3,00 €
Nach einem Staatsstreich steht das Königreich Albin kurz vor einem Krieg gegen die zurückgezogenen und mächtigen Naturgeborenen, einem sagenumwobenen Stamm, der verborgen im Wald Vardheim lebt. Nachdem sie aus ihrer Heimat geflohen sind, finden sich die Kinder des Königs und ihre Kindheitsfreunde in einer Situation wieder, die ihren Glauben auf die Probe stellt. Während sie versuchen, den herannahenden Krieg abzuwenden, sind sie gezwungen, die Gewissheit ihrer Überzeugungen, auf der richtigen Seite des Konflikts zu stehen, in Frage zu stellen. Wer sind ihre wahren Feinde? Der Usurpator zu Hause oder die Naturgeborenen mit ihrem fanatischen Glauben an den göttlichen Baum? War der Staatsstreich ein notwendiges Übel zum Wohle des Königreichs? Oder gab es einen anderen Weg? Einen friedlichen? In dem Auftakt zu dieser Fantasy Triologie begleitet ihr die Kinder des Königs und ihre Freunde in eine wordgewandt geschmiedete Welt voller Abenteuer, Intrigien und Gefahren.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 517
Veröffentlichungsjahr: 2025
© 2025 Michael SchmerbeckWebsite: book.mschmerbeck.de
Übersetzung aus dem Englischen: Julia Sophie SchelperUmschlag, Illustration: bobooks, fiverr.com/bobooksDruck und Distribution im Auftrag des Autors:tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
ISBNPaperback 978-3-384-52907-7Hardcover 978-3-384-52908-4eBook 978-3-384-52909-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag desAutors, zu erreichen unter:
Michael Schmerbeck, Badackerstraße 16, 86504 Merching, Germany .Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
„Lauf weiter! Schau nicht zurück!“, drängte Dante seine kleine Schwester, während er sie hinter sich herzog, und ihre Schritte vom Gras gedämpft wurden. Er konnte sein Herz in seinen Ohren klopfen hören, wie es so schnell wie möglich Blut durch seinen Körper pumpte, sodass er weiterrennen konnte. Seine Beine begannen sich vor Erschöpfung taub anzufühlen. Dante und seine kleine Schwester Fiona waren seit letzter Nacht auf den Beinen und hatten keinen Moment verschwendet, um sich auszuruhen oder hinzusetzen. Sie waren auf der Flucht. Sie mussten so schnell wie möglich verschwinden. Aber obwohl sie ständig in Bewegung und ohne Pause gerannt waren, hatten die Soldaten sie eingeholt. Dante verfluchte sein Pech und blickte weiter nach vorn, zu ängstlich, um über die Schulter zurückzuschauen. Sie waren ihnen dicht auf den Fersen. Er konnte die Soldaten hinter sich keuchen hören.
Seine Schwester umklammerte seine Hand mit aller Kraft. Wenn Dante die Soldaten hören konnte, dann tat sie das auch. Fiona konnte seit ihrer Geburt nicht sprechen. Sie lebte ein isoliertes Leben, unter der Aufsicht ihres Vaters, und hatte außer Dante nur wenige Freunde. Ihr Vater war immer der Meinung gewesen, dass sie zu zerbrechlich sei, um den Härten des Lebens standzuhalten, und dass andere Kinder sie schikanieren würden, wenn sie am Leben in der Gesellschaft teilnähme. Daher behielt er sie stets im Auge und sorgte dafür, dass sich jemand um sie kümmerte, wenn er auf Reisen war. Doch nun war ihr Vater für immer fort, ermordet von Soldaten während des Aufstands. Dante konnte immer noch nicht glauben, dass ihr Vater, diese große, ernst dreinschauende Gestalt, die immer über sie gewacht hatte, nicht mehr da war. Er hatte ihm versprochen, Fiona mit seinem Leben zu beschützen, und genau das hatte er jetzt vor.
Wie viele Soldaten waren hinter ihnen her? Wenn er das wüsste, könnte er sie wahrscheinlich überwältigen. Schließlich war er im Kampf ausgebildet. Dante lauschte angestrengt auf sich nähernde Schritte, während sie rannten. Aber das Geräusch seines Herzschlags, das laut in seinen Ohren dröhnte, machte es unmöglich. Egal, wie viel Angst er hatte, er hatte keine andere Wahl, als einen Blick über die Schulter zu werfen. Drei Soldaten, so schien es. Vielleicht noch einer. Er war sich nicht sicher. Mit einem einzigen Blick konnte er nicht viel erkennen. Dantes Gedanken begannen zu rasen. Seine kleine Schwester würde diesen ausgebildeten Soldaten niemals entkommen können. Langsam aber sicher würden sie sie einholen. Es war nur eine Frage der Zeit. Würde er drei, vielleicht vier Soldaten töten können, ohne Fionas Leben zu riskieren? Er wusste es nicht genau, aber vielleicht war es ein Risiko, das er eingehen musste. Er sah keinen anderen Weg.
Kurz entschlossen blieb Dante stehen, drehte sich um und schob seine Schwester hinter sich. Sie sah ihn mit großen, besorgten Augen an. Er lächelte ihr zu, um ihr zu versichern, dass alles gut werden würde. Ihnen würde nichts passieren. Alles würde gut werden. Das hoffte er zumindest. Er betrachtete die sich nähernden Soldaten.
„Nur drei. Gut, das schaffe ich“, dachte Dante, als er sein Schwert aus der Scheide zog und eine Verteidigungshaltung einnahm. Er musste seine Schwester um jeden Preis beschützen. Sie war alles, was ihm noch blieb. Selbst wenn er bis zu seinem letzten Atemzug kämpfen musste, hatte er geschworen, sie zu beschützen.
Die Soldaten wurden langsamer und umkreisten ihn, während sie miteinander scherzten. Sie betrachteten dies als ein Spiel und schienen amüsiert über die Absurdität eines einzelnen Jungen, der versuchte es mit ihnen aufzunehmen. Ein Vorteil. Diese Soldaten waren Fremde. Sie wussten nicht, wer Dante oder sein Vater war.
Dante hatte mit seinem Vater trainiert, seit er laufen konnte. Sein Vater war der beste Schwertkämpfer im ganzen Land, der Ritter des Königs, und diese Begabung schien auch Dante im Blut zu liegen. Mit zwölf Jahren besiegte er die erfahrensten Soldaten in der Garnison seines Vaters in Zweikämpfen. Mit dreizehn besiegte er einen der besten Ritter seines Vaters. Jetzt, mit sechzehn, war er sich sicher, dass er drei gewöhnliche Soldaten überwältigen konnte. Aber er wusste, dass man seine Gegner nicht unterschätzen sollte. Es war ein Fehler, der selbst die erfahrensten Kämpfer das Leben kosten könnte. Dantes Blick schweifte über die drei Soldaten. Der Mann auf der linken Seite war ein dicker Mann mittleren Alters, dessen Kampfhaltung vollkommen falsch war. Er sah müde aus vom vielen Rennen und würde leicht zu besiegen sein. Wahrscheinlich war es sogar sein erster richtiger Kampf.
Die anderen beiden sahen aus, als könnten sie eine Herausforderung für Dante darstellen. Obwohl sie nicht aufhörten zu scherzen, analysierten sie Dantes Kampfhaltung sorgfältig. Es schien ihnen aufzufallen, dass Dante kein hilfloser Junge war, der verzweifelt versuchte, am Leben zu bleiben. Seine Haltung war nicht die eines verzweifelten Mannes. Die beiden Soldaten fixierten ihn mit ihren Blicken und nahmen den Kampf mittlerweile ernst.
Der dicke Soldat bemerkte Dantes professionelle Kampfhaltung jedoch nicht. Oder vielleicht wusste er nicht einmal, wie eine richtige Verteidigungshaltung aussieht. Er stürmte mit einem Schlachtruf auf Dante zu und hob sein Schwert über den Kopf. Die beiden anderen folgten ihm im Bruchteil einer Sekunde. Aber sie kalkulierten ihre Vorstöße sorgfältig und suchten nach Lücken, während er die amateurhaften Angriffe des dicken Soldaten abwehrte. Er ist nicht so bedrohlich, wie er tut, dachte Dante. Schon während seiner Ausbildung damals waren alle Kämpfer, die vor dem Angriff brüllten, leicht zu besiegen gewesen. Er hatte bemerkt, dass einige Kämpfer Schlachtrufe ausstießen, nicht um ihre Furchtlosigkeit zu zeigen, sondern um ihre Unsicherheit zu verbergen. Der dicke Soldat wurde müde. Es war Zeit. Dante holte tief Luft und griff an. Er duckte sich unter einem der weiten Schwünge des dicken Soldaten und stach ihm in den Bauch.
Dantes Schwert durchbohrte die Lederrüstung des dicken Soldaten mit Leichtigkeit. Er wusste, dass die Wunde tief genug war, um tödlich zu sein. Ein ohrenbetäubender Schrei durchdrang die Luft, und der Soldat fiel zu Boden, umklammerte seinen Bauch und wand sich vor Schmerz. Blut strömte durch seine Finger.
