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Auch wenn die heutigen psychiatrischen Kliniken keine „Totalen Institutionen“ im Sinne Irving Goffmans mehr darstellen, sondern sich zumeist einem sozialpsychiatrischen Grundgedanken angenähert haben, spielen Faktoren aus den Anfängen des psychiatrischen Maßregelvollzugs auch heute noch eine Rolle. Zwangsgemeinschaft, Baumaßnahmen zur persönlichen Einschränkung und tages- und lebensstrukturierende Regelwerke verändern die Lebenssituation der Patientinnen und Patienten innerhalb der Institution der Forensischen Psychiatrie. Vor allem Gesetzesänderungen und Gerichtsurteile prägen die Unterbringung im Maßregelvollzug und verdeutlichen die Wichtigkeit, ethische Fragen und auch Fragen der Schuldfähigkeit, Sicherungsbedingungen und unterschiedliche Krankheitsbilder im Kontext der Straftatbegehung zu thematisieren und zu diskutieren. Die Eickelborner Schriftenreihe publiziert die in den Fachtagungen angesprochenen Themen aus unterschiedlichen Berufsfeldern und ist so maßgeblich an der Entwicklung des Feldes und dem forensisch-psychiatrischen Diskurs beteiligt.
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Seitenzahl: 308
Veröffentlichungsjahr: 2024
Eickelborner Schriftenreihe
Herausgeber: Bernd Wallenstein
Die Eickelborner Schriftenreihe präsentiert die fachübergreifenden Themen und Beiträge der jährlich stattfindenden Fachtagungen zur Forensischen Psychiatrie:
Psychiater, Psychotherapeuten, Pflegende und Sozialtherapeuten, aber auch Juristen, Kriminologen, Kriminalisten sowie Philosophen, Theologen und Medienvertreter treten in einen interdisziplinären Fachdialog. Dabei werden Wissenschaft und Praxis der psychiatrischen Diagnostik, Therapie oder Prognosebeurteilung im gesellschaftlichen Kontext erörtert.
Die Schriftenreihe publiziert zeitnah die wesentlichen Beiträge aus den Tagungen und bildet so über Jahrzehnte hinweg die Entwicklung des Faches selbst und des forensisch-psychiatrischen Diskurses mit gesellschaftlichem Bezug ab.
Bernd Wallenstein (Hrsg.)
Jahrbuch Forensische Psychiatrie 2024
Maßregelvollzug. Therapieverfahren. Pflege. Rechtsfragen. Ethik.
mit Beiträgen von
A. Ansorge | B. Borchard | D. Deimel | H. Foullois | A. Gnoth | N. Habermann | T. Hollweg | E. Knoblauch | U. Kobbé | K. Kollmitz | G. Konrad | K. Köppen | V. Lankow | N. Lentz | C.M. Loddo | C. Mallmann | R. Neubauer | S. Risy | N. Saimeh | T. Scheskat | S. Selzer | A. Trost | B. Völlm | F. Voss | P. Walde | M. Winkelkötter
Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Der Herausgeber
Bernd Wallenstein
LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt
Eickelbornstr. 19
59556 Lippstadt
MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
Unterbaumstr. 4
10117 Berlin
www.mwv-berlin.de
ISBN 978-3-95466-937-0 (eBook: PDF)
ISBN 978-3-95466-938-7 (eBook: ePub)
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Die Verfassenden haben große Mühe darauf verwandt, die fachlichen Inhalte auf den Stand der Wissenschaft bei Drucklegung zu bringen. Dennoch sind Irrtümer oder Druckfehler nie auszuschließen. Der Verlag kann insbesondere bei medizinischen Beiträgen keine Gewähr übernehmen für Empfehlungen zum diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen oder für Dosierungsanweisungen, Applikationsformen oder ähnliches. Derartige Angaben müssen vom Leser im Einzelfall anhand der Produktinformation der jeweiligen Hersteller und anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden. Eventuelle Errata zum Download finden Sie jederzeit aktuell auf der Verlags-Website
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Layout & Satz: zweiband.media, Agentur für Mediengestaltung und -produktion GmbH, Berlin
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Cover: © Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL)
Zuschriften und Kritik an:
MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Unterbaumstr. 4, 10117 Berlin, [email protected]
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
ich freue mich, Ihnen den Tagungsband zur 37. Eickelborner Fachtagung präsentieren zu können. Vom 6. bis 8. März 2024 kamen über 600 Expertinnen und Experten aus dem deutschsprachigen Raum zusammen, um neueste Forschungsergebnisse und innovative Behandlungsmethoden vor Ort oder online zu diskutieren.
Die Eickelborner Fachtagung hat sich als eine bedeutende Plattform für den Austausch von Wissen und Erfahrungen im Bereich der Forensischen Psychiatrie etabliert. So breit gefächert wie die Themen in der Forensischen Psychiatrie war auch wieder das Programm der Tagung aufgestellt. Von Aggressions- und Gewaltmanagement bis zu Zwangsbehandlung wurden unterschiedliche Themen im großen Festsaal oder im kleineren Rahmen beleuchtet und diskutiert.
Ich danke dem Organisationsteam, dem es erneut gelungen ist, namhafte und fachkundige Referentinnen und Referenten aus dem In- und Ausland für die Eickelborner Fachtagung zu gewinnen, die hier nun ihre Beiträge in schriftlicher Form für den Tagungsband zur Verfügung stellen. Ihre Einsichten und Erfahrungen werden sicherlich wertvolle Impulse für unsere tägliche Arbeit liefern.
Ich hoffe und glaube, dass das „Jahrbuch Forensische Psychiatrie 2024“ zur weiteren Vertiefung der behandelten Themen beiträgt und Sie in der praktischen Arbeit unterstützt.
