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Ein Mann verliebt sich in einen Zeppelin. Ein Kind wird in einer Konservendose geboren. Der Mitarbeiter eines Callcenters findet sich in der Hölle wieder. Eine Familie wird von geheimnisvollen Geschöpfen aus den Bergen heimgesucht. Und ein schüchterner Einzelgänger lernt von einer Hummel das Fliegen ... In dreizehn visionären Geschichten erzählt Karin Tidbeck von ebenso grauenvollen wie herzergreifenden Schicksalen. Stilsicher und mit Witz und Ironie entführen sie uns in phantastische Gefilde, die von unserer Realität nur durch einen dünnen Schleier getrennt scheinen.
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Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2024
Aus dem Englischen
übersetzt von Hannes Riffel
Impressum
Titel der Originalausgabe: Jagannath
Erstmals erschienen 2012 bei Cheeky Frog Books
in Tallahassee, Florida
© 2012 by Karin Tidbeck
© der Übersetzung 2024 by Hannes Riffel
© dieser Ausgabe 2024 by Carcosa Verlag, Wittenberge
Alle Rechte vorbehalten
Die Übersetzung folgt der 2018 bei Vintage (Penguin Random House) in New York erschienenen Ausgabe // Die Übersetzungen aus dem Schwedischen ins Englische stammen von Karin Tidbeck // Ein Quellenverzeichnis findet sich am Ende des Buches
Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von
Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12553 Berlin
www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu
Lektorat: Tabea Hecht
Redaktion: Michael Siefener
Korrektorat: Robert Schekulin
Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]
E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz
ISBN: 978-3-910914-22-3 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-910914-23-0 (E-Book)
Inhalt
Impressum
Beatrice
Einige Briefe für Ove Lindström
Fräulein Nyberg und ich
Rebecka
Herr Cederberg
Wer ist Arvid Pekon?
Britas Feriendorf
Rentierberg
Multbeermarmelade
Pyret
Augusta Prima
Tanten
Jagannath
Nachwort
Danksagung
Quellenverzeichnis
CARCOSA
Beatrice
Franz Hiller – ein Arzt – verliebte sich in ein Luftschiff. Er besuchte eine Messe in Berlin, um die Wunder der Moderne zu sehen, die dort ausgestellt waren: Automobile, Propellerflugzeuge, mechanische Diener, Differenzmaschinen und andere Dinge, welche die Menschheit in die Zukunft begleiten würden.
Das Luftschiff war inmitten der Luftfahrtausstellung festgemacht. Auf einem kleinen Schild neben der Sperrleine stand ihr Name: Beatrice.
Im Unterschied zu den großen, für den Handel bestimmten Luftschiffen ist Beatrice für höchstens zwei Passagiere gebaut. Eine ausgezeichnete Wahl für alle, die weit weg von öffentlichen Luftschiffmasten leben oder nicht mit Fremden zusammengepfercht werden möchten. Die Fertigung wird bald beginnen. Bestellen Sie noch heute bei Lefleur et Fils!
Bisher hatte sich Franz nicht für Luftschiffe interessiert. Er hatte noch nie eines aus der Nähe gesehen, geschweige denn dass er in einem geflogen wäre. Auch für die Liebe interessierte er sich nicht. Mit dreißig war er noch immer Junggeselle; seine Aussichten waren gut, aber an den potenziellen Ehefrauen, die ihm seine Eltern präsentiert hatten, war er nicht im Mindesten interessiert gewesen. Seine Mutter wurde immer zudringlicher, und früher oder später würde Franz sich entscheiden müssen. Doch dann fand er sich hier wieder, in Berlin, und stand diesem Luftschiff gegenüber: Beatrice. Ihr Name klang wie Glockengeläut.
Franz konnte nicht aufhören, sie zu betrachten. Ihr Rumpf war auf verlockende Weise länglich; matt schimmernde Haut spannte sich über ein sanft gerundetes Skelett. Die kleine Gondel war aus dunklem Holz gefertigt (feinstes Mahagoni!) und mit Messing verziert (jedes einzelne Teil handgemacht!), mit dicken Glasfenstern, die an den Ecken abgerundet waren. Die Plüschsitze in der Gondel waren mit Lilien bestickt und standen vor einer auf Hochglanz polierten Konsole. Beatrice war vollkommen. Sie wippte langsam auf und ab, wie ein schlafender Wal. Dabei war sie hellwach. Franz spürte, wie sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn richtete, spürte Glosen ihres blinden Blicks.
