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Wie wollen Sie in Erinnerung bleiben? An einem gewöhnlichen Morgen in einem gewöhnlichen Jahr haben Tommys Eltern über Nacht vergessen, dass das Kind im Kinderzimmer nebenan ihr Sohn ist. Ein Schicksal, mit dem Tommy fortan leben muss. Jahr um Jahr am selben Tag vergessen alle um ihn herum seine Existenz, und er erlebt seinen eigenen universellen Neustart, den Reset. Doch dann passiert etwas Außergewöhnliches: Tommy verliebt sich. Entschlossen, sein eigenes Leben zu gestalten und die Frau seiner Träume für immer für sich zu gewinnen, versucht er von nun an alles, um den Reset zu überlisten und in Erinnerung zu bleiben. Sie haben Die Mitternachtsbibliothek von Matt Haig gelesen? Dann werden Sie auch Jahr um Jahr um Jahr um Jahr lieben! »Originell, fesselnd, bezaubernd« – Graeme Simsion, New York Times-Bestsellerautor von Das Rosie-Projekt
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Übersetzung aus dem australischen Englisch von Anja Mehrmann
© Michael Thompson 2023
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»How to Be Remembered«, Sourcebooks Landmark, Chicago 2023
© Piper Verlag GmbH, München 2025
Redaktion: Ann-Catherine Geuder
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Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
Widmung
PROLOG
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
EPILOG
Dank
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Mum und Dad, die mich zum Schreiben ermutigt haben. Und für Sian, die es mir ermöglicht hat.
Tommy hatte nicht vorgehabt, in seiner letzten Nacht in dem alten Haus drei Hemden und vier Garnituren Unterwäsche durchzuschwitzen. Aber das lag daran, dass er nie zuvor einen Plan gehabt hatte … jedenfalls keinen wie diesen.
Er wünschte, sein Plan enthielte auch eine Methode, um sich abzukühlen. An seinem unteren Rücken sammelte sich der Schweiß, und er spürte, dass ihm das Geld dort bereits an der Haut klebte. Die restlichen Banknoten hatte er sich in dicken Bündeln in Socken, Hosentaschen und zwischen mehrere Lagen Unterhosen geschoben. Bei dem Gedanken, wie er wohl aussehen mochte, stieß er ein sarkastisches, lautloses Schnauben aus. Er war allein in dem kleinen Zimmer, aber die Wände waren dünn, und in der schwülen Hitze kam ihm alles irgendwie lauter vor. Auf keinen Fall sollte jemand anklopfen, weil sie ihn mitten in der Nacht lachen gehört hatten. Wie sollte er ihnen seinen Aufzug erklären?
Also verhielt sich Tommy ruhig und wartete auf den Schlaf. Wenn es funktionierte, würde er das verdiente Geld vielleicht behalten können, den Lohn für seine schwieligen Hände und schmerzenden Schultern. Und womöglich würde er sie dann endlich finden – und das war es, worauf es ankam. Tommy wusste, dass sie nach ihrer Abreise kein einziges Mal mehr an ihn gedacht hatte. Das war zwar nicht ihre Schuld, doch es erschwerte ihm deutlich, sie davon zu überzeugen, dass sie ihn früher geliebt hatte.
Tommy ließ den Blick durch den dunklen Raum schweifen, über die Einrichtung des Zimmers, in dem er fast siebzehn Jahre lang zu Hause gewesen war, und kam zu dem Schluss, dass es ihm nicht fehlen würde. Nicht, wenn sein Plan aufging. Noch vor Sonnenaufgang würde er spurlos verschwunden sein. Irgendwann würden sich die anderen aus den Betten quälen und ihrem Tagwerk nachgehen, ohne sich zu erinnern, dass er jemals hier gewesen war.
Und warum auch?
Schließlich hatten sie sich noch nie an ihn erinnert.
Leo Palmer kannte einen Partytrick, der allerdings, wie er selbst wusste, nicht gerade ein Knüller war. Unter Berücksichtigung der Verkehrslage, des Wetters und einer Reihe weiterer Komplikationen konnte er an jedem beliebigen Tag sekundengenau ausrechnen, wie lange der 457er-Bus von der Innenstadt bis zu seiner Haltestelle in Ingleby brauchen würde. Er konnte diese Berechnungen auch für weitere Buslinien anstellen, aber die interessierten ihn nicht und andere Leute noch viel weniger.
Er hatte den Trick einmal bei der Weihnachtsfeier im Büro vorgeführt in der Annahme, eine Gruppe von Buchhaltern würde diese Kunst zu würdigen wissen. Seine Kollegen hatten sich wenig begeistert gezeigt, was für Buchhalter sozusagen ein natürlicher Zustand ist. Leo störte sich nicht daran. Was ihn faszinierte, waren Zahlen; Menschen folgten abgeschlagen auf dem zweiten Platz.
Okay, das stimmte nicht ganz. Zwei Menschen waren ihm nämlich wichtiger als alle Zahlen der Welt, wichtiger als Bilanzen oder der Fahrplan der Linie 457. Die wichtigsten Posten in seinem Kassenbuch waren seine Frau und sein Sohn, und wenn es nach Leo Palmer ging, würde es auch so bleiben.
Zugegeben, all das war ziemlich normal. Ein Buchhalter mit einer Vorliebe für Zahlen war normal, und genauso normal war ein Familienvater, der seine Frau und seinen Sohn liebte. Tatsächlich verlief Leos Leben insgesamt recht gewöhnlich, und genau das ist der Punkt: Leo und Elise Palmer waren durchschnittlich. Sie hatten nichts getan, um für das, was da kommen würde, ausgewählt zu werden. Sie existierten einfach.
Wie bei jedem normalen Paar gab es bei ihnen hin und wieder Streit, und sie stritten sich auch an dem Tag, an dem sie den Mietvertrag für ihre Zweizimmerwohnung unterschrieben: Erdgeschoss, verwitterter Backstein und davor ein Weg aus rissigem Beton, auf dem kniehoch der Löwenzahn stand.
»Himmel, was bist du nur für ein Geizkragen, Leo!«, rief Elise halb scherzhaft, halb im Ernst, als sie das neue Zuhause inspizierte, und ihr Mann verdrehte die Augen.
»Das hast du doch gewusst, als du mich geheiratet hast«, versetzte er und zupfte mit beiden Händen an dem Unkraut. Endlich löste sich die Pflanze aus dem Boden, und er warf sie zufrieden lächelnd neben den Weg. »Es ist ja nicht für immer. Wir halten uns einfach an den PLAN, und alles wird gut.«
»Ach ja, der PLAN«, wiederholte Elise und musste ebenfalls lächeln. Sie hatten lange über den PLAN diskutiert, den Elise im Geist immer in Großbuchstaben vor sich sah, weil er ihrem Mann so viel bedeutete. Phase eins des PLANS bestand aus fünf Jahren in Ingleby, zwei Beförderungen für Leo, drei Gehaltserhöhungen und einem weiteren Umzug. Phase zwei würde sich ganz woanders abspielen, und zwar in einem Haus mit Garten, zwei Wagen in der Garage, zwei Bädern, drei Zimmern und zwei Kindern, die darin wohnten.
Der kleine Junge, der ein knappes Jahr nach ihrem Einzug auf die Welt kam, hatte von dem PLAN allerdings noch nie gehört. Daher nahm er auch keine Rücksicht auf die Tatsache, dass er den Ablauf von Phase eins störte. Aber zu Elises Erstaunen freute sich Leo Palmer über diese Abweichung, was sie mehr überraschte als die Schwangerschaft selbst. Manche Männer sind geborene Väter, und wie sich herausstellte, war Leo ein solcher Mann. Er änderte bereitwillig den PLAN, um den pausbäckigen blonden Jungen in ihrer Zweizimmerwohnung in Ingleby willkommen zu heißen. Außerdem verkürzte er Phase eins um zwei Jahre. Er war fest entschlossen, das Kinderbett aus dem Wohnzimmer zu verbannen und seinem Besitzer ein eigenes Zimmer zu verschaffen, einen Garten und all die anderen Dinge, die ein normales Familienleben eben so mit sich bringt. Denn genau das waren sie: normal.
