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Jahrestag... Normalerweise ein Grund zum Feiern. Doch es gibt Jahrestage, an die man nicht erinnert werden möchte. Inspector Cheung muss den Entführungsfall Ai-Mui aufklären und wird dabei mit einem Fall konfrontiert, der im Jahr 1998 seinen Anfang nahm. Damals verknüpfte das Schicksal das Leben eines Inspectors der Hong Kong Police Force mit dem eines Syndikatsoberhaupts. Sieben Jahre später wird ihnen vor Augen geführt, dass niemand seiner Vergangenheit entfliehen kann. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, denn der schicksalhafte Tag - an dem alles begann - jährt sich wieder.
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Seitenzahl: 189
Veröffentlichungsjahr: 2022
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HAUPTPERSONEN
Tung Ming Wah – Detective beim Narcotics Bureau HKPF, später Inspector bei der Metropolitan Police, London
Chow Nie Wen – bester Freund und ehem. Partner von Tung Ming Wah beim Narcotics Bureau HKPF; Privatdetektiv
Wong Wei Yan – Sohn von Wong Zhao Wen, Chairman der Yi Wong
Robert Duncan – Engländer, bester Freund von Wong Wei Yan
Weitere beteiligte Personen
LONDON
Superintendent Alcott – Vorgesetzter von Tung Ming Wah bei der Metropolitan Police, London
Peter Johnson – Metropolitan Police, Phantombild-Spezialist
Dicke Liu – Informant in London
Charles Buchanan – Inspector, leitet die Untersuchung des Entführungsfalls Tung Ai Mui in London
Alison Blair – Halbschwester von Robert Duncan, Freundin von Wong Wei Yan
HONGKONG
Tung Ai Ling – Ehefrau von Tung Ming Wah
Tung Ai Mui – Tochter von Tung Ming Wah, Rufname: Mui
Superintendent Lau – Vorgesetzter Narcotics Bureau HKPF
Wong Zhao Wen – Chairman der Yi Wong, Vater von Wong Wei Yan und Chow Nie Wen
Inspector Cheung – leitet das HK Ermittlungsteam im Entführungsfall Tung Ai Mui
Officer Cheng – HK Ermittlungsteam im Entführungsfall
Officer Mary Lee – HK Ermittlungsteam im Entführungsfall
"Keung" – HK Ermittlungsteam im Entführungsfall
"Sam" – HK Ermittlungsteam im Entführungsfall
"Ming" – HK Ermittlungsteam im Entführungsfall
Johnny Lee – Polizei-Informant in HK
Inspector Choi – HK Mordkommission
Chan Mei Ling – HK Mordkommission, Assistentin von Inspector Cheung
Kwong Wai Ming – Vertrauter von Wong Zhao Wen
2. Juli 1998, 22:37 Uhr, Hongkong Island
16. Juni 2005, 6:30 Uhr, London
16. Juni 2005, 12:45 Uhr, China Town, London
6. Juli 1998, 18:00 Uhr, Hongkong Island
24. Juni 2005, 9:45 Uhr, London
25. Juni 2005, 14:27 Uhr, London, Ealing
29. Juni 1998, 16:43 Uhr, Hongkong Island
26. Juni 2005, 12:53 Uhr, London, Ealing
27. Juni 2005, 15:38 Uhr, Hongkong Island, Queens Road West
28. Juni 2005, 10:42 Uhr, Hongkong Island, HKPF Crime Wing HK Island Regional Headquarters
28. Juni 2005, 20:45 Uhr, Hongkong Island
29. Juni 2005, 8:07 Uhr, Hongkong Island
29. Juni 2005, 10:45 Uhr, Lantau Island, Hongkong
29. Juni 2005, 11:55 Uhr, Lantau Island, Hongkong, Po Lin Kloster
29. Juni 2005, 13:23 Uhr, Hongkong Island, The Peak, Madame Tussauds
30. Juni 2005, 8:48 Uhr, Hongkong Island, HKPF Crime Wing HK Island Regional Headquarters
30. Juni 2005, 10:00 Uhr, Hongkong Island, Pok Fu Lam, Friedhof
30. Juni 2005, 13:05 Uhr, Hongkong Island, Wan Chai, Wan Chai Road
30. Juni 2005, 14:55 Uhr, Hongkong Island, Queens Road West
