein Messer und schlitzt langsam ihre Wange auf. Sie kreischt, als rote Rinnsale über ihr Gesicht fließen.

Er sieht mich an. Er will, dass ich zusehe. Seine Lippen verziehen sich zu einem schiefen Grinsen und in seinen Augen lauert etwas Barbarisches.

Sein Gesicht. Etwas stimmt nicht mit seinem Gesicht.

Es schmilzt.

Das Gesicht eines Dämons.

Ich weiß, der Dämon-Mann wird als Nächstes auf mich losgehen. Auf meine Schwester. Ich will wegrennen, aber meine Füße sind wie Blei.

Der Dämon-Mann rammt meiner Mutter so heftig sein Knie in den Magen, dass sie zusammenbricht. Er tritt auf sie ein, als sie zitternd am Boden liegt. Die Soldaten mit ihren Stahlkappenstiefeln machen es ihm nach. Wieder und wieder treten sie auf meine Mutter ein und lachen, als sie versucht davonzukriechen.

Eins, zwei, drei … jeder Tritt ist eine Zahl, die unwillkürlich in meinen Gedanken widerhallt.

Der Dämon-Mann ist kein Soldat. Seine Kleidung ist ein Totengewand aus schwarzem Rauch und rotem Zorn. Er streckt mir eine Hand entgegen, als wollte er mich zu sich locken, wie ein Vater das tun würde. Aber er ist nicht mein Vater. Sein grausames Lächeln wird breiter und seine Finger spreizen sich.

Eine Flamme wächst aus seiner Handfläche. Windet sich wie eine Schlange, die zu einer teuflischen Melodie tanzt. Die Viper zeigt ihre Giftzähne, und eine Zunge aus Feuer und Rauch kriecht heraus.

Wieder will ich wegrennen. Aber die Angst hat sich wie eine Schlingpflanze um meine Beine gewickelt und mich an den Boden gefesselt. Erst als meine Schwester einen unmenschlichen Schrei ausstößt, fange ich mich wieder.

In meinem Inneren beginnt etwas zu vibrieren, an mir zu zerren.

Von allen Seiten kommt Wind auf und fegt die Soldaten zu Boden. Getrieben von einer unsichtbaren Kraft, wirbelt überall Sand auf und nimmt den Männern die Sicht.

Inmitten des Nebels und Gestöbers aus Sand sehe ich das eine offene Auge meiner Mutter. Ich höre ihre Stimme in meinem Kopf.

Lauf, Altan.

Ich packe die Hand meiner Schwester, ziehe sie mit mir, renne ohne zu überlegen in den wirbelnden Strudel aus Zwielicht und Geröll. Ihre Hand droht mir zu entgleiten, doch ich halte sie fest.

Überall ist Sand. Er zerkratzt mein Gesicht. Dringt in meine Augen, meine Nase.

Ich kann nicht atmen.

Ein Zerren.

Meine Schwester zieht mich zurück.

Nein – lauf weiter, versuche ich zu rufen. Doch Sand füllt meinen Mund, und ich bringe kein Wort heraus.

Ein weiterer Finger rutscht aus meiner Hand. Ich darf auf keinen Fall loslassen.

Auf keinen Fall.

Ein Ruck.

Unsere Finger werden auseinandergerissen, und sie ist weg.

Schweißgebadet fahre ich aus dem Schlaf. Ich zittere; in meiner Kehle stockt ein lautloser Schrei.

Für einen Moment vergesse ich, wo ich bin. Wer ich bin.

Doch dann stürzt alles wieder auf mich ein.

Ich bin nicht mehr acht Jahre alt und renne vor den Soldaten davon, fliehe nicht mehr vor dem Mann mit dem schmelzenden Gesicht und den Furcht einflößenden Rabenaugen. Zerre nicht mehr meine Schwester hinter mir her, die wild um sich tritt und schreit, weil sie zurück zu unserer Mutter will. Ich bin nicht mehr blind vor Sand, der uns umgibt. Uns erdrückt.

Und begräbt.