Bernd Wallenstein
im September 2024
1Persönlichkeits- und Beziehungsaspekte in der forensischen Arbeit mit persönlichkeitsgestörten MenschenNiels Habermann
2Warum wir gut sein wollen und nicht könnenNahlah Saimeh
3Alles „nur“ Anpassung? Was forensisch Tätige über eine Anpassungsleistung denken – und was sie dabei berücksichtigen solltenAnnika Gnoth und Bernd Borchard
4Menschen mit anderem kulturellem Hintergrund im MaßregelvollzugVolker Lankow
5Es sollte sich etwas ändern! Zur Versorgung von psychisch kranken Menschen, die zu Gewalttaten neigen, im Spannungsfeld zwischen gemeindepsychiatrischer Versorgung und forensischer PsychiatrieTilmann Hollweg
6Forensische Präventionsstellen: Auch ein Weg für Westfalen-Lippe?Holger Foullois und Michael Winkelkötter
7Vom homo psychologicus psychologischer Täterarbeit durch die Linse forensischer FeldforschungUlrich Kobbé
8Die CONNECT-Studie: Erste Ergebnisse einer Pilotstudie zur Entwicklung einer bundesweiten Datenbank für Patient:innen des Maßregelvollzuges mit Unterbringungsgrundlage § 63 StGBKatja Köppen, Peggy Walde und Birgit Völlm
9Das Risiko der Selbstbestimmungsfähigkeit oder „Die Forensifizierung psychisch kranker Menschen?“Catia M. Loddo
10Die Struktur des BösenGisela Konrad
11Krisenintervention in Dauerschleife: Sozialtherapeutische Ansätze zur Verhinderung langanhaltender Unterbringungen in Kriseninterventions räumen in der ForensikFrank Voss
12Aggression als Ressource: Aggressions-Dialog-Arbeit – ein körperbasierter AnsatzThomas Scheskat und Elke Knoblauch
13„Was habt ihr mit mir vor …?“ Behandlungsplanung im MaßregelvollzugNathalie Lentz und Kai Kollmitz
14Beziehungsgestaltung im Zwangskontext: Das Erleben von Absonderungen aus BetroffenensichtAndrea Trost und Carina Mallmann
15Interview mit einem GenesungsbegleiterSilke Risy und Stefan Selzer
16Implementierung der erweiterten Broset-Gewalt-Checkliste (BVC-CH) in einer forensischen Aufnahme: Ein PraxisentwicklungsprojektDiane Deimel
17Mit Systemsprengern auf dem Vulkan tanzen: Wenn auch die Forensische Psychiatrie zu scheitern drohtAnett Ansorge und René Neubauer
„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
Friedrich Nietzsche wusste genau, was er uns 1886 mit seinem Werk „Jenseits von Gut und Böse“ zumutete, und ich verstehe seine Schriften weniger als Gesellschaftskritik denn als Aufforderung, sich selbst zu erforschen. Stellen Sie sich daher bitte zum Beginn dieses Beitrags einmal unumwunden die Frage: Was würden Sie, dazu aufgefordert, sich fremden Menschen persönlich, offen und authentisch vorzustellen, ohne sich hinter ihrem Beruf zu verstecken, von sich erzählen? Denken Sie daran, wie oft wir genau dies von unseren Patienten verlangen, wobei erschwerend hinzukommt, dass sie sich anfangs meist auf ihre schweren Delikte und psychischen Störungen reduziert fühlen. Probieren Sie es aus und Sie werden merken: Es ist ein sehr schmaler Grat zwischen authentischer Selbstauskunft und manipulativer Selbstdarstellung.
Die Frage nach der subjektiven Identität berührt die Essenz menschlicher Interaktion: Wir definieren uns in einer ganz bestimmten Weise, wir haben ein meist kohärentes Selbstbild und eine Sichtweise auf unsere Mitmenschen und die Welt, die für uns in höchstem Maße befindlichkeits- und verhaltensrelevant ist. Wir wollen in einer bestimmten Weise gesehen werden, und dazu steuern und kontrollieren wir die Informationen, die wir anderen von uns geben. Bei Fremden sind wir meist erst mal distanziert; je näher wir uns kommen, desto mehr geben wir von uns preis, wenn wir beim anderen das Gleiche erleben. Das ist das Prinzip sozialer Reziprozität, der Kern des menschlichen Miteinanders und der Klebstoff von Gemeinschaften, Gesellschaften und Staaten. Quid pro quo, „dies für das“, wird in der Spieltheorie als Erklärungsansatz herangezogen, um kooperatives Verhalten entgegen unserem natürlichen Egoismus zu erklären (Budescu et al. 1997). Zugleich ist unser Erleben und Verhalten aber auch durch hochgradig individuelle Motive determiniert, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden. Auch in der Arbeit mit forensischen Patienten sind selbstverständlich unsere subjektiven Selbst- und Fremdbilder, unsere erfahrungsbasierte Weltsicht, unsere Prinzipien des Miteinanders auf Grundlage unserer Bedürfnisstrukturen in starkem Maße wirksam, unterliegen hier aber aus naheliegenden Gründen einer hochgradigen Zensur und entsprechen damit natürlich nicht mehr dem „normalen“ Umgang zwischen Menschen. Vergegenwärtigen Sie sich bitte kurz einmal die Ausgangssituation in forensischen Einrichtungen: Da sind viele Menschen auf engstem Raum, die furchtbare Dinge getan haben, die seelisch krank und die gefährlich sind. Da ist der Auftrag der Gerichte, als Stellvertreter der Gesellschaft, diese Menschen möglichst ungefährlich zu machen, jedenfalls aber uns alle vor weiteren Straftaten zu schützen. Und da sind wir Fachkräfte mit unseren begrenzten Möglichkeiten der Behandlung. Was wir trotz der fundamentalen Unterschiedlichkeit und Rollenverteilung – auf der einen Seite Täter, auf der anderen Seite Wächter und Behandler – gemeinsam haben, sind psychische Grundbedürfnisse: Das sind nach Klaus Grawes Konsistenztheorie (2000) Bindung, Kontrolle, Lustgewinn und Unlustvermeidung sowie Selbstwerterhöhung.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle den Hinweis, dass wir für unsere Position streng genommen nichts können und uns diese auch nicht „verdient“ haben: Wir alle hier haben einfach nur Glück gehabt in der Lotterie des Lebens, dass wir in einem der reichsten Länder der Erde in günstige Umstände hineingeboren wurden und genetisch mit genügend Fähigkeiten ausgestattet wurden, Probleme sozial verträglich zu lösen und – jedenfalls hoffe ich das für Sie alle – bisher nicht straffällig geworden zu sein. Wenn wir trotz unterschiedlicher Voraussetzungen des Daseins und unterschiedlicher Performance, die manche zu Tätern macht und andere zu Normkonformen, von gleichen Grundbedürfnissen ausgehen, so gibt es in der forensischen Arbeit dennoch keinen gleichen Umgang miteinander. Man muss nicht mehr wie einstmals Tilman Moser (1971) von einer „repressiven Kriminalpsychiatrie“ sprechen, aber Fakt ist: Wir arbeiten weiterhin in einem weitgehend