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Kann man einen Wettlauf gegen die Zeit wirklich gewinnen? Der Kriminalroman »Jagdgrund« von Katrin Jäger jetzt als eBook bei dotbooks. Lauert hinter jedem Glück ein tiefer Abgrund? Viktoria Latell, ehemalige Starreporterin des »Berliner Express«, ist in die westfälische Provinz gezogen, aber nicht bereit, hier nur die Freundin des Landarztes Kai zu sein. Mit der ihr eigenen Energie macht sie sich daran, ihre neue Nachrichtenagentur aufzubauen. Als eine junge Studentin spurlos verschwindet, ist Viktoria wieder in ihrem Element und beginnt zu ermitteln. Aber könnte der Fall mehr mit ihr zu tun haben, als sie für möglich hält? Und noch dazu gerät Kai in tödliche Gefahr … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Krimi aus dem Münsterland, »Jagdgrund« von Katrin Jäger, ist der dritte Band der Viktoria-Latell-Serie. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 274
Veröffentlichungsjahr: 2020
Über dieses Buch:
Lauert hinter jedem Glück ein tiefer Abgrund? Viktoria Latell, ehemalige Starreporterin des »Berliner Express«, ist in die westfälische Provinz gezogen, aber nicht bereit, hier nur die Freundin des Landarztes Kai zu sein. Mit der ihr eigenen Energie macht sie sich daran, ihre neue Nachrichtenagentur aufzubauen. Als eine junge Studentin spurlos verschwindet, ist Viktoria wieder in ihrem Element und beginnt zu ermitteln. Aber könnte der Fall mehr mit ihr zu tun haben, als sie für möglich hält? Und noch dazu gerät Kai in tödliche Gefahr …
Über die Autorin:
Katrin Jäger, geboren 1970 in Münster, studierte Publizistik, volontierte an der Berliner Journalisten-Schule und arbeitete danach als Reporterin, Redakteurin und stellvertretende Ressortleiterin bei Berlins größter Zeitung. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Münster.
Mehr Informationen über Katrin Jäger finden sich auf ihrer Website: www.katrinjaeger.net
Bei dotbooks veröffentlichte Katrin Jäger ihre drei Kriminalromane rund um die Journalistin Viktoria Latell – »Schützenfest«, »Fuchsbeute« und »Jagdgrund« – sowie den bewegenden Jugendroman »Inselmelodie«
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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
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eBook-Neuausgabe August 2020
Copyright © der Originalausgabe 2014 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung verschiedener Bildmotive von shutterstock/M.Svetlana und Adobe Stock/Winfried Rusch, RuZi, Martins Vanags.
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96148-873-5
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Katrin Jäger
Jagdgrund
Kriminalroman
dotbooks.
»Um zu leben, nicht um zu sterben,hat Manitu uns geschaffen.«
Winnetou in Winnetou II
Das Bettlaken war weiß. Und es roch sauber. Sauber und hygienisch rein. Sie muss das Bett frisch bezogen haben, bevor sie in ihren letzten, nie endenden Schlaf fiel.
Die Bettdecke lag aufgeschlagen über ihr, sodass ihr mintgrünes Pyjamaoberteil zu sehen war. Ihre dunklen Haare lagen um ihr Gesicht verteilt wie ein Kranz. Ihr Haaransatz war grau, es wäre wieder Zeit gewesen für eine Tönung.
Dafür hatte ihr Gesicht Farbe. Aber keine schöne. Es war bläulich angelaufen. Die Gesichtshaut war mit kleinen Punkten übersät, die so aussahen wie Flohstiche. Bei genauerem Hinsehen sah man die kleinen Blutungen auch in den Bindehäuten der Augen.
Er beugte sich über sie. Ein letztes Mal noch. Er roch den Weichspüler, dessen sauberer Duft aus ihrer Bettwäsche in seine Nase stieg. Er roch ihren Schweiß, was gar nicht unangenehm war. War es doch zutiefst menschlich, im Angesicht des Todes zu schwitzen.
Er widerstand dem Drang, sie mit bloßen Fingern zu berühren. Vorhin, mit den dünnen Latexhandschuhen, hatte er alles angefasst. Gerade vorsichtig genug, damit niemand wissen würde, dass er hier gewesen war. Und doch wollte er sich einprägen, wie sich ihre Haare anfühlen, ihre Wangen, ihre Hände, wenn sie tot sind. Ihre Brüste zeichneten sich unter dem Pyjamaoberteil ab, mit seinem Zeigefinger hatte er sanft die Konturen nachgemalt – wie ein schüchterner Liebhaber.
Die Handschuhe steckte er in seine Jackentasche. Es wurde Zeit zu gehen.
Er stand vor ihrem Bettende und betrachtete das Gesamtbild. Er wollte es sich einprägen, und gleichzeitig wollte er es vergessen. Er versuchte, nicht auf den hellblauen schmalen Schal zu schauen, der sich viel zu eng um ihren schlanken Hals geschlungen hatte. Viel zu eng.
Er hörte sich selbst atmen. Er wollte zu ihr gehen, den Knoten des Schals lösen. Er trat neben das Bett, beugte sich über sie und ließ es bleiben. Zu spät. Es war ohnehin zu spät. Er drehte sich um. öffnete die Tür mit dem Ellenbogen, um keine Spuren zu hinterlassen, und ging.