Ich wühle nicht mehr im Sand, rufe den Namen meiner Schwester, immer wieder und wieder. Grabe, bis meine Finger bluten. Bis meine Nägel abreißen.

Und dann trifft es mich wie ein Schlag … ich habe keine Schwester mehr.

Im Gasthaus ist kein Geräusch zu hören, und die Schatten in meinem Zimmer spielen meinem Verstand einen Streich, als ich versuche, mich wieder zu sammeln. Die Nacht draußen ist dunkel und still – eine Stille, die ich nur zu gut kenne. Ich vergrabe meinen Kopf in meinen Händen, höre auf meine abgehackten Atemzüge und zähle sie langsam mit, um zu vergessen, dass ich in einer Stadt festsitze, die langsam von der Wüste verschlungen wird.

Sand.

Winzige, unbedeutende Körnchen, die dafür sorgen, dass ich mich wieder fühle wie ein verängstigter achtjähriger Junge. Belangloser Staub, der mich an das erinnert, was ich vergessen will. Ein Jahrzehnt ist vergangen, seit ich entkommen bin, aber hinter den wandernden Dünen der Wüste lauern noch immer meine Ängste.

Ich versuche, die lauten Schreie meiner Mutter zu dämpfen und jenen Moment zu begraben, als die Finger meiner Schwester aus meiner Hand rutschten. Schon vor langer Zeit habe ich mir geschworen, keine Tränen mehr für sie zu vergießen. Ein Versprechen, das ich kaum noch halten kann, seit ich in das Land zurückgekehrt bin, in dem meine Albträume geboren wurden.

Ich greife nach dem Amulett auf meiner nackten Brust. Suche nach Trost. Suche nach der Willenskraft, das zu tun, was ich tun muss. Selbst in der Wüste fühlt sich die Jade kühl an.

Schließlich stehe ich auf, öffne das Gitterfenster und starre in die Nacht hinaus. Der Mond hängt hoch oben am Himmel; sein ätherisches Licht schafft eine Landschaft aus fremdartigen Silhouetten.

»Sarangerel.«

Ich habe den Namen meiner Schwester lange nicht mehr ausgesprochen. Achtzehn wäre sie jetzt, genauso alt wie ich. Schon als Kinder unterschieden wir uns von allen anderen. Unsere Haut und unsere Haare waren von einem kräftigen Goldbraun, wie es für das Volk unserer Mutter im Norden typisch war, ganz im Gegensatz zu den blassen Gesichtern und schwarzen Haaren der Shi. Und deshalb wurden wir von manchen als weniger royal angesehen, auch wenn unser Vater der Kaiser war.

»Sarangerel«, sage ich noch einmal, und jetzt bricht meine Stimme. »Es tut mir so, so leid.«

Ich vergebe dir, scheint der Wind zu wispern.

Ein Lachen, zu laut und ausgelassen, dringt aus meiner Kehle. Diese Wüste mag ja voller Geister sein, aber das war eine Botschaft aus meinem eigenen schuldbehafteten Unterbewusstsein, das nach Vergebung sucht.

»Du hast wohl deine Wachsamkeit vergessen, was?«

Ich wirbele herum und lasse meine Hand hervorschnellen. Metall blitzt auf, aber es trifft nicht auf Fleisch oder Knochen.

»Ruhig Blut, ich bin es nur.« Eine Gestalt tritt geschmeidig aus der dunklen Ecke, meinen Dolch in der Hand.

»Was zur Hölle machst du denn hier?« Ich atme aus und bewege meine Hand. An meiner Fingerspitze flackert eine kleine Flamme auf, und ich zünde die Lampe an.

Als das Zimmer heller wird, taucht Tang Weis herzförmiges Gesicht auf. Sie wirft ihr Haar nach hinten und rammt die Klinge meines Dolchs in das Holz der Tischplatte, dass die Teetassen klappern. Mit einem feixenden Grinsen stellt sie einen Fuß auf die Sitzfläche des Stuhls und stützt einen Ellbogen auf ihr Knie. Dabei dreht sie lässig ihren eigenen gebogenen Dolch in der Hand.