Die beiden anderen Soldaten würdigten ihren Kameraden nicht einmal eines Blickes und griffen Dante gleichzeitig an. Obwohl sie ihren gefallenen Kameraden nicht einmal ansahen, schienen sie verärgert über den Gedanken, dass ein junger Bursche einen von ihnen mit nur einem Schlag ausschalten könnte. Dante wich dem Hieb des linken aus und blockte den des rechten mit seinem Schwert ab. Er nutzte die Wucht des Aufpralls, um nach hinten zu springen, außer Reichweite. Es gab eine kurze Pause. Aber er konnte nicht zulassen, dass die Soldaten einen Vorteil gewannen. Wenn sie das taten, würden sie ihn innerhalb von Sekunden überwältigen. Schließlich waren sie immer noch in der Überzahl.
Der Soldat auf der rechten Seite war so töricht, einen Blick auf seinen gefallenen Freund zu werfen, was Dante sofort ausnutzte. Er sprang mit einem schweren Schlag auf den Soldaten zu. Der Soldat konnte den Angriff abwehren, verlor dabei aber das Gleichgewicht. Dantes zweiter Schlag hätte ihn das Leben gekostet, wenn ihm sein Kamerad nicht zu Hilfe gekommen wäre. Wie ärgerlich. Dante musste diesen Kampf beenden, bevor Verstärkung eintraf.
Die beiden Soldaten starrten Dante misstrauisch an, da ihnen klar geworden war, dass er kein Gegner war, den man unterschätzen sollte. Dante hob sein Schwert und holte mit aller Kraft zum Schlag gegen den linken Soldaten aus. Es war ein einfacher Angriff, den jeder abwehren konnte, und er riskierte einen Gegenangriff. Aber er hoffte, dass der Schlag die Verteidigung des Soldaten brechen und Dante Zeit verschaffen würde, sich um den anderen zu kümmern. Wie Dante erwartet hatte, blockte der Soldat den Schlag mühelos ab, stolperte aber durch die unerwartete Wucht nach hinten.
Der zweite Soldat griff Dantes ungeschützte Seite an. Dante konnte seinen Körper nicht schnell genug wegdrehen, um der Klinge auszuweichen. Er spürte einen brennenden Schmerz an seiner Seite und eine Blutspur erschien, die die Seite seines Hemdes durchtränkte. Aber es fühlte sich wie eine oberflächliche Wunde an. Er konnte weiterkämpfen.
Dante hieb wütend auf den Angreifer ein, hielt aber inne, bevor sein Schwert mit der Waffe des Soldaten kollidierte. Stattdessen schwang er seine freie Faust und schlug dem Soldaten mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, ins Gesicht. Ein gedämpftes Stöhnen entwich dem Mund des Soldaten, als er rückwärts in Richtung Boden flog. Durch seine tränenverhangenen Augen sah er nicht, wie Dantes Schwert auf seinen Hals zuraste.
Zwei erledigt, fehlt nur noch einer, dachte Dante, während er mit Genugtuung nach dem letzten verbliebenen Soldaten suchte.
Der letzte Soldat hatte den Moment des Todes seines Kameraden genutzt, um an Dante vorbeizuschleichen. Er hatte Fiona fast erreicht, die wie angewurzelt dastand, die Augen vor Angst weit aufgerissen und den Mund zu einem stummen Schrei angesichts der nahenden Gefahr geöffnet. Dante erstarrte für einen Moment. Er würde seine Schwester verlieren. Der Soldat war zu nah. Viel zu nah.
„Fiona! Lauf!“ Dante riss sich aus seiner Trance und sprintete auf seine Schwester zu. Er griff nach dem Dolch, den er in einem seiner Stiefel versteckt hatte. Jetzt oder nie. Er würde nicht auch noch das letzte Mitglied seiner Familie verlieren. Nicht heute. Niemals.
Fiona riss sich endlich los und versuchte zu fliehen, aber es war zu spät. Ein siegessicheres Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Soldaten aus, als er den Arm ausstreckte, um sie zu packen. Der Moment schien ewig zu dauern.
Kurz bevor die Hand des Soldaten ihr Ziel erreichte, zuckte er und brach auf dem Boden zusammen. Dantes Dolch steckte im Nacken des Soldaten. Keuchend erreichte Dante seine Schwester. Sie starrte auf das Gesicht des gefallenen Soldaten, immer noch wie erstarrt.
„Geht es dir gut?“, fragte Dante panisch und packte seine Schwester mit beiden Händen fest an den Schultern. Er musterte sie hastig von Kopf bis Fuß, um sicherzustellen, dass sie nicht verletzt war. Sie war unverletzt, zitterte aber vor Angst. Mit einem besorgten Gesichtsausdruck nickte sie, um ihm zu versichern, dass es ihr gut ging, und zeigte auf die Seite von Dantes Hemd, die jetzt blutrot war.
„Es ist nur ein Kratzer“, sagte Dante. „Mach dir keine Sorgen um mich.“
Er blickte auf und ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen.
„Wir müssen hier weg“, sagte er und richtete sich auf. „Sie werden sicher nach den dreien suchen.“ Er ergriff Fionas Hand. Sie zitterte und fühlte sich kalt an. Dante beugte sich wieder zu ihr hinunter.
„Ich weiß, dass du Angst hast. Aber du musst noch ein bisschen länger tapfer sein, okay?“ In Dantes Stimme lag ein Hauch von Verzweiflung. Er versuchte, für seine Schwester stark zu bleiben. Er wollte sie nicht noch mehr verängstigen, indem er zeigte, dass er genauso viel Angst hatte.
Fiona starrte ihn an. Eine einzelne Träne lief ihr zartes Gesicht hinunter, bevor sie ihre Lippen aufeinanderpresste und nickte.
„Tapferes Mädchen“, sagte Dante und strich über ihr langes Haar.
Aber obwohl Dante seiner Schwester versicherte, dass sie in Sicherheit seien, hatte er noch ein anderes Problem. Er wusste nicht, wohin sie gehen sollten. Jeder Soldat und Söldner im Land suchte vermutlich bereits nach ihnen. Alle Gefährten seines Vaters waren tot. Kein Fremder würde ihnen in diesem Zustand helfen und sein Leben ohne Grund riskieren. Es gab keinen Ort, an dem sie sich verstecken konnten, und niemanden, der sich um sie kümmerte. Sie waren auf sich allein gestellt.
Plötzlich kam Dante ein beunruhigender Gedanke. „Vielleicht sollten wir in den Wald von Vardheim fliehen“, murmelte er.
Der Wald von Vardheim war ein geheimnisvoller Ort. Er war mehrere Jahrhunderte alt und bestand aus hohen Bäumen, die wie finstere Riesen aussahen und jeden verschlingen würden, der es wagte, ihn zu betreten. Niemand wusste, wie groß der Wald war oder welche Art von Kreaturen in seinen dunklen Schatten lauerten. Die Bewohner von Albin erzählten sich Geschichten über den Wald von Vardheim, Geschichten, die so schrecklich waren, dass sie jedem, der ihnen zuhörte, das Blut in den Adern gefrieren ließen. Einige Geschichten waren so skurril, dass sie zwar niemand glaubte, aber es wagte auch niemand, ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Die düstere, dunkle Atmosphäre des Waldes und der Nebelschleier, der ihn selbst bei strahlendem Sonnenschein zu verschlingen schien, hielten die Menschen fern vom Wald. Es hieß, dass in Vardheim Kreaturen lauerten, die sich der Schöpfung widersetzten und sich in seiner kalten, feuchten Dunkelheit versteckten. Kein vernünftiger Mensch würde den beiden Geschwistern nach Vardheim folgen. Unter den Bewohnern von Albin herrschte ein unausgesprochenes Tabu, den Wald zu betreten. Nur menschlicher Abschaum wie Diebe, Mörder und andere Kriminelle wagten sich in den Wald, um dem Gesetz zu entkommen. Und auch nur, wenn es keine andere Möglichkeit gab. Dante blickte auf die Stadt zurück, die sie hinter sich ließen, wo die Sonne von den vielen Dächern reflektiert wurde. Er und Fiona konnten nie wieder dorthin zurückkehren, wo sie aufgewachsen waren, in ihre Heimat. Sie wurden gejagt. Aber Vardheims furchterregender Ruf könnte sie vorerst in Sicherheit bringen.
Trotz ihrer Umstände huschte ein leichtes Grinsen über Dantes Gesicht. Er hätte nie gedacht, dass er einmal zu den verachtenswerten Gesetzlosen gehören würde, die es wagten, den Wald zu betreten.
Kurzentschlossen gingen die beiden Geschwister weiter in Richtung Vardheim. Obwohl es ein geheimnisvoller Ort war, wusste jeder, wo er lag. Sie mieden die Hauptstraßen so weit wie möglich und hielten den Kopf gesenkt, wenn Leute an ihnen vorbeigingen. Niemand schenkte ihnen Beachtung. Sie sahen anders aus als noch vor ein paar Tagen. Ein ganzer Tag des Hungerns, Rennens, Versteckens und Kämpfens hatte die beiden Geschwister so elend aussehen lassen wie zwei Waisenkinder, die keinen Ort haben, zu dem sie gehen könnten. Das stimmte jetzt sogar. Ihre Familie war tot, sie hatten kein Zuhause mehr und wurden gejagt.