geschlossenen, hierarchischen System, das durch den Auftrag der Besserung und Sicherung definiert ist, und das erfordert die Konzentration auf den Patienten und dessen Probleme und Defizite, während wir als Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Pflegekräfte, Sicherheitsbedienstete vor allem unsere Arbeit zu erledigen haben und unsere eigenen Probleme dabei eher hinderlich sind. Die Beziehungsgestaltung ist dabei per se asymmetrisch. Patienten sollen und müssen, wenn sie eine Chance haben wollen, entlassen zu werden, alles von sich preisgeben. Wir hingegen erzählen dabei möglichst wenig von uns. Trotzdem sind wir natürlich keine Automaten und „lesbar“ durch unser Verhalten, wobei oft gerade Menschen mit Störungen unsere Schwachstellen wahrnehmen und in ihren Reaktionen auf unser Verhalten spiegeln. Auch wenn wir nicht fortwährend bagatellisieren, rationalisieren und externalisieren, sondern durchaus auch zur Selbstkritik und Reflexion in der Lage sind, unterscheiden wir uns in unseren motivationalen Zielen grundsätzlich nicht von unseren Klienten: Wir schützen unseren Selbstwert. Wir wollen das Gefühl von Kontrolle haben. Wir wollen Lust erleben und Unlust vermeiden. Wir wollen gute Beziehungen haben und uns darin sicher fühlen. Machen Sie sich immer wieder klar, dass unsere Patienten im Grunde nichts anderes wollen, aber in ihren Fähigkeiten dazu sehr stark eingeschränkt sind – was sie sich, wenn sie in der forensischen Psychiatrie sind, per definitionem, jedenfalls aus rechtlicher Sicht nicht ausgesucht haben. Kein Mensch wollte oder will eine Schizophrenie, eine Hirnschädigung, eine Intelligenzstörung oder eine Psychopathie haben, und im Unterschied zu den schuldfähigen Verbrechern in den Gefängnissen haben sich Ihre Patienten in der Regel auch nicht bewusst und willentlich unter Abwägung aller möglichen Vor- und Nachteile entschieden, Straftaten zu begehen. Wenn sie überhaupt über eine Unrechtseinsicht verfügten, was z.B. in einer akuten, floriden Psychose mit Wahnbildung nicht möglich ist, waren sie in ihrer Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung zumindest stark eingeschränkt, also nicht oder vermindert schuldfähig, und wir müssen davon ausgehen, dass es keine gut überlegten, willentlichen Entscheidungen waren, die zu diesen Zuständen führten, auch wenn man z.B. bei einem Drogensüchtigen oder einem Persönlichkeitsgestörten rückblickend auf die Entwicklung zur Tat oft noch Situationen findet, in denen nicht unmittelbar aus der Störung abzuleitende Fehlentscheidungen getroffen wurden.
Was bedeutet das für Ihr Befinden und Ihr Verhalten dem Patienten gegenüber? Zunächst einmal ist es wichtig, sich klarzumachen, dass Sie nur sehr begrenzte Zugangsmöglichkeiten zum inneren Erleben Ihres Gegenübers haben, zumal wenn dieser in seiner Fähigkeit eingeschränkt ist, seine Gedanken, Gefühle und Motive zu verbalisieren. Es kann sein, dass es selbst bei hinreichenden psychischen Grundfähigkeiten und bestem Willen des Patienten keine klaren Erinnerungen an die Tat gibt, wie auch der Blick zurück aufs ganze Leben schwierig sein kann, insbesondere, wenn nie gelernt wurde, das Erlebte biografisch einzuordnen und anderen davon zu erzählen. Das kann die eigene Geduld und das Bedürfnis, eine Ordnung herzustellen, sehr strapazieren, zumal unter Zeit-, Berichts- oder selbst auferlegtem Erfolgsdruck, und wir müssen aufpassen, dass wir dies nicht dem Klienten anlasten. Schon an dieser Stelle ist es sehr wichtig, bei sich selbst zu schauen: Was will ich eigentlich erreichen? Will ich den Patienten heilen? Das wäre ein unrealistisches Ziel, dessen Verfehlung mich fortwährend frustriert und meine Arbeit verschlechtert. Will ich, dass es ihm besser geht, dass er weniger leidet? Ein hehres Ziel, aber was, wenn der Patient meine Art der Behandlung als qualvoll und als Zwang empfindet, eigentlich keine Medikamente nehmen will und unter den Nebenwirkungen leidet? Was, wenn ich ihm etwas vorenthalte oder ihn stark eingrenze in Bezug auf etwas, was er gern möchte und was eines der wenigen Dinge ist, mit denen er sich ablenken und positiv stimulieren kann, wie Zigaretten, Essen, Fernsehen, Sex oder die einzige enge Bezugsperson von draußen? Unter behandlerischen Gesichtspunkten kann ich das alles vertreten, denn ich bin fachkompetent – ich weiß, was für den Patienten das Beste ist! Und indem ich diese Maßnahmen anordne und durchsetze, befriedige ich mein Kontrollbedürfnis und mein Kompetenzerleben stärkt meinen Selbstwert.
So, wie es um den Klienten geht, geht es also immer auch um einen selbst. Gefährlich bis schädlich wird es, wenn es unmerklich immer mehr um mich als um den anderen geht, und das sind – meist bewusstseinsferne – Mechanismen, vor denen auch und gerade Menschen, die in geschlossenen hierarchischen Systemen mit durchweg asymmetrischer Beziehungsgestaltung arbeiten, nicht gefeit sind. Sie alle kennen den Kollegen oder die Kollegin, den Oberarzt, die Psychologin, den Pfleger, den Verwaltungsangestellten, den Direktor, den Justiziar oder den Gutachter, der Ihnen das Gefühl gibt, vor allem in eigener Sache unterwegs zu sein, vielleicht sogar unverhohlen seine vermeintliche Kompetenz, seine empfundene oder auch faktische Macht herauszustellen oder gar zu nutzen, um Sie in die Schranken zu weisen. Verbreitet ist auch der Typus des passiv aggressiven Hintenrum-Machers, der Sie v.a. durch Verzögerungen, Verschleppungen, vermeintliches Vergessen, Falsches- oder Nichtstun zur Verzweiflung bringt. Auch die Superkorrekten, die zwanghaft Komplizierten, die Obrigkeitshörigen und willfährigen Mitläufer können uns zu schaffen machen, wie auch die „Dienst nach Vorschrift“-Apologeten oder die Zögerer, die stillen, unsicheren, hilflosen Depressiven, deren gedrückte, furchtsame Grundstimmung ganze Teams ansonsten optimistischer Mitarbeiter infizieren kann. Zur Erinnerung: Ich rede hier nicht von den Patienten, sondern von den Fachpersonen, und es geht hier nicht um einen „schlechten Tag“, um kurze Stimmungen und Launen, um auf eine bestimmte Person bezogene oder in einer besonderen Situation auftretende Eigenheiten, sondern um früh entstandene, überdauernde, tief verwurzelte Erlebens- und Verhaltensweisen, die teils deutlich von der Norm abweichen.
