Jamie - Tom Heyem - E-Book

Jamie E-Book

Tom Heyem

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Beschreibung

"21 Jahre war es her, als er mich so sehr verletzte, dass ich ihn quasi aus meinem Leben herausgeschnitten hatte. Und eines Nachts steht er vor meiner Tür, klopft und ruft meinen Namen." So beginnt Liams Erzählung über die prägendste Zeit seines Lebens. Egal wann sein Bruder Jamie zu Besuch gekommen wäre, immer hätte er vor Liams verschlossener Tür gestanden - bis zu dieser Nacht. "Jamie - Im Leben nicht" ist ein Roman, der den Leser nicht nur mit Spannung sondern auch mit Denkanstößen versorgen wird, denn Liams Welt bricht auseinander. Nicht nur sein Bruder Jamie, der Liam ungefragt den großen Schmerz seiner Kindheit serviert, sondern auch der Tod seines Vaters und seiner Tante Karen rütteln an seinem Lebensgerüst. Zuletzt drohen dem Einzelgänger mit der Einweisung seiner Mutter in ein Pflegeheim und dem nahenden Scheitern der Beziehung zu seiner Freundin Theresa auch die letzten Stützen wegzubrechen. Bevor ihm richtig klar wird, was passiert, befindet er sich in der Sinnkrise seines Lebens - und der einzige den das scheinbar interessiert, ist sein verhasster Ex-Bruder. Liams einfühlsam erzähltes und bewegendes Auf und Ab wird ergänzt durch die interessante Einflechtung der Nebenfiguren und gipfelt in einem spannenden, mitreißendem Finale - ein erstauntes "Im Leben nicht" inklusive.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 418

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Mit größtem Dank an alle, die Probe gelesen, Hinweise gegeben und Ideen für das Cover beigesteuert haben.

Ohne euch wäre dieses Buch nicht halb so gut geworden.

Tom Heyem

Jamie

Im Leben nicht

www.tredition.de

© 2016 Tom Heyem

Autor: Tom Heyem

Umschlaggestaltung, Illustration: Tom Heyem

nach einer Vorlage von Victor Tongdee © fotolia.com

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-0360-3

Hardcover:

978-3-7345-0361-0

e-Book:

978-3-7345-0362-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Liams Erinnerungen

an die Nacht des 3. Juli 2008

Es war schon komisch. Auf einmal war er wieder da. Einfach so. 21 Jahre war es her, als er mich so sehr verletzte, dass ich ihn quasi aus meinem Leben herausgeschnitten hatte. Und eines Nachts steht er vor meiner Tür, klopft und ruft meinen Namen. Aus dem Nichts. Mir ging es damals nicht gut, also musste er es mehrmals versucht haben bis ich endgültig wach war. Ich weiß noch, dass sich seine Rufe in meinen Traum eingemischt hatten und mich wie der Aufzug eines Bergwerkstollens nach und nach aus der Tiefe meines Schlafes holten. Gleich nachdem ich meine Augen geöffnet und noch nicht ganz realisiert hatte in welchem Leben ich gerade war, hörte das Rufen auf.

Was denn nun? Hatte ich etwas gehört oder doch nur geträumt?

Mir wurde etwas eng um die Brust, ich bekomme jetzt noch Gänsehaut. Dort, wo sie wohl jeder bekommt, der in der Nacht aufwacht und fest davon überzeugt ist, dass sich jemand in seinen Zimmern aufhält.

Entschlossen, diese Überzeugung gar nicht erst mit bildhaften Vorstellungen zu füttern, warf ich die Decke zurück, griff neben den Nachttisch nach dem Baseballschläger (warum der dort stand, erzähle ich später) und ging schlagbereit, langsam ins Wohnzimmer. Es klopfte wieder - dachte ich. Genauso gut hätte es eine Ratte sein können, die sich mit großen Bissen durch das Holz nagt. Ich hatte noch immer keine Ahnung, welcher Irre da nicht oder eben doch versuchte herauszufinden, wie tief der Bewohner des Hauses schläft.

Der Mond schien schwach auf die Vorhänge der schmalen Fenster links und rechts neben der Haustür. Sie sahen so aus, wie man sich einen Geist in einer nebligen Nacht auf dem Friedhof vorstellt. Es war mir unmöglich, von drinnen zu sehen, wem ich gleich Schläge androhen würde. Einen Fuß leise vor den anderen setzend, bewegte ich mich wie ein Schlagmann in Richtung des Geräusches. Ich spürte jede einzelne Teppichfaser zwischen meinen Zehen. Hätte hinter mir eine Fliege gefurzt, ich hätte mich vermutlich selbst k.o. geschlagen.

Neben dem rechten Fenster angekommen atmete ich, glaube ich, schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Draußen sah ich erst nur den Arm einer Silhouette, dessen Hand in einer Hosentasche verschwand. Ich beugte mich etwas weiter zur Seite, da winkte sie mir knapp zu.

Keine Ahnung, was danach passierte. Das nächste, woran ich mich erinnere, war mein offen stehender Mund, kühler Wind um meine Schultern und seine vorsichtigen Worte:

“Hallo, großer Bruder.”

Spätestens in diesem Augenblick hielt ich den Atem an.

Liams Erinnerungen

an den einen Mittag im Juli 1986

An unser allererstes Zusammentreffen kann ich mich noch ziemlich genau erinnern. Ich war acht, mein Vater besuchte mit mir Tante Karen. Wobei „Tante“ eigentlich der falsche Begriff ist. Noch bevor ich geboren wurde kannten sie sich schon sehr lange und sehr gut. Auch mit meiner Mutter verstand sie sich prima.

Es war sonnig und das Zimmer, in dem sie mir auf zwei teuer aussehenden Polsterstühlen gegenüber saßen war wunderbar hell. Die hohen Fenster teilten den gesamten Raum mit schmalen, schwarzen Schatten auf und meine rechte Körperseite wurde von dieser herrlichen Wärme bestrahlt, die die Sonne nur hinter Glas erzeugen kann.

Mit den Worten, eine tolle Überraschung für mich zu haben (ich würde sie wirklich lieben), hatten sie mich auf die Couch gelotst. Sie war mit Samtstoff überzogen und am gemütlichsten in der Ecke von Arm- und Rückenlehne. Ich stellte die Knie an und umschloss sie aufgeregt mit meinen Armen. Das muss ausgesehen haben, wie ein junger Hund in seinem Körbchen.

„Du weißt doch noch, was Du dir so sehr wünschst?!“, setzte mein Vater strahlend an.

Ich hatte keine Ahnung. Mir flitzten alle möglichen Wünsche durch den Kopf und spannten mich auf die Folter.

„Ein ferngesteuertes Auto!“, rief ich jubelnd und bereit, erst auf und dann übermütig von der Couch zu springen.

Die beiden lachten. Das irritierte mich.

„Nein, das überlassen wir mal schön dem Weihnachtsmann.“, ein wohlwissender Insider-Blick, amüsierte Gesichter.

„Was fällt dir noch ein?“

„Ääh, ääh…“, stammelte ich und kramte nervös grinsend in meinen Erinnerungen.

„Ein Fußball?!“

Lange nicht so gut wie ein ferngesteuertes Auto, aber auch echt cool. Nur lag ich wieder daneben. Ich machte mir Sorgen, dass meine aufgestachelten Erwartungen enttäuscht würden. Tante Karen muss mir das angesehen haben, denn sie bekräftigte den anfänglichen Enthusiasmus.

„Viel besser als das Auto und zehn Fußbälle zusammen.“, dann rief sie über ihre Schulter: „Jeremy, Du kannst reinkommen.“

Jeremy? Das ist aber ein komischer Name für einen Hund (das war das einzige, was mir noch eingefallen war). Im hinteren Teil des Raumes, neben dem offenen Kamin, klinkte die Flügeltür, klapperte kurz hölzern-metallisch und sprang dann sofort wieder ins Schloss. Beim zweiten Versuch klappte es besser. Unter den Stühlen hindurch sah ich zwei kleine, in grauen Socken steckende Füße auf uns zukommen. Leise, schüchtern, aber zügig. Ich verstand noch nicht ganz.