Dante und seine Schwester liefen den ganzen Morgen und Nachmittag durch Felder und Sümpfe, was ihr Tempo verlangsamte. Aber so konnten sie sich vor neugierigen Blicken verstecken. Sie durften auf keinen Fall von Soldaten gesehen werden. Beide waren am hungrig, hatten aber nichts zu essen. Gelegentlich hielten sie an einem kleinen Bach an, um einen Schluck erfrischendes Wasser zu trinken. Doch sie mussten weiter, um ihr Ziel vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Aber Erschöpfung und Hunger ließen sie langsamer werden, und die Sonne war bereits dabei unterzugehen, als sie den Wald von Vardheim in ein paar Kilometern Entfernung sahen. Die Äste der uralten Bäume reichten so hoch, dass sie den Himmel zu berühren schienen. Sie konnten Nebelschwaden erkennen, die zwischen den dunklen Baumstämmen trieben und dem Wald eine gespenstische Atmosphäre verliehen. Im Wind konnten sie die Kälte und Feuchtigkeit des Waldes spüren. Dante erschauerte.
Fiona zupfte an Dantes Ärmel. Sie sah müde aus. Ein Seufzer entfuhr seinen Lippen.
„Okay, lass uns eine Weile hier ausruhen“, sagte Dante. „Wir müssen ohnehin wachsam sein, wenn wir den Wald betreten.“
Ein Lächeln der Erleichterung breitete sich auf Fionas Lippen aus. Für Dante war es das Beste, worauf er im Moment hoffen konnte.
Sie ließen sich zwischen einigen großen Felsen nieder, um sich vor dem kalten Abendwind und neugierigen Blicken zu schützen. Dante hatte es nicht geschafft, etwas zu essen zu besorgen, sodass er seiner Schwester nur etwas Wasser zum Trinken anbieten konnte. Sie trank es hastig. Ihre kurze Rast war friedlich und wurde nur einmal von einer neugierigen, streunenden Katze unterbrochen.
Ein paar Stunden später wachten Dante und Fiona ausgeruht auf. Die Sonne war untergegangen. Über dem Horizont war noch ein rosafarbenes Licht zu sehen, das jedoch schnell verblasste, als die Nacht hereinbrach. Der Wald von Vardheim sah in der Dunkelheit noch bedrohlicher aus. Fiona betrachtete den Wald mit einer Mischung aus Neugier und Angst in den Augen. Sie hatte ebenfalls die schrecklichen Geschichten über Vardheim gehört und war verängstigt. Dante wusste das. Er ärgerte sich über sich selbst, dass er seine Schwester so unvermittelt und auf diese Weise mit ihren Ängsten konfrontieren musste.
Sie waren immer noch hungrig, hatten aber keine Zeit, etwas zu essen zu suchen. Sie mussten nach Vardheim gelangen und sich in seinen dunklen Schatten verstecken, bevor sie jemand finden würde. Selbst ihr kurzes Nickerchen war ein Risiko. Was wäre, wenn jemand sie gesehen hätte, als sie schliefen? Sie wären gestorben, ohne wieder aufzuwachen. Dante würde jederzeit die Bestien von Vardheim den mörderischen Menschen vorziehen, die sie jetzt jagten. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf drängte Dante seine Schwester in Richtung Wald. Trotz aller Herausforderungen und der Tatsache, dass die Welt sich scheinbar gegen sie verschworen hatte, setzten die beiden Geschwister ihren Weg in Richtung des gespenstischen Vardheims fort.
Schließlich erreichten sie die ersten riesigen Bäume am Waldrand. Die Bäume waren so hoch, dass ihnen schwindlig wurde, als sie zu ihnen aufblickten. Sie konnten nicht mehr als ein paar Meter in den Wald hineinsehen. Die unheimliche Atmosphäre schien sie verscheuchen zu wollen. Es war, als würden die riesigen Bäume über ihnen sie davor warnen, den Wald zu betreten. Aber Dante und Fiona hatten keine Wahl. An der Richtung, in der die Sonne untergegangen war, konnte Dante erkennen, dass dies die westliche Grenze von Vardheim war. Die beiden Geschwister hielten inne und blickten ein letztes Mal auf das Land zurück, das sie hinter sich ließen. Vardheim schien wirklich eine andere Welt zu sein.
Dante und Fiona betraten den Schatten der massiven Bäume und wurden schnell von den Nebelschleiern eingehüllt. Die Waldluft war kühl auf ihrer Haut, und das gelegentliche Schreien einer Eule in der Ferne war das einzige Lebenszeichen inmitten der Stille. Der Wind heulte in der Ferne und die hohen Bäume knarrten, als ob sie ihren Unmut über die Ankunft der beiden Fremden zum Ausdruck bringen wollten. Jeder Zentimeter des Waldes war feucht, und nach ein paar Schritten in die Dunkelheit konnte Dante den Weg zurück nicht mehr sehen. Sie konnten auch keinen Weg vor sich erkennen, und die dichten Büsche und das hohe Gras machten es unmöglich, einen zu finden. Dante bahnte sich einen Weg, während er voranging, und Fiona folgte ihm auf den Fersen. Die Waldluft war drückend, und Dante begann zu schwitzen. Auch seine Wunde begann vor Erschöpfung zu schmerzen, und er konnte sich kaum davon abhalten zu stöhnen. Die Verletzung fühlte sich schlimmer an, als er zunächst angenommen hatte.
Dante wollte nicht, dass Fiona erfuhr, wie schwer seine Verletzung war. Sie hatten wichtigere Dinge, um die sie sich Sorgen machen mussten. Sie hatten immer noch kein Essen gefunden und nur ihre Mäntel, die sie vor der Kälte schützen konnten. Dante sah Fiona an, um sicherzustellen, dass es ihr gut ging, und bemerkte, dass sie blass war. Sie mussten Nahrung und einen Unterschlupf finden. Es war über einen Tag her, seit sie das letzte Mal gegessen hatten, und Fiona war noch ein Kind. Während Dante stundenlang ohne Essen auskommen konnte, war das für Fiona nicht möglich. Sie war diese Art von Strapazen nicht gewohnt. Er wusste, dass er ihr bald etwas zu essen besorgen musste.
Plötzlich zeigte Fiona mit der Hand nach rechts. In der Dunkelheit befand sich zwischen zwei massiven Bäumen eine kleine Höhle. Sie würde ausreichen, um dort die Nacht zu verbringen und sie vor dem Wetter und vor Banditen schützen. Da es nur einen Eingang gab, konnten wilde Tiere sie außerdem nur von einer Seite aus angreifen. Es war der perfekte Ort, um etwas Schlaf zu bekommen. Dante sammelte Feuerholz, während Fiona trockene Baumblätter auf dem Boden der Höhle ausbreitete, um daraus eine Matratze zu formen. Sie hatten auf ihren Reisen oft mit ihrem Vater unter freiem Himmel übernachtet und waren daher an das Leben im Freien gewöhnt. Aber dies war eine völlig andere Situation.
Die Geschwister machten es sich schließlich mit einem Feuer gemütlich, das sie warmhielt, und hatten genug Holz, um es die ganze Nacht brennen zu lassen. Gierig verschlangen sie einige Beeren und Pilze, die Dante beim Sammeln von Feuerholz gefunden hatte.
„Ruh dich aus. Ich halte Wache.“ Dante lächelte seine Schwester an, als sie mit dem Essen fertig waren, und setzte eine tapfere Miene auf, um ihre Sorgen zu lindern. Es funktionierte. Fiona fühlte sich ein wenig sicherer, weil ihr Bruder stark genug war, um sie zu beschützen. Das muss ihr geholfen haben, zuversichtlich zu bleiben, dass alles gut werden würde, dachte Dante. Sie ahnte noch nicht, dass dies erst der Anfang der Strapazen war.
„Wir ruhen uns eine Nacht aus und gehen dann weiter. Die Soldaten kommen wahrscheinlich nicht in diesen Wald, aber wir können kein Risiko eingehen“, sagte Dante und tätschelte seiner Schwester den Kopf. Aber auch wenn er sagte, dass sie weitergehen würden, wusste er nicht, wohin. Sie konnten nicht für immer in Vardheim bleiben. Wohin sollten sie gehen? Wer würde ihnen helfen?
Die Nacht war größtenteils ruhig. Ab und zu hörte man den Schrei einer Eule in der Ferne, die zwischen den Baumkronen nach Beute suchte. Eine Maus raschelte im Gebüsch am Höhleneingang, floh aber, erschrocken vom Licht des Feuers. Dante saß allein da und warf seiner Schwester gelegentlich einen Blick zu. Er sorgte dafür, dass das Feuer nicht erlosch, damit sie nicht frieren mussten. Der ganze Wald war still. Nicht einmal die Blätter raschelten. Es war Mitternacht. Mehr als ein Tag war seit dem Aufstand vergangen.
Seit er und Fiona miterleben mussten, wie ihr Vater vor ihren Augen ermordet wurde.