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Elise klopfte bei der Nachbarin an, lauter, als die Höflichkeit gebot, aber Mrs Morrison war über siebzig und hörte kaum ihren eigenen Fernseher. Elise hingegen hörte ihn jeden Abend. Es störte sie nicht, denn es erinnerte sie an ihre Großmutter.
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und ein wässriges, von Falten gerahmtes graues Auge spähte heraus.
»Hi, Mrs Morrison«, sagte Elise fröhlich, woraufhin sich die Tür vollständig öffnete.
»Tut mir leid, Liebes«, sagte die Nachbarin. »Ich wusste nicht, dass Sie es sind. Kommen Sie herein.« Sie verriegelte die Tür hinter ihnen und senkte den Blick auf den Jungen, der bequem auf Elises Hüfte saß.
»Und du auch, mein Schätzchen. Was bist du wieder gewachsen!«
Elise verzog das Gesicht. Der dumpfe Schmerz in ihrem Kreuz war der Beweis dafür.
Mrs Morrison bemerkte es und sagte: »Setzen Sie ihn doch ab, Liebes. Will er immer noch nicht laufen?«
Elise ließ ihren Sohn auf den sauberen Linoleumboden hinunter. »Noch nicht, aber hoffentlich bald. Alle anderen in seiner Spielgruppe können schon laufen.«
Die alte Frau beugte sich zu dem kleinen Jungen hinab und streckte eine Hand aus, als verstreue sie unsichtbares Vogelfutter, um ihn zu sich zu locken. Wie nicht anders zu erwarten, rührte er sich nicht vom Fleck. Wenn er sich Mummy und Daddy zuliebe noch nicht auf die stämmigen Beinchen erhoben hatte, würde er es für die alte Dame von nebenan erst recht nicht tun.
Kopfschüttelnd richtete sich Mrs Morrison wieder auf. »Lassen Sie ihm ruhig ein bisschen Zeit. Mein Mark war schon zwei, als er endlich laufen konnte. Und der Kleine ist ja noch nicht mal ein Jahr alt, oder?«
»Fast! Morgen hat er Geburtstag«, sagte Elise. »Und darum bin ich hier. Ich würde mich freuen, wenn Sie am Nachmittag auf ein Stück Kuchen bei uns vorbeischauen, falls Sie nicht anderweitig beschäftigt sind. So gegen drei vielleicht? Aber natürlich nur, wenn Sie Zeit haben.«
Mrs Morrison lächelte. Sie fand es wunderbar, dass nebenan eine junge Familie wohnte, vor allem eine, die sie gern in ihr Leben mit einbezog. Vor dem Einzug der drei war sie sich vorgekommen wie die Letzte ihrer Art – eine hartnäckige Erinnerung daran, wie es früher einmal in Ingleby gewesen war. Ihr Lächeln verblasste, als sie an ihren eigenen Sohn dachte. Auch Mark war ein lieber Junge und später ein reizender Mann gewesen, und er war nicht schuld daran, wie sich die Dinge letztlich entwickelt hatten. Es lag an diesen Freunden. Und an der Wohngegend. Immer wenn es klingelte, rechnete sie inzwischen damit, dass es die Polizei war, die ihr wieder einmal schlechte Nachrichten überbringen musste.
»Sie schließen doch nachts immer schön die Türen ab, Liebes?«, fragte sie.
»Aber natürlich, Mrs Morrison.«
»Wenn Sie nur wüssten, wie es hier vor vierzig Jahren gewesen ist«, murmelte die alte Dame fast entschuldigend, und Elise brauchte keine weiteren Erklärungen. Ihre Nachbarin sagte diesen Satz bei jedem Gespräch, und sie wusste, was als Nächstes kommen würde. Elise musste das Thema wechseln, bevor Tränen in die blass gewordenen grauen Augen traten.
»Dann also morgen um drei. Nur Sie und wir drei. Leo wird sich einfach krankmelden.« Das war eine große Sache für ihn und hatte ursprünglich keineswegs zu dem PLAN gehört.
Mrs Morrison kehrte in die Gegenwart zurück. »Ach, der Kuchen«, sagte sie. »Ist Ihr Ofen noch kaputt? Wenn Sie wollen, können Sie meinen benutzen.«
»Oh, kein Problem, ich habe bereits gebacken«, erklärte Elise. »Die Temperaturanzeige ist kaputt, das ist alles. An den Rändern ist der Kuchen ein bisschen verbrannt, aber er hat eine dicke Glasur. Man wird es gar nicht merken.«
Zu ihren Füßen spielte der Junge mit einem Türstopper Rakete. Elise hob den Kleinen hoch, und er winkte der freundlichen Dame von nebenan mit einer pummeligen kleinen Hand zum Abschied. Mrs Morrison winkte zurück, und ihr hüpfte das Herz vor Stolz, eine adoptierte Großmutter zu sein. Sie sah sich in ihrem Wohnzimmer um und fragte sich, was sie einpacken und dem Jungen zum Geburtstag schenken könnte.
Die Gedanken darüber hätte sie sich sparen können. Mrs Morrison würde an keinem Nachmittagstee teilnehmen wie übrigens auch Leo und Elise Palmer nicht. Was allerdings keiner von ihnen wusste.
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Es war längst dunkel, als erst ein Schlüssel in das eine, dann ein zweiter in das andere Türschloss glitt und Leos Rückkehr von der Arbeit verkündete. Auf Zehenspitzen kam er herein und stieg leise über die Spielzeuge hinweg, die überall im Flur verstreut lagen. Wenn er gegen eines trat, es auch nur leicht mit dem Zeh anstieß, würde er bestimmt den Jungen wecken, der in seinem Bettchen an einer Wand des Wohnzimmers schlief. Leo warf einen Blick auf seinen Sohn. Er hatte einen Daumen im Mund; seine Brust hob und senkte sich leicht, während er träumte. Die Metallstäbe des Bettchens schimmerten matt in dem Licht, das aus der halb geöffneten Schlafzimmertür drang.
Auf Kissen gestützt und mit einem Buch vor sich, lag Elise auf ihrer Seite des schmalen Doppelbetts. Natürlich las sie; auf ihrem Nachttisch stapelten sich die Bücher.
»Tut mir leid, dass es so spät geworden ist«, flüsterte Leo. »War heftig heute. Ich habe das Gefühl, eine Erkältung ist im Anflug. Morgen werde ich wohl zu Hause bleiben müssen.« Er zwinkerte Elise zu, und sie lächelte. »Bin gleich wieder da«, sagte er. »Will nur kurz den Kuchen probieren.«
Auf Zehenspitzen schlich er zum Kühlschrank. Als er die Tür aufzog, klirrte eine Bierflasche, und er hielt den Atem an.
Aus dem Kinderbett kam kein Mucks. Ein kleines Wunder.
Leo stand vor dem Kühlschrank und bewunderte Elises Werk. Zwei schlichte Butterkuchen hatte sie in eine beeindruckende Nachbildung von Thomas, die kleine Lokomotive verwandelt, der Lok aus der Lieblingssendung des Jungen. Die dicke blaue Glasur war vermutlich süß und köstlich, allerdings hatte Leo den Verdacht, dass sich darunter ein paar angebrannte Stellen verbargen. Er lächelte. Bestimmt lag es an dem kaputten Thermostat. Wie immer.
Neben einer kleinen Vase auf dem Tisch im Wohnzimmer entdeckte er das Geschenk, das er ausgesucht hatte. Elise hatte es sorgfältig verpackt, und nun lag es dort und wartete darauf, von einem neugierigen Kind aufgerissen zu werden. Er warf einen Blick in das Gitterbett, betrachtete zärtlich das sandfarbene Haar und die weiche, glatte Haut seines Sohnes.