Draußen wartete der Freund, der ihm noch etwas geschuldet hatte. »Und?«, fragte er.
»Geil«, sagte er.
Winnetou sah wie aus dem Ei gepellt aus. Die Haare waren akkurat frisiert, so als hätte er sie vorher noch mit dem Wunderöl geglättet, auf das im Moment alle Hollywood-Stars schworen und das es bei Rossmann für ein oder zwei Euro zu kaufen gab. Die Klamotten waren viel zu sauber und saßen, als wären sie gerade erst gebügelt worden. Viktoria gähnte und griff nach der Fernbedienung. Der Indianerheld ihrer Kindheit in HD-Qualität, das ging einfach nicht, fand sie. Selbst die Berge im Hintergrund, die ja eigentlich echt waren, wirkten im hochaufgelösten Fernsehformat wie Pappkulissen.
Mit einem lauten Schmatzer wechselte der Fernseher das Programm. Formel 1. Viktoria ließ es wieder schmatzen. Plötzlich Prinzessin.
Kai jammerte. »Was hast du gegen Karl May?«
»Die sind mir da alle zu sauber geworden.« Viktoria wollte weiterschalten.
Kai schnappte nach der Fernbedienung. »Du spinnst, Frau Latell!«
»Das sieht alles viel zu scharf aus. Gar nicht mehr staubig und wild.«
»Ich sage ja, du spinnst.«
Viktoria krallte sich an der Fernbedienung fest.
Kai versuchte weiter, sie ihr zu entwenden.
Sie versteckte das Gerät hinter dem Rücken, er griff nach ihren Händen, hielt sie fest. Ihre Finger klammerten sich um das Plastik.
Sein Gesicht war direkt vor ihrem. »Staubig und wild, na, das kannst du haben«, flüsterte er ihr ins Ohr, während er sie noch fester in den Schwitzkasten nahm und küsste.
Sie ließ die Fernbedienung los, brauchte die Hände jetzt für andere Dinge.
Viktorias kleiner Rollkoffer stand schon im Flur, vor der Wohnungstür. Ihre Laptoptasche lehnte daneben. Sie hatte versucht, eine Reportage für den Berliner Express zu schreiben. Doch es war ihr nicht gelungen. Nicht mal der Einstiegssatz taugte zu irgendwas. Wenn sie hier war, hier in Westbevern, hier bei Kai, fühlten sich ihre Finger auf der Tastatur bleischwer an. Hier wollte sie keine Pflichten erledigen. Sondern einfach nur das Wochenende genießen. Die kurze Zeit nutzen, bevor sie wieder zurückfuhr in ihre Wohnung nach Kreuzberg, zu ihrer Arbeit als Polizeireporterin, in ihr anderes Leben.
»Du gehst doch noch joggen?« Ihre Stimme klang etwas spitz.
Kai verdrehte die Augen. Er war gerade dabei, sich seine Trainingshose über die Boxershorts zu ziehen. Dann griff er nach dem verwaschenen grünen T-Shirt, das er nur noch beim Sport trug. »Ja«, sagte er. »Nach der ganzen Rumgammelei muss ich mich einfach bewegen.« Er blickte auf das zerwühlte Bett. Aus den Lautsprechern drang gerade Old Shatterhands Stimme: »Gebt mir Feuerschutz, ich hol ihn raus!«
Viktoria stand in Unterwäsche in der Badezimmertür. »Na, du wolltest doch die ganze Zeit fernsehen.«
Kai zuckte mit den Schultern. Es war offensichtlich, dass er keine Auseinandersetzung wollte.
»In einer Stunde muss ich zum Bahnhof.« Sie klang vorwurfsvoll.
»Weiß ich. Ich kann ja auch später loslaufen«, antwortete Kai und schaute dabei Richtung Bildschirm.
Viktoria drehte sich um und verschwand wieder im Bad. Sie packte ihre Zahnbürste, das Deo und ihre spärlichen Schminkutensilien in ihre Kulturtasche. Sie war sauer. Kai durfte gleich draußen herumlaufen, während sie vier Stunden im Zug sitzen musste. Und wenn sie ihn am nächsten Wochenende würde sehen wollen, würde es genauso laufen. Sie schloss den Reißverschluss der Tasche und kam wieder ins Schlafzimmer.
Kai hatte sich wieder aufs Bett gelegt. Ohne sie anzusehen, sagte er. »Da könnte ich immer noch heulen.«
Viktoria folgte seinem Blick. Auf dem Bildschirm sah man Pierre Brice in Großformat. Er sagte: »Nun ist sein Herz leicht und voll von Frieden wie dieser See. Es ist erfüllt von Liebe zu Manitu. Und Winnetou weiß, dass sein Tod nicht mehr fern ist.«
»Dich scheint es ja gar nicht zu stören, dass ich gleich abfahre?«
Kai schaute auf. »Hey, Viktoria, was soll das? Ich kann nichts dafür, dass du in Berlin wohnst.«
»Ich kann aber auch nichts dafür, dass du hier wohnst.«
Kai stand auf und ging auf sie zu. »Wir sehen uns doch schon am Freitagabend wieder.«
»Freitagnacht, meinst du wohl eher.« Viktorias Magen tat weh. Sie wollte sich nicht streiten, aber es passierte. Ganz ohne ihr Zutun. Die Worte kamen aus ihrem Mund geflogen. »Glaubst du, mir macht es Spaß, dauernd im Zug zu hocken, weil du mal wieder Bereitschaft hast.« Sie wollte aufhören, doch ihre Zunge war schneller als sie. Gespaltene Zunge, würden Karl Mays Indianer dazu sagen.