Das Bild, wie Caesar seinem Vater in die Brust stach, schoss durch Dantes Kopf. Sein Vater, der Mensch, zu dem er immer aufgeschaut hatte, war zu Boden gefallen wie ein großer Baum, der gefällt wurde, und hatte in einer Lache seines eigenen Blutes gelegen. Dantes Hand umklammerte automatisch den Griff seines Schwertes. In dieser Nacht war überall im Palast Blut zu sehen gewesen, Dutzende Soldaten und Wachen waren gnadenlos getötet worden.
Obwohl er und seine Schwester vor Caesar und seinen Männern in Sicherheit waren, machte sich Dante immer noch Sorgen um jemanden, den er zurückgelassen hatte. Jemanden, der ihm viel bedeutete. Kara.
Er versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass er keine andere Wahl gehabt hatte, als sie zurückzulassen. Kara war die Prinzessin von Albin, Caesars Druckmittel gegen Königin Tessa. Caesar würde sie wahrscheinlich nicht töten, weil sie von königlichem Blut und daher wertvoll ist, dachte Dante und versuchte erneut, sich selbst davon zu überzeugen, dass er keine andere Wahl gehabt hatte, als sie zurückzulassen. Im Gegensatz zu Prinzessin Kara waren er und Fiona Bürgerliche. Schlimmer noch, sie waren die Kinder von Melusi, dem persönlichen Ritter des Königs. Caesar hätte nicht gezögert, sie zu töten, wenn sie nicht geflohen wären.
***„Ich habe dich gefunden, Junge!“, rief Caesar triumphierend, während er am Eingang der Höhle stand. Seine Augen funkelten in der Dunkelheit. „Du hast doch nicht wirklich geglaubt, du könntest vor mir weglaufen, oder?“ Er zog sein Schwert und richtete es auf Dante. Es war dasselbe Schwert, mit dem er Dantes Vater getötet hatte. Dante konnte fast das Blut seines Vaters auf der Klinge sehen.
„Wie hast du uns gefunden?“, fragte Dante und trat einen Schritt zurück. Er hatte Angst.
„Fiona! Wach auf!“, rief er seiner Schwester zu, während er zurückwich, aber sie rührte sich nicht.
„Fiona?“, sagte Dante und schaute die schlafende Gestalt eindringlich an.
„Schau genau hin“, höhnte Caesar, während er näher und näher kam.
Langsam näherte sich Dante seiner Schwester. Mit einer zitternden Hand drehte er sie um. Blut strömte aus einem klaffenden Loch in ihrer Brust, und ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Blick war leer in ihrem blassen, leblosen Gesicht.
„Nein!“, schrie Dante. Mit flammenden Augen wandte er sich Caesar zu und griff nach seinem Schwert. Aber er war zu langsam. Caesars Schwert durchbohrte bereits seinen Körper.
„Du kannst nicht vor mir davonlaufen, Junge. Deine Schwester ist tot, und deine kleine Freundin auch“, flüsterte Caesar ihm bedrohlich ins Ohr, während er das Schwert tiefer in Dantes Brust stieß.
„Was hast du getan?“, brachte Dante hervor, während er Blut hustete.
„Dachtest du, ich würde sie am Leben lassen? Deine Freundin, die Prinzessin? Du willst mich wohl verarschen. Sie war nutzlos und nervig.“ Caesar grinste. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zog er das Schwert aus Dante, der auf die Knie fiel und nicht in der Lage war, etwas zu erwidern. Dante sah, wie sein eigenes Blut von der Spitze des Schwertes, das seinen Vater getötet hatte, auf den Boden der Höhle tropfte. Nun hatte es auch sein Leben ausgelöscht.
„Grüß deine Mutter und deinen Vater von mir!“, johlte Caesar, als er sein Schwert über Dantes Hals schwang.
Mit einem ohrenbetäubenden Schrei auf den Lippen setzte sich Dante auf. Sein eigener Schrei hatte ihn aus dem Schlaf geweckt, in den er gefallen war. Er war immer noch in der Höhle und das Feuer knisterte vor ihm. Seine Hand griff automatisch nach seiner Brust. Sein Herz raste, aber es ging ihm gut. Es war nur ein Albtraum. Er schaute zu Fiona. Sie schlief und ihre Brust hob und senkte sich rhythmisch.
***Nur ein paar einzelne Sonnenstrahlen drangen im Wald von Vardheim durch das dichte Blätterdach der Bäume bis zum Boden. Durch das wenige Sonnenlicht, das den Boden berührte, schien der Wald noch zu schlafen. Der Morgentau hing noch am hohen Gras, weil das Sonnenlicht nicht ausreichte, um es verdunsten zu lassen. Vögel riefen, aber auch sie klangen schläfrig. Dante und Fiona trugen ihre Mäntel, weil die Morgenluft noch feucht und kühl war. Das taufeuchte Gras war so hoch, dass ihre Mäntel etwas durchnässt waren. Die Blätter, auf die sie traten, waren nicht trocken, sodass ihre Schritte gedämpft wurden. Die hohen Bäume und der Wind wirkten immer noch bedrohlich. Die Bäume schienen lebendig zu sein, und die Geschwister hatten das Gefühl, sie beobachteten sie. Aber in ihrem Unterschlupf waren die Geschwister vor ihren Verfolgern sicher gewesen.
Sie hatten ihre Höhle ein paar Minuten, nachdem Fiona aufgewacht war, verlassen und gingen nun einen Feldweg im Wald entlang, aber Dante hatte ein seltsames Gefühl. Bis jetzt war der Wald so dicht gewesen, dass sie kaum mehr als ein paar Schritte weit sehen konnten. Aber jetzt hatten sie einen Feldweg gefunden. Das bedeutete, dass jemand diesen Weg häufig benutzt haben musste. Konnten es die Kriminellen sein, die sich gelegentlich in den Wald von Vardheim wagten, oder waren es Tiere?
Dante wollte seine Schwester nicht beunruhigen, also behielt er seine Gedanken für sich.
Nach ein paar Stunden Fußmarsch schob Dante einige große Blätter beiseite, um den Weg freizumachen, und blieb wie erstarrt stehen, als er sah, was vor ihm lag. Fiona zwängte sich an ihm vorbei und versuchte zu sehen, was ihren Bruder zum Anhalten gebracht hatte.
Dort, inmitten des Grüns der Vögel und ihrer zwitschernden Geräusche, befand sich ein großer Wasserfall, der in einer wunderschönen Kaskade in ein Becken mit klarem Wasser fiel und an seinem Fuß Regenbogenfarben erscheinen ließ. Er war von Wildpflanzen und Waldreben umgeben, die mit vielen bunten Blumen gefüllt waren. Es erinnerte sie an ein Bild, das sie einmal in einem Märchenbuch gesehen hatten. Es sah aus wie ein Ort, an dem Feen leben und Waldnymphen baden würden. Dante und Fiona waren noch nie an einem solchen Ort gewesen. Sie hätten es nie für möglich gehalten, dass ein solcher Ort existierte, schon gar nicht mitten im düsteren Vardheim. Sie standen da und starrten auf die atemberaubende Szene vor ihnen, während der Nebel, der vom Wasserfall herüberwehte, sie erfrischte. Ihre Erschöpfung und ihr Hunger schienen wie durch Zauberhand zu verschwinden und sie der bezaubernden Schönheit zu überlassen, die sich vor ihnen entfaltete. Dante schloss die Augen, atmete tief ein und genoss den kühlen Nebel auf seinem Gesicht. Er schloss die Augen für etwa zwei Sekunden, bevor er sie wieder öffnete und nach seiner Schwester Ausschau hielt.
„Nein, warte! Stopp!“, rief er, sobald er Fiona sah, die auf das Ufer zugegangen war.
Dante wusste, dass sie durstig war, aber er konnte nicht riskieren, dass sie krank wurde, wenn sie Wasser aus einem Wasserfall im Wald trank. Nach allem, was er wusste, konnte es durchaus sein, dass irgendein gefährliches Wasserwesen aus dem Wasser kroch und sie fraß. Die schrecklichen Geschichten, die er über den Wald von Vardheim gehört hatte, gingen ihm durch den Kopf. Schon in sehr jungen Jahren wurden Kinder in Albin über den Wald von Vardheim und all die schrecklichen Dinge aufgeklärt, die in seinen dunklen Schatten geschahen. Nur Kriminelle, die versuchten, dem Gesetz zu entgehen, betraten den Wald von Vardheim. Und auch das war eine wohlüberlegte Entscheidung, die sie nur trafen, wenn sie verzweifelt waren. Trotzdem hatte Dante seine hilflose, kleine Schwester dorthin geführt. Sie waren verzweifelter als die Kriminellen. Aber Dante glaubte, dass er mit all der Ausbildung, die er von seinem Vater erhalten hatte, das Zeug dazu hatte, in diesem Wald zu überleben.
Dante legte seine Hand auf die Wange seiner Schwester.
„Ich habe versprochen, alles zu tun, um dich zu beschützen“, erklärte er. „Dieses Wasser könnte gefährlich sein. Ich muss sichergehen, dass es trinkbar ist.“
Plötzlich spürte Dante einen brennenden Schmerz in seiner Seite und beugte sich vor, während er sie vor Schmerz umklammerte. Fionas Augen weiteten sich vor Sorge. Dante wusste, dass er seine Schmerzen nicht länger vor ihr verbergen konnte. Seine Wunde wurde von Minute zu Minute schlimmer. Die Blutung hatte vollständig aufgehört, aber irgendetwas stimmte nicht. Die Schmerzen waren schlimmer geworden. Sie schnürten ihm die Kehle zu.
„Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut. Versprochen“, versuchte Dante seine Schwester zwischen tiefen Atemzügen zu beruhigen. „Es ist wirklich nichts“, versuchte er den brennenden Schmerz zu ignorieren, aber es gelang ihm nicht.
Fiona war zwar jung, aber nicht dumm. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte. Sie versuchte, Dantes Seite zu berühren, um zu sehen, wie schlimm die Wunde war. Dante hielt ihre Hand zurück und versuchte, sie davon abzuhalten. Aber als er in Fionas Augen blickte, sah er, dass er sie noch mehr beunruhigte, indem er seine Wunde vor ihr verbarg. Er seufzte und ließ sie sein Hemd anheben, um die Wunde zu untersuchen.
Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich, als Fiona den tiefroten Streifen an der Seite ihres Bruders sah.
Die Wunde war infiziert. Dunkle Adern umgaben sie, als würde eine Art Parasit nach außen wachsen, und die Haut um den Schnitt herum war violett verfärbt. Der Geruch, der von der Wunde ausging, war so schrecklich, dass man hätte schwören können, Dante würde von innen heraus verfaulen.
„Es ist nichts Ernstes“, versuchte Dante Fiona zwischen vor Schmerzen gepressten Atemzügen zu überzeugen, wobei er sich nicht einmal selbst davon überzeugen konnte. Er warf einen Blick auf seine Schwester und bemerkte, wie verängstigt sie war, als sie sich langsam von ihm entfernte. Er hatte sie noch nie so verstört gesehen, nicht einmal, als ihr Vater getötet wurde.
Dante trat mühsam vor und versuchte, sie zu beruhigen.
„Hey, hey. Ich verspreche dir, mir geht es gut. Ich bin …“, Dante hielt inne. Fiona sah absolut verängstigt aus. Ihre Augen waren so groß wie Untertassen, und ihr Mund stand offen. Sogar ihre Hände zitterten vor Angst. Eine Wunde, selbst eine stark infizierte, könnte niemandem einen solchen Schrecken einjagen. Langsam wurde ihm klar, dass Fiona nicht ihn ansah. Sie schaute auf etwas hinter ihm. Mit angehaltenem Atem drehte sich Dante langsam um.
Eine Kreatur von der Größe eines Elchs, mit zwei Zähnen, die so lang wie Küchenmesser waren, einem gewundenen Schwanz und glänzenden schwarzen Krallen, stand auf einem Vorsprung hinter ihm. Das Wesen war kohlschwarz, mit dunkelgrauen Flecken an einigen Stellen. Seine Augen leuchteten rot und stachen wie zwei Feuerstellen direkt aus der Hölle gegen das dunkle Fell hervor. Es sah aus wie ein Wildschwein, war aber doppelt so groß. Im Gegensatz zu einem Wildschwein stand es jedoch auf seinen Hinterbeinen. Das war kein Wildschwein.
Das Monster starrte die beiden aus einiger Entfernung an, seine roten Augen glänzten und ihm lief Sabber aus dem Maul. Es schien zu analysieren, wie es sich am besten auf sie stürzen konnte. Dieses Monster war direkt aus einem Albtraum entsprungen. Die Menschen erzählten sich Geschichten über solche Monster. Aber Dante hätte nie gedacht, dass es solche Monster wirklich gibt. Allein die schiere Größe und der bedrohliche Blick der Kreatur konnten jeden Menschen vor Angst in Ohnmacht fallen lassen. Dante hatte noch nie ein solches Tier gesehen. Was auch immer es war, Dante war klar, dass sie gleich sein Mittagessen sein würden.
„Nicht bewegen.“ Dante wandte sich mit ruhiger Stimme an seine Schwester, ohne das Tier aus den Augen zu lassen. Wie konnte sich diese gigantische Kreatur überhaupt an sie herangeschlichen haben? Sie bewegte sich zweifellos leiser, als man es von einem Wesen ihrer Größe erwarten würde.
Fiona drückte Dantes Hand vor Angst, ihre Fingernägel gruben sich in seine Haut.
„Was zum Teufel ist das für ein Ding?“, murmelte Dante vor sich hin und überlegte sich einen Fluchtweg. Wahrscheinlich würden sie nicht in der Lage sein, ihm zu entkommen. Er war sich nicht einmal sicher, wo sie sich befanden. Und selbst wenn sie es schaffen würden, wohin sollten sie dann fliehen? Das Tier war wahrscheinlich an die Umgebung hier gewöhnt. Es würde sie einholen, bevor sie es überhaupt bemerkten. Wo würden sie Schutz finden? Sollten sie zurück zu ihrer Höhle laufen? Aber sie war weit entfernt, und wenn das Monster sie einholte, wären sie leichte Beute und könnten nirgendwo hinlaufen. Sollten sie versuchen, auf einen Baum zu klettern? Aber was, wenn das Tier hochspringen konnte? Oder noch schlimmer, klettern? Sollten sie ins Wasser springen und um ihr Leben schwimmen? Was, wenn das Monster auch schwimmen konnte? Er hatte noch nie ein solches Tier gesehen und wusste nicht, wozu es fähig war.
Dante starrte das Ungeheuer an und hoffte, Antworten auf die Fragen zu finden, die ihm durch den Kopf gingen. Er konnte hören, wie sich in der Kehle des Monsters ein leises Knurren aufbaute, das durch seine scharfen, zusammengebissenen Zähne entwich. Seine Hand bewegte sich langsam in Richtung seines Schwertes. Es war zu spät, um wegzulaufen.
„Geh ganz langsam zurück. Vielleicht ignoriert es uns dann“, sprach er mit halbgeöffnetem Mund zu Fiona, ohne den Blick von dem Ungeheuer abzuwenden.
Dante trat einen Schritt zurück, dann noch einen, und stieß Fiona in den Wald hinter sich. Das Monster beobachtete ihre Bewegungen und sabberte immer noch. Es überlegte, ob sich die beiden Menschen die Mühe lohnen würden. Dante begann zu glauben, dass sie vielleicht entkommen könnten, als das Tier sich zum Sprung entschloss.
Dann passierte alles in Sekundenbruchteilen. Dante sah die gigantische, dunkle Gestalt des Monsters mit den Klauen voran, durch die Luft auf sie zu fliegen. Es war schnell. Unglaublich schnell für ein Tier seiner Größe. Dante schaffte es, seine Schwester weiter wegzustoßen und parierte gerade noch einen kräftigen Hieb der riesigen Klaue des Monsters. Die Wucht des Aufpralls stieß Dante jedoch ein paar Schritte zurück. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Fiona hinter einem dicken Baumstamm versteckte.
Fiona war vorerst in Sicherheit, aber er durfte nicht aufgeben. Er musste sie beschützen. Dies war erst der Anfang ihrer Reise. Fiona würde ohne ihn niemals überleben.
Mit dem Drang, seine Schwester zu beschützen, ignorierte Dante die zunehmenden Schmerzen an seiner Seite und brüllte. Er versuchte verzweifelt, dem Monster ein Bein abzuschlagen, um es bewegungsunfähig zu machen. Aber es wich den Schwüngen seines Schwertes mit überraschender Behändigkeit aus. Nur sein Kampfinstinkt hielt Dante in der nächsten Minute am Leben. Er sprang hin und her, um den Hieben, Stößen und Bissen des Monsters auszuweichen, während er versuchte, mit seinem Schwert einen Treffer gegen das Tier zu landen. Weder ihm noch dem Monster gelang es, einen Treffer zu landen. Als Dante endlich die Oberhand zu gewinnen schien, blieb sein Fuß an einer Wurzel hängen und er stürzte zu Boden.
Dante sah, wie die schwarze Klaue durch die Luft auf ihn zuschoss, aber er konnte seinen Oberkörper gerade noch rechtzeitig zur Seite rollen.
Unter unerträglichen Schmerzen spürte er, wie das Fleisch an seinem linken Bein aufriss und seine Sicht verschwamm.
„Lauf, Fiona, lauf weg von hier!“, rief er seiner Schwester zu. Trotz der Schmerzen konnte er nur daran denken, sie in Sicherheit zu bringen.
Doch anstatt wegzulaufen, rannte Fiona zu ihrem Bruder. Mit tränenüberströmtem Gesicht packte sie Dantes Arm mit beiden Händen und versuchte, ihn aus der Reichweite des Monsters zu ziehen. Unglücklicherweise war er zu schwer für sie. Fiona fiel neben ihrem Bruder zu Boden. Sie kauerte sich an seine Seite und versuchte, ihre Tränen und ihr leises Schluchzen zu unterdrücken.
„Es tut mir leid. Ich konnte dich nicht beschützen“, murmelte Dante und umarmte sie, um sie vor dem Monster abzuschirmen, als er es knurren hörte, bereit für seinen letzten Angriff. Er hatte unerträgliche Schmerzen, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte, und wusste, dass der Hieb des Monsters ihn auf der Stelle töten würde. Er schloss die Augen. Er fürchtete den Tod nicht, aber er konnte es nicht ertragen, Fiona leiden zu sehen.