»Nacht, Kumpel. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bist du ein Jahr alt«, flüsterte er so leise, dass er es selbst kaum hörte.
Dann schlich er zurück ins Schlafzimmer, und Elise schaltete das Licht aus.
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»Leo!«
Er regte sich im Schlaf.
Elise stieß ihm den Ellbogen in die Brust. »Leo!«, flüsterte sie noch einmal laut.
»Mhm?«, murmelte er schläfrig.
»Wach auf! Da draußen ist jemand!« Ihre Stimme überschlug sich fast vor Panik.
Leo verspürte einen Adrenalinstoß und riss die Augen auf. Reglos lauschte er auf das, was seine Frau derart verstört hatte.
Da.
Ein leises Geräusch, fast wie ein Schniefen.
Dann Stille.
Erneut ein Geräusch. Diesmal ein Rascheln.
Es kam aus dem Wohnzimmer.
Bereits am Tag ihres Einzugs hatte Leo gewusst, dass so etwas passieren könnte. Ein Einbruch gehörte zwar nicht zum PLAN, war aber immer eine Fußnote darin gewesen, ein Risiko, das mit der geringen Miete einherging. Manchmal hatte er sich gefragt, ob er dann kämpfen oder fliehen oder vielleicht sogar die dritte Option wählen und sich einfach tot stellen würde.
Aber letztlich traf er gar keine bewusste Entscheidung. Ohne nachzudenken, sprang Leo aus dem Bett, blieb im Flur vor der Tür zum Wohnzimmer stehen und lauschte angestrengt.
Er nahm einen tiefen Atemzug, griff um die Ecke nach dem Lichtschalter und legte ihn um. Grelles Licht drang in das Schlafzimmer, und er trat beherzt aus der Tür, blieb aber gleich darauf wie angewurzelt stehen und sah sich blinzelnd um.
Schweigen.
»Leo?«, rief Elise mit zitternder Stimme. »Bist du noch da?« Das Herz hämmerte ihr dermaßen laut in der Brust, dass Leo (und wer sonst noch in dem Zimmer sein mochte) es bestimmt hörte.
Endlich antwortete ihr Mann. Seine Stimme klang gepresst. Und verwirrt.
»Komm her, Elise. Schnell.«
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Nur acht Minuten später tauchte ein Streifenwagen auf, dessen Scheinwerfer die Umgebung abtasteten, während der Fahrer ohne Hast oder besondere Sorgfalt vor dem heruntergekommenen Häuserblock parkte. Constable James Elliott war nur zwei Straßen entfernt gewesen, aber er ließ die Leute gern in dem Glauben, er sei extra für sie herbeigeeilt. Gut fürs Image, dachte er und blickte an dem niedrigen Gebäude empor.
Er lachte freudlos, als ihm klar wurde, dass er schon einmal hier gewesen war. Nur ein einziges Mal allerdings, vor etwa zehn Jahren, am dritten Tag dessen, was er für den Beginn einer steilen Karriere voller Medaillen und Ehrungen und Beförderungen gehalten hatte (womit er bislang falschlag). Damals hatte sein Vorgesetzter fast an derselben Stelle geparkt und vom Wagen aus beobachtet, wie der junge Polizeibeamte auf Probe nervös zur Tür einer Wohnung im Erdgeschoss gestapft war. Der Neuling sollte eingeführt werden, indem er eine alte Dame über den Tod ihres Sohnes in Kenntnis setzte. Elliott verzog das Gesicht bei der Erinnerung daran, wie der Frau die Tränen gekommen waren, als er ihr mitteilte, ihr Sohn sei in einem Haus in der Nähe im Schlaf gestorben. Er erzählte ihr nicht, dass er an seinem eigenen Erbrochenen erstickt war. Er erwähnte auch nicht, dass der Mann nach Elliotts Ansicht mit vierundvierzig zu alt gewesen war, um noch immer mit drei anderen Versagern in einem Dreckloch zu wohnen.
Einen Moment lang fragte er sich, ob die alte Frau wohl noch lebte. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Mrs Morrisons Tür öffnete sich ein paar Zentimeter, während er noch den rissigen, von Unkraut bewachsenen Pfad hinaufging. Sie hatte das Blaulicht gesehen, als sie sich langsam zur Toilette tastete. (Immerhin war es fast 2 Uhr nachts, und von einer Frau ihres Jahrgangs konnte wohl niemand erwarten, die ganze Nacht ohne Gang zur Toilette durchzuhalten.)
»Was wollen Sie?«, rief sie trotzig durch den Türspalt, fast als wollte sie den Officer herausfordern, ihr eine schlechte Nachricht zu überbringen.
»Ja leck mich«, murmelte Constable Elliott. »Sie ist es wirklich.«
»Haben Sie wegen des Kindes angerufen?«, fragte er. Seine Stimme hallte in der Stille der Nacht wider.
Die alte Frau starrte ihn verständnislos an.
»War hier irgendwo ein Kind?«, fragte er.
Immer noch dieser verwirrte Blick.
»Gehen Sie wieder rein«, sagte er, und Mrs Morrison tat wie ihr befohlen. Sie musste wirklich dringend aufs Klo.
»Verdammt alt geworden, die Gute«, sagte Elliott zu sich selbst und überprüfte noch einmal die Angaben auf seinem Notizblock. Er schüttelte den Kopf und klopfte an die Tür nebenan.
Ihm öffnete ein großer Mann mit dichtem hellem Haar, der sich als Leonard Palmer vorstellte.
»Sind Sie es, der wegen des vermissten Kindes angerufen hat?«, fragte der Constable.
»Ähm … ja«, antwortete Leo. »In gewisser Weise schon.«
»Was soll das heißen?«, fauchte Elliott, der bereits die Geduld verlor. Und das nach nur zehn Sekunden, dachte er. Wahrscheinlich ein neuer Rekord.
»Na ja, wir vermissen kein Kind«, sagte Leo gedehnt. »Wir … wir haben sozusagen eins gefunden.«
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Dreimal erzählten Leo und Elise dem Officer ihre Geschichte, einmal neben dem Kinderbett und dann noch zweimal, während sie ihm am Esstisch gegenübersaßen. Elliott schnitt jedes Mal neue Grimassen und kritzelte wütend etwas in seinen Block.
»Also gut«, sagte er schließlich. »Wer auch immer dieses Baby hiergelassen hat … Hat er auch das Kinderbett aufgebaut?«
Sie nickten.
»Während Sie beide geschlafen haben.«
Sie nickten erneut.
»Und wovon sind Sie aufgewacht?«
»Wir haben ihn gehört«, sagte Elise, deren Gesicht blass und angespannt wirkte, weil sie nicht fassen konnte, dass sie an ebenjenem Tisch verhört wurden, an dem sie normalerweise frühstückten.
»Wen haben Sie gehört? Die Person, die das Kinderbett zurückgelassen hat?«
»Nein«, sagte sie. »Ihn.« Sie deutete auf den kleinen Jungen, der sich inzwischen aufgesetzt hatte, die Beine in den Laken verheddert. Sein Blick huschte neugierig zwischen den drei Menschen hin und her, die sich an seinem Bett versammelt hatten. Der Aufruhr schien ihn zu faszinieren.
»Und dann haben Sie die Polizei gerufen. Weil Ihr Baby Sie geweckt hat.« Constable Elliott seufzte. »Ja leck mich«, sagte er erneut, diesmal nicht ganz so leise.
Leo öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Elise legte ihm eine Hand auf den Arm, woraufhin er innehielt und sich sammelte.
»Das haben wir Ihnen doch gesagt. Es ist nicht unser Kind. Wir … wir haben keine Kinder. Noch nicht.« Er hätte gern hinzugefügt, dass Kinder in dieser Phase des PLANS nicht vorgesehen waren, dass Babys erst in Phase zwei kommen würden, aber das würde den Polizisten vermutlich nicht interessieren.
Womit er recht hatte.