»Dauernd?« Kai hob die Augenbrauen an. »Einmal! Bislang musstest du doch immer am Wochenende arbeiten.«
Ihr Hals wurde enger. Doch die Worte fanden trotzdem noch einen Weg nach draußen. »Das ist nun mal mein Job.«
»Meiner auch.«
Sie standen voreinander. Ratlos. Still. Wütend. Traurig.
Er hatte recht. Das nächste Wochenende war erst das zweite, an dem er Notdienst hatte, und sie deshalb gezwungen waren, in Westbevern zu bleiben. Trotzdem war sie öfter bei ihm gewesen als er bei ihr. Doch auch das war nicht seine Schuld. Sie war es, die ihre Online-Tickets gebucht hatte. Sie war es, die sich wohler mit ihm fühlte, wenn sie bei ihm war. Kai passte nicht nach Berlin. Kai passte nicht in ihre seltsame Welt. Diese Welt, die voll war mit Kollegen, deren Leben sich um ihre Arbeit drehte.
War er dabei, gaben sie sich Mühe, nicht über den Express zu reden. Fünf Minuten lang. Doch dann redeten sie doch über die absurden Ideen des Chefredakteurs, über Klatsch-Kiaras Botox-Gesicht, über die sinkenden Auflagen und den steigenden Druck. Kai versuchte mitzureden. Doch es gelang ihm nicht. Wie auch? Wäre Viktoria in eine Runde von Ärzten geraten, hätte sie auch nichts Kluges beitragen können. Sie hätte wahrscheinlich irgendwann von ihrer Platzwunde erzählt, die sie sich als Kind zugezogen hatte, weil sie auf dem Schulhof gegen einen Betonpfosten gerannt war. Die Ärzte hätten milde gelächelt und dann weiter über Medikamente, Kollegen, die Gesundheitspolitik gefachsimpelt.
Aber in Westbevern gab es keine Ärzte. Keinen außer Kai. Wenn sie hier bei ihm war, reichten sie sich oft zu zweit. Denn hier bei ihm, da war einfach nicht viel mehr. Und wenn sie sich doch einmal trafen, mit seinen Freunden, dann war es einfach für sie. Sie erzählte Geschichten aus Berlin, und alle hörten ihr zu. Die anderen erzählten von ihren Neffen, Kindern, alten Eltern, Fußballspielen, seltsamen Häusern im Neubaugebiet oder dem neuen Job – und sie hörte ihnen zu. Hier fachsimpelte niemand, hier war die Arbeit da, um Geld für das Leben zu verdienen. In Berlin war die Arbeit für viele das Leben selbst.
Sie kam gerne her. Doch sie hasste das Wegfahren. Und die Stunden davor. Wenn sie auf die Uhr schaute und die Minuten plötzlich im Sekundentakt liefen. Dieses Gefühl, in einem Vakuum gefangen zu sein, in dem sie nichts mehr machen konnte, weil sie so gelähmt war, weil sie nur daran denken konnte, dass sie gleich weg sein würde – es schlug ihr auf den Magen. Sie verplemperte kostbare Zeit mit dem Gelähmtsein, statt jede Sekunde zu nutzen. Plötzlich war jedes Wort, das sie oder er sagte, das letzte für eine Woche, das sie sich Angesicht zu Angesicht sagen konnten. Die Küsse wurden nicht mehr leidenschaftlich, weil gleich der Zug ging und keine Zeit mehr war für was auch immer. Man wollte nichts Banales mehr tun, wenn man nur noch ein paar Minuten hatte. Jedes Wort sollte sitzen. Aber natürlich ging genau das nicht. Sondern es ging, wie es gerade gegangen war. Kein Wort saß mehr. Sie sagten nur noch das Falsche.
Kai schaute auf die Uhr. »Ich glaube, ich brauche jetzt schon frische Luft ... Kommst du mit?«
Sie schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. »Ich habe gerade geduscht.« Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie schaute nicht auf die Uhr, doch sie wusste auch so, dass die Zeit ihr im Nacken saß. Wenn er jetzt doch schon rausginge, um zu laufen, würde sie noch kürzer werden.
Er zog sich die Joggingschuhe an, ging zur Tür und schaute sich zu ihr um. »Ich bin gleich wieder da«, murmelte er und wartete auf ihre Reaktion.