»Du hast verloren. Schon wieder.«

Ich stöhne auf. Tang Wei wird mir diesen kleinen Sieg noch lange unter die Nase reiben. Seit unserer Kindheit machen wir uns einen Spaß daraus, einander aufzulauern. Zuerst waren es unsere jeweiligen Mentoren, die uns gegeneinander antreten ließen, um unsere kämpferischen Fähigkeiten zu schärfen. Dann wurde daraus eine Art Rivalität. Überwiegend freundschaftlicher Natur. Auch wenn sie schon nah davor war, mir diese Klinge an den Hals zu halten und mir einen blutigen Schnitt zu verpassen.

»Wie lange beobachtest du mich schon?«

»Lange genug.« Ihr Gesichtsausdruck wird ernst. »Wieder ein Albtraum?«

Ich ziehe meine Gewänder und meine Augenklappe über. Sie zuckt beim Anblick meiner Narben nicht zusammen – nicht mehr. Doch dieses dünne Stück Stoff ist ein Teil von mir geworden.

Der Tee in der Kanne ist schon kalt, aber ich schenke mir trotzdem eine Tasse ein und trinke sie in einem Zug. Tang Wei beobachtet mich, doch ich weiche ihrem Blick aus. Ich will nicht, dass sie Shīfù gegenüber irgendwelche Geschichten über meine Schwäche ausplaudert.

Er hat mich gewarnt, mir geraten, mich von der Wüste fernzuhalten. Mich beschworen, diesen Weg nicht einzuschlagen.

Es ist deine Entscheidung. Aber bedenke eines: Jede Entscheidung hat ihre Konsequenzen und du musst die Konsequenzen deiner Handlungen abwägen.

Ich höre Meister Sun Tie Mus Stimme in meinem Kopf, klar wie ein Glockenklang in der Stille der Nacht. Ich will ihm beweisen, dass er sich geirrt hat, ihm zeigen, dass meine Entscheidung richtig war.

»Was machst du hier?«, frage ich Tang Wei noch einmal.

»Ich passe auf dich auf«, sagt sie und zieht vielsagend eine Augenbraue hoch.

»Wer hat dir das befohlen? Mein Shīfù oder deine?«

Der gebogene Dolch verschwindet in ihrem Ärmel. Sie setzt sich auf einen Holzhocker und streicht ihren Rock glatt.

»Genau genommen beide. Meister Sun und Hong Feng scheinen zu glauben, dass deine Entscheidung unklug war. Niemand weiß sicher, ob der Phönix wirklich lebt. Das Gerücht von seinem Schrei kann auch ein abergläubischer Bauer in die Welt gesetzt haben oder irgendein gewiefter Gastwirt, der Besucher in dieses armselige Bergdorf locken will.«

»Hat Shīfù dich hierher geschickt, um mich von meinem Vorhaben abzubringen? Das wird nicht funktionieren, und das weißt du auch.«

Ihr Mundwinkel zuckt. »Wir wissen alle, dass du ein störrischer Wasserbüffel bist. Sie haben mich nur geschickt, um dich zu beschützen.«

Ich schnaube spöttisch. »Du hast keine Magie. Außerdem kann ich auf mich selbst aufpassen.«

»Und doch habe ich es geschafft, dich gute fünf Minuten zu beobachten, bevor dich dieser Albtraum geweckt hat.« Sie grinst. »Wusstest du, dass dieser mürrische Ausdruck auf deinem Gesicht verschwindet, wenn du schläfst? Ohne siehst du sehr viel hübscher aus. Verkneif dir die finstere Miene mal eine Weile, dann verliebt sich vielleicht ein Mädchen in dich, Goldjunge.«

»Ich dachte, wir hätten ausgemacht, dass du mich nicht mehr so nennst.« Sie nennt mich schon seit Ewigkeiten Goldjunge, wegen meiner Haare, aber der Spitzname ähnelt meinem Geburtsnamen zu sehr, um noch sicher zu sein. Nicht bei dem, was ich jetzt plane.