Dante hielt die Augen geschlossen und erwartete den letzten Hieb des Monsters, aber er kam nicht. Er hörte, wie etwas Schweres neben ihm und Fiona zu Boden fiel. Die Neugier siegte und er öffnete die Augen.
Das Monster lag regungslos neben ihnen auf dem Boden und atmete nicht mehr. Sein Maul stand offen und die Zunge hing heraus. Es bewegte sich nicht. Was war passiert? Dante setzte sich langsam auf und betrachtete das Monster vorsichtig, wobei er den pochenden Schmerz in seinem Bein und seiner Seite ignorierte. Zwei lange Pfeile hatten die Augen des Monsters durchbohrt und waren in seinem Schädel versunken. Dunkles Blut sickerte aus seinen Augenhöhlen. Er hielt Fionas Kopf unten, als sie versuchte, nach oben zu schauen. Ein Bogenschütze, und zwar ein sehr geschickter, hatte sie gerettet.
Das Geräusch sich nähernder Schritte ließ Dante aufblicken. Seine Wunden schmerzten so sehr, dass sie seine Sicht trübten, und er nicht wusste, was er von dem, was er sah, halten sollte. Er war sich nicht einmal sicher, ob das, was er sah, real war. Fiona hatte endlich aufgesehen und starrte die sich nähernde Gestalt ebenfalls mit vor Überraschung offenem Mund an.
Ein Mädchen ging auf sie zu. Sie sah etwas älter aus als Fiona und trug Kleidung, die aus etwas zu bestehen schien, das wie Tierhäute und Pflanzenfasern aussah. Er erwartete, irgendwo einen Bogen zu sehen, aber sie trug keine Waffen. Das war jedoch nicht das Seltsamste. Die Haut des Mädchens, das auf sie zukam, war grün. Dante und seine Schwester waren von einem Wesen der Natur gerettet worden, von dem sie nur aus Geschichten gehört hatten. Von einem der Ureinwohner von Vardheim. Eine Naturgeborene.
„Warte!“, rief Dante, als er mit Fiona durch den Wald rannte. Diesmal waren ihre Rollen vertauscht. Fiona rannte vor ihm her, ihre kleine Hand umklammerte seine und zog ihn mit aller Kraft vorwärts.
„Warte! Bitte, bleib stehen! Warte auf uns!“
Dante stolperte über einen Ast, von dem er hätte schwören können, dass er eine Sekunde zuvor noch nicht da war. Er konnte seinen Sturz gerade noch abfangen, indem er sich an einer nahegelegenen Ranke festhielt, und er blickte dem Mädchen hinterher, das sie verfolgten. Sie war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Fiona sah müde und niedergeschlagen aus und hielt immer noch eine seiner Hände fest. Dante drehte sich in die andere Richtung, um zu sehen, ob das Mädchen die Richtung geändert hatte. Sie waren verzweifelt. Dieses Mädchen, was auch immer sie war, konnte ihnen helfen.
Plötzlich stand sie direkt vor ihm. Das Mädchen mit der grünen Haut. Die Naturgeborene.
„Warum verfolgt ihr mich?“, fragte sie mit klarer, durchdringender Stimme. Dante war überrascht, dass sie ihre Sprache beherrschte.
„Endlich. Danke, dass du angehalten hast“, keuchte Dante und verbarg seine Überraschung.
„Beantworte meine Frage“, fauchte die Naturgeborene.
„Du bist eine von ihnen, oder? Eine Naturgeborene?“ Dante richtete sich langsam und unter Schmerzen auf und ließ die Liane los, an der er sich festgehalten hatte.
„Bleib liegen. Du wirst dich verletzen. Du musst etwas gegen diese Wunden tun.“
„Oh, das ist halb so wild.“ Dante versuchte, sein verletztes Bein zu belasten, um das Gleichgewicht zu halten, fiel aber sofort vor Schmerzen wieder zu Boden. Fiona kniete sich neben ihn. „Ich bin okay, mir geht es gut“, murmelte er.
„Du verblutest, du Idiot“, fuhr die Naturgeborene Dante an, als sie sich die Wunde ansah. Ihre Haut hatte einen erstaunlichen Grünton und ihr Haar war fast weiß mit einem zarten Grünstich. Sie hatte einen erdigen Geruch an sich, der Dante an eine Wiese nach dem Regen erinnerte.
„Das Blut wird weitere Kreaturen anlocken. Es hat dieses Monster überhaupt erst auf eure Spur geführt“, fuhr das Mädchen fort. „Du musst schnell etwas gegen diese Wunden unternehmen. Geht nach Hause.“
„Wir können nicht zurück. Wir haben kein Zuhause. Eine Menge ist passiert und wir müssen einen sicheren Ort finden.“ Dante versuchte es ihr zu erklären, während Fiona zustimmend nickte.
„Ihr könnt hier nicht bleiben. Ich nehme an, ihr wisst bereits, wie sicher dieser Wald ist, oder?“, fragte das Mädchen mit einem Hauch von Sarkasmus in der Stimme.
„Du scheinst dich hier auszukennen. Vielleicht kannst du uns helfen, einen sicheren Ort zu finden.“ Dante blickte das grüne Mädchen hoffnungsvoll an. Egal, wie oft er hinschaute, ihre grüne Haut erstaunte ihn immer noch. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Grün oder nicht, sie brauchten ihre Hilfe.
„Ich kann euch nicht helfen“, erklärte das Mädchen bestimmt. „Geht einfach dorthin zurück, wo ihr hergekommen seid. Verschwindet, solange ihr noch könnt.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging auf die dunklen Schatten zu, die die hohen Bäume warfen.
„Bitte! Wir brauchen deine Hilfe!“ Dante versuchte erneut aufzustehen. „Wir sind in Schwierigkeiten und brauchen deine Hilfe!“ Seine Stimme klang verzweifelt. Fiona versuchte, sein Gewicht mit ihrem Körper zu stützen, während er darum kämpfte, sein Gewicht auf einem Bein zu balancieren.
„Genau aus diesem Grund kann ich euch nicht helfen“, sagte das grüne Mädchen. „Mit welchen Schwierigkeiten auch immer ihr zu kämpfen habt, ich möchte nicht, dass es sich auf mein Volk auswirkt.“
„Dein Volk?“, fragte Dante neugierig und vergaß für einen Moment ihre missliche Lage. Er war schon immer von den Geschichten über die Naturwesen fasziniert, die in Vardheim lebten. „Wie viele von euch gibt es? Lebt ihr in einem Dorf oder so? Seht ihr alle so aus?“ Er deutete auf ihre grüne Haut.
„Ich kann euch nicht helfen!“, rief das Mädchen wütend und ging weiter. „Reinige deine Wunden und halte sie sauber. Das Blut wird alle möglichen Kreaturen anlocken, vielleicht sogar noch bösartigere“, warnte sie Dante.
„Bitte, wir brauchen wirklich deine Hilfe“, rief Dante verzweifelt und versuchte, seine Tränen zurückzuhalten. Er hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Er schämte sich für sich selbst, aber er hatte keine andere Wahl. „Du kannst mich hier zum Sterben zurücklassen, wenn du willst, aber nimm meine kleine Schwester mit. Ich habe meinem Vater versprochen, dass ich auf sie aufpasse“, flehte er das Mädchen mit der grünen Haut an. Fiona hörte zu, ihre Hand umklammerte seinen Arm fester.
Die Naturgeborene drehte sich um und sah Dante in die Augen. Er begann, ihr leidzutun. Die beiden Geschwister hatten offensichtlich viel durchgemacht und waren dem Hungertod nahe. Sie konnte an dem Geruch, der von der Wunde an der Seite des Jungen ausging, erkennen, dass sie stark infiziert war. Außerdem verlor er viel Blut aus der frischen Verletzung an seinem Bein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich auch diese Wunde infizieren würde. Er würde es nicht überleben, wenn er allein im Wald zurückgelassen würde. Sie blickte das verängstigte, besorgte, kleine Mädchen an, das versuchte, ihren großen Bruder mit aller Kraft zu stützen. Die Kleine blickte sie mit großen, hoffnungsvollen Rehaugen an. Das war wirklich unfair.
„Bitte! Nimm meine Schwester mit“, flehte Dante. „Sie hat schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen oder getrunken.“
Das Mädchen starrte sie an, als würde sie überlegen, was sie als Nächstes sagen sollte. Die dunklen Augen des Menschenjungen schienen aufrichtig zu sein.
„Du hättest uns einfach diesem Monster überlassen können, das uns in Stücke gerissen hätte, aber du hast uns gerettet. Offensichtlich hast du ein Herz. Also bitte ich dich, meiner Schwester zu helfen. Was mit mir passiert, ist egal. Hilf bitte nur meiner Schwester.“ Der Junge flehte sie an. Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie ihre Gedanken ordnen.