Doch Viktoria blieb still. Sie sah ihn nicht an, sondern blickte auf den Flachbildschirm. Dort sagte ein alter Indianer, den Winnetou seinen weisen Vater nannte, gerade: »Mehr als das Recht bedeutet der Friede.« Kluger, weiser Mann, ging es ihr durch den Kopf. Doch seine graue Perücke sieht echt scheiße aus. Die Tür schloss sich. »Viel Spaß, wir sehen uns dann nächste Woche!«, rief sie ihm noch hinterher. Doch nach Spaß klang ihre Stimme dabei ganz und gar nicht.
Nach fünf Minuten ging ihr Puls wieder seinen normalen Gang. Sie wusste, dass Kai das einzig Richtige getan und ihnen beiden mit seinem Abgang eine kurze Verschnaufpause verschafft hatte. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Seit Tagen ging das so. Eine halbe Stunde Sonne am Tag, dann tat der Mai wieder so, als sei er ein November. Sogar Bodenfrost hatten sie für die kommende Nacht angesagt. Das hatte sie an der Wursttheke des kleinen Lebensmittelladens aufgeschnappt, in dem sie am Samstagmorgen Brötchen und Aufschnitt gekauft hatte. »Bodenfrost! Dabei ist doch morgen Kommunion«, hatte die Wurstverkäuferin geschimpft, und die Kundin hatte traurig genickt. »Die armen Kinder. Holen sich ja den Tod bei der Kälte.« So schnell erfriert man nicht, hatte Viktoria gedacht, aber ebenfalls ein trauriges Gesicht gemacht. Gleich würde sie »Kommunion« googeln. Zwar wusste sie, dass katholische Kinder ihre Kommunion feierten, aber nach dem Wortwechsel der beiden Westbevernerinnen war sie neugierig geworden und wollte nachschauen, ob es vielleicht eine Art Taufritual gab, bei dem die armen Kleinen ins eiskalte Emswasser getaucht und so vielleicht tatsächlich in Lebensgefahr gebracht wurden.
Sie trat ans Fenster. Gleich würde Kai um die Ecke biegen. Seine Joggingrunde dauerte meistens nur eine knappe halbe Stunde, und er würde sich von ihr verabschieden wollen – trotz ihres blöden Spruchs vorhin. Pitschnass würde er gleich in der Tür stehen. Und sie würden sich umarmen und wissen, dass es so zwar nicht weiterging, dass es aber weiterging. Sie mussten nur eine Lösung finden. Und eigentlich hatte sie das ja schon. Sie musste nur selbst daran glauben und dann daran arbeiten. Es könnte klappen. Wenn sie den Mut aufbrachte ...
Viktoria ließ sich rücklings aufs Bett fallen und schloss die Augen. Sie hatte es gut durchdacht, fand sie selbst und fand auch Mario Siewers. Der Fotograf wusste als Einziger vom Express, was sie vorhatte. Verstehen konnte er es nicht. Er kannte Westbevern durch ihre gemeinsamen Recherchen, die sie schon zweimal hier in die Nähe von Münster geführt hatten, doch er hätte sich nie vorstellen können, seinen Großstadtjob und damit sein Großstadtleben für dieses unscheinbare, unspektakuläre und ganz und gar unaufregende Dorf aufzugeben. Klar, er wusste um Kai und Viktoria und um deren ... War Liebe das richtige Wort? Aber er, da war sich Mario Siewers sicher, würde nicht ins Wanken geraten wie Viktoria gerade jetzt. Ihre Idee war dennoch so gut wie einfach. Sie würde sich selbstständig machen und eine eigene Agentur für das Münsterland aufbauen. Schwerpunkt dieser Nachrichtenagentur wären selbstverständlich die sogenannten Polizeigeschichten. Denn auch wenn Viktoria immer wieder sagte, dass sie es leid wäre, nur über Böses und Schreckliches zu schreiben, tat sie es doch besonders gut und mitunter sogar schön. Beim Express wusste man das – und ihr Chefredakteur ließ ihr so manche Freiheit, die er bei anderen Mitarbeitern niemals zugelassen hätte. Denn auch wenn sich Guido Willmers regelmäßig über »die Latell« ärgerte, war ihm klar, dass sie am Ende liefern würde. Und wenn einmal doch nicht, kam sie mit einer noch besseren Geschichte.