Constable Elliott starrte das Ehepaar erneut durchdringend an. Dann schaute er sich demonstrativ in dem Raum um, als suche er nach versteckten Kameras. Irgendetwas stimmte hier nicht.
»Das soll wohl ein Scherz sein, was?« Die beiden schüttelten den Kopf. »Okay, was haben Sie genommen?«
Elise und Leo sahen sich verwirrt an.
»Welche Drogen haben Sie genommen?«, hakte der Polizist nach. Er seufzte, unternahm nicht einmal den Versuch, seine Frustration zu verbergen. »Hören Sie, niemand bricht in eine Wohnung ein, um ein Baby zurückzulassen. Ich werde Ihnen sagen, was meiner Meinung nach wirklich passiert ist. Sie beide haben sich einen schönen Tag mit Wer-weiß-was gemacht. Nachts um zwei ist Ihnen eingefallen, dass Sie meine Zeit verschwenden könnten, indem Sie mich anrufen und mir erzählen, Sie hätten das Kind vergessen, um das Sie sich kümmern sollten. Hab ich recht?«
Aber noch während er sprach, wurde er unsicher … auch wenn er es niemals zugeben würde. Diese Leute sahen nicht wie Drogenabhängige aus. Sie sahen aus wie … verdammt, sie sahen aus wie Lehrer auf einer Klassenfahrt, die mitten in der Nacht aufgestanden waren, um die Kids in ihre Betten zurückzuschicken. Und in dem Wohnzimmer roch es auch nicht nach kaltem Marihuanarauch. Es roch … na ja, es roch, als lebte dort ein Kind. Es roch nach Windeln und Babypuder. Und nach Milch.
Wie winzige Hammerschläge setzten über seinem linken Auge die Kopfschmerzen ein. Das Haus wirkte von außen ziemlich ungepflegt, aber innen war alles wie aus dem Ei gepellt: saubere Fußböden, hübsche Möbel, jede Menge Bücherregale, an den Wänden Bilderrahmen, die alle auf gleicher Höhe hingen. (Gerahmte Bilder waren in dieser Gegend eher unüblich. In den meisten Wohnungen, die er betrat, gab es nur ein oder zwei Poster; irgendeine schäbige Heavy-Metal-Band, die ein in die Wand geschlagenes Loch überdeckte.) Der Tisch neben dem Kinderbett war bis auf ein weiß-rosafarbenes Blumensträußchen komplett leer.
»Wir sind nicht drauf«, erwiderte Leo. »Wir wissen nicht, was passiert ist. Ich weiß, es klingt merkwürdig …«
»Ach ja?«, fiel ihm der Polizist ins Wort. »Finden Sie?«
Der kleine Junge fing an zu weinen. Erneut tauschten Leo und Elise Blicke, rührten sich aber nicht.
Das Hämmerchen im Kopf des Polizisten wurde etwas größer.
»Warum heben Sie ihn nicht hoch?«, fragte er, als der Junge schließlich laut weinte. Elliott wollte nur, dass der Lärm aufhörte.
Elise stand auf, beugte sich über das Gitterbett und holte den Jungen heraus. Da stand sie und hielt ihn unbeholfen unter beiden Achseln.
Komisch, dachte Elliott. Eigentlich tragen sogar die völlig Abgefuckten ihre Babys auf der Hüfte.
»Warten Sie hier«, befahl er. »Ich muss die Sache melden.«
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Zehn Minuten später kam er zurück und sah aus, als hätte er schlechte Nachrichten erhalten oder wäre lieber woanders. Möglicherweise beides. Der Junge hatte aufgehört zu weinen und saß nun auf der Couch auf Elises Knie. Er spielte mit ihren Haaren, drehte sie um seine pummeligen Finger.
»Sie haben also beide Arbeit?«, fragte Elliott und versuchte, lässig zu klingen, während er in Wirklichkeit immer verzweifelter seine Theorie zu bestätigen versuchte, dass sie nur die üblichen Süchtigen waren.
»Natürlich«, antwortete Elise. »Leo ist Buchhalter, und ich bin Englischlehrerin. An der Highschool, aber ich kann auch auf Collegeniveau unterrichten«, fügte sie leicht verlegen hinzu, als müsste sie etwas beweisen.
»Na schön.« Elliott winkte ab. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er bekam es nur nicht recht zu fassen, und er zählte die Minuten, bis diese Sache das Problem eines anderen sein würde. »Ich werde Ihnen sagen, wie es jetzt weitergeht«, setzte er an. »Das Jugendamt wird bald hier sein, um mit Ihnen über Ihr Kind zu sprechen.«
»Er ist nicht unser …«
»Ach, hören Sie doch auf! Man wird Sie einem Drogentest unterziehen. Und man wird Sie fragen, warum Sie die Geburt nicht gemeldet haben.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Leo.
»Es ist nirgendwo dokumentiert, dass der Junge hier lebt.« Leo und Elise wollten protestieren, aber Elliott hob nur abwehrend die Hände. »Hey, so was kommt vor«, sagte er. »Jedenfalls in dieser Gegend.«
Elise sprang auf. Sie hatte offenbar vergessen, dass sie ein Kind hielt, und der Junge, der auf ihrem Schoß spielte, rutschte auf den Boden und landete schmerzhaft auf dem Po. Er fing an zu kreischen, ein durchdringendes Geräusch, das Elise und Leo zusammenzucken ließ.
Elise hob ihn wieder hoch, und Elliott brüllte über die heiseren Schreie des Jungen hinweg: »Können Sie ihn nicht zum Schweigen bringen? Ich weiß nicht, ihm ein bisschen Milch geben oder so?«
Leo öffnete den Kühlschrank, und eine Bierflasche klirrte. Sie hatten keine Milch. Abgesehen von dem Bier in der Tür, einer Packung Käse und einem Teller mit drei Würstchen war der Kühlschrank leer.
»Vergessen Sie’s«, sagte der Polizist, als es an der Tür klopfte. »Ich bin raus.«
Die beiden Mitarbeiter des Jugendamts, ein Mann und eine Frau, stellten sich vor. Sie trug ein Kostüm, er einen Anzug mit knittrigem Hemd und ohne Krawatte – die Uniform von Leuten im Bereitschaftsdienst, die nicht mit einem Einsatz gerechnet hatten.
Noch in der Wohnungstür setzte James Elliott die beiden rasch ins Bild und deutete auf das Paar auf der Couch. Der Junge saß nun auf Leos Schoß, dessen Miene genauso verwirrt und benommen wirkte wie die seiner Frau wenige Minuten zuvor.
Falls ich jemals Kinder haben sollte, dachte Elliott beim Hinausgehen, sehe ich hoffentlich wenigstens so aus, als wüsste ich, was ich tue. Der Typ da hat keinen blassen Schimmer. Gib dem Kind doch etwas, womit es spielen kann, verdammt, irgendetwas, um es abzulenken.
Er befand sich auf halbem Weg zurück zu seinem Wagen, wobei ihm der Schmerz immer noch im Kopf herum hämmerte, da begriff er plötzlich. Es gab kein Spielzeug. Kein Auto, keine Bauklötze, nicht mal einen Teddy. In diesem Wohnzimmer befand sich nichts dergleichen. Sogar Junkies haben Spielzeug, dachte er. Es ist vielleicht schmutzig, aber immerhin etwas, worauf die Kleinen herumkauen können, während Mum und Dad unter den wachsamen Augen von Led Zeppelin, deren Poster die Löcher in den Wänden verbirgt, ihren Rausch ausschlafen.
Aber in diesem Haus gab es keine Poster, sondern nur gerahmte Bilder, die fein säuberlich an der Wand hingen.
Fotos von Mum und Dad zusammen.
Ohne Baby.
Wollmäuse.