»Macht der Gewohnheit. Also gut, Altan. Nur damit es mal gesagt ist: Ich mag deinen echten Namen lieber.«

»Deine Meinung bedeutet mir nichts.«

»Lügner.«

Ich widerspreche nicht. Tang Wei und ich sind befreundet, seit ich acht Jahre alt war. Ich lernte sie kennen, nachdem Shīfù mich in der Wüste gefunden hatte. Auch wenn sie der Lotus-Sekte Gefolgschaft geschworen hat und meine Dankbarkeit dem Sonnen-Volk gilt, das mich adoptiert hat, sind wir in den Südlichen Kolonien zusammen aufgewachsen.

Shīfù ist ein Kultivator und ein Tiensai, während Tang Weis Mentorin Hong Feng ebenfalls eine Kultivatorin ist und die Anführerin des Geheimbunds der Assassinen. Auch wenn sie selbst nicht zu den Tiensai gehört, ist Hong Feng eine alte Freundin von Shīfù und unserer Sache wohlgesinnt.

Tang Wei hatte immer ihre Sektenschwestern, auf die sie sich verlassen konnte, mit denen sie ihre Sorgen und Freuden teilen konnte. Aber ich war im Sonnen-Quartier überwiegend allein. Sie sieht sich gern als meine engste Freundin. Ich schätze, das ist nicht weit von der Wahrheit entfernt. Aber das würde ich ihr gegenüber nie zugeben.

»Ich nehme an, du willst nicht wissen, was ich von deinem törichten Unternehm –«, beginnt sie.

»Du hast es gerade töricht genannt –«

»Ich finde, du bist mutig.«

Ihre Worte überraschen mich so sehr, dass mir keine schlaue Entgegnung einfällt.

»Töricht«, sagt sie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Aber mutig. Der Legende nach gibt es ja nur zwei Seelenkreaturen in unserer Welt. Eine im Meer und eine am Himmel. Eine Begegnung mit einer von ihnen kann einen Menschen in den Wahnsinn treiben. Wie viele Menschen überleben eine Begegnung mit dem Phönix überhaupt? Auch wenn ich nicht beauftragt worden wäre, dich ins Wudin-Gebirge zu begleiten, würde ich mitkommen.« Sie verdreht die Augen. »Jetzt guck nicht so dämlich. Es ist doch nur, damit ich dabei bin, falls du wahnsinnig wirst, und sagen kann: Ich hab’s ja gewusst.«

Ich schmunzele und schenke ihr eine Tasse von dem abscheulichen kalten Tee ein. »Bist du heute Abend hier angekommen? Shīfù hat erzählt, du wolltest vor zwei Monaten in die Hauptstadt reisen. Hast du Linxi getroffen?«

Bei der Erwähnung ihrer Geliebten wird das Lächeln auf Tang Weis Gesicht immer breiter und ihre Augen strahlen. »Ich bin vor einer Stunde hier angekommen und ja, ich habe Linxi getroffen.«

Linxi ist kein Mitglied der Lotus-Sekte und sie ist keine Tiensai, aber sie ist eine von uns. Magie macht da keinen Unterschied. Sie wird nicht durch eine Blutlinie vererbt und beschränkt sich auch nicht auf eine bestimmte Klasse. Sowohl Adelige als auch Bauern sind ihretwegen zu Fall gebracht worden.

Vor vielen Jahren hatte Linxis Vater – damals ein hochrangiger Beamter in der Shi-Hauptstadt – keine andere Wahl, als seine Tiensai-Frau zu denunzieren und dem Kaiser Gao Long Gefolgschaft zu schwören, um seine Tochter vor den strengen Priestern zu bewahren, auch wenn Linxi keine Anzeichen dafür zeigte, irgendwelche magischen Fähigkeiten zu entwickeln. Danach wurde er vom kaiserlichen Hof in die Kolonien versetzt und hatte Glück, dem Galgen zu entkommen und seine Zunge zu behalten. Linxi teilt mit mir ein persönliches Bedürfnis, das ich nur zu gut verstehen kann.

Das Bedürfnis nach Rache.

»Wie geht es ihr im Palast? Hatte sie Neuigkeiten für uns?«, frage ich.