Wenn sie sich also nicht zu dämlich anstellte, müsste es klappen mit einer eigenen Agentur. Sie würde den Medien Geschichten anbieten, die im Münsterland passierten oder spielten. Denn hier gab es, das war ihr beim Blick in die wenigen ansässigen Tageszeitungen sofort klar gewesen, eine mediale Unterversorgung. Vielleicht nicht, was die Berichterstattung über Feuerwehrjubiläen, Frühlingsmärkte oder Schützenfeste anging – doch die echten, harten Geschichten, die fanden nicht statt. Oder besser: Sie fanden nicht in den Medien statt. Dabei gab es einen großen Bedarf genau an diesen Geschichten. Boulevard-Magazine im Fernsehen, überregionale Boulevard-Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunksender und Online-Zeitungen – sie alle suchten immer nach gutem Material. Und eine Polizeigeschichte war meist ganz automatisch gutes Material. Denn wurde ein Verbrechen verübt, hatte man immer auch die komplette emotionale Bandbreite, die schließlich dafür sorgt, dass der Leser liest und der Zuschauer schaut. Ein bemitleidenswertes Opfer, ein verachtungswürdiger Täter, die spannende Frage, wer es war oder warum wer was getan hat. Die grausigen Details, die kaum zu ertragenden Leidensgeschichten – nicht umsonst entstanden Staus, wenn die Autofahrer ihre Augen nicht vom Unfall auf der Gegenseite nehmen konnten. Die Menschen schauen hin, wenn etwas zum Wegschauen ist. Und neben all diesem hatte es ja manchmal sogar Sinn, über Verbrechen zu berichten. Dann, wenn man damit bei der Tätersuche half. Oder wenn man den Opfern eine Stimme gab. Wenn man sie nicht zum Schweigen verdammte, sondern sie klagen ließ. Viktoria könnte all diese Geschichten erzählen. Sie könnte sich ein Informantennetz aufbauen. In einem recht überschaubaren, fast konkurrenzlosen Raum wie dem Münsterland wäre es nicht schwer, die richtigen Ansprechpartner zu finden. Dorfpolizisten, die gerne aus dem Nähkästchen plauderten, Polizeisprecher, die sonst nicht viel erzählen konnten, der Münsteraner Rechtsmediziner Frank Metzger, dem sie bei ihrer letzten Recherche einen Gefallen getan hatte – sie alle würde sie weichkochen, eintüten, anzapfen. Oder netter ausgedrückt: Sie würde mit ihnen effektiv zusammenarbeiten. Ein großes Startkapital war nicht nötig. Ein Computer, ein Telefon und eine Homepage, viel mehr brauchte es nicht in einem Agenturbüro. Gleich, wenn sie zum Bahnhof fahren würden, würden sie wieder an den leer stehenden Räumen des ehemaligen Wäscheladens vorbeikommen. Es wären ideale Räume. Und es wären günstige Räume. Sie hatte schon mit dem Vermieter gesprochen. Als sie Mario erzählt hatte, wie hoch die Monatsmiete sei, hatte er nachgefragt: »Du meinst pro Woche, oder?«
Viktoria lag immer noch da. Sie lächelte. Öffnete die Augen und erschrak. Eine halbe Stunde war vergangen. Sie stand auf und ging wieder zum Fenster. Draußen vermischten sich Wind und Regen zu einer nassen Masse. Sie blinzelte, versuchte, um die Straßenbiegung zu linsen. Kais grünes T-Shirt kam trotzdem nicht in Sicht. Na toll, dachte sie. Er hat sich jetzt wahrscheinlich in der Fledermaushütte untergestellt, die auf seiner üblichen Route lag, und sie musste gleich los. Sie würden sich verpassen. Wenigstens anrufen könnte er ja. Sie spürte wieder diese Wut, die sie nicht spüren wollte. Dieser Zorn auf etwas, was sie nicht würde ändern können, krallte sich an ihr fest. Kai konnte nichts dafür, dass sie in zwei verschiedenen Welten lebten. Er konnte nichts für den Regen. Aber anrufen, das könnte er.
Sie griff nach ihrem Handy, das neben ihr lag und einfach nicht klingeln wollte. Stattdessen verhöhnten sie die großen Ziffern, die ihr unmissverständlich die Uhrzeit anzeigten. Wenn Kai nicht gleich auftauchte, würde sie ohne Abschied fahren müssen. Der Zug nach Osnabrück ging um 16.11 Uhr, dort würde sie umsteigen und um 21.14 Uhr am Berliner Hauptbahnhof ankommen. Mit dem Handy in der Hand lief sie durch seine Wohnung.
Zu Fuß wollte sie nicht durch dieses miese Wetter zum kleinen Bahnhof am Ende von Westbevern stapfen. Kais Autoschlüssel lag auf der Kommode neben der Eingangstür. Im Halbdunkel des Flurs rief sie ihn an. Die Mailbox sprang sofort an. Sie schnaufte und griff nach seinem Schlüssel. »Hey, ich fahre jetzt mit deinem Auto zum Bahnhof. Den Schlüssel lasse ich stecken – in deinem tollen Westbevern klaut ja keiner was. Schönen Tag noch – und vielen Dank fürs Wegbringen!« Am liebsten hätte sie ihr Handy gegen die Wand geschmettert, doch sie beherrschte sich und konzentrierte sich darauf, ihre Tränen zurückzuhalten. Als sie in seinem Golf saß und die Scheibenwischer anstellte, hoffte sie immer noch, irgendwo im Regen ein grünes T-Shirt zu entdecken. Es passte nicht zu Kai, dass er sie einfach alleine fahren ließ. Doch vielleicht hatte sie sich ja in ihm getäuscht. Schließlich passte es auch nicht zu ihr, dass sie wegen eines Mannes heulte. Sie startete den Motor, gab Gas und war eine Minute später am Bahnhof. Als der Zug einfuhr, hörte es auf zu regnen.
»Kalklatte!«
»Arschloch!«
»Ich hab dich auch lieb.« Charly Berendsen warf Viktoria Latell von der anderen Seite des Schreibtischs einen Flugkuss zu und grinste.