Mindestens vier Stück. Dicke, flauschige Bälle aus Haaren, Staub und weiß der Teufel was sonst noch. Das war alles, was Michelle von der Stelle aus sehen konnte, an der sie lag, diese rundlichen Klumpen, die überall in dem dunklen Spalt unter dem Bett verteilt waren, kaum erkennbar im schwachen Schein des Nachtlichts. Im Geist setzte sie den Spalt auf die Liste der zu putzenden Dinge, auch wenn das nicht unbedingt hieß, dass es auch dazu kommen würde. Sie hatte drängendere Probleme als eine Wollmäuseplage; es gab zu viele Menschen, die ihre Zuwendung benötigten. Aber das war okay für sie. Schließlich war sie genau deshalb hier.
Michelles Hüfte und Schulter schmerzten, denn die Decke, die sie im Schlafzimmer ausgebreitet hatte, war nur ein unzureichendes Polster gegen die Härte des Holzbodens unter ihr. Mit fast dreiundvierzig war sie zu alt, um noch auf dem Fußboden zu schlafen. Eine weitere geistige Notiz, die vermutlich nie wieder Beachtung finden würde.
Wenigstens hatte Maisie aufgehört zu weinen. Die herzzerreißenden Schluchzer, die Michelle in ihr Zimmer gelockt hatten, waren allmählich zu einem leisen Wimmern verebbt und endlich verklungen, als sie erschöpft eingeschlafen war. Maisie war zwölf und ein Neuzugang. Das Mädchen hatte mehr Schmerzen ertragen müssen, als irgendein Kind jemals erleiden sollte. In manchen Nächten schaffte sie es durchzuschlafen, in anderen – wie dieser – wachte sie hingegen mehrmals auf. Michelle wünschte, sie könnte ihr helfen, könnte mehr tun, als sie in den Arm zu nehmen, ihre Hand zu halten oder in dem kleinen Zimmer neben ihr im Bett zu liegen und mit ihr auf den Schlaf zu warten. Maisie hatte ihre Mutter langsam und qualvoll an Brustkrebs sterben sehen, und da es niemanden gab, der sich um sie kümmerte, war sie schließlich hier gelandet. Sie würde eine ganze Weile bleiben müssen. Und so lange würde Michelle Chaplin die Lücke füllen, die der Tod der Mutter gerissen hatte, das hatte sie sich geschworen. Es war nicht das erste Mal, und vermutlich füllten die Kids auch eine Lücke in ihrem eigenen Leben – eine Lücke, die bei einer Zweiundvierzigjährigen wohl nicht mehr auf die herkömmliche Weise geschlossen werden würde.
Morgen früh werden ihre Augen rot und geschwollen sein, dachte Michelle. Sie schaute auf die Uhr. In ein paar Stunden schon.
Dann lauschte sie erneut: Die rohen, zittrigen Atemzüge hatten sich beruhigt, und Maisie atmete nun regelmäßig – ein, aus, ein, aus. Sie war endlich eingeschlafen.
Leise stand Michelle auf und schlich in den Flur hinaus. Ihr Zimmer lag am anderen Ende des Korridors, und sie tappte an den Zimmern ihrer Schützlinge vorbei, um noch eine oder zwei Stunden zu dösen, bevor alle aufwachen würden.
Ihr Kopf landete auf dem Kissen, und sie schlief augenblicklich ein. Wäre sie nur ein paar Minuten länger wach geblieben, hätte sie vielleicht den Wagen ankommen hören, dessen Reifen auf dem Kies der langen Einfahrt der Molkerei knirschten.
Der Neuankömmling.
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Die Sache mit der Molkerei war die: Tatsächlich war es gar keine Molkerei, war nie eine gewesen. In einem Radius von zwanzig Kilometern gab es keine einzige Kuh. »Die Molkerei« war nur der Spitzname eines Hauses, dem sein Eigentümer einen weitaus vornehmeren Namen gegeben hatte: Milkwood House stand auf dem Schild am Eingangstor, benannt nach dem in Australien so beliebten Milchbaum. Davor hatte es den Schwestern der heiligen Theresia gehört, die es etwa neunzig Jahre lang als malerischen ländlichen Außenposten der katholischen Kirche betrieben hatten. Das steinerne Gebäude war ursprünglich ein Kloster gewesen. Durch beide Stockwerke verliefen lange Korridore; es gab einen Speisesaal und einen Gemeinschaftsraum, in dem Bücherregale in den Wänden verankert waren. Doch als das Interesse am klösterlichen Leben schwand und der Erzbischof befahl, das Anwesen zu veräußern, wurde ein Zu verkaufen-Schild in den harten Erdboden am Ende der Einfahrt eingeschlagen. Auf dem Aushang im Fenster des Immobilienmaklers stand: Einmalige Gelegenheit auf dem Land, nur einen Katzensprung von der Stadt entfernt. Besichtigung jederzeit möglich!
Ein Besichtigungstermin, und die Sache war geritzt. Declan Driscoll war ein reicher Mann aus einer noch reicheren Familie, und seine vier Steuerberater waren sich einig: Ein Kinderheim war eine ausgezeichnete Investition, und wenn es noch dazu nur einen Katzensprung von der Stadt entfernt lag, konnte man wirklich nichts falsch machen.
Allerdings war es ein großer Sprung. Leo Palmer, der im Umgang mit Zahlen recht geschickt war, hätte Decan Driscoll vermutlich sagen können, dass die Zugfahrt eine Stunde und zweiundzwanzig Minuten dauerte und der Zug zwischen dem Endbahnhof in der Stadt und der Upper Reach Station genau elf Mal hielt, wenn man denn einen Schnellzug erwischte. Leo Palmer fuhr nicht mit dem Schnellzug. Er stieg nie in Upper Reach aus, und schon gar nicht besuchte er Milkwood House, auch bekannt als »die Molkerei«.
Aber sein Sohn tat es.
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Als Michelle Chaplin erwachte, war das Frühstück bereits in vollem Gange. Der Lärm plappernder, sich zankender und lachender Kinder drang die Treppe hinauf und durch die geschlossene Tür in ihr Zimmer.
Jemand klopfte leise an.
»Tut mir leid, dass ich dich wecke – ich weiß, Maisie hatte wieder eine schlimme Nacht«, sagte John Llewellyn, sobald Michelle die Tür öffnete. »Aber kannst du bitte in mein Büro kommen, wenn du hier fertig bist?«
Eine Viertelstunde später saß Michelle dem Direktor von Milkwood House in einem kleinen Raum gegenüber, in dem es immer aussah wie am Morgen nach einem Tornado. Papiere waren auf dem Schreibtisch und dem Boden verstreut und quollen aus den Schubladen eines Aktenschranks. Auf dem Schrank brummte leise ein Fernseher mit Hasenohren, dessen Antenne auch in der ersten Januarwoche noch mit Lametta umwickelt war. Helles Morgenlicht fiel durch das Fenster hinter John herein, sodass sich seine Silhouette vor einer mit Bäumen bestandenen großen Rasenfläche abzeichnete. Weiter in der Ferne war der Zaun zu erkennen, der den Garten begrenzte, umgeben von dichtem Gestrüpp.
Michelle blickte John neugierig an. Sie wusste, dass sie nicht in Schwierigkeiten war, hatte aber keine Ahnung, warum er sie so früh am Morgen sprechen wollte. Die beiden hatten einiges gemeinsam. Sie waren etwa im gleichen Alter (John war ein paar Jahre älter als Michelle, und da er nicht mehr zum Trainieren kam, seit er in der Molkerei arbeitete, sah man ihm das auch an) und auch beide Lehrer von Beruf. Allerdings brachten sie den Kindern in Milkwood House vor allem Dinge bei, die man sich normalerweise von Mum und Dad abschaute. Um alles andere kümmerte sich die Grundschule in Upper Reach und später die Highschool in der nächsten Kleinstadt.
Ihre dritte und vermutlich wichtigste Gemeinsamkeit bestand darin, dass sie ineinander verliebt waren, was sie allerdings niemals zugegeben hätten. Stattdessen flirteten sie auf diese typische Art von Leuten mittleren Alters miteinander, die unter anderen Umständen vermutlich als Liebeswerben eingestuft worden wäre. Hätten die älteren Kinder es mitbekommen, hätten sie es eklig gefunden.