30. Juni 2005, 15:28 Uhr, Hongkong Island, HKPF Crime Wing HK Island Regional Headquarters
30. Juni 2005, 15:35 Uhr, Hongkong Island
30. Juni 2005, 19:51 Uhr, Kowloon, Tsim Sha Tsui, Avenue of the Stars
30. Juni 2005, 20:36 Uhr, Hongkong Island, 41D Stubbs Road, Highcliff
30. Juni 2005, 21:00 Uhr, Hongkong Island, HKPF Crime Wing HK Island Regional Headquarters
30. Juni 2005, 23:45 Uhr, Hongkong Island, Queens Road West
1. Juli 2005, 09:00 Uhr, Hongkong Island, HKPF Crime Wing HK Island Regional Headquarters
1. Juli 2005, 12:55 Uhr, Hongkong Island, HKPF Crime Wing HK Island Regional Headquarters
1. Juli 2005, 13:48 Uhr, Hongkong, Lantau Island, International Airport Chek Lap Kok
1. Juli 2005, 13:53 Uhr, Hongkong Island, 41D Stubbs Road, Highcliff
1. Juli 2005, 14:23 Uhr, Hongkong Island, 41D Stubbs Road, Highcliff
2. Juli 2005, 04:37 Uhr, Police Station, Sutton, Surrey, GB
2. Juli 2005, 11:10 Uhr, Hongkong Island, HKPF Crime Wing HK Island Regional Headquarter
3. Juli 2005, 10:06 Uhr, Hongkong Island
Superintendent Lau hatte das Team in den Besprechungsraum beordert. Als er raschen Schrittes den Raum betrat, saßen sie bereits um den großen Besprechungstisch.
„Kann mir einer der Herrschaften vielleicht erklären, was da vorhin schiefgelaufen ist?“ brüllte er in die Runde, während er eine dicke Akte mit einem lauten Knall auf den Tisch warf.
Er stemmte beide Fäuste in die Seite. Seine Augen trafen auf betroffene Gesichter. Er sah sie der Reihe nach an, wie sie müde und enttäuscht am Tisch saßen.
„Soweit ich mich erinnere, war die Übergabe und somit die Festnahme für Freitag angesetzt.“
Pause.
„Haben wir heute Freitag?“
Einige schüttelten den Kopf, jeglichen Blickkontakt mit dem Superintendenten vermeidend.
„Warum, bitte schön, wurde die Festnahme dann vorgezogen? – Und sehen Sie mich gefälligst an!“
Tung Ming Wah stand auf.
„Weil ich es angeordnet hatte.“
Superintendent Lau blickte ihn zornig an. Heute war nicht der beste Tag gewesen. Und seine Laune war besonders übel.
„Ich bekam kurzfristig die Information, dass die Transaktion vorverlegt wurde.“ verteidigte Wah seine Entscheidung.
„Warum bin ich nicht informiert worden?“ schnauzte der Superintendent ihn an.
Mei hob zaghaft die Hand.
„Sie waren zu Tisch, Sir.“ sagte sie leise.
Sein Kopf schnellte zu ihr hinüber, sie nahm die Hand rasch wieder runter.
„Das hält euch doch sonst auch nicht davon ab, mich wegen jeder Kleinigkeit anzurufen.“
„Aber dieses Mal hatten Sie gesagt, dass Sie nicht gestört werden wollen.“ antwortete Mei kleinlaut.
„Sir, ich allein trage die volle Verantwortung.“ bemerkte Wah und lenkte somit die Aufmerksamkeit des Superintendenten wieder auf sich.
Er hatte seit Monaten gegen das Syndikat der Yi Wong ermittelt.
„Ja, verdammt! Das tun Sie!“ schrie der Superintendent und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Und nun wüsste ich gerne, was da draußen vorgefallen ist! Wie kann es sein, dass Wong Zhao Wen, der Chairman der Yi Wong höchst persönlich, als einziger erschossen wird?! Damit sind neunzehn Monate Arbeit für nichts und wieder nichts im Eimer.“
Wah blickte zu Boden. Die Aussage des letzten Satzes war seiner Meinung nach nun doch etwas übertrieben. Immerhin hatten sie achtundfünfzig Kilogramm Heroin Nr. 4 beschlagnahmt, sieben Bandenmitglieder des thailändischen Drogenhändlers und zehn Mitglieder des Yi Wong Syndikats festgenommen.