Wenn wir also feststellen, dass auch wir Profis unsere Persönlichkeitsstile, Akzentuierungen und mitunter auch Störungen haben, was bedeutet das für unser professionelles Handeln? Müssen wir dann nicht alle selbst eine Therapie machen? Schaden würde es wahrscheinlich nicht, aber dahingehend stößt das sowieso schon überbeanspruchte Versorgungssystem an seine Grenzen, und machen wir uns nichts vor: Die meisten von uns leben gut mit ihren Eigentümlichkeiten, selbst wenn es bei manch einem ins Abnorme hineinreicht, solange wir dabei noch einen überwiegenden Realitätsbezug haben und sozial verträglich sind (wenn nicht, werden unsere Mitmenschen uns das spüren lassen). Vieles, was eigene Anteile im professionellen Arbeiten mit forensischen Patienten betrifft, kann tatsächlich mittels Einzel- und Gruppen-, Super- und Intervision besser verstanden und ausgesteuert werden. Psychotherapeuten haben den Vorteil, dass sie bereits im Rahmen ihrer Ausbildung professionelle Selbsterfahrung durchlaufen, und dies erscheint mir im Hinblick auf das therapeutische Arbeiten mit forensischen Patienten auch unabdingbar. Insofern sehe ich es als originärer Rechtspsychologe, der ein Jahrzehnt lang Rechtspsychologen ausgebildet hat, mittlerweile kritisch, wenn junge Menschen lediglich mit dieser Qualifikation in forensischen Einrichtungen quasitherapeutisch mit schwer gestörten Patienten arbeiten. Das Gleiche trifft auf nicht hinreichend therapeutisch ausgebildete Ärzte zu. Andersherum gesagt: Insbesondere in der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen und sexuellen Deviationen erscheinen mir zumindest fortgeschrittene Therapieausbildungen mittlerweile unverzichtbar, wiewohl dies, machen wir uns auch in diesem Punkt nichts vor, für sich genommen noch keine gute Behandlung gewährleistet.
Die beste psychodynamische oder Verhaltenstherapie nützt wenig, wenn im Rahmen der Ausbildung keine Erfahrungen mit Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen und sexuellen Präferenzstörungen gemacht werden konnten. In den Curricula sind dies indes größtenteils Randthemen, wie in einer universitären psychotherapeutischen Ambulanz auch selten schwer Dissoziale, maligne Narzissten und Psychopathen auftauchen, die zudem in den wenigsten Fällen einen intrinsischen Leidensdruck haben und bereit und in der Lage sind, sich den hohen Anforderungen einer Psychotherapie zu unterziehen. Wenn Psychotherapeuten in Ausbildung jedoch größtenteils Depressive, Essgestörte, Angstneurotiker und Zwangspatienten behandeln, fehlt das notwendige Wissen und Können, um jene Störungsbilder zu behandeln, die in den forensischen Einrichtungen einen großen Teil der Patienten betreffen. Erschwerend hinzu kommt, dass die Arbeit in einer Forensik für die meisten Psychotherapeuten nicht der Traumjob ist bzw. die Mitarbeit in einer Praxis und über kurz oder lang der eigene Kassensitz ungleich attraktiver erscheinen. Zudem haben wir es in den letzten Jahren aus meiner Sicht gehäuft erlebt, dass junge, gut ausgebildete Menschen, die gezielt forensische Einrichtungen zum Berufseinstieg adressieren, schnell und stark einen Praxisschock erleben und dann rasch wieder aussteigen – was im Zweifel besser ist als dazubleiben, chronische Stresssymptome zu entwickeln und schließlich ein Burnout zu erleiden. Noch problematischer erscheinen mir indes diejenigen Mitarbeiter, die äußerlich resilienter wirken und vielleicht auch sind, internal aber ambivalente, negative bis hostile Einstellungen entwickeln, die unbewusst auf die Patienten übertragen werden, bis hin zu Agitation, Machtmissbrauch und anderen fremdschädlichen Verhaltensweisen.