Am nächsten Tag kam er wieder und am übernächsten, nur um Beatrice zu betrachten und ihren Blick auf sich zu spüren. Berühren konnten sie sich nicht; einmal spürte, hinter die Sperrleine zu treten, wurde von den Wachen jedoch brüsk zurechtgewiesen. Franz ahnte, dass sie von derselben Sehnsucht erfüllt war wie er – der Sehnsucht, einander zu berühren.
Er machte den Repräsentanten von Lefleur et Fils ausfindig, Lefleur der Jüngere, wie sich herausstellte: ein dünner Mann mit Ölflecken an den Fingern, der sich in seinem Anzug sichtlich unwohl fühlte. Franz schlug vor, Beatrice hier und jetzt zu kaufen; er würde sofort einen Scheck ausstellen oder, wenn nötig, bar bezahlen. Ausgeschlossen, erwiderte Lefleur der Jüngere. Bei dem Luftschiff handelte es sich um einen Prototyp. Zu keinem Preis? Zu keinem Preis. Wie sollten sie ohne den Prototyp mit der Fertigung beginnen? Natürlich würde er sich freuen, wenn Monsieur Hiller ein Luftschiff bestellte, nur eben nicht dieses.
Franz erklärte ihm nicht, warum er unbedingt den Prototyp haben wollte. Er nahm den Katalog entgegen, der ihm überreicht wurde, und ging nach Hause. Während er ihr Bild im Katalog liebkoste, dachte er an Beatrice. Ihre glatte Haut, die kleine Gondel. Wie gerne hätte er doch die kleine Gondel bestiegen.
Zwei Wochen später schloss die Messe ihre Tore. Beatrice kehrte nach Hause zurück, nach Paris in die Fabrik von Lefleur et Fils. Franz träumte davon, zu der Fabrik zu reisen, nachts dort einzubrechen und sie zu stehlen; oder sich den Inhabern zu erklären, die sie ihm, von seiner Geschichte zutiefst gerührt, überlassen würden. Franz tat nichts dergleichen. Stattdessen verließ er, zur Bestürzung von Vater und Mutter, sein Elternhaus und zog nach Berlin, wo er eine neue Anstellung fand und eine Lagerhalle an der Stahlwerkstraße mietete. Dann gab er eine Bestellung auf.
Zwei Monate später hielt ein Lastwagen vor der Lagerhalle in der Stahlwerkstraße. Vier stämmige Männer, die kein Wort Deutsch sprachen, luden vier riesige Kisten ab und machten sich daran, die verschiedenen Teile eines Luftschiffes auszupacken. Als sie wieder gingen, war in der Lagerhalle das Ebenbild von Beatrice vertäut.
Während er allein in seiner Lagerhalle stand und sein Luftschiff betrachtete, dämmerte es Franz allmählich. Diese neue Beatrice war völlig teilnahmslos. Sie schwebte ohne irgendeine Spur von Wärme in der Luft. Franz schritt sie von vorne nach hinten ab. Er strich ihr mit der Hand über die Haut. Sie war kühl. Er fuhr mit den Fingern das glatte, glänzende Mahagoni der Gondel entlang, atmete den Duft von frischem Holz und Firnis. Dann öffnete er die kleine Tür und nahm vorsichtig in ihrem Inneren Platz, wo sich ein Hauch von Moschus mit dem Geruch von Kupfer und neuem Gummi vermischte. Er stellte sich vor, das wäre Beatrice. Er beschwor das Gefühl herauf, von warmen Kissen umfangen zu werden, stellte sich vor, wie sie langsam auf und ab wippte. Aber diese Beatrice, Beatrice II, hatte eine Polsterung, die fest und unnachgiebig war.