„Hey Jerry, komm her. Wir wollen dir deinen Bruder vorstellen.“

Bruder? Wie jetzt, Bruder? Wo sind das Auto und die zehn Bälle? Kommt der Hund noch?

Ich konnte die Sache noch nicht einordnen. Sollte das ein gemeiner Scherz sein? Für neue Gesichter hatte ich als Kind wenig übrig und für andere Kinder genauso viel, wenn nicht sogar noch weniger. Fragend schaute ich meinen Pa an, der mich auf seine Oberschenkel gestützt zaghaft anlächelte.

„Das ist Liam.“, fuhr Tante Karen fort und zeigte dabei feierlich auf mich.

„Hi Liam. Ich bin Je remy“, kam es aus dem Mund des kleinen, dunkelhaarigen Jungen, der in einer schwarzen Hose und einem quergestreiften grau-blauen Pullover steckte. Er winkte wie die Silhouette vor meiner Tür: knapp und pragmatisch.

Wenn ich so darüber nachdenke, war das eigentlich interessante in diesem Augenblick sein Gesichtsausdruck. Die Lippen leicht zusammengepresst, die Augenbrauen etwas nach oben gezogen. Keiner von uns kann was dagegen tun, lass uns das Beste daraus machen, schien er sagen zu wollen.

Der kleine Bastard war damals kaum fünf Jahre alt. Was fiel ihm ein, hier einen auf sooo erwachsen zu machen? Er kam mir jetzt schon zu nahe und er war nicht das, was ich mir angeblich so sehr wünschte. Wieder sah ich meinen Vater an. Der erkannte meine Enttäuschung, war aber mehr verärgert über meine schlechten Umgangsformen.

Ja, ist ja gut. Als könnte ich die Macht zu meinen Gunsten einsetzen (in dem Fall wohl eher auf der Dunklen Seite), zeichnete ich mit meiner rechten Hand einen kleinen Bogen in die Luft, sagte trocken „Hallo!“ und hoffte damit, die Geschichte zu beenden, bevor sie ihren Anfang nahm.

Heute weiß ich nicht recht, ob es besser gewesen wäre, sie hätte tatsächlich dort geendet. Ich meine, jede Entscheidung, ob nun von mir oder für mich gefällt, hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin, und das ist auch gut so. Aber ich glaube, jedem Menschen ist Leid vorbestimmt und nicht jeder Mensch kann es so verarbeiten, dass er am Ende akzeptiert und hinter sich lässt, was geschehen ist. Irgendwann, nachdem die kritische Menge erreicht worden ist, wird man sich immer an dieses eine Leid erinnern, dass einen aus der Spur gebracht hat und man wird sich wiederkehrend fragen, was wohl gewesen wäre, wenn.

Ich frage mich, was wohl gewesen wäre, wenn sie mir statt des Zweibeiners einen jungen, schwanzwedelnden Vierbeiner vorgestellt hätten.

Dr. Kellmann

ein Tag im März 1985

Er mochte sie nicht. Er mochte sie ganz und gar nicht. Jedoch, er hatte hier nicht mitzubestimmen. Zu weit unten stand er auf der Karriereleiter um sich gegen sie wirklich wehren zu können. Was nicht bedeutete, dass er es im Leben nicht zu etwas gebracht hatte. Als Chemiker in einer bekannten und renommierten Einrichtung der Grundlagenforschung auf dem Gebiet chemischer und biologischer Erzeugnisse für die Humanmedizin kam er sehr gut zurecht. Nicht nur, dass er ein akzeptierter Leiter eines sechsköpfigen Teams von ausgewählten und herausragenden Wissenschaftlern war, er hatte mit seinen 53 Jahren bereits mehrere Entdeckungen gemacht, die über den ewigen Status eines Zwischenstandes hinausgekommen und erfolgreich kommerziell vermarktet worden waren. Doch, er konnte etwas auf sich halten - zumindest darin stimmte er mit den Militärs überein. Es gab nun mal gute Gründe, warum sie ihn wollten. Ihn und sein Team. Bei seinem Abteilungsleiter fragten sie ausdrücklich nach Dr. Kellmann. Eigentlich eine Ehre. Trotzdem! Er mochte sie nicht. Er mochte sie ganz und gar nicht.

Besser gesagt, er mochte Ihre Absichten nicht. Obwohl der Offizier, der ihm den Forschungsstand erläuterte, nicht unsympathisch war. Entspannt legte der breitschultrige Mann, der ebenfalls einen Doktortitel führte, die Ziele des Projektes dar und welche Erwartungen er gegenüber Kellmann und seiner Arbeit hätte. Dabei bewegte er sich immer auf Augenhöhe und beantwortete alle Fragen ohne Arroganz; hakte bei Einwänden interessiert nach. Ein geübter Redner, der ohne Zweifel zahlreiche Verhandlungen dieser Art geführt hatte. Kellmann war fasziniert von dem Zwiespalt, der sich in ihm auftat und der immer größer wurde, je länger das Gespräch andauerte. Auf der einen Seite, seine ureigene Ablehnung der Motive des Militärs, auch wenn sie scheinbar noch so gerechtfertigt sein mochten. Auf der anderen Seite, diese Ausstrahlung seines Gesprächspartners, die ihn mehr und mehr in das beruhigende Licht der Rechtschaffenheit zog. Er stellte sich die Frage, in wie vielen Einrichtungen diese Art der Rekrutierung wohl noch durchgeführt wurde.

Geduldig wartete er ab, bis die Ausführungen beendet waren und fragte dann freimütig nach.

„Nun, Dr. Kellmann, unsere Abteilung hat den ein oder anderen vielversprechenden Lösungsansatz für die derzeitig angespannte Situation ermittelt. Einige unserer Experten beurteilen die Lage als kritisch, weswegen wir unter einem gewissen Zugzwang stehen. Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, das wir weitere Einrichtungen wie diese hier kontaktier en und zur Zusammenarbeit animieren.“

Zur Zusammenarbeit animieren, so nennt er das also…, dachte sich Kellmann und nickte gleichzeitig verständnisvoll.

„Allerdings habe ich mir die Freiheit genommen, dieses spezielle Anliegen, dieses eine Projekt, was wir beide hier besprechen, unter meine Verantwortung zu stellen. Ich habe nicht vor, weitere Personen darin einzuweihen. Schlicht und ergreifend aus meiner Beurteilung heraus, dass hier, mit Ihnen und Ihrem Team, eine führende und unerreichte Kompetenz arbeitet.“

Der Zwiespalt wurde erneut größer. Unmerklich atmete Kellmann durch. Er wollte konzentriert bleiben, sich nicht blenden lassen.

„Sie sehen, wir besprechen Details, die nur zwischen uns ausgetauscht werden und ich möchte, dass es auch dabei bleibt. Welche Einrichtungen oder welche … Kollegen, wenn ich das so sagen darf, darüber hinaus beschäftigt werden, ist wirklich nicht von Interesse. Sie werden als exklusiver, externer Spezialist fungieren und haben alle Freiheiten. Vorausgesetzt Sie willigen ein, uns, und nur uns, jeglichen Fortschritt mitzuteilen. Also, was sagen Sie dazu?“.

War das sein Ernst? Am liebsten hätte Kellmann gelacht. Als ob tatsächlich die Wahl bestanden hätte, die Mitarbeit abzulehnen. Nicht nur seinem eigenem Chef hätten in dem Fall unangenehme Konsequenzen gedroht, ihm selber wären alle Fallstricke in den Weg gelegt worden, die seitens des Militärs geeignet erschienen, um Kellmann beruflich und privat unter Druck zu setzen. Er wägte nur kurz zwischen den möglichen Antworten ab und kam zu dem Schluss, dass er sich die Reichweite und Auswirkungen der denkbaren Druckmittel vermutlich nicht einmal in Gänze ausmalen konnte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zuzustimmen.