Es klopfte an der Tür.
„Was ist los, Keung?“ herrschte Superintendent Lau seinen gerade eintretenden Assistenten an.
„Boss, kommen Sie bitte mal.“ entgegnete dieser ruhig.
Der Superintendent blickte noch einmal in die Runde und verließ den Raum. Als er die Tür hinter sich schloss, atmeten alle erleichtert auf und entspannten sich ein wenig.
„Was gibt es?“ fragte der Superintendent gereizt.
„Inspector Choi von der Mordkommission möchte Sie sprechen.“
„Was will er?“
Keung zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht, worum es geht. Aber es scheint was Ernstes zu sein.“
„Ich komme gleich.“
Er presste die Lippen zusammen und ging zurück in den Besprechungsraum.
„Das Meeting ist für heute beendet. Wah, Sie warten in ihrem Büro. Der Rest kann gehen.“
Mit diesen Worten nahm er die Akte auf, die er zuvor auf den Tisch geschmissen hatte, und verließ den Raum.
Die meisten waren froh, nicht in Wahs Haut zu stecken. Er hatte die Einsatzleitung und musste nun Rede und Antwort stehen.
„Gute Nacht.“ meinte Wah, „Danke für eure Unterstützung.“
Er versuchte, seine Kollegen etwas aufzumuntern. Sie hatten schließlich ihr Bestes gegeben und obwohl die Festnahme schiefgelaufen war, hatten sie dem Syndikat einen bitteren Schlag versetzt. Chow Nie Wen ging auf Wah zu.
„Was hat er bloß?“
„Keine Ahnung. Aber ich bin sicher, ich werde es eher erfahren als mir lieb ist.“ antwortete Wah und zog seinen Mund schief.
Nie Wen klopfte Wah kurz auf die Schulter und grinste.
„Ich bleib’ noch da. Vielleicht können wir noch einen trinken gehen, nachdem dir der Superintendent den Kopf abgerissen hat.“
„Wenn ich das mache, dann reißt mir Ai Ling ganz sicher den Kopf ab. – Aber das macht sie vermutlich ohnehin: Wir haben heute Hochzeitstag und ich habe sie im Restaurant versetzt. Glaub’ mir, im Moment ist sie eindeutig die größere Gefahr als der Superintendent.“ antwortete Wah gespielt zerknirscht.
„Dann vergiss’ nicht, dir auf dem Heimweg noch eine taoistische Beschwörung zu besorgen, damit du ihr den Zettel an die Stirn kleben kannst, bevor ihr böser Geist dir was anhaben kann.“ konterte Nie Wen trocken.
Wah fing laut an zu lachen.
„Hab’ ich schon in der Schublade liegen. Rote Tinte auf gelbem Papier, wie es sich gehört.“ prustete Wah.
Nie Wen grinste schelmisch vor sich hin, als er zu seinem Schreibtisch ging.
Wah schloss seine Bürotür und sah seufzend auf den Schreibtisch. Die Unterlagen häuften sich. Er hatte noch einige Berichte zu schreiben und die internen Untersuchungen würden nicht lange auf sich warten lassen. Er setzte sich auf seinen Stuhl und sah aus dem Fenster. Wie schön Hongkong war. Besonders bei Nacht. Teilweise konnte er auf Victoria Harbour blicken und sah die Touristenschiffe mit ihrer Festtagsbeleuchtung. Seufzend wandte er sich wieder dem Schreibtisch zu und sein Blick fiel auf das eingerahmte Bild, das neben dem Bildschirm stand. Eine schöne Chinesin und ein kleines Mädchen mit zwei hochstehenden Zöpfen lachten ihn an. Eigentlich hätte er um diese Zeit daheim sein sollen.