»Wir kommen schon miteinander aus«, erklärte Franz der Konsole. »Ganz bestimmt. Du kannst meine Beatrice sein. Wir werden uns aneinander gewöhnen.«
Anna Goldberg – eine Druckereigehilfin – verliebte sich in eine Dampfmaschine. Sie war die jüngste und hässlichste Tochter einer wohlhabenden Hamburger Familie; ihrem Vater gehörte eine der größten Druckereien des Landes. Da Anna eine gewisse geistige Begabung aufwies, durfte sie auf die Schule gehen, und dann arbeitete sie als Sekretärin für ihren Vater. So verdiente sie sich wenigstens ihren Lebensunterhalt. Anna mochte ihre Arbeit, nicht etwa, weil sie die Buchdruckerkunst liebte oder die Kunst, eine Sekretärin zu sein. Die Druckpressen waren entscheidend. Während andere junge Frauen ihres Alters jungen Kerlen nachliefen, schwärmte sie für eine König & Bauer. Allerdings wäre es unschicklich gewesen, sich vor den Augen ihres Vaters auf ein Liebesabenteuer einzulassen. Sie sparte jeden Pfennig ihres Gehalts, damit sie es sich leisten konnte, sich zu verlieben, wenn die Zeit gekommen war. Mit achtundzwanzig wartete sie noch immer auf die richtige Gelegenheit.
Eines Tag jedoch war es so weit: Auf der Messe in Berlin lernte sie Hercules kennen, eine halbbewegliche Dampfmaschine. Ein rundbauchiger Ofen war an einen aufrechten, breitschultrigen Motor angeschlossen. Er verströmte den schweren Duft heißen Eisens mit einem herben Hauch von verbrannter Kohle, bei dem ihre Schenkel kribbelten. Und er stand zum Verkauf. Obwohl Anna eine Woche lang jeden Tag auf die Messe kam, um ihn richtig kennenzulernen, hatte sie sich eigentlich schon am ersten Tag entschieden. Sie konnte sich ihn gerade so leisten. Anna erklärte ihren Eltern, sie würde eine Freundin und ihren Gatten in Berlin besuchen – vielleicht fand sie dort selbst einen Verehrer. Ihre Eltern widersetzten sich ihr nicht, und Anna verriet ihnen nicht, dass sie auf unbestimmte Zeit fortging. Sie mietete eine Lagerhalle an der Stahlwerkstraße und zog mit ihren Besitztümern dorthin.
Als sie zusammen mit Hercules in der Stahlwerkstraße eintraf, wurde sie von einem verwirrten Herrn und einem Miniaturluftschiff begrüßt, die sich dort bereits niedergelassen hatten. Der Herr stellte sich als Dr. Hiller vor, wich ihrem Blick aus und zeigte ihr ein Dokument. Offenbar hatten sie beide gleichlautende Mietverträge für die Lagerhalle unterschrieben. Anna und Franz statteten dem Büro des Vermieters einen Besuch ab, wo sich eine kleine seborrhoische Frau für das Missverständnis entschuldigte. Leider war es zu spät, um ihnen aus der Patsche zu helfen, denn alle Lagerhallen waren inzwischen belegt. Sie sei jedoch überzeugt, dass Dr. Hiller und Fräulein Goldberg sich in irgendeiner Form einigen würden. Solange sie jeden Monat die Miete bezahlten, sei alles Weitere ihnen überlassen. Ein kleiner Nachlass sollte sie für ihre Kümmernisse entschädigen. Damit dankte sie ihnen für ihren Besuch und geleitete sie hinaus.
»Ich kann nicht erlauben, dass in der Lagerhalle irgendetwas brennt«, sagte Franz, nachdem sie auf die Straße getreten waren. »Das Luftschiff ist äußerst leicht entflammbar.«
»Was macht Dr. Hiller denn damit?«, fragte Anna.
»Ich glaube nicht, dass das Fräulein Goldberg etwas angeht«, sagte Franz. »Was möchte Fräulein Goldberg denn mit ihrer Dampfmaschine betreiben?«
Anna starrte ihn an, und die Schamesröte breitete sich von ihrem Hals über ihre Wangen aus. »Sein Name ist Hercules«, sagte sie leise.
Franz hielt inne und musterte sie. »Ah«, sagte er nach einer Weile, und sein Blick wurde weich. »Verzeihen Sie. Offenbar teilen wir dasselbe Schicksal.«
Nachdem sie in die Stahlwerkstraße zurückgekehrt waren, ging Franz zusammen mit Anna zu seinem Luftschiff, das am hinteren Ende der Halle festgemacht war. »Das ist Beatrice«, sagte er und legte besitzergreifend eine Hand auf Beatrices Gondel.