„Sehr schön! Wir begrüßen Ihre Kooperation sehr und ich persönlich freue mich außerordentlich, Sie an diesem Projekt zu wissen. Ich bin überzeugt, wenn hier überhaupt ein Durchbruch gelingen kann, dann durch Sie!“.

Das Gesicht des Offiziers hellte sich sichtlich auf. Mit ausgestrecktem Arm ging er auf Kellmann zu, sie gaben sich die Hand. Major Tanner freute sich tatsächlich über den Ausgang des Gespräches. Kellmann hoffte, dass diese Freude nicht noch vergrößert werden würde.

Dr. Kellmann

tags darauf im März 1 985

„Hey?! Erde an Mo-hond! Hörst Du mir überhaupt zu?“

Er hörte ihr zu. Wenigstens hin und wieder. So lange bis ihn seine Gedanken wieder forttrugen. Gerade eben zum Beispiel sprach seine Frau noch davon, dass ihr Tag von einem bezaubernden feuerroten und crémeweißfarbenen Arrangement aus Rosen gerettet wurde.

Ihre Laune bei der Gartenschau am Vortag war durch das schlechte Wetter nämlich gehörig in den Keller gesackt. Offenbar hat es nicht nur geregnet, was sie bei den eigentlich milden Temperaturen nicht im Geringsten gestört hätte, sondern es wehte auch stark. Wenn man dem Wetterbericht Glauben schenken wollte, dann sollen es Winde aus den kälteren Regionen im Norden gewesen sein, die die Nässe auf der Haut mit jeder Böe zu Schnee gefrieren ließ. Aber nach der glücklichen Begegnung mit diesem farbenfrohen Dornengewächs, dem man förmlich ansah, wie viel Freude es dabei hatte, aufzublühen, verlief der Tag dann doch sehr angenehm.

Jetzt saßen sie in der Küche des Einfamilienhauses und mittlerweile schilderte sie die Pläne für ihren gemeinsamen Garten in aller Ausführlichkeit. Kellmanns Konzentration verlagerte sich zunehmend nach innen.

Ziersträucher sollten her, drei Meter hoch und zu Figuren aus bekannten Theaterstücken geschnitten.

Kellmann nickte abwesend und gab ein teilnahmsloses Brummen als Kommentar.

In die eine Ecke des zukünftigen Privatparadieses würde bestimmt hervorragend ein Pavillon aus Kirschholz passen, mit einer Wendeltreppe in der Mitte als Aufgang zum Karussell.

Er nickte wieder und kratzte nichtvorhandenen Schmutz unter seinen Fingernägeln hervor.

Und gegenüber sei genug Platz für das Streichelgehege.

Mit den Ziegen,

(erneutes Brummen)

und dem Elefanten.

„Warte ! Du willst uns einen Elefanten in den Garten stellen?“.

Plötzlich war Kellmann hellwach und blickte entgeistert in das Gesicht seiner Frau. Sie lächelte sanft, schaute ihm suchend in die Augen.

„Ich dachte, Du würdest bereits bei den Ziersträuchern aufwachen. Die kannst Du doch genauso wenig leiden wie den Geruch im Zoo.“

Während sie eine Pause machte, schaute er weiter ungläubig. Es war ihm immer noch unbegreiflich. Wozu wollte sie auf einmal einen Elefanten im Garten halten?

Und wie soll der überhaupt durch den Torbogen am Eingang passen?

„Was ist los mit dir?“, fragte sie mitfühlend und strich ihm über die Schulter.

Jetzt verstand er es. Natürlich war es ihr nicht entgangen, dass ihn in den letzten Tagen etwas beschäftigt hatte. Eine Sorge, die über die globale Krise hinausging. Experten beurteilen die Lage als kritisch, zitierte er gedanklich und hatte sofort den charismatischen Unheilsbringer vor Augen. Denjenigen, der ihn selber zum aktiven Teilnehmer werden ließ.

Tatsächlich konnte man mittlerweile ein gespanntes Sirren in den Straßen wahrnehmen. Man konnte es nicht hören, aber es lag wie Elektrizität in der Luft. Die Leute schienen jederzeit darauf gefasst zu sein, etwas Schlimmes zu erleben. Ein detonierender Sprengsatz hinter der nächsten Ecke, eine Nachricht über angegriffene oder verletzte Familienmitglieder, dass sie die Stadt plötzlich verlassen mussten. Zufällig erfuhr er von einigen Bekannten, die bereits Vorräte angelegt und Notfallgepäck zusammengestellt hatten, um schnellstmöglich reagieren zu können. Laut sprach das natürlich niemand aus, man wollte ja nichts heraufbeschwören. Aber im privaten Kreis sorgte man scheinbar vor und hinter vorgehaltener Hand wurden Pläne diskutiert, die als vielversprechend galten und bloß nicht an die Falschen oder an zu viele Personen geraten sollten.

Auf diese Art Gedanken ließen sich die Kellmanns gar nicht erst ein. Weder er, noch seine Betty. Ihr Sohn Liam war in seinem ersten Schuljahr noch mit weit bedeutenderen Ereignissen konfrontiert, als dass er die Geschehnisse um sich herum wirklich verarbeiten konnte. Er stellte also auch keine Fragen, wenn in den Nachrichten gesagt wurde, dass die Welt aktuell einem Pulverfass glich.

„Es ist wegen des Auftrages, von dem ich dir erzählt habe.“

“Ich erinnere mich. Die Sache, weswegen sie zu dir und niemand anderem gekommen sind. Willst Du mir vielleicht doch erzählen, worum es geht?“

„Nein“, er ließ den Kopf resignierend nach vorn sacken und murmelte weiter, „das würde keinen Unterschied machen. Außerdem ist es streng geheim.“

Streng geheim? Es ging nicht wirklich darum, dass er sich verpflichten musste ihnen, und nur ihnen, Fortschritte oder Erkenntnisse zu berichten. Selbst wenn er seiner Frau alles haarklein erzählt hätte, wären Konsequenzen nicht zu befürchten gewesen. Wer sollte diesen Verstoß denn mitbekommen? Der wahre Grund war seine Unfähigkeit zu lügen. So lange er das Schild der Geheimhaltungspflicht vor sich hertrug, würde er nicht in die Verlegenheit kommen, sich etwas ausdenken zu müssen. Das würde Betty so oder so bemerken. Sie würde Fragen stellen, und zwar die richtigen Fragen. Er hatte das schon oft genug erlebt. Als er damals zum Beispiel das Familientreffen sausen lassen wollte, um mit seinen Kollegen eine Messe zu besuchen oder als er ihr versuchte zu erklären, dass er den gemeinsamen Fototermin nicht vergessen hatte, sondern sich an diesem Tag einfach nicht fotogen fühlte. Ihm wurde dabei immer warm, weil das Blut in seine Wangen schoss. Er wusste, dass ihn das verrät und wurde sichtlich unruhiger.

Nein! Mit Unwahrheiten hatte er genug Erfahrungen gemacht. Genauso wie seine Frau, die dazu häufig überreagierte und daraufhin auch schon einer Ohnmacht nahe gekommen war. Zweifelsohne würde sie die erste erleben, sobald sie diese Sache erst mit großen dunklen Augen und stechendem Blick anstarren würde.

„Dann sag mir doch wenigstens, wer nach dir gefragt hat.“

In seinem Kopf überschlugen sich Wörter, die sich zu Fragen formierten, und Bilder, die ihm mögliche Antworten zeigten.

Wer könnte ihn noch beauftragt haben?! Was und wie viel musste er sagen, damit sie nicht nachhakt?! Sollte er wenigstens Häppchen der Wahrheit anbieten, um glaubhaft zu sein? Sein Blutdruck erhöhte sich merklich. Wenn er ihr etwas preisgeben würde, egal, ob Brust oder Keule, wären keine drei Minuten nötig und sie stünde mit einem Schock und offenem Mund vor ihm. Er blieb also dabei ruhig zu sprechen und sich darauf zu konzentrieren entspannt zu wirken:

„Betty, ich darf dir das wirklich nicht sagen.“

„Ha.“, lachte sie amüsiert auf, „das klingt ja, als ob die Mafia bei euch zu Besuch war.“

Jetzt einfach nichts sagen!