Damit komme ich zum zentralen Anliegen meines Beitrags: Was macht die forensische Arbeit mit uns? Inwieweit besteht die Gefahr, dass sich unter dem – für viele von Ihnen vermutlich fast täglichen – Narrativ schwerer Gewalt ein persönlicher Abgrund auftut, der eines Tages – oder noch schlimmer: nachts, wenn Ihre intellektuellen Abwehrmechanismen schlummern – in Sie hineinzublicken beginnt? Ich kann diese Frage nicht allgemeingültig beantworten. Ich kann Sie nur auf einige Punkte hinweisen, mit denen Sie sich unabhängig von dem Ort, der Dauer und dem Professionalisierungsgrad Ihrer forensischen Tätigkeit in Form eines inneren Dialogs auseinandersetzen sollten. Typischerweise schauen wir da nicht so gern und schon gar nicht ganz genau hin. Werden wir z.B. von einem Freund oder Angehörigen gefragt: „Wie kannst du nur mit diesen schrecklichen Menschen arbeiten? Wie hältst du das bloß aus?“, so antworten wir meistens rationalisierend; z.B., dass unsere Arbeit eine wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllt, dass uns gerade die Herausforderung, das Schwierige daran gefällt. Vielleicht räumen wir gegenüber sehr guten Freunden auch ein, dass es durchaus einen Reiz hat, schreckliche Geschichten ganz ungefiltert und unsublimiert durch Romane, Filme oder Podcasts erzählt zu bekommen, verstehen zu wollen, wie es dazu kommen konnte, und zu versuchen, die Gefährlichkeit dieses Menschen etwas zu reduzieren. Dann erzählen wir noch etwas von unseren persönlichen Stärken – z.B. stabil, belastbar, körperlich fit, empathisch, weitgehend furchtlos zu sein – und unseren Ressourcen – „ich reise gern“, „ich lese viel“, „ich habe gute Beziehungen“, „ich male oder schreibe“, „ich mache Ausdauer- oder Extremsport“, „habe eine gute Work-Life-Balance“ – und schon sind wir mit uns selbst im Reinen und haben den Abgrund nicht in uns reinblicken lassen. Das kann vielleicht ein Berufsleben lang äußerlich gelingen. Ich bin dennoch aufgrund meiner inzwischen nahezu 30-jährigen Beobachtungen und Erfahrungen im forensischen Beruf davon überzeugt, dass derartige stärkenfixierte Coping-Mechanismen auf Dauer nicht funktionieren. Schauen Sie sich die Menschen an, die diese Arbeit lange machen. Schauen Sie sich selbst an. Schauen Sie sich vor allem an, wie wir, wie Sie auf die Welt schauen: Da ist der Abgrund nicht so fern. Wir spüren oder erkennen ihn eines Tages in jedem Mitmenschen und schließlich auch in uns selbst. Das kann das Gefühl von besonderer Begabung oder gar Überlegenheit sein. Ich kenne keinen Professor, keinen Gutachter, keinen Chefarzt, keinen leitenden Psychologen, der sich nicht wenigstens ein kleines bisschen besser findet als andere, der nicht ab und zu meint, die anderen haben keine Ahnung. Es ist ein kurzer Weg von Hochmut und Eitelkeit in die von Reinhard Haller sogenannte Narzissmusfalle (2024). Wie viele forensische Hochleistungsträger entwickeln Sarkasmus zu ihrem Lieblingsstil im mitmenschlichen Umgang und erscheinen schließlich als bissige Zyniker? Wie viele schotten sich zunehmend ab von der dreckigen, gemeinen und brutalen Welt mit ihren schrecklichen Wutbürgern und Radikalen, psychopathischen Staatschefs und unfähigen, raffgierigen bis kriminellen Konzernführern, die uns wahlweise das Bahn-, Auto- oder Radfahren vermiesen? Auch Sie kennen wahrscheinlich Kolleginnen und Kollegen, die dem Alkohol und illegalen – oder auch künftig legalen – Suchtmitteln nicht abgeneigt sind und ihren streng nach ICD-10 zumindest schädlichen Gebrauch immer noch als „ich trinke wenig und nur zu besonderen Gelegenheiten“ verbrämen. Auch das Sexualverhalten kann sich unter langjähriger forensischer Arbeit in interessanter Weise verändern, zumal seit die „50 Schattierungen von Grau“ (James 2015) in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein scheinen. Am häufigsten dürften aber auch wir Forensiker von den typischen Störungen betroffen sein, die sich aus chronischem Stress, verleugneten oder abgespaltenen Konflikten und bisweilen traumatischen Erfahrungen im Beruf ergeben, nämlich Burnout, psychosomatischen, depressiven und Angststörungen. Denken Sie nicht zuletzt auch an die Mitmenschen in unseren Reihen, die nach jahrzehntelanger, schier unermüdlicher, hochengagierter forensischer Arbeit plötzlich im besten Alter schwer erkranken oder unerwartet früh aus dem Leben scheiden. Daher lautet meine Empfehlung: Schauen Sie ab sofort dahin, wo es persönlich weh tut, wo es, wie es ein deutscher Außenminister mal sehr plastisch beschrieben hat, „schmutzig ist und stinkt“ (Nahles 2009). Sonst bleiben Sie sich selbst ein Stück fremd, und statt auf sich selbst zu schauen, beginnt der Abgrund in Sie hineinzuschauen. Das ist allerdings eine Sache, die Sie mit sich selbst ausmachen müssen, in welcher Form auch immer. Meines Erachtens muss sich jeder, der mit forensischen Patienten arbeitet, mit mindestens fünf Themen immer wieder intensiv auseinandersetzen:
Erstens: eigene Gewalterfahrungen in jeder Form, ob als emotionale Vernachlässigung, körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch oder niederschwelliger als Ausgrenzung, Mobbing, Diskriminierung, Rassismus, Diffamierung oder anderes, ob in der Kindheit, Jugend oder als Erwachsener, ob in der Familie, in der Schule, bei der Arbeit, in einer Partnerschaft, durch Fremde: Wir alle sind in irgendeiner Form viktimisiert worden, und auch wenn wir davon nicht schwer traumatisiert sind, steckt es tief in uns drinnen und beeinflusst unser Handeln, gerade in Umgebungen mit erhöhtem Gewaltrisiko.
Zweitens: Erfahrungen mit Alkohol, Drogen, Nikotin, Medikamenten, Suchtmitteln und Verhaltenssüchten in jeder Form. Die wenigsten sind abstinent, die meisten von uns konsumieren zum Glück in unschädlicher Weise. Aber Achtung: Das Suchtgedächtnis vergisst nichts, und wenn Sie andauernd gestresst sind, wird das Bedürfnis nach einer schnellen und wirksamen Erleichterung immer stärker.
Drittens: das eigene Bindungs- und Sexualverhalten. Ohne hier ins Detail zu gehen: Sie wissen selbst am besten, wie schwierig es sein kann, sich über die eigenen partnerschaftlichen und sexuellen Bedürfnisse klar zu werden, Schamgefühle zu überwinden und Fantasien auszusprechen, und sogar mit Ihrem langjährigen Intimpartner über Ihre innigsten Wünsche zu sprechen, kostet Überwindung.
Viertens: das Nachdenken über Alter, Krankheit und Tod, was uns bekanntlich alle eines Tages betrifft, meistens zuerst in Form des Ablebens von Älteren, aber irgendwann kommen die Einschläge näher. Es gibt kein Entkommen: Wir werden alle sterben. Sie können daher nicht früh genug damit beginnen, sich darauf vorzubereiten.