Viktoria fuhr sich mit den Händen über ihr bleiches Gesicht. Sie hatte schlecht geschlafen. Oder besser: beinahe gar nicht geschlafen. Kai hatte sich immer noch nicht bei ihr gemeldet. Rief sie ihn an, sprang seine Mailbox auf dem Handy oder sein Anrufbeantworter auf dem Festnetz an. Erst war sie einfach nur sauer gewesen, dann traurig und jetzt ratlos. Klar, sie hatten gestritten. Und die Nachrichten, die sie hinterlassen hatte, waren auch kein romantisches Gesäusel, sondern eher ein zickiges Gemotze gewesen. Vielleicht hatte sie ihn damit abgeschreckt. Er war vorsichtig mit Frauen, das hatte er ihr immer wieder gesagt. Er wolle sich niemals wieder so sehr einengen lassen, wie er es schon einmal bei einer anderen Frau zugelassen hatte. Doch sich überhaupt nicht zu melden. Einfach abzuhauen und sie alleine abreisen zu lassen?
»Du siehst echt übel aus.« Charly, der Polizeireporter von gegenüber, riss sie aus ihren Gedanken.
»Danke auch!«, blaffte sie ihn an.
Er ließ sich nicht davon beirren. Die beiden kannten sich, die beiden schätzten sich, und die beiden motzten sich einfach gerne an. »Hast du denn genug für die Konferenz?« Seine Stimme klang etwas weicher. Heute hatte Viktoria den Polizeidienst. Gleich musste sie dem Chefredakteur und den Ressortleitern die Themen präsentieren, die sie und ihre Polizeireporter-Kollegen zum aktuellen Blatt beitragen konnten.
Sie nickte Charly zu und ließ den Blick nicht von ihrem Bildschirm. In kurzen Sätzen schrieb sie auf, was das kriminelle Berlin an diesem Montag für den Express bereithielt. Womit könnte man an diesem Wochenbeginn den Blutdurst der Leser befriedigen? – Ein schwerer Crash auf der Avus war im Angebot. Ohne die Fotos wäre der Unfall höchstens eine Meldung wert, doch die Bilder vom völlig zerdrückten Porsche waren gut – und brauchten Platz. Außerdem hatte sie schon vor Längerem eine Geschichte vorbereitet. Ein Nachdreh zu einem inzwischen geklärten Vermisstenfall. Ein Junge war verschwunden, dessen Leiche erst Jahre später in der Spree gefunden worden war. Sie hatte ein Gespräch mit dessen Eltern und seiner Schwester geführt. Wie sie es schafften, Florian – so hieß der Teenager, der beim Entenfuttern ausgerutscht und ertrunken war – nicht zu vergessen und trotzdem ein erfülltes, durchaus auch fröhliches Leben zu führen.
Mario Siewers, der Fotograf, stand gerade vor einer Haustür in Steglitz. Dort war die Leiche einer zweiundvierzigjährigen Frau gefunden worden. Vermutlich war sie mit einem Halstuch erdrosselt worden. Das hatten sie schon über ihre Polizeiinformanten herausgefunden, weitere Details würden sicher noch folgen.
Viktoria gähnte, druckte ihren Text und stand auf, um ihn aus dem Druckerraum abzuholen und damit in die Konferenz zu gehen. Zum Glück war die Nachrichtenlage okay. Sie schlurfte zu ihrem Platz. Viktoria spürte jeden Knochen und ihre Magenwände. Sie fühlte sich elend.
Die Zeitung vom morgigen Tag lag vor ihnen. Mario hatte sie gerade dem Zeitungsboten abgekauft, den seine Abendtour auch in ihre Stammkneipe gegenüber vom Verlag geführt hatte. Obwohl sie wussten, was drinstehen würde, wurde es für einen Moment still am Tisch. Drei Köpfe drängten sich um den Express, Mario blätterte Seite für Seite um. Nach ein paar Minuten waren sie fertig, Viktoria winkte Mudak, dem Wirt, mit ihrem leeren Averna-Glas zu. Mario hob sein halb leeres Bierglas in die Höhe, Charly zeigte auf sein Weizenglas und nickte. Mudak verstand. Am Reportertisch war Nachschub gefragt. Nicht zum ersten Mal an diesem Abend – und ganz gewiss auch nicht zum letzten Mal.
»Ich versteh's nicht!«, fluchte Charly und tippte auf die Seite eins des Express. »Wie kann man mit so einer Scheiße aufmachen.«
»Ich find's hübsch«, nuschelte Mario, dessen Blick schon nicht mehr ganz geradeaus ging, aber doch ganz eindeutig auf dem Titelbild der Zeitung hängen blieb. Zu sehen war eine Frau oder eher der wohlgeformte Hintern einer Frau. Dieser war in enge Hotpants gehüllt und saß auf einem Fahrrad. Die langhaarige Dame, der dieser Super-Po gehörte, freute sich offensichtlich darüber, denn sie grinste über ihre Schulter hinweg in die Kamera, als habe sie gerade den Lotto-Jackpot geknackt. In Wahrheit hatte sie allerdings nur den ersten Preis – dreihundert Euro – im vom Express ausgerufenen Po-Wettbewerb gewonnen. »Arschparade« wurde die Aktion intern genannt, und jetzt war also die Siegerin ermittelt und mit einem großen Aufmacherfoto auf der Eins und einer ganzen Seite im Blattinneren gewürdigt worden. Berlins schönster Po lautete die einfallslose, aber dennoch sehr eingängige Überschrift.