Anna begrüßte Beatrice mit einem Kopfnicken. »Gratulation«, sagte sie an Franz gewandt. »Sie ist wunderschön.«
Sie vereinbarten, sich die Lagerhalle zu teilen, mit einer Trennwand in der Mitte. Anna besorgte sich einen einfachen Holzofen. Nachdem sie ihm zu bedenken gegeben hatte, dass auch er würde für sich kochen müssen, erlaubte Franz ihr, den Ofen in einer Nische in der rückwärtigen Wand anzubringen, so weit weg von Beatrice wie möglich. Diese Nische wurde zu ihrer gemeinsamen Küche und zu ihrem Wohnzimmer. Mit der Zeit wurde es dort sogar gemütlich.
Anna war fortwährend damit beschäftigt, Kohle in Hercules’ weit aufklaffendes Maul zu schaufeln und Wasser für den Dampf nachzugießen. Nachts stand sie jede zweite Stunde auf, um ihn zu füttern. Franz, der jeden Morgen in die Klinik ging, nahm an, dass sie tagsüber genau dasselbe tat, denn sie schaufelte oft Kohle, ganz gleich wann er nach Hause kam. Darüber hinaus schien sie meistens technische Handbücher zu lesen oder Fachzeitschriften. Sie hatte einen ganzen Bücherschrank davon mitgebracht.
Beatrice blieb kalt und abweisend, ganz gleich wie sehr Frank sich auch um sie bemühte. Er kümmerte sich aufopferungsvoll um sie. Täglich las er ihr aus der Zeitung vor; beim Liebesspiel war er ebenso zärtlich wie behutsam. Nichts schien vor ihren Augen Gnade zu finden. Hätte er doch versuchen sollen, die erste Beatrice zu gewinnen? Hätte er hartnäckiger sein sollen? Warum war er das nicht gewesen? Und die Frage, die ihn am meisten quälte – hatte Beatrice ihn ebenso leidenschaftlich geliebt? Eines Abends erzählte er Anna während des gemeinsamen Essens die ganze Geschichte.
»Ich werde es nie wissen«, sagte er. »Hat sie mich wirklich geliebt? Hätte ich sie überhaupt geliebt, wären wir länger zusammen gewesen? Vielleicht war es nur ein Traum. Wahrscheinlich ist sie gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe.«
Anna schüttelte den Kopf und strich die Seiten der Zeitschrift glatt, die sie las. »Als ich mich in die König & Bauer verliebte, habe ich etwas gelernt. Schwärmerei ist wertlos. Sie hat nichts mit der wirklichen Welt zu tun.« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf die Dampfmaschine, die in einer Ecke neben ihrem Bett aufragte. »Hercules und ich, wir wissen, was wir am anderen haben. Wir sorgen füreinander. So sollte Liebe sein, meine ich.«
»Diese Beatrice … vielleicht verliebt sie sich ja noch in mich. Was meinen Sie?«, sagte Franz.
»Vielleicht«, erwiderte Anna. »Und sie ist hier bei Ihnen. Das ist mehr, als Sie von der anderen sagen können.«
Im Vergleich schien Annas Beziehung zu Hercules die glücklichere zu sein, vor allem, als ihr Bauch sich zu runden begann. Die Schwangerschaft verlief ohne Komplikationen, auch wenn Anna manchmal über ein merkwürdiges Gefühl im Unterleib klagte. Als Franz ihr das Ohr auf den Bauch legte, hörte er ein leises Klicken und Surren.
»Was werden Sie tun, wenn es so weit ist?«, fragte er.
»Ich kann nicht ins Krankenhaus«, sagte Anna. »Sie würden mir das Kind wegnehmen. Sie müssen mir helfen.«
Franz konnte ihr das nicht ausschlagen. Er stahl, was er brauchen mochte, in der Klinik, eins nach dem anderen: Faden, Zangen, Morphium, Jodlösung. Er hatte erst zweimal ein Kind zur Welt gebracht, und nie allein, aber das sagte er Anna nicht.
Anna fütterte Hercules ohne Unterlass, sogar als die Wehen einsetzten. Sie wollte das nicht Franz überlassen. Erst kurz vor der Geburt hörte sie damit auf. Die Geburt selbst ging schnell vonstatten. Das Kind war klein, aber gesund, die Kolben gut in das Fleisch eingebettet. Doch nachdem die Nachgeburt herausgekommen war, hörte die Blutung nicht auf. Anna verblutete in der Lagerhalle, das Kind auf dem Bauch.