An diesem Morgen fiel der Flirt jedoch aus. John Llewellyn war ein großer Engländer, der viel und laut zu lachen pflegte. Aber nicht an diesem Tag. Er wirkte verwirrt, ja besorgt.
»Heute Morgen ist noch eins gekommen«, eröffnete er ihr ohne jede Vorrede.
»Was meinst du mit noch eins?«, fragte Michelle. Ihre Stimme war leise, fast nur ein Flüstern – und einer der Gründe, warum sich die Kinder so rasch für sie erwärmten.
»Noch ein Kind«, antwortete John, und Michelle Chaplin beugte sich stirnrunzelnd vor.
»Unangekündigt?«, fragte sie.
Ihr Chef nickte. »Das Jugendamt kam schon ganz früh, so gegen fünf. Sie haben versucht, ihn bei einer Pflegefamilie in der Stadt unterzubringen, aber die sind alle voll. Ich habe ihn in Zimmer drei untergebracht. Wahrscheinlich wird er den ganzen Tag schlafen, der arme kleine Kerl.«
»Klein? Wie klein denn genau?«, fragte Michelle und fürchtete sich vor der Antwort.
John Llewellyn seufzte. »Ich würde sagen, ungefähr ein Jahr.« Er dachte kurz nach, dann bestätigte er seine eigenen Worte: »Ja, etwa zwölf Monate alt.«
Er wusste nicht, wie recht er hatte, fast auf die Minute genau.
Michelle schloss die Augen. Derart kleine Kinder wurden nur selten zu ihnen gebracht. »Was ist mit ihm passiert?«, fragte sie.
Ein Aktenordner landete auf ihrem Schoß. Sie schlug die Augen wieder auf und blätterte bis zur ersten Seite des Jugendamt-Formulars. Es war das übliche, aber sie hatte noch nie eins gesehen, das auf diese Art ausgefüllt war.
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Name: leer.
Geburtsdatum: leer.
Anamnese: leer.
Name der Mutter: leer.
Name des Vaters: leer.
Michelle überflog die Seiten und erblickte ein Kästchen, in das jemand etwas gekritzelt hatte. Unter der Überschrift Aktuelle Lebensumstände hatte ein Polizist geschrieben, ein junges Paar habe behauptet, den Kleinen in seiner Wohnung gefunden zu haben. Michelle sah die Adresse und verzog das Gesicht.
»Wetten, die beiden waren drauf?«, sagte sie.
»Genau das Gleiche habe ich auch gedacht. Sie werden gerade überprüft. Aber die vom Jugendamt meinten, es sei ziemlich seltsam gewesen. Keinerlei Anzeichen für Drogenkonsum. Schizophrenie vielleicht? Keine Ahnung.« Er schwieg eine Weile. »Kekse?«, fragte er schließlich und holte eine Packung aus der Schreibtischschublade. Johns britischer Akzent verlieh dem Angebot etwas Elegantes, so als gäbe es Tee, Sahne und Zucker dazu. Aber er wusste, dass die Schokolade geschmolzen war und er vermutlich eine äußerst unelegante Schweinerei veranstalten würde. Die Sommerhitze machte einem wirklich das Leben schwer. Er fragte sich, ob er sich jemals daran gewöhnen würde, dass es hier im Januar immer derart heiß war. Als er vor vielen Jahren beschlossen hatte, die Hemisphäre zu wechseln, hatte ihn niemand davor gewarnt, obwohl das natürlich auch nichts an seinem Entschluss geändert hätte.
Beim Anblick der Kekse schüttelte Michelle den Kopf. Nicht zum Frühstück, dachte sie.
John nahm sich zwei, und Michelle lächelte. Sie wusste, dass er nicht anders konnte.
»Und schon«, fuhr er fort, den Mund voller Schokolade und Krümel, »ist Milkwood wieder voll belegt.«
John brachte es nicht über sich, die Einrichtung als »Molkerei« zu bezeichnen. Dabei war der Spitzname die Erfindung eines Mitarbeiters, der damit zum Ausdruck bringen wollte, dass der Eigentümer das Fürsorgesystem molk.
»Meine Güte«, hatte der Mann gesagt, während er im Hauptbuch blätterte und den Fluss der Regierungsgelder nachverfolgte. »Von wegen Milkwood. Diese Kinder sind die reinsten Melkkühe. Driscoll sollte seinen Laden besser als Molkerei bezeichnen«, hatte er verkündet, leider in Hörweite nicht nur einer, sondern gleich mehrerer der besagten Melkkühe. Der Mitarbeiter war danach nicht mehr lange geblieben, der Spitzname schon.
»Zwölf Kinder«, sagte Michelle eher zu sich selbst als zu John, der dennoch nickte. Die Altersspanne der Bewohner reichte nun von einem Einjährigen bis zu zwei Teenagern kurz vor der Volljährigkeit. Mit dem achtzehnten Geburtstag würde ihre Zeit in Milkwood enden, denn dann blieben die Fördermittel aus, und sie mussten die Einrichtung verlassen und sich allein in der Welt zurechtfinden.
Natürlich musste man sich um einige Kinder intensiver kümmern als um andere. Maisies Kummer würde irgendwann vergehen, und dafür blieb ihr noch reichlich Zeit, denn sie war erst zwölf. Dann war da Aleks, der mit seinen neun Jahren wie dreizehn aussah. Im Jahr zuvor war er immer wieder mit blauen Briefen aus der Grundschule in Upper Reach nach Hause gekommen, weil er andere Kinder unter Druck gesetzt hatte, ihm ihr Taschengeld zu geben. Ein neunjähriger Erpresser.
Und dann gab es da noch Richie. Beinahe hätte sie Richie Sharpe vergessen. Abgesehen von dem Neuankömmling, war er mit seinen knapp vier Jahren der jüngste Bewohner, und weil er für die Schule noch zu klein war, verbrachte er jeden Tag in Michelles Obhut.
»Dann wird sich in Zukunft wohl Glenda um Richie kümmern müssen«, sagte John, der offenbar ihre Gedanken gelesen hatte.
»Oh, das wird ihm nicht gefallen.«
»Ihr genauso wenig«, gab John zurück.
Womit er mal wieder recht hatte. Glenda Reilly war die dritte Mitarbeiterin von Milkwood House. Leider war sie ohne Mitgefühl, Sinn für Humor oder Zuneigung zu Kindern auf die Welt gekommen. Wie diese Frau in der Sozialarbeit und schließlich in einem Heim für verwaiste Kinder hatte landen können, war allen ein Rätsel. Michelle wurde von den Kindern »Miss Michelle« genannt. So war es seit dem Tag, an dem sie dort zu arbeiten begonnen hatte, und sie liebte es. Glenda Reilly hingegen war »Mrs Reilly«, obwohl es ihr am liebsten war, wenn die Kinder sie überhaupt nicht ansprachen.
»Wo sind die Sachen des neuen Jungen?«, fragte Michelle.
John zuckte mit den Schultern. »Was er dabeihatte, ist in seinem Zimmer. Das Kinderbett und der Schlafanzug, den er am Leib trägt. Das scheint tatsächlich alles zu sein.«
»Okay«, sagte Michelle und stand auf. »Ich gehe dann mal los.« Sie hatte eine Menge zu tun, und anfangen würde sie mit einer Liste all der Dinge, die sie für den Kleinen auftreiben musste. Kleidung, ein paar Spielzeuge. Und eine Zahnbürste, verdammt. Sie schüttelte den Kopf, während hinter ihr noch immer der Fernseher flimmerte.
»Holst du dir gerade deinen Morgenkick?«, fragte sie und deutete lächelnd auf die Mattscheibe, auf der ein Zeichentrickfilm lief.