Fünftens schließlich, im Zusammenhang mit allem Vorherigen: die Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten. Sie können ein langes, gewalt- und suchtfreies, sexuell befriedigendes und beruflich erfolgreiches Leben führen, aber dennoch furchtbar unter Besorgnis, Unsicherheit, Zwängen und psychosomatischen Problemen leiden. Stellen Sie sich Ihren Ängsten! Sie haben eine Ursache und sie sind bloß ein subjektives Gefühl, das Sie mit Ihrer Art zu denken beeinflussen können. Und nehmen Sie nicht so viel persönlich. Meistens sind wir doch nur eine flüchtige Projektionsfläche für die motivationalen Ziele eines anderen.
Nach dieser Anleitung zur Selbsterkundung möchte ich nun noch etwas theoretischer und klientenbezogener werden. Es geht dabei um die Frage, was auf der Ebene der Beziehungsgestaltung konkret getan werden kann, um in der forensischen Arbeit die Wahrscheinlichkeit von Behandlungseffekten zu erhöhen und dabei möglichst körperlich und geistig gesund zu bleiben. Dabei beziehe ich mich im Wesentlichen auf die klärungsorientierte Psychotherapie von Rainer Sachse (2015). Was meines Erachtens gelernt werden muss, um mit persönlichkeitsgestörten Menschen in gesunder Weise professionell arbeiten zu können, ist die komplementäre Beziehungsgestaltung. Im Sinne von Rainer Sachse, aufbauend auf Klaus Grawes Konsistenztheorie und seiner integrativen Psychotherapie, wird der Begriff „komplementär“ dabei im Sinne von „bedürfnisbefriedigend“ oder „motivbefriedigend“ verwendet: Sich einem Klienten gegenüber komplementär zu verhalten, bedeutet demnach, dass ein Therapeut im Rahmen der therapeutischen Regeln wichtige Motive des Klienten in der Interaktion mit diesem Therapeuten befriedigt. Im Plananalyse-Konzept Franz Caspars (2018) bedeutet „komplementär“, dass sich ein Therapeut zu den impliziten oder expliziten Zielen des Klienten befriedigend verhält, dass er wichtige interaktionelle Ziele eines Klienten „bedient“. Dazu versucht ein Therapeut, aus den vom Klienten gegebenen Informationen, insbesondere aus dem konkreten Interaktionsverhalten, die motivationalen Ziele eines Klienten und daraus eine komplexe Struktur von Zielen zu erschließen. Ist dem Therapeuten dies gelungen, versucht er sich nach den höchsten „Plänen“ des Klienten komplementär zu verhalten, also eine Beziehungsgestaltung so abzustimmen, dass der Klient seine Pläne in der Interaktion mit dem Therapeuten möglichst realisieren kann. Dadurch, so die Theorie, werden die Pläne für den Klienten weniger relevant, und das durch diese Pläne gesteuerte Interaktionsverhalten lässt nach. In der Analyse des Interaktionsverhaltens von Klienten mit Persönlichkeitsstörungen entwickelte Sachse (2021) das Konzept der Beziehungsmotive. Dabei wird angenommen, dass Personen im Hinblick auf die Beziehung zu anderen Personen bestimmte Motive haben, die sie in der Interaktion mit relevanten Partnern befriedigen möchten. Man kann demnach sechs zentrale Beziehungsmotive unterscheiden: Anerkennung und Wichtigkeit beziehen sich darauf, von anderen Personen relevante Informationen über die eigene Person zu bekommen. Verlässlichkeit und Solidarität beziehen sich darauf, Informationen über die Qualität der Beziehung zu erhalten, und bei Autonomie und Grenzen geht es um das Ausmaß von Selbstbestimmung, das in einer Beziehung möglich ist.
Ich habe schon kritisch angemerkt, dass wir jetzt nicht alle Fachpersonen, die sich mit Straftätern mit Persönlichkeitsstörungen beschäftigen, mal eben zu Therapeuten ausbilden können. Was wir allerdings tun können, ohne allzu viele Ressourcen von den eigentlichen Aufgaben der Mitarbeiter abzuziehen, ist eine Stärkung der primär teamorientierten Sichtweise auf einen Patienten (vgl. Urbaniok 2000), die sich nicht allein auf einen Austausch bei den eher seltenen Behandlungs- oder Vollzugsplanungskonferenzen beschränkt. Schon die professionelle Kommunikation der Diagnose und Problembereiche, und was genau in Bezug darauf deliktrelevantes Verhalten ist, kann die Einheitlichkeit des klientenbezogenen Handelns im stationären, ambulanten, klinischen oder vollzuglichen Alltag erhöhen. Was die Grundhaltung angeht, mit der man einem Klienten begegnet, ist es meines Erachtens auf allen Ebenen des professionellen Arbeitens mit forensischen Patienten nach wie vor angebracht, sich auf Carl Rogers (2016) zu besinnen, wonach Kongruenz, Empathie und Akzeptanz der Schlüssel zum Behandlungserfolg sind. Das ist in forensischen Kontexten fraglos schwierig, zumal wenn der Klient eigentlich gar nicht behandelt werden will und man befürchten muss, dass jede Ich-Botschaft missbraucht wird, im schlimmsten Fall daraus sogar konkrete Gefahren resultieren.
Dennoch bin ich der Meinung, dass dieser personenzentrierte Ansatz gerade in geschlossenen, asymmetrischen Systemen nicht ganz außer Acht gelassen werden sollte. Gerade persönlichkeitsgestörte Patienten haben ein feines Gespür für Echtheit und Falschheit bei anderen und ganz besonders für Kritik, Macht und Manipulation. Die professionelle Bezugsperson darf sich also nicht hinter Fassaden, Rollen und Floskeln verstecken, sondern muss sich in die Situation spürbar, authentisch, gelegentlich auch emotional einbringen können, um eine unmittelbare, echte Beziehung von Person zu Person einzugehen. Erzielt ein Team darüber hinaus ein gemeinsames Verständnis der zentralen Beziehungsmotive des Patienten, seiner Annäherungs- und Vermeidungsziele, und wie diese in der Interaktion zum Ausdruck kommen, lässt sich sein Verhalten besser verstehen und vielleicht auch durch gezielte „Fütterung“ seiner Motive – sensu Sachse – modifizieren. Macht man sich die generellen Beziehungsmotive und ihre Bedeutung für das aktuelle Erleben und Verhalten des Patienten klar und legt man sie der alltäglichen Arbeit mit forensischen Patienten zugrunde, kann die Qualität der Interaktionen und damit die Chance einer Risikoreduktion meines Erachtens deutlich verbessert werden. Wichtig ist dabei jedoch, dass nicht nur der zuständige Arzt, Therapeut oder Case-Manager diese Überlegungen anstellt, sondern das ganze Behandlungsteam, vom Pfleger bis zum Chefarzt, wobei v.a. denjenigen mit der höchsten Interaktionsdichte eine wichtige Bedeutung zukommt, also den Bezugspersonen der Station bzw. Wohngruppe. „Alle ziehen an einem Strang“ ist ein geläufiges Sprichwort, das in der forensischen Arbeit unbedingt beherzigt werden sollte, was nicht bedeutet, die unterschiedlichen Kompetenzen und Motive der Mitwirkenden zu nivellieren. Wenn forensisch Tätige sich selbst in der Tiefe und auch mal bis in den Abgrund ausloten, haben sie meines Erachtens eine viel bessere Chance, sowohl lange Zeit gute Arbeit leisten als auch stabile Lebenszufriedenheit erreichen zu können.