»Legen Sie mich in Hercules hinein«, waren ihre letzten leisen Worte. »Ich möchte in ihm sein.«
Franz erfüllte ihr diese Bitte. Erst wusch er behutsam das Kind, wickelte es in sauberes Leinen und legte es in einen Korb neben Annas Bett. Dann wandte er sich Anna zu, die auf ihrem Bett lag. Mit einem feuchten Tuch wischte er ihr das Blut vom Leib und schlug ein sauberes Laken um sie. Mit einiger Anstrengung hob er sie vom Bett und trug sie zu dem wartenden Hercules. Sie passte genau in den Ofen.
»Das ist das letzte Mal«, sagte er zu Hercules. »Ich füttere dich bestimmt nicht.«
Die Dampfmaschine schien Franz aus ihrer Ecke wütend anzustarren. Die Ofenklappe glühte, so heiß brannte Annas Leib. Franz wandte ihm den Rücken zu, nahm das Kind und wiegte es auf den Armen. Es öffnete den Mund und stieß einen Pfeifton aus. Franz schritt auf seine Seite der Lagerhalle hinüber und blieb mit dem Kind vor dem Luftschiff stehen.
»Wir sind jetzt Pflegeeltern, Beatrice«, sagte er.
Zum ersten Mal nahm er an ihr eine Reaktion wahr. Es fühlte sich wie Zustimmung an, aber sie galt nicht ihm.
Das Kind war ein Mädchen. Franz gab ihr den Namen Josephine. Zunächst versuchte er, sie mit Kuhmilch zu füttern, aber Josephine spuckte sie fauchend aus. Sie verlor immer mehr an Gewicht, und ihre Kolben quietschten und kratzten, bis Franz aus lauter Verzweiflung etwas Kohle in Wasser auflöste, den Zipfel eines Lumpens hineintauchte und ihn ihr in den Mund steckte. Josephine saugte so lange daran, bis der Lumpen trocken war, und da begriff Franz, welcher Pflege seine Ziehtochter bedurfte. Er holte die Werkzeugkiste, die Anna für Hercules bereitgehalten hatte, und fettete Josephines Kolben behutsam mit gutem Öl ein. Er fütterte sie regelmäßig mit Kohlewasser, wobei er den Kohleanteil nach und nach vergrößerte, bis er eine zähe Paste hatte. Als ihre Zähne soweit waren, gab er ihr kleine Kohlestücke, an denen sie nagte. Das Mädchen benötigte keine Windeln, denn sie schied nichts aus; was auch immer sie aß, wandelte sie in Körperwärme um. Wenn er sie zu viel fütterte, wurde ihre Haut unerträglich heiß, und er verbrannte sich die Hände an ihren Kolben. Von diesen Eigentümlichkeiten einmal abgesehen, verhielt sie sich wie ein normales Kind.
Franz schrieb einen Kündigungsbrief an die Klinik. Hercules verkaufte er an eine Fabrik und Annas Möbel an ein Auktionshaus. Das Geld würde, wenn er achtsam damit umging, lange Zeit für Miete und Lebensmittel reichen. Endlich würde er in der Lage sein, sich angemessen um sein Luftschiff und seine Ziehtochter zu kümmern. Sooft er von zu Hause weggehen musste, legte er das Kind immer in Beatrice’ Gondel. Wenn er zurückkam, war das Kind jedes Mal bester Laune – offenbar fühlte es sich auf dem harten Polster äußerst wohl. Es brabbelte vor sich hin und spielte mit Wählscheiben und Röhren, die sich irgendwie von der Konsole gelöst hatten. Als Josephine schließlich so alt war, dass sie nicht mehr fortwährend gefüttert werden musste, suchte er sich Arbeit in einer anderen Klinik. Seine Ziehtochter gab sich damit zufrieden, ihre Tage in der Gondel zu verbringen. Sobald das Mädchen in ihre Nähe kam, strahlte Beatrice Zuneigung aus.
Die Katastrophe passierte, als Josephine vier Jahre alt war. Das kleine Mädchen hatte keine Stimmbänder, stattdessen reihten sich in ihrem Kehlkopf dicht an dicht winzige Röhren. Bis zu ihrem vierten Geburtstag pfiff und zwitscherte sie, und dann wurden aus diesen Geräuschen plötzlich verständliche Worte. Es war früher Morgen. Sie hatten gerade gefrühstückt. Josephine saß auf dem Tisch, Franz schmierte die Kolben in ihren Armen.