»Anscheinend ist das Leben im Palast weniger dramatisch, als sie gedacht hat. Die Konkubinen behandeln sie anständig, auch wenn sie nur eine Kammerfrau ist. Doch jetzt, da Gao Long tot ist, werden sie bestimmt Ränke schmieden, um zu überleben. Da noch keine von ihnen ein kaiserliches Kind geboren hat, ist es gut möglich, dass die Kaiserwitwe sie allesamt rausschmeißen wird.«

»Die Konkubinen interessieren mich nicht. Hat Zhenxi Gao Long ermordet?«, frage ich, ohne mich um Höflichkeitsformen zu kümmern. Weder meine Tante noch mein Onkel haben ihren Titel oder Status verdient.

»Linxi ist sich nicht sicher. Die kaiserlichen Ärzte konnten nicht herausfinden, worunter Gao Long litt, und die offizielle Erklärung ist, dass er an einer Infektion gestorben ist. Allerdings« – Tang Wei macht eine dramatische Pause— »hat Zhenxi darauf bestanden, ihn in den Wochen vor seinem Tod zu pflegen. Einige der Bediensteten sagen, dass sie von früh bis spät an seinem Bett gesessen hat und sich persönlich um seine Mahlzeiten gekümmert hat, selbst als es ihm immer schlechter ging.«

»Ich kann nicht behaupten, dass es mir leidtut, wenn sie ihn vergiftet hat.« Der Gedanke, dass Gao Long vielleicht auf dieselbe Weise gestorben ist, wie er Vater ermordet hat, ist eine Genugtuung.

»Wie ich höre, hat der Prinz ein großes Interesse an den Heilkünsten. Er betreibt Studien mit den kaiserlichen Ärzten und soll seine eigenen medizinischen Mixturen herstellen.«

»Willst du damit etwa nahelegen, dass er es war?«, frage ich und spüre ein Ziehen in meinem Magen. Trotz unserer Vergangenheit ist es schwer zu glauben, dass Tai Shun es über sich gebracht haben könnte, seinen eigenen Vater zu vergiften.

»Ich will nahelegen, dass Linxi Tai Shun im Auge behält. Vielleicht findet sie einen Weg, in seine Nähe zu kommen.« Tang Wei ist nicht gerade begeistert von der Aussicht, dass ihre Freundin sich als Spionin in Gefahr begibt. Doch auch sie hat mit den Diyeh-Priestern noch eine Rechnung offen, und der einzige Weg, sie loszuwerden, ist, die falschen Herrscher des Reiches zu Fall zu bringen.

»Was ist mit diesem Mann, den sie den ›Schatten des Kaisers‹ nennen? Was wissen wir über Zhao Yang?«

»Was wir schon vorher wussten: ein hochdekorierter Kriegsheld, der in den letzten Jahren zu Macht gekommen ist, der wichtigste Stratege in Gao Longs Kriegen. Hat anscheinend keine Familie. Nichts, was wir als Druckmittel verwenden könnten.« Sie kneift verschwörerisch die Augen zusammen. »Bis jetzt. Aber keine Sorge, Linxi wird uns schon die Informationen besorgen, die wir brauchen.«

»Gut. Shīfù glaubt, der Waffenstillstand mit Honguodi könnte eine Finte sein.«

»Aber der Waffenstillstand wurde doch erst vor weniger als zwei Wochen beschlossen. Das Volk wird nicht begeistert sein, wenn es neue Auseinandersetzungen gibt. Meinst du nicht, Zhenxi wird den Frieden wahren wollen?«

Die Erinnerung kratzt an mir wie ein scharfes Messer, als das Gesicht meiner Tante vor meinem inneren Auge auftaucht. »Sie hat die Priester auf ihrer Seite. Warum sich um die Liebe des Volkes bemühen, wenn man mit Angst regieren kann?«

»Großartig. Jetzt haben wir eine neue Herrscherin, die womöglich ihren Mann für die Krone getötet hat, was bedeutet, dass sie genauso schlimm ist wie er, wenn nicht noch schlimmer. Und wir müssen uns über den ›Schatten des Kaisers‹ Gedanken machen, falls dieser ihr helfen wird, einen neuen Krieg anzuzetteln.« Tang Wei knetet angestrengt ihren Nasenrücken. »Bei den Göttern. Ich habe gehört, dass der neue Hohepriester noch brutaler ist als der letzte. Deshalb häufen sich die Angriffe auf die Tiensai. Sie sind wild entschlossen, euch alle auszurotten.«

»Gao Long hat die friedliche Regentschaft meines Vaters ins Gegenteil verkehrt. Es überrascht mich nicht, dass Zhenxi seinem Beispiel folgt«, sage ich bitter.