Wäre nicht die vorgezogene Festnahme dazwischengekommen, hätte er sich mit Ai Ling im Restaurant getroffen. Es war ihr siebter Hochzeitstag. Ihre kleine Tochter Ai Mui verbrachte die Nacht bei den Großeltern. Es wäre ein schöner Abend geworden. Wah holte das kleine Päckchen aus seiner Schreibtischschublade und öffnete es. Die Kette mit dem Diamantanhänger würde Ai Ling sicher gefallen. ‚Hoffentlich wird sie mir den verpatzten Hochzeitstag damit etwas leichter verzeihen.’ dachte er lächelnd. Er konnte sich vorstellen, wie schön diese Kette an Ai Lings Hals aussehen würde. Morgen früh würde er ihr ein besonderes Frühstück zubereiten und ihr dann das Geschenk überreichen.
In der Abteilung war es still geworden. Die meisten Kollegen waren nach Hause gegangen. Nie Wen und drei andere Kollegen saßen an ihren Schreibtischen und arbeitet vor sich hin. Immer wieder blickten sie auf das Büro des Superintendents. Ein Besucher saß mit dem Rücken zur Glastür. Der Superintendent redete kaum. Doch er schüttelte unablässig den Kopf und hatte seine Hand vor den Mund gelegt. Worum ging es? Was teilte ihm der Besucher mit?
Zwanzig Minuten später schüttelten sie wortlos die Hände und der Besucher verließ das Büro des Superintendenten. Der Superintendent ging sofort auf das Büro von Wah zu. Er sah müde aus.
Wah sah von den Akten auf, als der Superintendent leise die Tür hinter sich schloss. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Der Superintendent sagte keinen Ton. Er ging zu den Jalousien an den Bürofenstern und drehte sie zu. Wah saß ruhig da und beobachtete ihn. Als alle Jalousien zu waren, setzte sich der Superintendent auf den Besucherstuhl vor Wahs Schreibtisch.
„Ich hatte Besuch von Inspector Choi von der Mordkommission.“
Wah blickte ihn erstaunt an.
„Was hat die Mordkommission damit zu tun?“ fragte Wah verwundert.
„Es ging nicht um unseren Fall.“ antwortete Superintendent Lau. „Es gab einen Anschlag mit einer Autobombe in Wan Chai. Er war hier, weil er ein paar Informationen für uns hatte.“
Wah zog die Augenbrauen zusammen.
„Was haben wir mit Anschlägen zu tun? Wir sind das Narcotics Bureau.“
Superintendent Lau schüttelte den Kopf und blickte nach unten. Wah spürte, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Er hatte den Superintendenten noch nie so erlebt. Wah beugte sich vor.
„Was ist los?“ fragte er eindringlich.
„Es war Ihr Auto.“ antwortete der Superintendent langsam.
„Bitte?!“
Wah zog die Stirn in Falten und legte seinen Kopf ein wenig schief.
„Es war Ihr Auto.“ wiederholte der Superintendent langsam.
Wah schüttelte den Kopf und sah den Superintendenten weiterhin fragend an. Sein Auto?
„Ich versteh’ nicht.“ sagte Wah. „Und was wollte Inspector Choi wissen? Warum geht er zu Ihnen und nicht zu mir, wenn es mein Wagen war?“
Doch kaum hatte er den Satz ausgesprochen, da riss er seine Augen auf.
„Ai Ling!“ rief er entsetzt aus.
Er schlug sich die Hand vor dem Mund. Der Superintendent blickte kurz zu Boden, aber dann sah er Wah in die Augen.
„Sie ist tot, Wah.“
Wah sah ihn mit großen, ausdruckslosen Augen an. Das konnte nicht sein. Das musste ein Irrtum sein. Ai Ling konnte nicht tot sein. Sie würde vermutlich schon im Bett liegen und schlafen. Vermutlich hatte sie sich vor Wut in den Schlaf geweint, weil er nicht wie verabredet zum Abendessen ins Restaurant gekommen war. Zu allem Übel hatte er auch noch das Treffen erst abgesagt, als Ai Ling bereits in dem Restaurant gesessen und auf ihn gewartet hatte.