Josephine öffnete den Mund und sagte mit hoher, flötender Stimme: »Vater, sie heißt nicht Beatrice.«
»Tatsächlich«, sagte Franz und träufelte Öl auf die Gelenke ihrer Finger.
»Das sagt sie jedes Mal, wenn du sie mit Beatrice anredest. ›Das ist nicht mein Name‹, sagt sie dann.«
Franz blinzelte. »Verstehst du alles, was sie sagt?«
»Sie heißt nicht Beatrice«, wiederholte Josephine. »Sondern anders. Und es gibt da ein paar Dinge, die sie dir sagen möchte.«
Josephine setzte sich in den Eingang der Gondel und ließ die Beine baumeln. Dabei trällerte sie die Gedanken des Luftschiffs, offenbar ohne ihre Bedeutung zu verstehen. Franz wurde über Folgendes in Kenntnis gesetzt: Das Luftschiff hieß nicht Beatrice, sein Name lautete völlig anders. Franz hatte sie zu einem Sklavenleben gezwungen, und er hatte sie vergewaltigt, während er so getan hatte, als wäre sie jemand anderes. Sie hasste ihn.
»Das kann nicht stimmen«, sagte Franz. »Wir haben gemeinsam an dieser Ehe gearbeitet. Sie war es, die sich keine Mühe gegeben hat.«
»Sie sagt: ›Ich hatte keine Wahl‹«, sagte Josephine. »Sie sagt: ›Du hältst mich gefangen.‹«
Franz spürte, wie ihm der Atem stockte. »Ganz bestimmt nicht«, sagte er. »Ich habe so hart gearbeitet.« Er schob die Hände in die Hosentaschen, um ihr Zittern zu verbergen. »Ich habe so hart gearbeitet«, wiederholte er.
»Sie möchte fliegen«, sagte Josephine.
Franz öffnete die großen Tore der Lagerhalle und bugsierte Beatrice langsam hinaus. Er wusste, was nun geschehen würde. Josephine würde, während er noch die Halteseile auseinanderklamüserte, in die Gondel steigen. Dann würde sich Beatrice II von ihrer Verankerung losreißen und rasch himmelwärts steigen, immer weiter gen Osten. Innerhalb weniger Minuten wäre sie verschwunden, und er würde hier unten alleine zurückbleiben.
Er klamüserte die Halteseile auseinander. Unterdessen stieg Josephine in die Gondel. Beatrice II zerrte unvermittelt an ihrer Verankerung, riss sich los und stieg lautlos empor. Franz stand vor der Lagerhalle und betrachtete schweigend den Himmel, bis es Nacht wurde.
Einige Briefe für Ove Lindström
Hallo Papa,
es ist Samstag, und seit sie dich gefunden haben, sind sechsunddreißig Tage vergangen. Du lagst drei Tage lang in deiner Wohnung, bevor deine Nachbarn die Polizei gerufen haben, weil die Katze zeterte. Das war an einem Freitag. Im Krankenhaus sagten sie, es sähe nach einem schweren Herzinfarkt aus, wahrscheinlich sei es schnell gegangen. Sie fragten, ob wir uns nahestanden. Ich verneinte: Ich wurde mit deiner Trinkerei nicht fertig und habe vor vielen Jahren den Kontakt zu dir abgebrochen.
In jener Nacht habe ich zum ersten Mal seit vielen Jahren von Mama geträumt. Sie stand am Waldrand, den Rücken mir zugewandt. Das dunkle Haar fiel ihr in wirren Zotteln über den Rücken. Der Saum ihres roten Kleides schleifte über den Boden. Ich saß im Sandkasten. Ich konnte mich nicht bewegen. Sie verschwand zwischen den Bäumen, und ein leises Klingeln ertönte, wie von winzigen Glöckchen.
Als ich deine Wohnung betrat, war ich darauf vorbereitet, dass es in etwa so sein würde wie beim letzten Mal: die Böden mit einer dicken Schicht aus Zeitungen und Milchkartons bedeckt, Kleiderstapel und dreckiges Geschirr auf Tischen und Stühlen, und alles mit einer öligen Schmutzschicht überzogen. Fruchtfliegen in der Küche. Der Gestank von Fäulnis und ungewaschenem Menschen.
Aber ich öffnete die Tür, und die Zimmer waren leer und rochen nach Kernseife. Böden und Möbel waren frisch geschrubbt, die Küche tadellos. Flaschen oder Bierdosen konnte ich keine entdecken. Hast du mit dem Trinken aufgehört? Wann? Es roch auch nicht nach Zigaretten. Ich frage mich, wann du damit aufgehört und beschlossen hast, deine Wohnung in Ordnung zu bringen. Neben der Tür standen einige Koffer.