Die Diyeh-Priester sind durch einen feierlichen Eid daran gebunden, dem Drachenthron zu dienen. Jahrzehntelang ermordeten sie die Tiensai, bevor Vater einschritt und die Gräueltaten beendete. Es war ein gütiger Akt, der ihm viele Feinde einbrachte.

Tang Wei seufzt. »Der Palast behauptet, es sei die Schuld der Verfluchten, dass der Regen in diesem Jahr ausgeblieben ist. Aber wir beide kennen die Wahrheit. Die dunkle Magie breitet sich aus, nicht wahr?«

Ich nicke ernst. Auf meinen Reisen habe ich gesehen, was das böse Wirken meines Urgroßvaters hinterlassen hat. Wälder – einige fast komplett entlaubt – mit verkrüppelten, seltsam grellweißen Baumstämmen. Steif und kalt sahen sie aus wie deformierte Statuen auf einem Friedhof, der von toten Blättern übersät war. Wasserbison-Pflüge standen mitten auf den einst fruchtbaren Reisfeldern und rosteten vor sich hin. Verlassenes Farmland, gelbbraun und so trocken, als könnte oder würde nie wieder etwas darauf wachsen.

Alles sah aus wie der Tod.

Das macht es einfach, den Tiensai die Schuld zuzuschieben, denn nur Magie kann für so viel Zerstörung verantwortlich sein. Und die Priester und der Palast haben gute Arbeit geleistet, um die wahre Geschichte des Kaiserreichs auszulöschen. Buchseiten können verbrannt werden, Wörter getilgt. Schriftgelehrte können dazu bewegt werden, neue Geschichten zu schreiben, neue Bücher. Eine neue Vergangenheit, die zur Agenda der neuen Machthaber passt.

Geschichte wird nie von ihren Opfern geschrieben.

Meine Hände ballen sich zu festen Fäusten. Mein Urgroßvater, Yuan Long, war derjenige, der so viel Zerstörung über sein eigenes Land und die von ihm eroberten Länder gebracht hat. So viel Leid für das Volk. Für Familien. Für Kinder. Mein Blut hat das getan. Und so wie Vater muss ich einen Weg finden, die Sünden meiner Vorfahren wiedergutzumachen.

»Hast du den Namen des Hohepriesters?«, frage ich.

»Noch nicht. Er ist schwer zu fassen zu kriegen, trägt seine Macht nicht öffentlich zur Schau wie sein Vorgänger.«

»Wie klug. Ist ja auch sicherer für ihn, im Schatten zu agieren«, bemerke ich, ohne eine Spur von Bewunderung. Dem Vernehmen nach ist der letzte Hohepriester einem Attentat zum Opfer gefallen. Niemand weiß, wer es war. Vielleicht ging es um Macht.

Tang Wei schnuppert an dem kalten Tee und schiebt ihre Tasse mit einem angeekelten Gesichtsausdruck von sich. »Wo wir uns gerade auf den neuesten Stand bringen, gibt es irgendwelche Neuigkeiten über den Lebensräuber?«

Ich schüttele ernst den Kopf. »Shīfù nutzt alle Quellen, die er hat, aber wir sind immer noch weit davon entfernt zu wissen, wer genau diese Person ist.«

Ich spüre, wie der Frust in mir wächst. Der Lebensräuber ist entscheidend für unsere Pläne, die Diyeh zu stürzen und den Drachenthron für den rechtmäßigen Erben zurückzuerobern. Manche denken, er ist nichts als eine Legende, aber selbst Legenden haben ihre Wahrheit. Der letzte bekannte Lebensräuber war mein Urgroßvater, der Mann, dessen Fluch das Land zerstört hat.