Nichts sagen und weiter auf den Tisch starren!

„Oder die Armee.“

Verdammt!

Sein Innerstes fing Feuer. Die erste Regel im Brandfall: Ruhe bewahren. Ihre Blicke, die wie Rotlicht sein Gesicht aufwärmten, ignorieren. Dieses stärker werdende Kribbeln, als würden tausende Ameisen in seinem Körper umherirren, unterdrücken. Nicht beachten! Einzelne Schweißtropfen zwängten sich aus seinen Poren und sein eigener Körper wurde ihm zu eng. Wenn er nicht sofort eine aufrechtere Sitzposition einnehmen würde, drohte er zu bersten wie ein Silo unter Überdruck.

So ruhig und unauffällig wie irgend möglich drückte er seinen Rücken ins Hohlkreuz, atmete möglichst langsam tiefer ein.

Betty sagte nichts mehr. Im Augenwinkel erkannte er aber ihre weiterhin auf ihm ruhenden Blicke. Er konnte ihr nicht ewig ausweichen, das war ihm bewusst. Also dreht er den Kopf zur Seite um ihr ins Gesicht zu sehen. Mit halboffenem Mund und mit Sorge in den Augen saß sie vor ihm.

„Die Armee?“, krächzte sie ungläubig.

Er hatte es wieder nicht geschafft. Und ein Versuch, ihr diese Überzeugung zu nehmen, war zweckfrei.

Erst mit der abfallenden Anspannung merkte er, wie verkrampft seine Gesichtszüge eigentlich waren. Die zusammengezogenen Augenbrauen rückten an ihren ursprünglichen Platz zurück und seine Lippen traten wieder zum Vorschein, so verbissen hatte er die letzten Sekunden verbracht. Kein Wunder, dass seine Frau ihn lesen konnte wie ein offenes Buch.

Was konnte er jetzt tun? Das, was sie nun eh schon wusste, brauchte er auch nicht mehr zu leugnen oder zu verschweigen. Also nickte er und bestätigte ihre Annahme mit einer leisen Zustimmung. Damit hatte sich die Situation jedoch weiß Gott noch nicht aufgelöst. Einige Ameisen gingen bereits erneut auf eine Erkundungsreise durch seinen Magen.

Dr. Kellmann

10 Minuten später, März 1985

Innerlich war er in einer Spirale gefangen. Er wollte sich beruhigen, was ihm nicht gelang und das verärgerte ihn zusätzlich. Betty saß noch immer konsterniert vor ihm.

Beruhige dich!, forderte er sich stillschweigend auf.

Der sprichwörtliche Kampf gegen Windmühlen hatte erneut begonnen und er würde ihn nicht gewinnen. Es war für ihn unmöglich seiner Frau etwas vorzumachen. Aber aufzugeben und sie mit einer Tatsache zu konfrontieren, die sie womöglich nicht verkraften würde, die am Ende vielleicht sogar ihre Ehe auf eine nie gekannte Zerreißprobe stellte, kam nicht in Frage. Ein Taktikwechsel musste her.

Bisher hatte er sich immer darauf versteift, seine Aufregung zu verbergen, wenn er versuchte, etwas für sich zu behalten. Nie hatte das einen für ihn zufriedenstellenden Ausgang genommen. Das stand ihm auch dieses Mal bevor, allerdings mit drastischeren Folgen. Wenn also nicht das Verbergen das Mittel der Wahl war, dann blieb nur eine Alternative: Offenheit.

Soweit, so gut. Das allein würde die Situation immer noch nicht entschärfen, aber ein Versuch war es wert. Von nun an konnte er sich erlauben, nicht mehr verkrampft auf seine Bewegungen und Gefühlsregungen zu achten. Er erhob sich von seinem Stuhl und lief auf und ab. Das entspannte ihn erheblich und half ihm beim Nachdenken. Eine Begründung für seine Aufregung musste immer noch her, vor allem, weil Betty langsam ihre Worte wiederfand.

„Du wirst helfen Menschen zu töten?“, stellte sie mehr fest, als dass sie fragte.

Ihr Entsetzen konnte er in ihrer Stimme hören. Es vermischte sich mit Ungläubigkeit. Sie flehte ihn an: „Du hattest keine Wahl, richtig? Sag mir, dass Du keine Wahl hattest!“.

Daraufhin wandte er sich zu ihr, die Hände in die Seiten gestützt. Er sah Tränen in ihren Augen, und ihre Angst, dass er ihrer Aufforderung nicht folgen konnte.

„Man hat doch immer eine Wahl.“, gestand er ihr nach kurzem Zögern wahrheitsgemäß. Bevor sie vollends in Tränen ausbrach fügte er schnell an: „Aber für mich hätte es nur bedeutet, dass ich dieser Wahl später erneut begegnet wäre. Der gleiche Mann hätte sie mir wieder gestellt. Aber nicht ohne vorher zu demonstrieren, was für mich oder sogar für uns auf dem Spiel stehen kann. Glaub mir, so lief das in anderen Einrichtungen auch.“

Betty blickte an ihm vorbei ins Leere.

„Als ob es einen Unterschied machen würde, ob Du eine Wahl hattest oder nicht. Du wirst helfen, Menschen umzubringen! Du wirst sie umbringen!“

Kellmann ging zu dem Stuhl, der seiner Frau am Tisch gegenüber stand, und stütze sich auf die Lehne. Die Liebe seines Lebens war dabei sich selbst zu verurteilen und das konnte er nicht ertragen. Sie war ein herzensguter, zuvorkommender Mensch, der jede Art und Form des Lebens schätzte und mit Freuden unterstützte. Seien es Carl und Richard, die verzogenen Jungs der Grands von gegenüber, oder Willy, der Obdachlose, der sie jedes Mal auf Kleingeld ansprach, wenn sie vom Lebensmitteleinkauf aus dem Laden der Stadt kam. Immer war sie bereit zu helfen, immer hatte sie ein paar Münzen parat. Sie war absolut selbstlos und schien wahrhaftig keine Gegenleistungen für ihre Taten oder kleinen Nettigkeiten, wie sie es immer nannte, zu erwarten. Damit brachte man sie nur in Verlegenheit.

Sie saß mit fassungsloser Miene in der Küche ihres Hauses und erkannte, dass ihr Mann, den sie liebte und unterstütze wo sie nur konnte, ihr in ihrem heiligsten und einfachsten Prinzip scheinbar nicht beistand. Kellmann konnte förmlich dabei zusehen, wie sich seine Frau von ihren Gedanken in ein dunkles Loch tragen ließ. Wenn sie erst zu der Überzeugung gelangen würde, dass Sie einen Mörder geheiratet hatte, wäre es um seine liebe Betty und ihre Ehe geschehen.

Er legte seine Hände auf die ihren.

„Nein, Betty. Das werde ich nicht.“

In ihrem Gesicht versuchte er zu erkennen, ob seine Worte durchgedrungen waren.

„Hörst Du mich, Betty? Ich werde keine Menschen umbringen. Ich werde auch nicht dabei helfen.“

Langsam dreht sie ihren Kopf in seine Richtung. Sie forderte ihn stumm auf, weiter zu erzählen, denn sie glaubte ihm nicht. Warum auch? Kellmann war in letzter Zeit verschwiegen und verschlossen gewesen und dafür musste es einen triftigen Grund geben, nämlich den, dass er Menschen das Leben nehmen würde. Das belastet ihn und er weiß nicht, wie er das mit seinem Gewissen vereinbaren kann.

Oder nicht?!

„Ich bin einfach nicht in der Lage dazu.“

Ihre Ungläubigkeit wich Unverständnis. Gleichzeitig löste sich Kellmanns Ausweglosigkeit in Erleichterung auf. Mit seiner Offenheit hatte er einen Weg entdeckt, die Windmühlen zu umgehen.