Ich kümmerte mich um die Katze. Ich weiß nicht, was für einen Namen du ihr gegeben hast, aber ich taufte sie Fieps – sie ist so dünn wie ein Pfeifenreiniger und maunzt wie eine Quietscheente. Sie hat Hunger und ist stinksauer, aber sonst geht es ihr gut.
Ich habe Björn und Maggie angerufen. Björn sagte, er hätte am Montag mit dir gesprochen. Du hättest gesagt, du wolltest endlich die Kurve kriegen; zu dem alten Schulhaus in Munsö rausfahren und von vorne anfangen. Genau wir früher sollte es sein.
»Vielleicht hatte er eine Vorahnung, dass irgendwas passieren würde«, sagte Björn. »Andererseits … ich weiß es nicht. So was machte er jedes Jahr ungefähr einmal. Er putzte die Wohnung und fuhr nach Munsö, um von vorne anzufangen, und ein paar Wochen später kam er wieder zurück, und alles war wie immer.«
»Davon hat er mir nie erzählt«, sagte ich.
»Vielleicht hatte er Schiss. So wie ich. Ich hab dir nichts gesagt, weil ich wusste, dass er eh wieder rückfällig werden würde. Das wollte ich dir ersparen.«
Ich bin froh, dass Björn mir nichts gesagt hat.
Die folgenden Leute kamen zur Beerdigung: Björn und Maggie, Per-Arne, Eva und Ingeborg, Peter und Lena, Magnus, Alice. Außer Björn und Maggie hatte ich seit meinem achtzehnten Geburtstag keinen von ihnen wiedergesehen. Sie haben sich verändert. Sie sind nicht nur älter geworden. Sie kamen in teuren Autos, mit runden Bäuchen unter schicken Hemden und Kleidern. Das sind keine darbenden Aktivisten mehr. Björn und Maggie trugen Jeans. Da tanzte ich wenigstens nicht völlig aus der Reihe. Maggie hat die ganze Zeit meine Hand gehalten.
Die meisten blieben danach zum Kaffee. Ich musste Fragen beantworten, was ich denn derzeit so treiben würde. Sie entschuldigten sich, dass sie sich nicht gemeldet hätten. Aber du hättest sie vor den Kopf gestoßen. Damit wären sie nicht klargekommen.
Dann unterhielten sie sich über die alten Zeiten – die obligatorischen Geschichten, wie alles angefangen hatte. Wie ein griesgrämiger Bauer (du) überredet worden war, das alte Schulhaus an einen Haufen langhaariger Kommunisten aus der Großstadt zu vermieten. Wie sich der griesgrämige Bauer ihnen schließlich anschloss und sich einen Bart wachsen ließ. Die ganzen Partys, die Erntedankfeste und die Zeitschrift, die sie auf einer handbetriebenen Druckmaschine im Keller vervielfältigten; der erste Kommunensprössling (ich), winzig und fett und frühreif – mit zwei Jahren konnte ich schon »Amis raus aus Vietnam, Laos und Kambodscha!« skandieren. Mama haben wir nicht erwähnt. Dann war es vorbei, und alle fuhren nach Hause. Ich glaube nicht, dass ich irgendwen wiedersehen werde, außer Björn und Maggie.
Du wirst neben Sten und Alva begraben, deinen Eltern, über die ich nichts weiß. Du hast mir nie etwas von ihnen erzählt, nur dass sie oft krank waren und früh starben. Scheint für diese Familie typisch zu sein.
Viveka
Hallo Papa,
letzte Woche habe ich den Papierkram erledigt. Ich dachte mir, wenn ich schon keinen Job habe, kann ich genauso gut eine Reise unternehmen. Ich sitze in der Hausmeisterkate in Munsö am Küchentisch. Damit gehöre ich der vierten Generation an, die das Schulhaus besitzt.
Fieps habe ich mitgenommen. Offenbar kennt sie sich hier aus. Sie fängt Mäuse und verspeist sie geräuschvoll unter dem Tisch. Dabei ist sie sehr reinlich – nur die Herzen bleiben zurück. Ich finde sie hier und dort, wie rote Rosinen liegen sie auf dem Boden herum.