Budescu DV, Erev I, Zwick R (Hrsg.) (1997) Games and Human Behavior, Essays in Honor of Amnon Rapoport. Erlbaum Mahwah
Caspar F (2018) Beziehungen und Probleme verstehen: Eine Einführung in die psychotherapeutische Plananalyse. Hogrefe Göttingen
Grawe K (2000) Psychologische Therapie. 2., korrigierte Auflage. Hogrefe Göttingen
Haller R (2024) Die Narzissmusfalle. Anleitung zur Menschen- und Selbstkenntnis. Salzburg: Ecowin
James EL (2012) Fifty Shades of Grey. Geheimes Verlangen. Goldmann München
Moser T (1971) Repressive Kriminalpsychiatrie: Vom Elend einer Wissenschaft. Eine Streitschrift. Suhrkamp Berlin
Nahles A (Hrsg.) (2009) Rede des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Sigmar Gabriel auf dem SPD-Bundesparteitag der SPD am 13. November 2009 in Dresden. Berlin: Pressestelle der SPD. URL: https://www.spdbb.de/afaboeb/dl/091113_rede_gabriel_bpt09.pdf (abgerufen am 13.08.2024)
Nietzsche F (2017) Jenseits von Gut und Böse. Nikol Hamburg
Rogers CR (2016) Entwicklung der Persönlichkeit: Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. 20. Auflage. Klett-Cotta Stuttgart
Sachse R (2015) Klärungsprozesse in der Klärungsorientierten Psychotherapie. Hogrefe Göttingen
Sachse R (2021) Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen. Eine verhaltenstherapeutisch-klärungsorientierte Anleitung. Kohlhammer Stuttgart
Urbaniok F (2000) Teamorientierte Stationäre Behandlung in der Psychiatrie. Thieme Stuttgart
„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“ heißt es in „Jenseits von Gut und Böse“ von Friedrich Nietzsche (1886) und jenes Zitat fehlt in kaum einer Publikation zum Thema menschlicher Destruktivität und ziert als philosophischer Schnörkel auch so manches true-crime-Format, weil der interessierte Laie dazu neigt, das Mysterium, durch das er die Bösewichte nicht selten auch idolisiert, zugleich auch auf jene überträgt, die sich professionell damit befassen.
Während sich Nietzsche seinerzeit mit der Moralbildung durch den freien, selbstbestimmten Menschen versus der Moralbildung des in Abhängigkeit Lebenden befasste und auf das Doppelbödige der Moral verwies, spielt die heutige häufige Zitierpraxis auf intrapsychische Abgründe feindseliger Absichten, destruktiver Impulse und ins Bewusstsein strebende, ungezügelte Affekte wie Wut und Hass oder ins Süchtige gesteigerte Sexualität an.
Der „Abgrund“ des Menschen in der Moderne hat, neben vielen Konstanten seiner Conditio humana, die ihm den Weg zur Tugendhaftigkeit erschweren, auch zu tun mit der Überforderung in Bezug auf das hohe Maß an Ambiguitäts-Toleranz, die pluralistische Gesellschaften der Moderne und Postmoderne von jedem einzelnen fordern. Der „Abgrund“ ist ein peorativer Begriff, er klingt ein bisschen wie „Abort“, also wie irgendeine Art grenzenlose moralische Kloake. Zugleich evoziert der Begriff auch, dass es um etwas endlos Tiefes geht, aber wer sich mit der menschlichen Destruktivität befasst und ihre konkreten Auswüchse sieht, stößt zwangsläufig auf beträchtliche Banalität und Untiefe. Die Unfähigkeit zur Tiefen-Erfahrung ist eine Wurzel menschlicher Destruktivität.
Das Böse interessiert uns Menschen. Aber warum? Die alltäglichen Begründungen nach einer aus innerer Leere, Langeweile oder sensation seeking angetriebenen Neugierde nach dem Absonderlichen, Grausamen und Abstrusen oder auch die Sehnsucht nach einer Grundlage für eine unzweifelhafte moralische Erhöhung der eigenen Person sei hier beiseitegelassen.
Eine sehr faktisch-nüchterne Begründung dürfte sein: wir sind alle sterblich. Unsere gesamte Existenz, die gebunden ist an einen Leib in einem Koordinatensystem aus Zeit und Raum, ist endlich. Wir müssen sterben, irgendwann, irgendwie, mal früher, mal später, mal „friedlich“ (was der Beurteilung außenstehender Beobachter entspricht), mal qualvoll. Das ist das unauflösbare Rätsel, dem wir nicht beizukommen vermögen: wir wissen nicht, wann und wie es uns trifft, nur, dass es sein wird. Gäbe es aber kein Bewusstsein für das, was wir Tod nennen, gäbe es auch kein Böses, denn alles, was – eine unendliche Existenz einmal als Denkmodell angenommen – in der unendlichen Ewigkeit geschehen würde, wäre nur eine Narretei, ein Spiel, eine belustigende Albernheit und sonst nichts.
In der Ewigkeit hat das Böse keinerlei Existenz.