„Wie meinst Du das, Du bist nicht in der Lage dazu? Bist Du etwa deswegen so schlecht drauf, weil Du nicht in der Lage bist, Menschen umzubringen??“

Ihre Stimme brach, sie baute sich vor ihm auf. Unverständnis wich nun aufkeimender Wut, ein Indiz für ihr völlig zerfallenes Nervenkostüm. Sie war nicht weit von einem Zusammenbruch entfernt. Kellmann versuchte die Lage zu entspannen indem er betont ruhig erwiderte:

„Nein, Betty, natürlich nicht. Ich will und werde niemals Menschenleben in Gefahr bringen oder auslöschen. Wo denkst Du hin? Es ist die Tatsache, dass es eine Fragestellung auf meinem Gebiet gibt, deren Antwort ich nicht mal ansatzweise nahe komme. Auf meinem Gebiet, in welchem ich mich auskenne wie sonst niemand anderes. Verstehst Du?“.

Er sah ihr fest in die Augen. Er hielt stand. Selbst, als sich ihr Gesichtsausdruck kein bisschen veränderte. Sie musste ihm ansehen, dass er innerlich immer noch aufgeregt, nervös war. Das sah sie immer dann an ihm, wenn er versuchte etwas zu verheimlichen. Tief bohrte sie mit ihren Blicken, als ob sie allein dadurch seine Hülle wie eine Walnuss knacken könne. Kellmann hatte immer wieder versucht, mit kleinen Unwahrheiten davon zu kommen. Zumeist waren das Banalitäten, die sich schnell in Gelächter und einen gespielten Tadel verwandelten. Hin und wieder blieb ihr das Lachen aber auch im Hals stecken (wie das eine Mal, als er versuchte ihr weiß zu machen, dass er nüchtern vom Betriebsausflug nachhause gefahren war). Dann wusste er, woran er war und versuchte sie zu beschwichtigen.

Betty wusste aber auch, dass Kellmann schon immer ehrgeizig gewesen war. Wenn er ein Projekt bearbeitete, konnte ihn das schon mal bis in die eigenen vier Wände verfolgen; manchmal bis in den Schlaf. Sie hatte ihn schon oft beim Frühstück besorgt nach Begriffen gefragt, die er in der Nacht gemurmelt und bei einem aktuellen Thema auf Arbeit verwendet haben musste. Mit diesen Gedanken, die Kellmann scheinbar mit seiner Frau teilte, entspannten sich ihre Gesichtszüge endlich. Sie ergriff seine Hände und lächelte erleichtert. Er beugte sich zu ihr hinüber, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und damit war die Angelegenheit vorerst abgeschlossen.

Mit einer Lüge!, warf er sich vor. Es stimmte zwar, dass er nie Menschenleben in Gefahr bringen oder auslöschen wollte, aber dass er dazu nicht in der Lage sei, war nicht die Wahrheit. Eine Antwort auf die Fragestellung seines Auftraggebers hatte er nämlich bereits gefunden. Eine höchst effiziente sogar. Mit ihrer Hilfe wäre die Krise binnen weniger Wochen, wenn nicht Tagen, vorüber. Für den Preis einiger hundert, vermutlich aber tausend Menschenleben. Wenn das Betty gewusst hätte, wäre es um sie geschehen gewesen. Diese Gefahr, hatte Kellmann bannen können. Doch die ursprüngliche Sorge, die der Grund für die ganze Aufregung war, beschäftigte ihn weiterhin.

Es wäre ein Leichtes gewesen, seine Entdeckung für sich zu behalten. Aber ob es nun männlicher Stolz oder das Geltungsbedürfnis eines Wissenschaftlers war, er musste dieses Wissen erhalten, es in die richtigen Hände weitergeben. Aller Risiken zum Trotz.

Aber wie sollte er das tun?

Inständig hoffte er, dass ihn die drohenden Konsequenzen eines Scheiterns vorsichtig genug agieren lassen würden.

Liams Erinnerungen

an den einen Nachmittag im Juli 1986

Nun hatte ich also einen kleinen Bruder. Jerry oder Jay-Jay oder Jamie, das änderte sich anfangs je nach Stimmungslage. Bis heute kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich tatsächlich den Wunsch nach einem Bruder geäußert hatte. Kinder schnappen ja viele Bedürfnisse auf und machen sie ohne nachzudenken zu ihren eigenen. Ganz speziell die aus der Fernsehwerbung. Da ich aber, wie schon gesagt, bis dahin ein typisches Einzelkind gewesen war, kann ich mir einfach nicht vorstellen, jemals …

Gut, lassen wir das. Was ich sagen will ist, dass sich meine Eltern wohl einen Wunsch erfüllen wollten und versuchten, mir die Sache mit einem Psycho-Kniff schmackhaft zu machen. Da konnte Tante Karen natürlich sehr gut unterstützen. Immerhin war sie Psychologin und gleich zur Stelle, als ich meiner erwarteten Verschlossenheit Ausdruck verlieh. Meine Abneigung gegenüber Jamie war auch der Grund, warum meine Mutter nicht anwesend sein sollte. Sie ist eine sehr sensible Frau und wollte immer ein weiteres Kind. Hätte sie meine Reaktion miterlebt wäre sie sehr wahrscheinlich von diesem Wunsch abgerückt. Damals wusste ich das noch nicht. Mir wurde Ma’s Abwesenheit mit der schönen Vorstellung erklärt, dass wir drei (Pa, Jamie und ich) sie überraschen würden. Ein weiterer Griff in die Trickkiste der Psychologie, wie sich später herausstellen sollte.

Nachdem wir, oder besser, ich, auf dieses kommende Vorhaben eingestellt worden war, saßen wir bald schon im Auto auf dem Weg nach Hause. Gemessen an der Anzahl der Zuhörer sprach mein Vater mit sich selbst. Es war das vorprogrammierte Gerede von Gebt der Sache Zeit, bla, bla! Ich saß hinter dem Beifahrersitz auf einem mit grässlich buntem Stoff bezogenen Sitz aus Styropor (damit sich Anschnallgurte nicht in Kinderhälse schnitten - ein Stigma für jedes Kind, wie ich finde, aber Sicherheit geht natürlich vor) und schaute aus dem Fenster.

Sonst gab es da immer etwas zu entdecken. Immer! Aber an diesem Tag sah ich die Dinge einfach nur vorbeiziehen, ohne dass sie irgendetwas in mir ausgelöst oder sich festgesetzt hätten. Es würde gut ins Bild passen, wenn der Himmel trüb und der Tag grau gewesen wäre, aber auch im Auto spürte ich die warme Sonne auf meinem Gesicht.

Auf der Rückbank hatte sich betretenes Schweigen eingestellt. Jamie sah aus, als kannte er das alles bereits. Ab und Zu blickte ich verstohlen zu ihm hinüber. Er hatte sich seinem Schicksal ergeben, wie ich dann schließlich auch.

32 Minuten später, die wir mit dem Auto tatsächlich fast immer brauchten, da die Straßen breit und die Gegenden ruhig sind, rollten wir langsam die Einfahrt zu unserem Haus hinauf. Noch bevor der Wagen endgültig zum Stehen kam, stellte mein Vater den Motor ab und zog den Zündschlüssel (das einzige sichere Anzeichen, dass der Motor wirklich nicht mehr lief – der Lincoln war verflixt leise; und für einen Familienwagen übrigens sehr sauber). Aufgeregt drehte er sich zu uns herum und meinte etwas wie: „Wir gehen jetzt rein und ihr beide setzt euch erst mal ins Wohnzimmer.“ Unsere Mutter würde um diese Zeit bestimmt in der Küche sein und er wolle sie irgendwie vorbereiten. Wir würden ja nicht wollen, dass sie vor Freude und Aufregung umkippt. Wenn er dann meinen Namen ruft, sollte ich mit Jamie nachkommen und ihn vorstellen. Dieser Plan gefiel ihm gut. Sonderbar gut. Aber Erwachsene haben nun mal so ihre Anwandlungen. Ich hatte keine Meinung mehr dazu.