„Wenn ich euch zu mir nach Hause bringe, werdet ihr zurückgewiesen und vertrieben werden. Menschen sind in Vardheim nicht willkommen“, sagte sie, während sie auf sie zuging. „Ich werde euch helfen, in Sicherheit zu kommen, aber dann war es das. Ist das klar?“
„Das ist mehr als genug.“ Dante war erleichtert, aber seine Stimme begann zu versagen. Er hatte seine letzte Energie aufgebraucht, um sich für seine Schwester einzusetzen, und er spürte, wie er langsam wegdämmerte, als er sicher war, dass sie in Sicherheit war. Fiona warf ihm einen besorgten Blick zu.
„Geht es dir gut?“, fragte die Naturgeborene Dante ebenfalls besorgt. „Du siehst nicht gut aus.“ Sie hat also doch ein Herz, dachte Dante.
„Nein, nein, mir geht es gut. Es ist nur eine kleine Wunde.“ Er fiel auf die Knie. Seine Seite fühlte sich taub an und er konnte sein Gleichgewicht nicht halten. Sein Kopf begann sich zu drehen und seine Sicht wurde von Sekunde zu Sekunde dunkler. „Es ist nur …“,
Das waren die letzten Worte, die er sagen konnte, bevor er zu Boden stürzte und das Bewusstsein verlor. Die Naturgeborene eilte auf ihn zu und untersuchte seine Wunden gründlich. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, als sie Dantes Hemd hochzog und die infizierte Wunde sah.
„Oh nein! Hilf mir, ihn zu tragen“, sagte sie und wandte sich an Fiona, die ihren Mund in stummer Panik öffnete und schloss. „Das ist schlimmer, als ich dachte. Wir müssen ihn an einen sicheren Ort bringen.“
Das Menschenmädchen und die Naturgeborene versuchten, Dante hochzuheben, aber er war schwerer, als dass sie ihn hätten hochheben können, selbst zusammen. Aber irgendwie schafften sie es dann doch, ihn über das unebene Gelände in Sicherheit zu ziehen.
***Es war ein typischer Tag in Albin. Die Sonne schien über dem Palast und alles sah friedlich aus – nichts Ungewöhnliches.
„Warum hast du mich hierhergebracht?“, fragte Dante und blickte zurück auf die leicht geöffnete Tür des Lagerraums hinter ihnen. „Möchtest du irgendwo hingehen?“
„Nein. Ich wollte nur für eine Minute von allen wegkommen“, sagte Kara und lächelte Dante an, ihr silbernes Haar floss über ihr schwarzes Kleid. Sie war eine wahre Augenweide.
„Normalerweise verlassen wir immer den Palast, wenn wir uns hier treffen, oder?“, fragte Dante, ging auf die Prinzessin zu und stellte sich neben ein altes Gemälde eines Flusses. Der Raum war voller Gemälde und anderer Artefakte, wie Miniaturschiffe und -boote. Die meisten von ihnen waren alt und rostig, aber einige sahen relativ neu aus.
„Möchtest du den Palast verlassen?“, fragte Kara und warf ihm einen Blick zu.
„Das sollten wir wahrscheinlich nicht“, antwortete Dante. „Dafür ist es noch zu früh. Außerdem muss ich bald das Training mit meinem Vater beginnen.“
„Du trainierst in letzter Zeit ständig“, jammerte Kara wie ein kleines Kind. „Ich habe das Gefühl, dich zu verlieren.“ Sie scherzte natürlich, aber Dante konnte nicht anders, als einen Hauch von Ernst in ihrer Stimme zu bemerken.
„Warum denkst du so etwas?“ Dante lachte. „Ich werde in nächster Zeit nirgendwo hingehen. Ich werde hier sein, um Zeit mit dir zu verbringen. So wie ich es immer getan habe.“
„So habe ich das nicht gemeint, du Genie.“
„Was hast du dann gemeint?“
„Ich weiß nicht. Ich habe nur das Gefühl, dass wir nicht mehr so viel Zeit miteinander verbringen wie früher.“
„Ja, da hast du recht“, stimmte Dante zu. „Ich trainiere ständig mit meinem Vater, um würdig zu sein, ein Ritter dieses Königreichs zu sein.“ Er seufzte.
„Und ich bin immer mit meinem Vater unterwegs, um Ausflüge außerhalb des Königreichs zu machen“, sagte Kara mit einem traurigen Lächeln. „Wir haben heute Nachmittag wieder vor, loszuziehen.“ Sie klang niedergeschlagen.
„Du hast mir nie erzählt, wohin du und dein Vater geht, wenn ihr das Königreich verlasst“, sagte Dante und sah Kara tief in die Augen.
Kara schaute weg. „Ich kann es dir nicht sagen“, sagte sie. „Es soll ein Geheimnis bleiben. Nur die königliche Familie darf von diesem Ort wissen.“
„Ein Ort, den nur die königliche Familie kennen und besuchen kann“, sagte Dante und rieb sich das Kinn. „Es überrascht mich nicht, dass es so einen Ort gibt. Du kannst mir auch nicht sagen, was du dort machst, oder?“
„Nein, kann ich nicht“, antwortete Kara. „Ich weiß nicht, warum mein Vater mich dorthin mitnimmt. Normalerweise sitze ich nur herum, während er irgendein Ritual durchführt.“
„Solltest du mir nicht eigentlich NICHT erzählen, was dort passiert?“, neckte Dante sie.
„Verdammt!“, schrie Kara auf. „Das passiert jedes Mal, wenn ich mit dir zusammen bin! Du solltest wirklich aufhören, deinen Zauber bei mir zu benutzen“, drohte sie Dante mit erhobenem Zeigefinger.
„Was für einen Zauber?“, lachte Dante.
„Aus irgendeinem seltsamen Grund habe ich immer das Gefühl, dir Sachen erzählen zu müssen“, sagte Kara mit gespielt belustigtem Gesichtsausdruck.
„Nun, ich könnte dasselbe über dich sagen“, seufzte Dante. „Wir sollten rausgehen und frische Luft schnappen. Was meinst du?“, fragte er Kara.
„Bist du sicher? Du hast gesagt, dass dein Vater dich bald wegen deines Trainings suchen wird.“
„Wir werden nicht lange wegbleiben. Außerdem werde ich mir eine Ausrede einfallen lassen, falls er mich fragt. Ich weiß immer, was ich ihm sagen muss“, sagte Dante selbstsicher.
„Dann beeilen wir uns besser“, lächelte Kara und zog Dante an der Hand, während sie auf die andere Seite des Lagerraums zustürmten, wo sich der Eingang zu einem dunklen Tunnel befand. Er führte außerhalb der Stadtmauern der Hauptstadt, und die beiden Freunde nutzten ihn oft, um dem Palastleben für ein paar Minuten zu entkommen. Sie gingen durch den dunklen Tunnel, bis Dante die massive Eichentür, die mit Eisenstangen verstärkt war, aufstieß und sie auf eine kleine Graslichtung traten, auf der hier und da einige Bäume Schatten spendeten. Der Tunneleingang war von dichtem Buschwerk und Felsbrocken verdeckt; nur wenige Menschen kannten ihn. Es war ein schöner Ort, um sich zurückzuziehen, mit einem kleinen Wald am Ende der Lichtung. Sie konnten das Plätschern des Wassers in dem kleinen Bach am Waldrand hören. Es gab viele solcher Tunnel, um aus dem Palast zu fliehen, wenn nötig, und alle führten zu verschiedenen Zielen.
Als sie draußen waren, blickten Dante und Kara auf die riesigen Mauern der Hauptstadt zurück.
„Es fühlt sich gut an, hier draußen zu sein“, seufzte Kara. „Einmal von all unseren Pflichten befreit zu sein, ist eine Erleichterung.“
„Nun, das ist das Leben, in das wir hineingeboren wurden“, meinte Dante. „Wir müssen es annehmen, ob es uns gefällt oder nicht. Du bist die Prinzessin von Albin. Ich bin der persönliche Ritter des zukünftigen Königs. Also müssen wir unsere Pflichten erfüllen. Sie sind wichtig für das Königreich.“
„Du fängst an, wie unsere Väter zu klingen“, warf Kara ihm vor.
„Ach ja?“ Dante lachte leise. „Ich glaube, diese ganze Ritter-Sache gefällt mir immer besser.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Du willst wirklich Ritter werden, was?“, fragte Kara nachdenklich.
„Ja“, fuhr Dante mit einem verlegenen Grinsen im Gesicht fort. „Mein Vater war schon immer mein Vorbild. Ich möchte ihn eines Tages übertreffen. Weißt du, ich möchte der stärkste Ritter werden, den das Königreich je gesehen hat.“
„Na, das ist ja schön für dich“, schmollte Kara. Es war klar, dass sie etwas bedrückte. Aber Dante kam nicht dahinter, was.
„Alles in Ordnung?“, fragte er sie.
„Ja, mir geht es gut. Warum fragst du?“
„Ich weiß nicht“, sagte Dante. „Du wirkst ein bisschen abwesend. Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, oder?“
„Ich weiß“, begann Kara. „Es ist nur so, dass ich die Prinzessin von Albin bin. Ich kann mir nicht aussuchen, wer ich sein möchte.“
„Ja, aber du bist eine Prinzessin. Das ist doch etwas Gutes, oder?“
„Möchtest du ein Ritter sein, weil es dir gefällt, oder trittst du nur in die Fußstapfen deines Vaters?“ Kara wischte Dantes Frage beiseite und stellte ihm eine eigene. Dante überlegte einen Moment. So hatte er das noch nie gesehen. Ein Ritter zu werden, schien immer das Richtige gewesen zu sein. Er hatte nie etwas anderes kennengelernt.
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Dante schließlich. „Ich denke, es ist beides. Mein Vater hofft, dass ich Ritter werde, aber das Training macht mir auch Spaß. Ich glaube, dass es zu mir passt.“
Kara seufzte. „Aber ich glaube nicht, dass es zu mir passt, eine Prinzessin zu sein. Ich möchte diese Welt verändern. Ich möchte sie zu einem besseren Ort machen“, sagte sie und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Das Gespräch hatte sich in eine ernste Richtung entwickelt, und sie konnten es in der Luft spüren. Beide schwiegen eine Minute lang und lauschten dem Rauschen des Baches und dem Zirpen der Zikaden im Wald.
„Du willst keine Prinzessin sein?“, brach Dante das Schweigen zwischen ihnen.
„Doch, ich denke schon“, antwortete Kara. „Ich möchte mein Volk anführen. Ich möchte ihm helfen und es beschützen. Aber wenn ich nur eine Prinzessin bin, kann ich keine wichtigen Entscheidungen treffen. Und ich werde auch nicht für immer in Albin bleiben können“, fügte sie mit einem sehnsüchtigen Gesichtsausdruck hinzu.
„Warum nicht?“
„Weil mein dummer Bruder derjenige ist, der eines Tages König sein wird“, sagte Kara leicht verärgert. „Also ist er derjenige, der alle wichtigen Entscheidungen treffen kann. Ich werde an einen Prinzen oder Grafen in irgendein weit entferntes Land verheiratet werden. Als Bündnis, um unser Land zu stärken. Oder als Druckmittel, um den Frieden zu sichern.“
Dante dachte eine Weile darüber nach. „Na ja, wenn du es so ausdrückst, klingt es wirklich nicht nach einem tollen Job, eine Prinzessin zu sein. Aber wäre es nicht aufregend, ein anderes Land zu sehen?“
„Nicht, wenn ich dich dann nie wiedersehe.“
Es herrschte einen Moment lang Stille, als Dante erstarrte. Er hatte sich immer gefragt, was Kara wirklich für ihn empfand. Manchmal lag er nachts auf seinem Bett, schaute an die Decke und dachte daran, dass sie bald mit einem unbekannten Fremden verheiratet sein würde. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Kara mit einem fremden Mann in ein unbekanntes Land gehen würde, ohne dass jemand sie beschützen würde. Er wünschte, er könnte ihr Beschützer sein, nicht der ihres Bruders. Aber er hatte eine Pflicht. Er würde der persönliche Ritter des zukünftigen Königs, ihres Bruders, sein.
Langsam nahm Dante Karas Hand und blickte ihr in die Augen, die an den Rändern funkelten. Sie war wunderschön. Sie war schon immer von überirdischer Schönheit gewesen, als wäre sie halb Fee und halb Mensch. Dante hob seine Hand und wischte ihr die Tränen weg.
„Als Königin wirst du deinen Bruder besuchen können, wann immer du willst, und dann wirst du auch mich besuchen können. Denn ich werde der Ritter deines Bruders sein“, sagte Dante leise.
„Aber das ist nicht das, was ich will!“ Kara stampfte wütend mit den Füßen auf den Boden. „Ich will keinen Fremden heiraten, den ich noch nie getroffen habe! Ich will … Ich habe mich daran gewöhnt … Ich fange an … Ich fange an, es zu GENIESSEN, Zeit mit dir zu verbringen!“
Kara errötete plötzlich und senkte sofort den Blick zu Boden, während sie Dantes Hand umklammerte. Für einige Minuten herrschte Schweigen zwischen ihnen. Sie standen in völliger Stille im Schatten eines Baumes und hielten sich an den Händen.
„Wenn du nicht heiraten willst, dann tu es nicht. Niemand wird dich dazu zwingen. Nicht, solange ich lebe“, sagte Dante leise und brach damit das Schweigen.
„Meinst du das ernst?“, fragte Kara und blickte auf ihre Hände.
„Ja“, antwortete Dante. „Ich werde dich immer mit meinem Leben beschützen. Ich werde niemals zulassen, dass dich jemand schlecht behandelt oder dich zu einer Ehe zwingt, nicht einmal dein Bruder. Ich muss ihm nur etwas Verstand einprügeln, oder?“, fügte er hinzu, um die Stimmung aufzulockern.
„Du willst den zukünftigen König verprügeln?“, erwiderte Kara mit einem Kichern. „Du weißt, dass das Hochverrat wäre, oder?“
„Natürlich müsst Ihr mich danach vor seinem Zorn beschützen, meine Dame“, witzelte Dante mit einer höflichen Verbeugung.
Daraufhin brachen beide in Gelächter aus.
„Wir sollten gehen. Mein Vater wird mich bestimmt schon suchen“, sagte Dante, nachdem er einen Blick auf den Stand der Sonne geworfen hatte.
„Ja“, stimmte Kara zu, und sie machten sich auf den Weg zurück zur verborgenen Tür. Irgendwie hatten beide das Gefühl, als wäre ihnen eine schwere Last von den Schultern genommen worden.
***Dante wachte langsam auf und schaute sich um. Er befand sich in einer Höhle. Er spürte Wärme zu seiner Linken und schaute nach oben, wo er ein Feuer sah und seine Schwester, die daneben saß. Sie aß gerade etwas. Es dauerte nicht lange, bis er erkannte, dass es dieselbe Höhle war, die er und Fiona in der Nacht zuvor gefunden hatten.
„Wie lange war ich bewusstlos?“, fragte Dante, während er versuchte aufzustehen. „Was ist passiert?“
„Du bist ohnmächtig geworden“, antwortete die Naturgeborene. Sie kam von hinten aus der Höhle auf ihn zu. „Es ist jetzt Nacht. Rechne es dir selbst aus.“
„Ich war so lange bewusstlos?“, Dante war immer noch verwirrt. „Was ist mit mir passiert? Wie bin ich hierhergekommen? Habt ihr mich hierhergetragen?“
Fiona nickte, und das grüne Mädchen ergriff erneut das Wort, als sie sich dem Feuer näherte. „Wie ich schon sagte, du bist ohnmächtig geworden.“
Dante schaute an sich hinunter und bemerkte, dass seine Wunden ordentlich verbunden worden waren. Beide Wunden waren mit einer Art grünem Faden vernäht, und es war nirgendwo mehr Blut zu sehen. Er hatte nicht mehr so starke Schmerzen wie zuvor, aber sein ganzer Körper schmerzte.
„Was hast du mit mir gemacht?“, fragte er.
„Deine Wunde war infiziert“, zuckte das grüne Mädchen mit den Schultern. „Wenn ich das Gift nicht entfernt hätte, wärst du jetzt tot.“
„Gift?“ Dante war verwirrt. „Warum sollte ich Gift in meinen Wunden haben?“
„Die Wunde sieht aus, als wärst du von einem Aurikus gebissen worden“, erklärte das grüne Mädchen. „Das ist eine winzige Fliege von der Größe einer Mücke. Sie wird von Blut angezogen. Deshalb solltest du in diesem Wald keine Wunden unbehandelt lassen. Ein Aurikus-Biss ist schmerzlos und du stirbst, ohne es zu merken.“
Dante war beeindruckt. „Woher weißt du das alles?“, fragte er das Mädchen, während er sich langsam erhob. „Und ich dachte, ihr Naturgeborenen würdet nicht sprechen. Aber du sprichst unsere Sprache sehr gut.“
„Nicht viele von uns sprechen eure Sprache“, sagte das Mädchen. „Aber einige von uns schon.“
„Na dann, danke, dass du mich zusammengeflickt hast“, sagte Dante zu dem grünen Mädchen, das nickte. Dann rutschte er neben Fiona und legte einen Arm um ihre Schultern. „Bist du in Ordnung?“
Fiona nickte, während sie hungrig in etwas biss, das wie gebratenes Fleisch aussah. Dante war überrascht, und ihm lief beim Geruch von gebratenem Fleisch das Wasser im Mund zusammen. Zuvor waren seine Schmerzen zu stark, sodass er keinen Hunger verspürt hatte. Aber jetzt, da seine Wunden versorgt waren, begann sein Magen zu knurren.
„Was isst du da?“, fragte er seine Schwester.
„Du hast gesagt, ihr hättet schon eine Weile nichts mehr gegessen“, sagte das grüne Mädchen. „Ich habe euch etwas zu essen gemacht. Mach schon und iss auf.“
Dante verlor keine Zeit. Er griff nach etwas gebratenem Fleisch auf einem großen grünen Blatt. Er konnte seinen Hunger keine Sekunde länger ignorieren.
„Das ist gut. Was ist das?“, fragte Dante mit vollem Mund. „Es ist köstlich.“
„Es ist Tauka“, antwortete das Mädchen.