„Choi konnte mir aufgrund von einigen Zeugenaussagen mitteilen, dass Ai Ling das Restaurant gegen 20 Uhr betrat. Dort erhielt sie einen Anruf, woraufhin sie ihr Getränk bezahlte und ging. Sie hatte den Wagen in der Nähe des Restaurants geparkt. Sie stieg ein, und wenige Sekunden später explodierte die Bombe. – Sie war sofort tot.“
Der Superintendent verstummte.
Wahs Kehle war wie zugeschnürt. Er stand auf und versuchte, sich von der Krawatte zu befreien. Er hatte das Gefühl, als würde sich der Knoten immer enger zusammenziehen. Wah bekam kaum noch Luft. Schließlich konnte er die Krawatte herunterreißen. Hastig öffnete er die obersten Knöpfe seines Hemdes. Seine Augen irrten wild und leer durch das Büro. Nur mit Mühe konnte er die Information, die er gerade erhalten hatte, verarbeiten.
„Nein!“ schrie Wah auf einmal und feuerte mit seinen Händen die Unterlagen, die auf seinem Schreibtisch lagen, wütend vom Schreibtisch. Dann stützte er sich mit beiden Händen auf der Schreibtischkante ab. Sein Kopf hing hinunter.
Es herrschte Stille im Büro. Wahs Schultern zuckten. Der Superintendent blieb ruhig sitzen und schaute sorgenvoll auf Wah.
Wah hatte die Liebe seines Lebens verloren. Er hatte keine Chance mehr, sich bei Ai Ling zu entschuldigen. Er hatte keine Chance mehr, ihr ein besonderes Frühstück zuzubereiten und ihr die Kette zu schenken. Er hatte keine Chance mehr, sie in die Arme zu nehmen, sie zu küssen und ihr zu sagen, dass er sie liebte. Stattdessen musste er morgen früh seiner vierjährigen Tochter sagen, dass ihre Mama nicht mehr lebte.
„Hat… weiß man… gibt es schon irgendeine Spur?“ fragte Wah.
„Nein.“ antwortetet Superintendent Lau. „Inspector Choi wüsste gerne, ob Sie eventuell einen Verdacht hätten.“
Wah schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich… Nicht das ich wüsste.“
„Könnte die Yi Wong dahinterstecken? Vielleicht als Warnung, die Ermittlungen einzustellen?“ fragte der Superintendent nach.
Wah fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und dann durch die Haare. Er konnte nicht mehr klar denken.
„Ich weiß es nicht.“
Schweißgebadet wachte Tung Ming Wah auf. Schon wieder dieser Traum. Er holte ein paar Mal tief Luft und sah sich um. Ja, er war daheim. Daheim. Ein Blick auf den Wecker verriet ihm, dass es sechs Uhr dreißig war. Wah atmete laut aus und schwang sich aus dem Bett. In einer halben Stunde hätte er ohnehin aufstehen müssen. Er ging ins Bad und nahm eine heiße Dusche. Das Wasser rann über seinen schlanken und durchtrainierten Körper. Über die feine und leicht gebräunte Haut eines Asiaten. Anschließend zog er sich an, ging in die Küche und brühte Tee auf.
„Mui.“
Er hatte an ihre Zimmertür geklopft und trat ein. Sie schlief noch. Er ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Dann setzte er sich auf die Bettkante.
„Mui, aufstehen.“
Mit einem leisen Murren drehte sich Mui um. Sie hatte Mühe ihre Augen zu öffnen. Ihre langen schwarzen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Er strich eine Strähne hinter ihr Ohr. Nun konnte er ihr Gesicht sehen.
‚Sie wird ihrer Mutter immer ähnlicher’, dachte er bei sich.
„Guten Morgen!“ sagte er mit einem Lächeln.
„Morgen.“ kam es verschlafen zurück.
„Hopp, raus aus den Federn. Du musst zur Schule.“
Mui rollte sich zusammen.
„Ich will nicht“ murrte sie.
„Oh doch, du willst.“
„Ich fühle mich aber gar nicht gut.“
Mui gab sich alle Mühe so kränklich wie möglich zu klingen. Wah lachte, stand auf und zog die Bettdecke weg.
„Raus mit dir,“ rief er ihr lachend zu.
„Ich fühle mich wirklich nicht gut.“ knurrte Mui und versuchte die Decke zu erhaschen.