Wir gingen ins Haus. Pa schob uns hinter der Kommode, an der ich mir in letzter Zeit auffällig oft den Kopf gestoßen hatte, nach links ins Wohnzimmer und wedelte mit den Händen, Setzt euch hin! Dann verschwand er in die Küche. Kurz darauf hörte ich Stimmen, verstand aber kein Wort. Der Neue saß neben mir auf dem Sofa, das genau so bequem war wie Tante Karen‘s. Zur Behaglichkeit fehlte nur noch die Sonne. Und mein Alleinsein.

Wir schwiegen uns weiterhin an. Nach ein paar Minuten fielen mir die umgelegten Teppichfasern vor dem Fernseher auf. Würde ich dort jetzt zusammen mit Jamie fernsehen müssen? Oh nein, bitte nicht! Ich spürte, wie mir die Lust an den nachmittäglichen Cartoon-Serien verging und rollte theatralisch mit den Augen. Prompt fiel mein Blick auf das Klavier. Würde ich dort jetzt ständig beim Spielen gestört werden? Von Jeremy? Von Jay-Jay?? Und was war mit meiner Konsole, die unter der Glasplatte des Beistelltisches stand? Würde ich jetzt einen zweiten Controller für ihn kaufen müssen? Von meinem Taschengeld? Für Jamie??

Sein Gesicht verriet Sorge. Konnte er denn auch noch Gedanken lesen? Gerade wollte ich ihm klarmachen, was er nicht zu erwarten brauchte, als ich meinen Vater rufen hörte.

„Liam, jetzt komm endlich! Und bring deinen neuen Freund mit!“

Wie bitte? Ich schlug mit den Fäusten wütend auf die Sitzfläche.

„Das ist nicht mein Freund!“, rief ich empört und eilte, entschlossen meinem Ärger Luft zu machen, aus dem Zimmer. Kurz bevor ich die Küche erreichte, stellte ich nach hinten zeigend klar: „Das ist mein neuer kleiner Bruder!“.

Von da an lief alles wie im falschen Film. Meine Mutter schlug die Hände ans Gesicht und sah aus großen, wässrigen Augen erst den Flur entlang, dann meinen Vater an, dann wieder den Flur hinunter. In mir machte sich das schlechte Gewissen breit. Ich hätte sie vielleicht nicht so überrollen dürfen. Aber mich hat ja wohl auch keiner gefragt!

Unsicher suchte ich den Blick meines Vaters und fand ihn. Er lächelte zufrieden.

Moooment!, was passierte hier? Wieso war mein Vater wegen meines Ärgers nicht sauer? Ich stand immer noch da wie ein Diskuswerfer kurz vor dem Abwurf. Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte ich das Gefühl, dass hier gehörig etwas an mir vorbei lief. Im Augenwinkel nahm ich Jamie wahr, der sich fast lautlos über den Boden bewegte.

„Das ist dein neuer kleiner Bruder?!“, fragte Ma erstaunt und versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken. Ich verstand sie kaum. Sie wischte sich mit beiden Händen erste Tränen vom Gesicht und kam auf uns zu. Sie lachte.

Sie lachte? Warum lachte sie? Das war nicht meine Absicht gewesen. Ich wollte doch zeigen, dass ich mit dieser Sache überhaupt nicht einverstanden war, aber Ma freute sich aufrichtig.

„Tut mir leid, Liam.“, sprach uns mein Vater jetzt an, „Du hast natürlich recht. Das ist nicht nur dein Freund, sondern dein Bruder. Und willst Du ihn uns vorstellen?!“.

Ach, na schöner Mist! Er hatte mich gespielt, wie den ersten Zug einer Partie Dame. Ma hockte neben mir und schien hin und weg. So hatte ich sie lange nicht mehr gesehen. Mit feucht glänzendem Gesicht und herzlichstem Lächeln schaute sie mich erwartungsvoll und gleichzeitig unsicher an.

„Jamie. Das ist Jamie.“, erwiderte ich perplex.

„Oooh, Du bist aber ein hübscher Junge.“ (schnief!)

„Hallo Jamie, schön dich kennen zu lernen.“

Sie meinte das ernst. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich noch voll und ganz bereit, den Blindgänger von eben vom Boden des Flurs aufzuheben, ihn erneut zu entzünden und mit einem großen Ich-will-dass-der-Kerl-VERSCHWINDET! explodieren zu lassen. Aber als ich Ma so sah, überwältigt von Freude und mit so viel Liebe in ihrem hübschen Gesicht (sie sah nie schöner aus), konnte ich das nicht mehr. Ich ließ alles über mich ergehen. Mein Vater stellte noch richtig, dass sein eigentlicher Name Jeremy sei, und ergänzte, wie sehr wir uns freuten, ihn in unserer Familie willkommen heißen zu können. Dabei legte er mir seinen Arm um die Schultern (bis heute bin ich davon überzeugt, dass er mich damit aufziehen wollte).

„Das ist schön.“, sagte Ma, ohne recht zu wissen, wen sie ansehen sollte, „Das ist so schön.“

Sie strich mir über den Kopf. Jamie war von der Intensität ihrer Emotionen wohl ähnlich überrascht wie ich. Unsere Blicke trafen sich für wenige Sekunden und ein Lächeln huschte über meine Lippen (was ich gleich wieder verbarg, als es mir bewusst wurde).

Liams Erinnerungen

an Ende August 1986

Mit seinen Worten, die ich damals auf dem Weg nach Hause nicht an mich heranließ, lag mein Vater nur bedingt richtig. Man musste der Sache Zeit geben, das traf zweifelsohne zu. In diesem Fall galt das aber lediglich für ihn und Jamie. Nicht jedoch für mich, und besonders nicht für meine Mutter.

Ich hörte sie manchmal sogar dann noch weinen, als wir - mein Bruder und ich - uns schon ziemlich gut zusammengerauft hatten. Es kam sogar vor, dass sie plötzlich das Zimmer verließ in dem wir spielten, weil sie sich an irgendetwas erinnerte, zum Beispiel das Fleisch für das Abendessen aus der Gefriertruhe zu nehmen. Ihre dünner werdende Stimme verriet uns den wirklichen Grund allerdings schon einige Minuten vorher. Zwar erkannten wir nicht den tatsächlichen Grund, wussten aber, dass es nicht das Gefriergut sein konnte, weswegen sie irgendwie aufgewühlt das Zimmer verließ. Ich sprach unsere Beobachtung in einem günstigen Moment bei meinem Vater an. Er nahm mich auf seinen Schoß.

„Mach dir deswegen mal keinen Kopf, Liam. Du weißt doch, wie Du dich gefühlt hast, als Du Jamie zum ersten Mal begegnet bist. Bei unserer Mama ist das nicht anders.“

Ich fragte mich, ob er etwas missverstanden hatte, unterbrach ihn aber nicht.

„Sie ist immer noch ergriffen. Ihr Wunsch, der sich schon so lange dort drinnen aufhält, wurde mit einem Schlag erfüllt, verstehst Du?“

Mit seinem Zeigefinger tippte er dabei auf meine Brust und ließ dann die Hand dort liegen. Als er weiter sprach, wurde es an dieser Stelle warm. Seine Worte schienen in mir zum Leben zu erwachen.