»Oh, sorry«, sagte John. »Ich habe nur eingeschaltet, um den kleinen Kerl vor dem Schlafengehen ein bisschen zu beruhigen. Er war ziemlich aufgeregt. Aber du hättest sehen sollen, wie er sich Thomas, die kleine Lokomotive angeschaut hat. Ich glaube, er hat kein einziges Mal geblinzelt.«
Michelle lachte traurig, ehe sie an der Tür noch einmal stehen blieb. »Wie soll ich ihn ansprechen? Hat er einen Namen?«
John runzelte die Stirn. »In den Papieren steht keiner.« Er dachte einen Moment nach, sein Blick huschte erneut zum Fernseher. »Nennen wir ihn einfach Thomas. Nein, Tommy. Jedenfalls bis seine Eltern zur Vernunft kommen und ihn wieder abholen.«
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Michelle wusste nicht, wie lange der Junge schon dort gestanden und zugesehen hatte, wie sie mit dem Rücken zur Tür eine Tasche mit gebrauchter Kleidung durchsah. Für einen Einjährigen war kaum etwas dabei. Dann ist es wohl Zeit für einen Ausflug in die Stadt, dachte sie und drehte sich um.
»Was machst du da, Miss Michelle?«, fragte Richie arglos, und Michelle fuhr erschrocken herum.
Etwas an dem kleinen Kerl war seltsam. Okay, er war süß mit seinem dunkelbraunen, fast schwarzen Haarschopf und den dunkelblauen Augen, die nicht recht zu einem Kind zu passen schienen. Sie musste sich in Erinnerung rufen, dass in ungefähr einem Monat erst sein vierter Geburtstag bevorstand. Er sah älter aus, und er klang auch so.
»Ich suche nur ein paar Sachen zum Anziehen, Richie. Ein neuer Junge ist gekommen, er wird bei uns wohnen.«
Neugier huschte über Richies Gesicht und verschwand so schnell wieder, wie sie gekommen war. Auch er war verlassen worden, kurz nach seinem letzten Geburtstag. Auch er war vom Jugendamt bei ihnen abgegeben worden, aber in seinem Fall wussten sie wenigstens, wer die Eltern waren. Dad hatte sich verdünnisiert, und Mum saß achtzehn Jahre wegen eines bewaffneten Raubüberfalls ab. Michelle fand das Strafmaß ziemlich hart, aber sie wusste auch nicht, dass die gute alte Mum versucht hatte, dem Kassierer die Kehle durchzuschneiden, als der sich weigerte, die Kasse zu öffnen. Dass sie achtzehn Jahre und nicht lebenslänglich aufgebrummt bekommen hatte, war nur ihrem ungeschickten Umgang mit dem Messer zu verdanken.
Das Sache mit Richie war die: Er hatte sich überraschend schnell eingewöhnt, fast als wüsste er, dass er hier besser dran war als bei seinen Eltern. Michelle fand, dass er meistens nett war, allerdings nur zu ihr. Die anderen Kinder gingen ihm aus dem Weg, und er tat ihnen den gleichen Gefallen. Michelle wusste nicht, warum. Vielleicht lag es an seinen Augen; sie fand seinen Blick jedenfalls beunruhigend. Richie schien alles und jeden zu beobachten, seine Umgebung in sich aufzunehmen und alles zu wissen. Andererseits ist er nur ein kleiner Junge, dachte sie. Und er hat eine Menge durchgemacht.
»Komm mal her, Richie«, sagte sie, ging in die Hocke und streckte einen Arm nach ihm aus.
Bereitwillig kam er zu ihr.
»Der neue Junge, Tommy, ist noch ein Baby. Er braucht dich als großen Bruder. Kannst du das für ihn sein?«
Richie schwieg.
»Ich werde ein bisschen Zeit mit ihm verbringen müssen. Ich bin immer noch hier, wenn du mich brauchst, aber du kannst jetzt öfter mal Spaß mit Mrs Reilly haben.« Michelle wusste, dass es wie eine Lüge klang; mit Glenda Reilly hatte niemand Spaß.
Richie nickte schweigend.
Sie schloss ihn fest in die Arme, dann führte sie ihn aus dem Vorratsraum hinaus und die Treppe hinauf in den Gemeinschaftsraum, der voller Kinder unterschiedlichen Alters war. Michelle konnte nicht bleiben, sie musste nach Upper Reach fahren, um Sachen für Tommy zu besorgen, ehe er aufwachte.
Am Fuß der Treppe blieb sie stehen und blickte auf die geschlossene Tür, an der eine 3 aus Messing befestigt war.
Dahinter schlief Tommy. Tatsächlich verschlief er den größten Teil seines ersten Geburtstags. Er träumte von seiner Mum und seinem Dad, die ihrerseits nicht von ihm träumten. Und als er aufwachte, rief er nach ihnen. Aber sie kamen nicht.
Seine ersten Schritte machte Tommy auf dem Rasen vor der Molkerei. In den letzten zwei Monaten war Michelle Chaplin jeden Morgen um 9 Uhr mit ihrem neuen Schützling nach draußen auf den Spielplatz gegangen, den sie im scheckigen Schatten eines großen Baums für ihn eingerichtet hatte. Dort standen ein paar Schaukeln, an deren Gerüst der Rost fraß, weil es seit Jahren schutzlos den Elementen ausgesetzt war. Neben den Schaukeln pflegte Michelle eine karierte Picknickdecke auszubreiten und ein paar Kuscheltiere und Bücher darauf anzuordnen. Sie war entschlossen, alles für Tommy zu tun, was sie auch für ihr eigenes Kind getan hätte – oder was die Eltern des Jungen für ihn hätten tun sollen. Er folgte ihrem Finger, wenn sie auf einzelne Wörter in einem Buch zeigte. Als er einmal kicherte, weil sie die Kuscheltiere mit lustigen Stimmen sprechen ließ, wurde Michelle klar, dass er ihr immer mehr ans Herz wuchs. Darum beobachtete sie nun mit geradezu mütterlichem Stolz, wie Tommy den rostfleckigen Rahmen der Schaukel losließ, um auf dem Rasen einen, zwei und dann drei wackelige Schritte zu gehen.
»Gut gemacht, Tommy!«, rief Michelle, hob ihn hoch und drückte ihn. Ihr Lob ließ das blasse Gesicht des Jungen leuchten. »Das müssen wir unbedingt Mr Llewellyn erzählen. Er wird sehr stolz auf dich sein.«
Die nächsten beiden Versuche, diesen Erfolg zu wiederholen, scheiterten, aber Michelle wusste, dass es ein Meilenstein gewesen war. Der Junge, der sich zwei Monate lang störrisch geweigert hatte, die Schaukel loszulassen, hatte es endlich gewagt. Michelle wünschte, seine Eltern hätten es gesehen.
Eine Woche nach Tommys Einzug hatten die Mitarbeiter des Jugendamts Milkwood House einen weiteren Besuch abgestattet. Es waren derselbe Mann und dieselbe Frau, aber diesmal waren sie ordentlicher angezogen. Tagschicht. Sie hatten mit John Llewellyn in dessen Büro gesessen, umgeben von überall verteilten Akten, und später an jenem Nachmittag hatte John die Informationen an Michelle weitergegeben.
»Keine guten Nachrichten«, sagte er.
Womit Michelle auch nicht gerechnet hatte. Sie hatte noch nie erlebt, dass das Jugendamt gute Nachrichten überbrachte.
»Das Paar, in dessen Haus Tommy gefunden wurde, war clean. Keine Drogen. Im Ernst, absolut nichts. Und der Psychologe, der mit ihnen gesprochen hat, meinte, sie seien bei klarem Verstand. Anständige Jobs haben sie auch.«
»Warum sind das keine guten Nachrichten?«, fragte Michelle. »Sie können Tommy wieder nach Hause holen.«
John seufzte. »Genau das ist das Problem. Es gibt keinen Beweis dafür, dass es tatsächlich sein Zuhause war. Die beiden schwören, dass er nicht ihr Sohn ist, und der Psychologe glaubt, dass sie die Wahrheit sagen. Es gibt … na ja, es gibt keinen Beleg dafür, dass er jemals dort gelebt hat.« Er verschwieg ihr, dass auch Tommys Geburt nirgendwo dokumentiert war. In keinem Krankenhaus in der Umgebung. Bei keiner freiberuflich tätigen Hebamme. Nirgendwo ein Wort. Es war seltsam. Natürlich war es nicht unmöglich, komplett aus dem Raster zu fallen, aber ungewöhnlich war es doch.