Und der neue Lebensräuber ist der Einzige, der die Wüste davon abhalten kann, sich weiter auszubreiten.

»Shīfù glaubt immer noch, dass es ihm gelingen wird, den Lebensräuber auf unsere Seite zu bringen, wenn wir ihn finden.«

Tang Wei legt den Kopf schief. »Aber du siehst das anders?«

Ein Körnchen Zweifel keimt in meinen Gedanken. Der letzte Lebensräuber hat sich in einem Krieg für eine Seite entschieden, und es war die falsche. Zweifellos, es war die Seite der Sieger, aber die Entscheidung führte zu einem Jahrhundert der Schlachten, die ganze Nationen verwüsteten und viel Elend über das Land brachten.

»Ich kenne unsere Geschichte.«

»Was wirst du tun, wenn du oder Meister Sun den Lebensräuber finden?«

»Was Shīfù von mir verlangt. Mit ihm zusammenarbeiten, um das Schwert des Lichts wiederzufinden.«

»Wäre das nicht, als würde man einem Tiger Flügel geben?«, überlegt Tang Wei. »Der Lebensräuber ist doch so schon mächtig. Mit dem Schwert wäre er zu unermesslicher Zerstörung fähig.«

»Ich sehe kaum eine andere Wahl«, antworte ich. Tang Wei schweigt. Ich brauche die Hilfe des Lebensräubers, um das Weiße Jade-Schwert zu finden, ein uraltes Tiensai-Artefakt, das angeblich die dunkelsten Mächte abwehren kann. Einzig dieses Schwert wird die dunkle Magie aus unserem Land vertreiben, und nur in der Hand des Lebensräubers kann es diese Kraft entfalten.

»Ist das der Grund, warum du den Phönix suchst? Ein Wunsch, den eine Seelenkreatur gewährt hat, soll unzerstörbar sein. Willst du den Phönix darum bitten, dir die Identität und den Aufenthalt des Lebensräubers zu offenbaren?«

»Nein, ich werde ihn darum bitten, gegen die Magie des Lebensräubers immun zu sein. Ich werde den Lebensräuber aufspüren, und da muss ich mir einen Vorteil sichern, falls irgendetwas schiefgeht.«

Tang Wei nickt langsam, den Blick starr auf mein Gesicht gerichtet.

Ich frage mich, ob sie mir glaubt oder ob sie weiß, dass ich lüge.

Ich will diese Immunität aus einem anderen Grund. Ich will den Lebensräuber töten.

Der Schlaf kehrt nicht zurück, nachdem Tang Wei gegangen ist. Ich öffne die Fenster und zucke zusammen, als eine der rostigen Angeln ein leises Quietschen von sich gibt. Das schmale Fensterbrett sieht stabil genug aus. Ich halte mich am Dachvorsprung fest, ziehe mich hoch und trete nach draußen. Meine Stiefel finden Halt auf dem Giebeldach des Wirtshauses.

Als Kind bin ich immer auf die Dächer des Kaiserpalastes geklettert. Ohne selbst gesehen zu werden, konnte ich dann die Diener und Palastbeamten bei ihrer Arbeit beobachten. Es war eine steile und gefährliche Kletterpartie für die seltene Chance, allein zu sein.

Aber das war es wert.

Wenn ich so daran zurückdenke, dann bin ich wohl nur durch Entschlossenheit und eine naive Furchtlosigkeit dort hochgekommen. Kinder werden nicht mit der Angst zu fallen geboren. Es ist das Leben, das sie konditioniert, sich zu fürchten.

Jetzt lehne ich mich an das Dach des Wirtshauses, während meine Gedanken sich überschlagen. Dieses beißende Schuldgefühl sucht mich in der Nacht häufig heim. Die vielen Leben, die meine Vorfahren und mein Onkel ruiniert haben, die vielen Familien, die auseinandergerissen wurden, das vertrocknende Land …

Ich seufze und starre in den tiefblauen Himmel.

Sohn des Himmels.