»Ich bin nur froh, dass es jetzt endlich vorbei ist«, sagte Meike Niemüller, die gerade vom Rauchen im Freien zurückkam. Sie hatte die Bilder der meisten Titelanwärterinnen gemacht und dafür gesorgt, dass Orangenhaut-Dellen, kleine Speckansammlungen oder blaue Äderchen nicht zu sehen waren.
Mario musterte Meike kritisch. »Quatsch, du hattest vier Wochen lang 'ne sichere Einnahmequelle.«
Meike streckte ihm die Zunge raus. »Neidisch?«
Mario nickte. »Klar. Vor allem auf diese Aussichten ...« Er tippte beinahe zärtlich auf Berlins schönsten Po.
»Wisst ihr, warum Männer keine Cellulite haben?« Charlys Stimme klang schon ein wenig schräg, gerade so, wie sein Grinsen aussah. Die anderen schüttelten gelangweilt den Kopf. Charly nahm noch einen Schluck, weil er auf Nummer sicher gehen wollte, dass die ganze Aufmerksamkeit auf ihn und die Pointe gerichtet war: »Weil es scheiße aussieht!«
Viktoria musste lachen, obwohl sie den Witz längst kannte. Das erste Mal an diesem Tag. Ihre Magenwände fühlten sich immer noch übel an, doch jetzt konnte sie es auf den Averna schieben und nicht mehr auf Kais Abtauchen. Ihr Handy klingelte. Es war keiner ihrer gespeicherten Kontakte, sie nahm ab – und telefonierte zum ersten Mal mit Christel Westmark. Kais Mutter.
Mario und Charly diskutierten gerade laut darüber, was einen guten Frauenarsch ausmache.
Viktoria hielt ihre Hand über das Handy und machte, dass sie vor die Tür kam. Sie wankte etwas und war froh, dass Christel das nicht sehen konnte. Draußen an der frischen Luft nahm sie Haltung an und versuchte, nüchtern zu klingen. »Oh, hallo Frau Westmark, äh ... Christel.« Das mit dem Duzen fiel ihr schwer, doch Kais Mutter hatte bei ihrem vorletzten Besuch darauf bestanden. Die ganze Sache war aber so steif und verkrampft abgelaufen, dass es nach dem Satz: »Frau Latell, Sie können ruhig Christel zu mir sagen!«, und ihrer Antwort: »Gerne, Frau Westmark. Ich bin Viktoria«, überhaupt nicht mehr ging. Viktoria umging einfach die direkte Ansprache und damit auch fast jedes Gespräch mit der Mutter, deren Anwesenheit in der unteren Etage sie ohnehin immer noch irritierend fand.
»Ich, äh. Tut mir leid, dass ich jetzt noch störe. Ich hoffe, ich habe Sie, äh, dich nicht geweckt.«
Viktoria verdrehte die Augen. Wohl kaum, dachte sie. Christel Westmark musste doch mitbekommen haben, dass sie irgendwo unter Menschen war. »Nein, kein Problem. Ich bin hier noch bei einer ... äh ... Besprechung.«
»Ich wollte auch nur kurz fragen, ob Kai vielleicht zufällig bei dir ist ...«
Viktoria atmete gleichmäßig.
»Sein Wagen ist verschwunden – und er ist auch weg, da dachte ich ...«
»Den Wagen habe ich genommen, er müsste am Bahnhof stehen.« Viktoria antwortete schnell. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, fühlte sich ertappt und wunderte sich: »Kai ist weg?« Sie fragte es, obwohl sie es nicht aussprechen wollte. »Ist er denn nach dem Laufen gar nicht wiedergekommen?«
»Keine Ahnung. Ich kontrolliere den Jungen ja nicht.«
Den Jungen! Viktoria musste sich zusammenreißen, um nicht ins Telefon zu blaffen: Der Junge ist ein Mann über dreißig! »War er denn nicht in seiner Wohnung gestern Abend, nach dem Regen. Du hörst doch, wenn er oben ist?« Sie sah ihn vor sich. Das grüne T-Shirt, die Joggingschuhe ...
»Ich weiß es nicht. Ich war nicht zu Hause, und er ist schließlich erwachsen, da schaue ich ja nicht, ob er früh genug im Bett liegt.«
Und am liebsten würdest du es tun, dachte Viktoria.
»Hat er sich denn bei dir gemeldet?«
Viktoria schüttelte langsam den Kopf, erst dann schob sie ein trauriges »Nein« hinterher. Am anderen Ende blieb es einen Moment lang still.
»Und jetzt?«, fragte Christel dann.
Viktoria hatte keine Ahnung, was jetzt war. Sie spürte ihre Blase. Ihr war ein bisschen schwindelig. Sie wollte aufs Klo und danach noch einen Averna trinken, damit ihr Magen auch wirklich Grund hätte, sich so aufzuführen, wie er es gerade tat. Dann wollte sie über Frauenärsche lachen. Oder sich mit Charly darüber aufregen, dass der Willmers nicht die strangulierte Frau auf die Eins genommen hatte. Ein Tuch mit Muster, das man locker zum indischen Tuch hätte aufbauschen können. Jeder Leser hätte sofort an den Edgar-Wallace-Klassiker mit Klaus Kinski gedacht. Das indische Tuch von Steglitz war doch besser als jede noch so knackige Frauenrückseite.