»Was ist denn mit … keine Ahnung … DNA oder so? Machen sie heute in solchen Fällen denn keine Tests?«, fragte Michelle, und John nickte.
»Ja, und sie meinten, dass wir irgendwann mit ihm in die Stadt fahren und ihm Blut abnehmen lassen müssen. Armer Junge … das wird ihm bestimmt nicht gefallen. Aber sie sagen, die Sache würde einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Proben müssen nach Übersee geschickt werden, zudem haben Fälle wie der unsere anscheinend keine hohe Priorität.« Die Leute vom Jugendamt hatten sich anders ausgedrückt. Sie sagten, ein Swimmingpool voller Blut, Sperma und Speichel warte darauf, getestet zu werden, und Tommy wäre erst nach einer Reihe von Mördern, Vergewaltigern und potenziellen Vätern an der Reihe, bei denen eine Erbschaft auf dem Spiel stand. Es würde mindestens ein Jahr dauern, vielleicht sogar zwei.
»Ich glaube, wir müssen akzeptieren, dass er nicht ihr Kind ist, Michelle. Tommy ist offiziell in das Register vermisster Kinder aufgenommen worden, aber als Findelkind. Wer tatsächlich vermisst wird, sind seine Eltern.«
»Und was bedeutet das für Tommy?«, fragte Michelle.
»Es bedeutet, dass er endgültig hierbleiben wird. Es sei denn, seine Eltern verlangen ihn zurück. Und können erklären, warum sie in ein fremdes Haus eingebrochen sind und ihren kleinen Jungen dort zurückgelassen haben.« Es klang lächerlich, und das wussten sie beide.
Darum begriff Michelle, dass Tommys Eltern seine ersten Schritte nicht sehen würden, sosehr sie es sich auch wünschte, als sie auf dem Rasen vor der Molkerei mit ihm spielte.
Aber jemand anders sah sie. In dem alten zweistöckigen Haus saß ein Kind auf dem Rand seines Betts und schaute mit großen blauen Augen aus dem Fenster. Richie Sharpe, der nunmehr vierjährige Junge, der noch immer ein oder zwei Jahre älter aussah, litt unter Halsschmerzen und einem akuten Anfall von Eifersucht. Von seinem Fenster aus hatte er beobachtet, wie die anderen Kinder – mit Ausnahme von Tommy – über die gekieste Auffahrt gestapft und in den Bus gestiegen waren, der sie zur Schule brachte. Die kleineren Kinder wurden an der Grundschule abgesetzt, die größeren am Bahnhof. Mit offiziell nur dreitausendsechshundert Einwohnern hatte Upper Reach keinen Anspruch auf eine eigene weiterführende Schule, sodass sämtliche Teenager des Städtchens zusammen in den Zug nach Mortlake stiegen, die nächste Stadt an der Bahnlinie nach Westen. Alle Kinder aus der Molkerei fuhren nach Mortlake, sobald sie alt genug waren. So war es nun einmal. Zuerst die Grundschule in Upper Reach, dann die Highschool in Mortlake und danach willkommen im Rest des Lebens, Kinder.
Während die anderen noch von dem Grundstück strömten, flog die Tür zu Richies Zimmer auf, und Mrs Reilly kam mit einem kleinen Tablett herein. Sie war groß, dünn und gemein. Er mochte sie nicht.
»Ich habe gehört, du bist krank«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme.
Richie antwortete nicht. Er wusste, dass es ihr egal war.
»Mach den Mund auf.«
Richie gehorchte, und ein Thermometer wurde hineingesteckt. Mrs Reilly überprüfte die Temperatur und runzelte die Stirn, als sie feststellte, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Richie fragte sich, was sie gemacht hätte, wenn er das Fieber nur vorgetäuscht hätte. Ihm eine geklebt, vermutlich.
»Runterschlucken«, sagte sie, während sie zwei Pillen von dem Tablett nahm und ihm reichte.
Richie schüttelte den Kopf. Bei Miss Michelle musste er nie Tabletten schlucken, sie gab ihm immer etwas Süßes, Rosafarbenes und Klebriges in einem kleinen Messbecher.
»Weißt du, was?«, sagte Mrs Reilly, und es war keine Frage. »Mir ist völlig egal, ob du sie nimmst. Von mir aus kannst du sie aus dem Fenster werfen. Kümmert mich nicht. In ein paar Tagen geht es dir sowieso wieder gut, daran ändern die Pillen auch nichts.«
Ohne ein weiteres Wort verließ Mrs Reilly das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Richie betrachtete die Tabletten und berührte eine mit der Zungenspitze. Der Geschmack ließ ihn würgen, und er drehte sich wieder zum Fenster, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Miss Michelle das neue Kind – das Baby – neben den Schaukeln auf die Füße stellte. Diesmal fiel es gleich wieder um, und Richie lächelte. Das Lächeln verwandelte sich in einen finsteren Blick, als Miss Michelle Tommy die Knie abwischte und ihn in die Arme nahm.
Richie konnte sich an seine Mum nicht mehr erinnern, aber in seiner Vorstellung war sie genau wie Miss Michelle. Was absolut nicht zutraf – es gab da einen Kassierer in einer Videothek, der das bei ihrem Prozess nur zu gern bestätigt hatte –, aber das spielte für Richie keine Rolle. Er wusste, dass er seine echte Mutter für lange Zeit nicht wiedersehen würde, das hatten sie ihm bei seiner Ankunft hier erklärt, sehr behutsam natürlich. Damals hatten Miss Michelle und dieser Mann, Mr Llewellyn, an der Tür auf ihn gewartet. Sie hatte ihn bei der Hand genommen, ihn in ein Zimmer mit Tischen und Stühlen geführt und ihm Eiscreme gegeben. Viel Eiscreme. An jenem Abend hatte Miss Michelle ihn zu Bett gebracht und ihm einen Kuss auf die Stirn gegeben, und sie war auch da gewesen, als er am nächsten Morgen aufwachte. Monatelang hatte sie ihm Geschichten vorgelesen und mit ihm gespielt, und etwa um dieselbe Zeit, zu der in einem Gerichtssaal achtzig Kilometer weit weg der Hammer fiel und seine liebe, süße Mum zu achtzehn Jahren Knast verurteilt wurde, war Richies Erinnerung an sie vollständig mit dem Bild der fürsorglichen, liebevollen Miss Michelle verschmolzen.
Er schluckte erneut. Sein Hals tat wirklich weh, und er wollte weiterschlafen. Er legte den Kopf auf das Kissen. Wenn er aufwachte, war das neue Kind vielleicht wieder verschwunden.
Es war nicht verschwunden, aber während Richie schlief, war etwas anderes geschehen. Der Groll, den er verspürt hatte, als er seine Miss Michelle mit Tommy unter seinem Baum auf seiner Decke spielen sah, hatte sich verfestigt, und als er erwachte, war er zu etwas Neuem geworden. Es war das stärkste Wort, das der Vierjährige kannte.
»Hass, Hass, Hass«, zischte er leise, um es auszuprobieren. Der Klang gefiel ihm, aber außerhalb seines Zimmers würde er dieses Wort nicht aussprechen, schon gar nicht, wenn Mrs Reilly in der Nähe war. Wörter wie hassen oder dumm oder Idiot durften sie nicht sagen. Aber er war allein, und er sagt es nur leise. Außerdem stimmte es.
Ja, Richie Sharpe beschloss, Tommy zu hassen.
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