„Ich wette, nach der Mathe-Arbeit wird es dir wieder besser gehen.“ neckte er sie.
Mui legte den Kopf schief. Woher wusste er das nur schon wieder?
„Ab ins Bad.“ sagte er in einem leichten Befehlston.
Alles Betteln und Stöhnen half nichts. Sie musste zur Schule. Mui stand auf. Sie reckte und streckte sich. Dann schlurfte sie lustlos ins Bad.
Wah legte die Bettdecke wieder auf das Bett zurück und öffnete das Fenster. Frische würzige Luft drang in das Zimmer. Seit dem Tod ihrer Mutter stand ein Bild von Ai Ling auf Muis Nachtisch. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Wie sehr er Ai Ling vermisste.
Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Wah fuhr Mui wie jeden Morgen zur Schule. Er öffnete ihre Tür und sie stieg aus.
„Tschüss.“ rief sie ihm zu und ging auf die Schule zu.
Er musste wieder an den Traum denken.
„Mui.“
Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn fragend an. Wah ging auf sie zu.
„Ich liebe dich.“ sagte er leise mit einem Lächeln.
„Ja, ja, schon gut. Ich dich auch.“ erwiderte sie schnell.
Sie blickte sich um. Hoffentlich hatten die anderen das nicht mitbekommen. Es war ihr peinlich. Wahs Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. ‚Mädchen’, dachte er amüsiert. Er stieg wieder ins Auto, winkte ihr nochmals zu und fuhr los.
In diesem Moment kam Maryanne auf Mui zu.
„Hi.“
„Hi.“ antwortete Mui.
Maryanne sah dem Wagen nach.
„Dein Dad ist ja so cool!“ schwärmte sie und seufzte leise – so wie sie es immer in den Liebesfilmen taten, die sich Maryanne jeden Abend ansah.
Mui rollte die Augen. Viele ihrer Klassenkameradinnen – und einige ihrer alleinstehenden Mütter – schwärmten für Muis Vater. Mehr oder minder offensichtlich. Okay, er sah gut aus. Trotz seines Alters und den grauen Strähnen wirkte er immer noch recht jung. durch seinen Bart hatte er sogar etwas Verwegenes an sich. Er war schlank und machte in jeder Kleidung eine hervorragende Figur, ob im Anzug oder in Jeans und Sweater. Und man konnte viel mit ihm unternehmen. Dennoch fand Mui, dass die anderen maßlos mit ihrer Schwärmerei für ihn übertrieben.
„Hast du gelernt?“ fragte Mui, um das Thema zu wechseln.
Maryanne seufzte wieder, dieses Mal war es aber ein ganz anderes Seufzen.
„Hab’s versucht. Aber ich versteh’ es einfach nicht. Die Arbeit werde ich wohl in den Sand setzen. Und du?“
„Wie immer.“ sagte Mui gleichgültig.
Maryanne schüttelte den Kopf.
„Ich wünschte, mir würde das Lernen auch mal so leichtfallen wie dir!“
Beide gingen in das Schulgebäude.
Wah fuhr durch die verstopften Straßen Londons. Schnell kam er nicht voran. Um neun Uhr musste er bei dem Meeting der Entwicklungs- und Analyse Einheit sein, einer Abteilung innerhalb des Nachrichtendienstes der Metropolitan Police in London, der er seit ein paar Jahren angehörte. Über Verbindungen war er an diesen Posten gekommen… Wieder dachte er an den Traum, und an früher…
Wah war fassungslos. Es war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Als hätte man ihm seine Lebensgrundlage entrissen. Erst nach mehreren Minuten konnte er sich wieder fassen. Der Superintendent war die ganze Zeit über ruhig sitzen geblieben. Normalerweise musste er der Ehefrau sagen, dass ihr Mann bei einem Einsatz ums Leben gekommen war. Diese Situation war neu für ihn.
„Geht es?“ fragte er.
Wah nickte kurz. Er versuchte zu lächeln, doch mit den zusammengepressten Lippen wurde es zu einer Grimasse. Der Superintendent stand auf. Hier konnte er nichts mehr tun. Wah musste nun mit der Trauer fertig werden. Superintendent Lau dachte an die kleine Mui. Es würde hart werden, ohne eine Mutter aufzuwachsen.