„Das ist, als würdest Du dir Geburtstag für Geburtstag immer dasselbe rote ferngesteuerte Auto wünschen und immer wieder wirst Du enttäuscht, musst weiter darauf warten. Keine Sache auf der Welt kann dir diesen Wunsch nehmen oder ersetzen. Immer, wenn Du etwas bekommst, denkt ein Teil von dir zuerst an das rote ferngesteuerte Auto. Aber es kommt und kommt nicht. Wie die Stimmen eines Echos, wird der Wunsch zwar immer leiser, aber er bleibt trotzdem immer ein Teil von dir. Und dann, wenn Du schon gar nicht mehr daran denkst, wenn das letzte Echo! schon eine Zeitlang ausgeklungen ist, steht es vor dir. Und Du siehst es dir an und erinnerst dich an diesen großen, groooßen Wunsch, der sich jetzt mit aller Freude, die Du in den vergangenen Jahren nicht haben konntest, in dir ausbreitet. Sie ist so groß, dass Du nicht einfach nur lächelst, sondern Du musst springen und jubeln und Purzelbäume schlagen, damit Du nicht explodierst.“

In diesem Augenblick, zwickte er mir in die Seiten und ich zeigte natürlich die einzige Form des Protestes, die nie als Gegenwehr verstanden werden würde: Ich quietschte vergnügt.

„Kannst Du dir deine Mama hüpfend und springend und Purzelbaum schlagend vorstellen?“, grinste mich mein Vater an.

Noch im Lachanfall antwortete ich das einzig Richtige: „Im Leeeben nicht!“, und Pa stimmte mit ein: „Im Leeeeben nicht!“, wir lachten beide.

„Deswegen drückt sich diese große Freude bei deiner Mama in Tränen, in gerührten und glücklichen Tränen aus, okay? Alles klar?“

Von glücklichen Tränen hatte ich schon manche Erwachsene reden hören. So ganz sicher was es damit auf sich hatte war ich mir nicht - ganz zu schweigen von gerührten Tränen.

„Ja, okay. Man muss den Dingen manchmal Zeit geben.“, antwortete ich mit den Worten meines Vaters auf meine eigenen Überlegungen und rutschte von seinen Beinen hinunter.

„Ganz richtig, mein Junge. Ganz richtig.“

Mein Gehör war noch nicht erfahren genug, um den Unterton zu erfassen, der in seiner Stimme mitschwang.

Auch mir verursachte die neue Situation anfangs starke Probleme, nur spielten sich diese auf einer anderen Ebene ab. Mit meinen acht Jahren kam ich mit der Plötzlichkeit von Jamies Auftauchen nur schwer zurecht. Von einen Moment auf den nächsten musste ich teilen, was ich sonst für mich hatte und musste lieben, was mir nichts bedeutete. Das war mir zu viel. Seine Anwesenheit trieb mich in die sprichwörtliche Ecke und garte mich förmlich von innen. Jedes normale Kind hätte einen Aufstand gemacht und sich damit Luft verschafft. Aber noch bevor Pa erklärt hatte, was genau in Ma vor sich ging, hatte ich begriffen, dass ich ihr damit sehr wehtun würde. Also fraß ich alles in mich hinein, so lange, bis ich quasi überlief - ich bekam starken Hautausschlag. Psychosomatisch!, war die schnelle Diagnose von Tante Karen. Fortan war ich regelmäßig bei ihr zum reden (das war der Beginn meiner ersten Therapie, auch wenn mir das nicht klar war) und bekam eine Zeit lang Tabletten von meinem Vater, die ich neben den anderen Vitaminen und Ballaststoffen und wie sie alle heißen mochten, ohne nachzufragen einnahm. Es dauerte einige Wochen bis sich meine inneren Widerstände abgebaut hatten. Die Stunden bei Karen taten mir gut. Ich weiß nicht mehr genau, worüber wir im Detail sprachen, aber nach jedem Gespräch ging es mir gut und ich freute mich bereits auf das nächste Mal.

Später war ich dann auch zusammen mit Jamie bei ihr und so langsam fanden wir zueinander.

Liams Erinnerungen

an Anfang September 1986

Einige Tage nachdem mir mein Vater seine Sicht über Ma’s Zustand erklärt hatte, traf ich sie in meinem, nein, unserem Zimmer an. Sie erwachte scheinbar aus einem Tagtraum als ich in der Tür erschien. Seinen Ursprung hatte er wohl in Erschöpfung und nicht in schönen, entspannten Gedanken; sie lächelte mich zwar an, aber müde, wie mir schien.

„Kannst Du Jamie suchen und herbringen? Ich würde euch gern etwas sagen.“

Vielleicht, vielleicht auch nicht, hat mein Vater ihr von unseren Sorgen berichtet und das war der Grund, weswegen sie irgendwie in sich gekehrt auf meinem Bett saß und darauf wartete, dass ich mit meinem Bruder wieder aufkreuzte. Da diese Zeit von der besonderen Rücksicht aller geprägt war, stellte ich keine Fragen, sondern fing gleich an, nach Jamie zu suchen.

Mich überkam die Eile eines Kindes, das eigentlich ein ganz anderes Abenteuer im Sinn hat als den ernsten Worten der Großen zuzuhören. Beinahe hätte ich deswegen meinen Bruder übersehen. Ich war schon die Treppe hinunter und nach links ins Esszimmer geeilt, da wurden mir der Schatten und das Geräusch, was ich nur flüchtig und unwirklich wahrgenommen hatte, erst richtig bewusst. Es hörte sich wie ein Schlag auf einen Boxsack an. Ich blieb abrupt stehen. Mein Hirn setzte mir etwas vor meinem geistigen Auge zusammen, das ich nicht glauben wollte. Dann hörte ich es wieder, dieses Geräusch.

Das gibt’s doch nicht!

Langsam setzte ich erst einen Fuß zurück, dann drehte ich mich um und ging langsam an der Kommode vorbei (vorsichtig, damit ich mir nicht wieder den Kopf stieß). Jamie stieg gerade auf die Rückenlehne der größeren Couch, machte darauf kehrt und ging leicht in die Knie.

Ich ahnte es, aber er wird doch nicht etwa wirklich …?!

Er setzte zum Sprung an.

Oft war ich halsbrecherisch über Lavaströme, reißende Flüsse mit tausenden weißen, spitzen Zähnen und mörderisch tiefe Schluchten gesprungen, aber nie bin ich auf den anderen Planeten geflogen. Er war immer stiller Beobachter, ein verlässlicher Zeuge meiner Tollkühnheit und bewohnt vom Unbekannten (so ähnlich musste der Mond auf die Menschen im Mittelalter gewirkt haben).

Auf die kleinere, gegenüberliegende Couch zu springen, hatte ich vor langer gewagt und anschließend war ich froh, dass meine Eltern das nicht mitbekommen hatten. Kurz bevor ich mich nämlich abdrücken wollte, hatte ich mich unbewusst schon den entscheidenden Zentimeter zu weit nach vorn gewagt und drohte mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zu schlagen. Ich erschrak über den bedrohlichen Zustand, den mir mein Gleichgewichtsorgan meldete und sah die einzige Rettung in der Offensive. Mit aller Kraft drückte ich mich von der Rückenlehne ab und hatte sofort ein ungutes Gefühl. Weil ich bereits etwas vorn über gekippt war, stieß ich nicht mich von der Rückenlehne ab, sondern ich drückte die Rückenlehne samt Couch von mir weg und verschenkte damit ein Großteil meiner Sprungkraft. Trotzdem erreichte ich mein Ziel, den fremden Planeten. Zumindest, wenn mich allein mein Kopf ausgemacht hätte. Der Rest meines Körpers prallte Schulter voran an der Front ab. Ich muss dagelegen haben wie ein Hund, der angestrengt versucht über Wasser zu bleiben. Zum Glück war ich noch ein Fliegengewicht, sonst hätte ich bei meinem Jungfernflug womöglich den Raumfahrthafen zerstört.

Dieses peinliche Missgeschick ging mir durch den Kopf, als ich Jamie da oben stehen sah und gebannt darauf wartete, ob er die Eroberung des Majestäten wagen oder sogar schaffen würde. Er holte mit beiden Armen Schwung, sprang, landete bäuchlings auf dem Sofa, fertig. Ich war enttäuscht über die Leichtigkeit, die er ausstrahlte.

Und daran habe ich mich so abgemüht?