»Ich dachte, du weißt vielleicht besser, was wir jetzt tun müssen.«
Wir. Christel sagte »wir«. Viktoria versuchte, sich auf das Gespräch mit ihr zu konzentrieren. »Wieso soll ich besser wissen, was wir jetzt tun müssen?«
»Na, du bist doch Polizeireporterin. Soll ich da jetzt anrufen?
»Wo?«
»Bei der Polizei.« Christel klang müde.
Viktoria war müde. »Ich, äh. Ich weiß nicht. Hast du schon mal bei ihm nachgeschaut? Fehlt etwas?« Sie versuchte, professionell zu sein. Sachlich.
»Bleibst du eben dran?« Christel ging offensichtlich mit dem Telefon in der Hand in die obere Etage ihres Hauses, in die ihr Sohn gezogen war, als sein Vater gestorben war und er dessen Arztpraxis übernommen hatte. Es war kalt draußen auf dem Bürgersteig. Der Berliner Wind fegte mal wieder um die Ecken, von drinnen winkte Mario ihr lachend zu. Sie nickte – ernst. Christel sprach ins Telefon, als rede sie mit sich selber. »Er scheint hier geschlafen zu haben. Das Bett ist zerwühlt.« Hoffentlich überprüfte Mama Christel nicht die Laken nach eventuellen Spuren.
»Fehlt Kleidung?« Viktoria wollte die Suche vorantreiben, damit sie endlich weitertrinken könnte.
»Ich weiß nicht. Da liegen Jeans, da liegen die Pullover. Aber ich sehe doch nicht, ob da was fehlt.« Christels Stimme wurde weinerlich.
»Was ist mit seinen Taschen, Koffern? Die liegen oben auf dem Schrank.« Viktoria konzentrierte sich und stellte sich Kais Schlafzimmer vor. Den Raum, den sie am Wochenende so selten verließen. »In der Ecke steht die Trittleiter!« Sie hörte Christels Atem.
»Ich sehe den schwarzen Koffer mit den Rollen und den Seesack.«
Viktoria wartete. »Was ist mit der gelben Sporttasche?« Kai hatte das leuchtende Ding dabeigehabt, als er sie beim letzten Mal in Berlin besucht hatte. Sie hatte oben auf dem kleinen Balkon ihrer Dachgeschosswohnung gestanden und beobachtet, wie sein Golf die Straße auf und ab fuhr. Der Parkplatz, den er schließlich fand, war außer Sichtweite. Und obwohl sie wusste, dass er jeden Moment wieder zu sehen sein würde, hatte sie diese Minuten kaum ausgehalten. Ihr Herz hatte schneller geschlagen, ihre Kehle war trocken, und als sie ihn dann endlich wieder sah, mit seiner gelben Tasche, die wie eine Laterne neben ihm zu leuchten schien, da konnte sie nur noch eines: glücklich sein.
Es war kalt gewesen, als er sie besucht hatte. Berlinkalt. Der Ostwind war um die Häuser gefegt und hatte ihre und seine Wangen betäubt. »Willst du keinen Weihnachtsbaum?«, hatte Kai sie am nächsten Morgen gefragt, und sie hatte mit den Schultern gezuckt. Dann war er Brötchen holen gegangen und mit einer Tüte Schrippen, zwei Croissants und einem Baum zurückgekommen. »Ich habe keinen Schmuck dafür«, hatte sie gesagt. »Davon bin ich ausgegangen«, hatte er geantwortet und das grüne Ungetüm in ihren Flur gelegt. »Deshalb werden wir auch nach dem Frühstück auf einen Weihnachtsmarkt gehen.« Viktoria schaute zweifelnd. Weihnachtsmarkt, Weihnachtsschmuck, Weihnachtsbaum – drei Dinge, die sie bislang nicht vermisst hatte, würden jetzt also in ihr Leben treten. So wie Kai in ihr Leben getreten war. Während sie in ihr Croissant biss, überlegte sie, ob ihr das gefiel. War das alles nicht ein bisschen zu schnell, ein bisschen zu kitschig, ein bisschen zu viel Veränderung? Sie war aufgestanden, immer noch kauend, hatte sich auf Kais Schoß gesetzt und ihm einen krümeligen Mund auf die Wange gedrückt. »Aber eines muss dir klar sein, ich will Glaskugeln, goldene Engel und echte Wachskerzen, Weihnachtsmann!«
Als er am Sonntagabend wieder abreiste, stand sie wieder auf dem Balkon. Die gelbe Tasche konnte sie im Halbdunkel noch sehen, ihn nicht mehr. Ihr Herz hatte schneller geschlagen, ihre Kehle war trocken, und als sie ihn dann gar nicht mehr sah, sondern nur noch die gelbe Tasche, die wie eine Laterne neben ihm zu leuchten schien, da konnte sie nur noch eines: unglücklich sein.
Christel suchte offensichtlich noch.