„Sie sind für zwei Wochen beurlaubt. Um den Rest hier kümmere ich mich mit Nie Wen. - Es tut mir aufrichtig leid, Wah.“ hängte er in einem leisen Ton an.
Wah nickte wortlos. Dann verließ Superintendent Lau das Büro.
Wah fuhr sich energisch mit den Händen durch die Haare. Wie sollte er es nur Mui sagen? Und er musste auch noch Ai Lings Eltern informieren, bei denen Mui heute übernachtete. Wieder sah Wah auf das Bild neben dem Bildschirm. Er konnte sich nicht vorstellen, wie ein Leben ohne Ai Ling aussehen würde. Er schloss die Augen, atmete tief durch und stand auf. Es hatte keinen Sinn, es weiter hinauszuzögern. Er verließ sein Büro.
Nie Wen saß inzwischen allein in dem Großraumbüro. Er war zwölf Jahre jünger als Wah und diesem direkt nach der Polizei-Ausbildung als Partner zugewiesen worden. In den letzten fünf Jahren waren sie beste Freunde geworden. Als Wah kurz nach dem Superintendenten aus dem Büro trat, sah Nie Wen ihn forschend an.
Wah sah ihn, hob jedoch nur kurz die Hand, um zu zeigen, dass er seine Ruhe haben wollte. Er wollte nichts sagen. Er hatte genug Mühe, sich zusammen zu reißen. Seine Brust schmerzte und er konnte kaum atmen. Nie Wen nickte und wandte sich wieder dem Papier in seiner Hand zu.
Endlich fuhr Wah in die Tiefgarage der Metropolitan Police („Met“), besser bekannt als Scotland Yard. 08:49 Uhr. Er würde pünktlich sein.
In dem Restaurant war es laut und die Luft war schwer von dem würzigen Duft der verschiedenen chinesischen Gerichte, die auf den Tischen standen. Es war Mittagszeit. Einige nutzten das günstige Mittagsmenü, andere führten ihre Geschäftspartner à la carte aus. Eine verschnörkelte Trennwand aus dunklem Holz trennte eine Nische von dem großen Raum. Sie schützte vor den Blicken der Gäste, aber man konnte ohne weiteres in den geschäftigen Saal blicken. In der Nische befand sich ein rechteckiger Tisch, an dem vier Personen bequem Platz hatten.
Wah sah sich kurz im Restaurant um. An einem großen runden Tisch in der hinteren Ecke des Restaurants entdeckte er schließlich Tang Kwong Liu, der allgemein als der Dicke Liu bekannt war, wie dieser gerade die Speisekarte studierte. Eine große Kanne Tee stand bereits auf dem Tisch. Der Dicke Liu war fett, gierig und nur sich selbst gegenüber loyal. Er war seit über sechs Jahren Wahs Informant und für Essen würde er vermutlich sogar seine Mutter verkaufen, mutmaßte Wah. Allerdings gab er immer zuverlässige Informationen und kannte sich in Londons China Town aus. Er kannte die alten Familien, die neu Hinzugezogenen und wusste auch viel über die Beziehungen und Streitigkeiten der Triaden untereinander. Wah wunderte sich immer wieder, warum die Triaden den Dicken Liu in Ruhe ließen. Er musste eine sehr gute Lebensversicherung haben, dass ihm bisher noch nichts geschehen war. Denn er war für seine Redseligkeit durchaus bekannt. Während Wah auf den Tisch zusteuerte, betrachtete er genau die Menschen, die heute in dem Lokal saßen. Als er an dem Tisch ankam, sah der Dicke Liu kaum von der Speisekarte auf.
„Setzen Sie sich, Tung. Ich hoffe, Sie haben heute die Firmenkreditkarte dabei, ich habe einen mächtigen Appetit.“
Wah verzog die Mundwinkel zu einem kurzen Lächeln und setzte sich. In dem Moment kam auch gleich die Kellnerin in einem dunkelblauen Qipao.
„Was möchten Sie trinken?“ wandte sie sich an Wah.
„Ein Tsingtao, bitte.“