“Oh, hi, großer Bruder!”, sagte er, als er mich sah und die Landebahn verließ. Für ihn schien es das Normalste auf der Welt zu sein. Ich war immer noch etwas überrascht und musste mir erst noch klar darüber werden, inwiefern die Bedeutung, die den Worten großer Bruder anhaftete, hier überhaupt Berechtigung hatte.

“Was gibt’s?”

“Ma will uns was sagen. In unserem Zimmer.”

“Aha, na gut, dann mal los.”

Mir fiel wieder auf (oder vielleicht fällt es mir auch erst jetzt auf, weil ich davon erzähle), wie erwachsen er von Zeit zu Zeit sein konnte, immerhin war er gerade mal fünf Jahre alt. Aber je mehr ich von ihm erfuhr, desto weniger stieß es mir auf.

Mein Blick jedenfalls blieb am Ort des letzten Geschehens haften. Ohne Frage würde ich meine eigene Mondlandung in einem unbeobachteten Augenblick erneut wagen, auch wenn ich das Ganze plötzlich als höchst kindisch empfand. Aber zunächst wollte ich mir anhören, was Ma uns zu sagen hatte. Ich folgte Jamie.

Da bist Du ja, Liam. Und Jamie ist auch schon hier, schön. Setzt euch zusammen hin, Jungs. Gebt mir noch einen Augenblick, ich … ich muss noch überlegen, wie ich anfangen werde. Das ist nämlich nicht so einfach für mich, da ihr… ihr beide macht mich sehr glücklich, müsst ihr wissen. Vielleicht glaubt ihr mir das nicht, weil ich in letzter Zeit hin und wieder weine und vielleicht nicht immer ganz bei der Sache bin, aber ich bin sehr, sehr glücklich, hört ihr mich? Ich bin nur sehr durcheinander. Weißt Du, Liam, als ich dich zur Welt gebracht habe, war ich eigentlich schon ganz schön alt und es lief nicht so ab, wie wir uns das alle vorgestellt hatten. Wenn ihr größer seid, erzähle ich euch das mal genauer. Jedenfalls … es gab Komplikationen. Vorgänge während deiner Geburt, die nicht vorhersehbar waren und … und gefährlich wurden. Eine lange Zeit nach deiner Geburt mussten wir uns Sorgen machen. Dein Vater hatte es eigentlich am schwersten. Er war jeden Abend im Krankenhaus und hat dich besucht, dich durch ein Fenster hindurch betrachtet, wie Du in einem durchsichtigenKasten gelegen hast, in einem Raum, den nur Ärzte betreten dürfen. Quarantäne, weißt Du. Als er gesehen hatte, dass mit dir alles in Ordnung war, kam er an mein Fenster. Mir ging es auch nicht sehr gut. Das war alles schlimm und traurig für deinen Pa gewesen. Und als ich mich erholt hatte, musste auch ich noch eine Weile aushalten, bis wir wirklich sicher sein konnten, dass alles gut überstanden war. Es war eine sehr schwere Zeit, die wir zusammen bewältigt haben.

(ein Tränentropfen stiehlt sich aus dem Auge, weggewischt)

Aber es hat sich gelohnt, oder Liam? Ja, das hat es.

Ich wollte schon immer Kinder haben, eigene Kinder haben, und ich will es immer noch. Meine Ärztin will das aber lieber nicht sehen. Es wird ganz sicher wieder zu Komplikationen kommen, bei denen man nicht weiß, wie sie am Ende ausgehen werden. Aber ich wollte doch so gern noch Kinder haben

(weitere Tränen, weiteres Wegwischen, durchatmen).

Ich war bereit, es zu versuchen. Gott weiß, ich war bereit. Nur hatte dein Vater etwas dagegen. Und Du bestimmt auch, oder? Naja,

(die Bluse glatt- und Trauriges abstreifen, sich ordnen)

eigene Kinder werde ich also nicht mehr bekommen. Und das macht mich traurig. Aber, Liam, Du und dein Bruder, ihr seid meine Jungs! Meine eigenen Jungs. Und das macht mich sehr, sehr glücklich, hört Ihr?! Liam, Du machst mich glücklich! Und Jamie, (räuspern, sich fangen)

Du machst mich auch glücklich!

In dem Moment, als Ma sich von uns abwendete, die Beine überschlagen, die Fingerknöchel an die zitternden Lippen gepresst, betrat mein Vater das Zimmer. Ich glaube, er stand schon eine Weile davor, seine Schritte hatte ich bereits vor einigen Minuten gehört. Er ging zum Bett, legte seine Hand auf ihren Hinterkopf und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Dann setzte er sich neben sie, zwinkerte uns verstohlen zu und machte die Geste eines Bodybuilders der seinen Bizeps präsentiert. Unser Signal, das Begeisterung versprach.

Ich sprang auf, sah meinen Vater, wie er meine Mutter beschützend an seine Brust zog, sah meine Mutter, wie sie anfing zu lachen, und stürzte auf sie zu: Kampfkuscheln! Sofort waren wir ein lautes, vergnügtes Knäuel. Jamie, der da wohl etwas sah, was er bisher noch nicht zu sehen bekommen hatte, versuchte erst, mich hinterrücks zu kitzeln, woraufhin ich ihn mit fast hysterischer Stimme befahl, sich meinen Vater vorzuknöpfen und ihn damit zu einem Kämpfer auf meiner Seite machen wollte. Er ließ zwar von mir ab, stand anschließend aber wie bestellt und nicht abgeholt hinter mir und beobachtete uns zurückhaltend. Ma quiekte vor Vergnügen.

Von diesem Zeitpunkt an waren wir die kleine Familie, die in den Medien nie erwähnt werden würde. Von da an gab es keine unterdrückten Gefühle, keine Wutausbrüche, keine (erwähnenswert stark) rebellierenden Kinder. Wir waren zufrieden mit dem, was wir hatten; mit uns und unserer kleinen Welt. Ich glaube, was an diesem Tag stattfand, war für alle eine Art Initiationserlebnis.

Liams Erinnerungen

an Ende September 1988

In der Schule war ich kein Überflieger. Zwar war ich nicht der Schlechteste der Klasse, aber eben auch nicht herausragend. Es reichte dennoch aus, um eine gewisse Bestätigung zu gewinnen, mit der ich mich über Wasser hielt. Freunde, die das für mich getan hätten, hatte ich in der Schule nicht. Im Gegenteil, es gab sogar solche, die mich systematisch unterkriegen wollten. Mit den Erfolgserlebnissen, die mir die Lehrer auf Papier bescheinigten (Weiter so! Gut gemacht!) und mit den wenigen Freunden, die ich außerhalb des Schulgeländes hatte, kam ich zunächst dennoch ganz gut zurecht. Mit Jamie entwickelte sich die Sache dann um ein Vielfaches besser.

Ich besuchte eine Bildungseinrichtung, die nach heutigen Gesichtspunkten als Vorreiter (wenn man die gewonnenen Erkenntnisse in ein positives Licht stellen will) oder als experimentell gelten würde (wenn man sich von dieser Art Bildungsweg distanzieren will). Konkret heißt das, eine Ausbildung weg von Separierung und Schubladendenken zu gestalten. Auf dem Gelände waren alle Altersklassen und Leistungsniveaus vertreten. Vergleichbar mit Mehr-Generationen-Häusern, nur das bei uns das Lernen im Vordergrund stand. Wer Zeit und Lust hatte, konnte dort auch die Freizeit und somit ganze Tage verbringen. Für die Jüngeren wurden Spiel- und Sportgruppen angeboten. Von den üblichen Ballspielen reichten sie bis hin zu Randsportarten, wie Billard oder Go. Für die Älteren gab es handwerkliche Arbeitsgruppen, wie Holz- und Metallbearbeitung aber auch Elektrotechnik. Später wurden berufsfördernde Angebote realisiert, die vorort natürlich in die pädagogische Richtung abzielten (Betreuung der Spielgruppen) und durch Unternehmen der Stadt oder aus der Umgebung ergänzt wurden (unter Nutzung der ohnehin schon vorhandenen Ausbildungsräume und - instrumente).