Die forensische Psychiatrie hat auf angewandter Ebene damit zu tun. Sie ist Teil des zweispurigen Strafrechts, das auf der Erkenntnis gründet, dass ein Mensch bei schwerwiegenden psychischen Veränderungen durch Strafe nicht mehr sinnvoll erreichbar ist und nur therapeutische Einwirkung unter hohen Sicherheitsbedingungen in Betracht kommt. Es geht dabei nicht um Verharmlosung, Bagatellisierung oder gar Entschuldigung von Taten. Es ist nicht Aufgabe eines Sachverständigen, die Rolle des Strafverteidigers zu übernehmen. Sachverständigentätigkeit hat sich der absoluten Unparteilichkeit zu verpflichten. Der Hinweis kann im öffentlichen Diskurs nicht oft genug erfolgen. Im zweispurigen Strafrecht, das Strafe für Tatschuld und Maßregeln der Besserung und Sicherung für Schuld verminderte Täter vorsieht, führen potenziell vier Gruppen psychischer Störungen zu einer möglichen Schuldminderung oder Schuldunfähigkeit. Die Juristen sprechen im § 20 StGB von einer „krankhaften seelischen Störung“, „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“, „Intelligenzminderung“ oder einer „schweren anderen seelischen Störung“. Das „Gute“ und das „Böse“ ist in der Forensischen Psychiatrie an die Erkenntnis einer moralisch verwerflichen bzw. strafrechtlich relevanten Handlung gekoppelt sowie an die Steuerungsfähigkeit, sich entlang dieser Einsicht zu verhalten.
Nur bei schwerwiegenden psychischen Störungen mit Veränderungen der Psychopathologie oder einer überdurchschnittlichen Rigidität der Denkmuster wird angenommen, dass die Person in dieser Flexibilität in juristisch beträchtlichem Ausmaß bei der Tat eingeschränkt gewesen ist. Dabei berücksichtigt das zweispurige Strafrecht nicht nur psychische Erkrankungen im engeren Sinne, sondern auch hoch abnorme Entwicklungen der Persönlichkeit, die einen Menschen in seiner inneren Freiheit in Bezug auf kognitive Muster, Affekt- und Impulskontrolle sowie der Integration von Eros und Sexus so beeinträchtigen, dass er einem beziehungsfeindlichen, verzerrenden Muster sozialer Interaktion folgen muss.
Vier (nicht ganz wahllose) relevante Faktoren: Die psychischen, kulturellen, sozialen, politischen, ideologischen, ökonomischen und historischen Gründe und Einflussfaktoren auf menschlich destruktives Verhalten sind unendlich. Alles und alle können grundsätzlich zum Objekt menschlich destruktiven Verhaltens werden. Von daher seien hier rein exemplarisch – ein wenig zufällig – nur vier Faktoren benannt und kurz skizziert, die von Übel sind und die letztlich in zahlreichen gesellschaftlichen Diskursen und sozialen Problemfeldern deutlich werden und die Gewalt im sozialen Nahraum, Gewalt innerhalb einer Gesellschaft und auch international in relevantem Maße beeinflussen.
Die vier Faktoren lauten:
das Getrennt-Sein von der Welt
das ungeliebte Kind
das dämonisierende Denken
die Zuschreibung
Die Frage nach dem Bösen ist nicht verbunden mit einem Abgrund, sondern mit der Frage nach dem tiefen Grunde, aus dem wir stammen. Wir nehmen für eine begrenzte Zeit Form an und geben diese Form wieder auf und die Form, die wir annehmen, ist eine Wirk-Form. Durch diese Form können wir konstruktive, prosoziale Dinge tun oder auch zerstörerisch wirken. Gut und Böse sind Erscheinungsformen eines an Leibhaftigkeit, Raum und Zeit gebundenen Wirkens und sie hängen womöglich auf das Engste damit zusammen, dass wir aus unserem dualistischen Bewusstsein, mit dem wir in die Welt eintreten und das wir früh als „Programm“ unsere Welt-Erfahrung aufspielen, nicht ohne allerhöchste Risiken aussteigen können. Eine Störung des dualistischen Bewusstseins zeigt sich in der Schizophrenie. Das führt nun auch nicht weiter, sondern führt sogar zu einem beträchtlich erhöhten Risiko für Gewalt.
Weltweit sind 1 bis 2% der Menschen schizophren. Von den 7,8 Mrd. Menschen auf der Erde rechne man einmal die 2,4 Mrd. Kinder und Jugendlichen heraus, so käme man immerhin weltweit auf mindestens 54 Mio. Menschen mit Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Wie vielen aber es gelingt, ohne eine psychische Erkrankung eine solche Erweiterung des Verständnisses von Welt und Sein zu entwickeln, ist unklar. Befragt man Google, so wird einem eine Zahl von 70.000 bis 100.000 aktuell lebender Menschen höchster spiritueller Erfahrung genannt. Zur Verlässlichkeit dieser Zahlen ist indes naturgemäß nichts zu erfahren.
Dem gegenüber gestellt sei die Zahl derer, die zurzeit weltweit in Haft sind (aus welchen Gründen auch immer). Dies betrifft aktuell rund 11,5 Mio. Menschen, wobei die Datenlage naturgemäß nicht ganz zuverlässig ist. Es ist folglich sehr viel wahrscheinlicher, schizophren oder inhaftiert zu werden, als wirklich die Existenz alles Seienden zu verstehen. In jenem illustren Zirkelchen dürfte das Böse und auch das Interesse am Bösen gar keine Rolle mehr spielen.
Die Frage nach Gut und Böse ist eine kulturgeschichtliche, philosophische und vor allem eine theologische Frage, mit der sich alle Weltreligionen befassen.
Die Forensische Psychiatrie und Psychologie befasst sich ohnehin nur mit einer kleinen Auswahl definierter menschlicher Verhaltensweisen, die qua Konsensbildung in der Gesellschaft als nicht hinnehmbar definiert werden und deren Analyse sich immer individuell auf den die Tat ausführenden Menschen bezieht. Die Forensische Psychiatrie ist damit eine rein angewandte Wissenschaft, die auch nur in sehr entwickelten rechtsstaatlichen Systemen zur Anwendung kommen kann. Zu dem eigentlichen grundlegenden Verhältnis zwischen Gut und Böse bzw. zu der Frage, warum es überhaupt Böses gibt, kann sie nichts beitragen und sie bezieht sich auch nur auf jene destruktiven Verhaltensweisen, die Eingang in ein Strafgesetzbuch gefunden haben.
Gibt es ein Leben ohne Böses? Der Theologe Ingolf Dalferth (2006) hat es so formuliert: