Wer's glaubt, wird sterben - Tom Heyem - E-Book

Wer's glaubt, wird sterben E-Book

Tom Heyem

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Beschreibung

Der Lauerjäger treibt sein Unwesen. Eine Figur, genährt aus den Berichterstattungen von Presse und Medien. Officer Steven Kramer interessiert das gerade herzlich wenig. Nicht nur bezieht er seine Überzeugungen möglichst aus erster Hand, sein Diensteifer hat ihn gerade auch mitten hinein in das Dickicht aus übelriechenden Tatorten, undurchsichtiger Menschlichkeit und heimtückischen Motiven katapultiert. Genau dort wollte er hin und dort will er bleiben: am Anfang seiner Ausbildung zum jüngsten Detective der Geschichte Chicagos. Doch seine Talente wecken Erwartungen, deren Erfüllung ihm zunehmend schwerfällt. Wird er es schaffen, seine Überforderung vor der Menschenkenntnis Captain de Sousas zu verbergen? Und warum wendet sich sein Ausbilder Detective Peckert plötzlich von ihm ab? Kramers Aussichten auf einen siegreichen Kampf mit den neuen Elementen sind denkbar schlecht. Seltsam, dass gerade jetzt der sensationslustige und sehr gut informierte Ruud Garner auf ihn zukommt.

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Seitenzahl: 429

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Demut ist Unverwundbarkeit.

† Marie von Ebner-Eschenbach, Schriftstellerin

Tom Heyem

Wer’s glaubt,

wird sterben

© 2018 Tom Heyem

Umschlag, Illustration:

Hanna Hohmann

Lektorat:

Eva Preuß, Federschliff

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-7469-1015-4 (Paperback)

Hardcover

978-3-7469-1016-1 (Hardcover)

e-Book

978-3-7469-1017-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

automatisch erzeugtes Notruf-Protokoll Chicago Police

Anruf eingegangen am 03. September 2017,

21:34 Uhr, entgegengenommen von Off. Jody Stein

»Notruftelefon 9-1-1.«

»Hallooo? Mein Name ist (unv.), mein Name ist Julia Fenders und (unv.)«

»Misses Fenders, bitte beruhigen Sie sich, sind Sie in Gefahr?«

»Neeein.«

»In Ordnung, Julia. Worin besteht Ihr Notfall?«

»Mein Mann, er ist, er ist (unv.)«

automatische Protokollnotiz: OCE 090316-187

41°57'54.0''N 87°39'55.3''W (4554 N Dover St)

»Julia, ich habe eine Streife zu Ihrem Standort geschickt. Können Sie mir Ihre genaue Adresse sagen?«

»(unv.) oooh Goooott, mein Maaan.«

»Beruhigen Sie sich Julia, hören Sie mich?«

automatische Protokollnotiz: OCE 090316-187 bestä-

tigt, 41°57'54.0''N 87°39'55.3''W (4554 N Dover St)

»Hilfe ist unterwegs. Sagen Sie mir bitte trotzdem Ihre genaue Adresse.«

»Ich, ich bin auf der 4-6-5-3 North Beacon Street.«

»Okay, brauchen Sie einen Krankenwagen?«

automatische Protokollnotiz: OCE 090316-187 aktualisiert, Einsatzadresse 4653 N Beacon St

»Nein, mein Mann, er ist (unv.), er ist - toooot (unv.).«

»Es tut mir leid das zu hören, Julia, sind sie sich absolut sicher?«

»Ja, er, er … es ist so schrecklich!«

»Gleich wird jemand bei Ihnen sein. Versuchen Sie sich bis dahin zu beruhigen, setzen Sie sich, verlassen Sie den Raum, haben Sie mich verstanden, Julia?«

»Ja. Ja, Sie haben recht. Ich werde in die Küche gehen und (unv.).«

»Julia? Können Sie mich hören? Julia?!«

Benutzereingabe 21.39 Uhr:

»Anrufer antwortet nicht mehr.«

Protokollaufzeichnung manuell beendet am

03. September 2016, 21:41 Uhr durch Off. Jody Stein

automatisch erzeugtes Notruf-Protokoll Chicago Police

1

Nachdem die Officers Hanson und Clarke trotz wiederholten Anklopfens vor verschlossener Tür standen, hatte Hanson bei der Zentrale angefragt. Zwar wurde die Situation mit Code 1 bewertet, ohne ersichtliches Risiko, auf Hansons Nachfrage nach dem Verbleib der Anruferin konnte jedoch keine schlüssige Erklärung gegeben werden. Er bereitete sich auf das Schlimmste vor.

Sein Handzeichen war ausreichend und Clarke spurtete durch den Vorgarten zurück zum Streifenwagen. Mit dem schweren Rammeisen in beiden Händen kehrte er zügig zurück. Auf drei stieß er es krachend gegen das Schloss, woraufhin Hanson energisch gegen die Tür trat. Laut rufend und mit gezogener Waffe machte er einen Satz in den beleuchteten Hausflur.

»Chicago Police, wir sind bewaffnet und werden Gewalt anwenden!«

Zeitgleich ließ Clarke das Eisen nach hinten fallen und zog ebenfalls seine Dienstwaffe. Während Hanson nach rechts die Küche und vor sich den Treppenaufgang ins Obergeschoss sicherte, bewegte sich Clarke hinter ihm an der Eingangstür vorbei nach links ins Wohnzimmer.

Einige Zeit später kehrte er zu Hanson zurück, stellte sich neben ihn und nickte stumm. Das Erdgeschoss samt Hinterausgang war geprüft und sicher. Gemeinsam rückten sie ins Obergeschoss vor. Hanson stieg etwas geduckt auf der linken Seite die Treppe empor, sein Partner rechts, zwei Stufen später, da er einen guten Kopf größer war. Kurz bevor sie das Ende erreichten, glaubte er aus einem Radio oder Fernsehapparat eine Frauenstimme zu hören. Unbewusst spitzte er die Ohren und stellte alle Sinne auf Empfang. Intuitiv zog er drei Mal kurz Luft ein und eine Vorahnung beschlich ihn. Er nahm eine Nuance des schweren Geruchs wahr, der sich bis in seinen Rachen legte und ein sanftes Kribbeln in seiner Nase verursachte. Blut.

Plötzlich blieben beide stehen. Hanson griff nach Clarkes linker Schulter und hinderte ihn am Weitergehen. Am Ende des Flures hatte er eine Frau mittleren Alters auf dem Boden entdeckt, die augenscheinlich bewusstlos war und beim Verlassen des Raumes zusammengebrochen sein musste. Einige Zentimeter von ihrer offenen Hand entfernt lag ein Telefonhörer, aus dem die fragende Stimme der diensthabenden Beamtin in der Zentrale kam, die Hanson gehört hatte. Er erkundigte sich über Funk, ob bereits ein Rettungswagen angefordert wurde, denn der Geruch nach Blut wurde stärker.

Nachdem er die Bestätigung des alarmierten Notarztes bekommen hatte, nickte er Clarke kurz zu und die beiden arbeiteten sich weiter voran. Das Arbeits- und das Gästezimmer lagen links und rechts vor ihnen. Während Clarke diese beiden Räume überprüfte, stieg Hanson über die Frau und warf einen kontrollierenden Blick in das Ankleidezimmer, bevor er sich ihrer Vitalfunktionen vergewisserte. Dafür steckte er seine Waffe ins Holster, kniete neben ihr ab und hörte nach der Atmung und fühlte nach dem Puls. Sie waren stabil. Er griff nach dem Telefon, »Einheit 37 sichert«, und drückte die Taste zum Auflegen.

Die Frage nach dem jetzt deutlich wahrnehmbaren Blutgeruch war weiterhin unbeantwortet. Clarke’s entsetzte Stimme drang aus dem Schlafzimmer.

»Verfluchte Scheiße!«

Instinktiv griff Hanson zu seiner Dienstwaffe, bereit, sie doch noch einzusetzen, und eilte ohne seine Wachsamkeit aufzugeben durch das Ankleidezimmer nach links ins Schlafzimmer, wo der zur Salzsäule erstarrte Clarke stand. Seine Figur wurde vom schummrigen Licht eines gedimmten Deckenfluters gerahmt und versperrte die Sicht auf das Ehebett. Hanson schob ihn an der linken Schulter zur Seite.

»Heiliger Gott im Himmel!«

Gebannt starrte er auf das Bett, wo ein nackter Mann mit von sich gestreckten Gliedmaßen rücklings auf den Decken lag. Zwischen seinen Beinen und um seinen Kopf herum hatten sich Blutlachen gebildet und die sonst weiße Wäsche dunkelrot gefärbt. Im Hintergrund hörte er den Rettungswagen auf der Straße eintreffen sowie das Öffnen und Zuschlagen der Türen.

»Was glaubst du, Brandon«, fragte er entgeistert, »sieht doch aus wie ein Ritualmord, oder?«

Clarke antwortete wie in Trance: »Keine Ahnung, ich dachte, bei Ritualen sammeln die das Blut. Aber hier …«

»Hast recht«, unterbrach ihn Hanson, »das hier sieht aus wie Kannibalismus.«

2

Eine Anfrage nach Sicherung war eigentlich nichts Ungewöhnliches. Beamte baten darum, sobald ein sogenanntes invasives Vorgehen absehbar war. Auch Hansons Funkspruch war für Steven Kramer, der die Anfrage ohne zu zögern bestätigte, reine Routine. Seine Hauptaufgabe war es, die durch den verursachten Lärm beunruhigten oder neugierigen Mitmenschen abzufangen. Bisher ging es für ihn nie weiter als bis zum ersten Absperrband.

Als er im Polizeiwagen am Einsatzort eintraf und die aufgebrochene Eingangstür mit der davorliegenden Ramme erkannte, sah er nichts Außergewöhnliches. Er wusste, wenn sich Beamte gezwungen fühlten, eine Tür gewaltsam zu öffnen, dann sollte man sich auf Unschönes gefasst machen. Unschönes, das Kramer noch nie hautnah zu Gesicht bekommen hatte und das bestimmt auch an diesem Abend fern seiner Wahrnehmung blieb. Er stellte den Motor ab und hielt inne. Ihm drängte sich die gespenstische Ruhe auf, die einkehrte, nachdem ein zur Gewohnheit verkommenes Hintergrundgeräusch plötzlich erstarb. Eigentlich sollte er jetzt aussteigen, das rot-weiß-gestreifte Band aus dem Kofferraum nehmen und sich um die Sicherung des Außenbereiches kümmern. Doch er stieg nicht aus. Er sah die aufgebrochene Haustür an und hatte unwillkürlich vor Augen, was in dem Haus alles geschehen sein mochte. Erschossene Bewohner, gequälte Senioren, erschlagene Kinder.

Aber das war nicht, was ihn zögern ließ. Viel mehr beunruhigte ihn zum ersten Mal der Gedanke an einen flüchtigen Täter, dem er möglicherweise begegnen würde. Wenn es einen solchen gab, dann war er aufgestört, im Stress und leicht zu überwältigen. Aber was, wenn nicht? Die Risiken, die Kramer bisher nie gescheut hatte, sondern denen er entschlossen entgegengetreten war, die er hin und wieder sogar herbeiwünschte, verdammten ihn gerade zum Nichtstun, denn in zwei Tagen würde er zum Dienst ins Departement Distrikt 17 versetzt werden und sollte dort zum jüngsten Detective der Chicagoer Polizeigeschichte ausgebildet werden. Die Vorstellung, an der Eingangstür des Hauses wie üblich Wache zu schieben, nur um von einem hypernervösen Drogensüchtigen für immer aus der Bahn seiner Ausnahmekarriere geschleudert zu werden, behagte Kramer überhaupt nicht.

Sich jetzt mit einer vernachlässigten Sicherung einen Schnitzer in seinem glänzend polierten Karriereholz zu leisten, was in diesem Fall eher einem Axthieb gleichkam, war aber erst recht keine Option. Zumal sich bereits die ersten Nachbarn einfanden. Erschrocken stieg Kramer aus dem Wagen, und während er das Absperrband aus dem Kofferraum holte, rief er prophylaktisch: »Bleiben sie bitte zurück!« Dann ging er geradewegs auf die drei im Morgenmantel gekleideten Personen zu, die sich am Gartenzaun aufreihten, um einen Blick ins Innere des Hauses zu erhaschen.

»Bitte, bleiben Sie hier stehen und achten Sie darauf, die Einsatzkräfte nicht zu behindern«, bekräftigte er und bedeutete ihnen, vom Gartentor zurückzutreten. Anschließend ging er hindurch, schloss es hinter sich und begann seine Arbeit. Nachdem er zwischen dem kleinen Tor und einem Pfosten des angrenzenden Grundstückzauns das Flatterband gespannt hatte, bezog er Posten vor den Schaulustigen.

Doch anstatt sich wie sonst immer direkt vor sie zu stellen und ihnen so gut es ging die Sicht zu nehmen, drehte er sich etwas in Richtung des Hauses, damit er den Eingangsbereich und das rückwärtige Grundstück im Auge behalten konnte. Das sollte ihm genug Reaktionszeit für eventuelle Überraschungen geben. Nichtsdestotrotz hoffte er, dass bald die Truppe der Spurensicherung oder der Gerichtsmediziner oder wer auch immer auftauchte, damit er seine Gedanken auf ihre Arbeit und nicht auf verrückte Junkies richten konnte.

3

Mittlerweile war der Sicherungsbeamte eingetroffen, der Tatort abgesperrt und der erste Schock verdaut. Clarke und Hanson beobachteten eine Weile den Gerichtsmediziner Peter Oaks, der seine Arbeit eben erst aufgenommen hatte. Für seine Untersuchung stellte er tragbare Scheinwerfer auf, die das Opfer im harten Licht einer Museumsvitrine ausstellten.

Hanson dachte, Wie im Gruselkabinett, als ihn Clarke mit dem automatisch erzeugten Notrufprotokoll in den Händen fragte:

»Was soll dieses unv bedeuten?«

»Unvollständig. Das fügt das Programm immer ein, wenn es nichts versteht. Wenn Besoffene anrufen, zum Beispiel, oder wenn am anderen Ende der Leitung zu viel Hintergrundgeräusche sind«, antwortet Hanson altklug.

»Oder wenn der Anrufer flennt …«, ergänzte Clarke ebenso überzeugt und nötigte Hanson dazu, das letzte Wort haben zu müssen.

»Anrufer-in, in dem Fall.«

»Und was soll dieses O C E sein?«

Hier musste auch Hanson passen, war sich aber um einen Schuss ins Blaue nicht zu schade.

»Das, äh, ist eine Abkürzung. Nämlich die Abkürzung für ohne Code eingegangen. Der wird ja erst nachträglich vergeben, weißt du?«

Clarke nickte beeindruckt und las weiter, während sich Hanson innerlich selbst auf die Schulter klopfte und vorgab, das Umfeld im Blick zu behalten. Dabei entdeckte er Detective Peckert in der Tür zum Flur. Den Mann, der scheinbar alles mitbekam. Wie lange er dort schon stand, entzog sich seiner Kenntnis. Seinem breiten Grinsen nach zu urteilen hatte er – wie sollte es anders sein? – Hansons Versuch mitbekommen, sich vor Clarke zu profilieren.

»Ohne Code eingegangen? Ernsthaft? Das ist die Abkürzung für One-Click-Emergency«, tönte Peckerts kräftige Stimme, die sich immer am Rand zur Heiserkeit bewegte. Augenblicklich standen Hanson und Clarke stramm. »Es erlaubt der Notrufzentrale mit einem Klick einen offenen Einsatz in die Pipeline zu stellen, der über die Seriennummer direkt mit dem Anruf verknüpft ist. Daraufhin melden sich dann fleißige Streifenbienchen wie ihr und bestätigen die Anfrage, wie es dort drauf zu lesen ist. So, genug gelernt für heute! Macht euren Job und sagt mir, was wir haben.«

Hanson witterte die Chance, die Peinlichkeit möglichst schnell in den Hintergrund zu schieben.

»Geht klar, Detective. Das Opfer ist Gerald Fenders, weiß, 56 Jahre alt, keine Vorstrafen, arbeitete als Filialleiter des Tools at Tom’s in Downtown. Seine Frau, Julia Fenders, hat ihn vor einer etwa einer Stunde, gegen halb zehn, gefunden und anschließend in der Notrufzentrale angerufen. Wir fanden sie bewusstlos vor und haben entsprechend gehandelt. Zurzeit wird sie draußen von Psychologen betreut.«

»Was wissen wir noch über die Frau?«

»Julia Fenders, weiß, 47 Jahre alt, keine Vorstrafen, keine Kinder, arbeitet als Hotelmanagerin im Guesthouse, oben am Sankt Boniface Friedhof. Sie ist Fenders zweite Frau, seit elf Jahren.«

»Und?«, Peckert senkte den Kopf und sah ihn aus tiefen Augen an.

»Ähm …, Entschuldigung, Detective?«

»Herrje, Hanson, warum war die Frau bewusstlos?«

»Oh, sicher, Detective. Keine Anzeichen oder Aussagen von Gewalteinwirkung. Offenbar ist sie einfach umgekippt.«

»Hmm, na schön. Was wissen wir von den Umständen?«

»Es gibt keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens oder eines Kampfes. Die Verletzungen wurden ihm nicht post mortem zugefügt …«

»Das heißt dann wohl ante mortem, Officer. Wie oft hab ich Ihnen das jetzt schon gesagt?«

»Richtig, Detective, ante mortem. Todesursache ist noch unklar, Pete kümmert sich aber darum.«

»Gut, gut. Wurde irgendetwas angefasst?«

»Nein, Detective, das überlassen wir brav den großen Jungs.«

»Sehr gut, Hanson, aus Ihnen wird vielleicht doch noch was. Wo ist Pete?«

»Hinter Ihnen im Schlafzimmer, bei der Leiche.«

Detective Peckert näherte sich dem Schlafzimmer und sah das Übel bereits vom Ankleidezimmer aus. Links neben dem Bett stand Peter Oaks. Der hagere Mann mit knochigem Gesicht betrachtete in einem Ganzkörper-Overall und mit matt-weißen Latexhandschuhen gekleidet den Tatort. In der linken Hand hielt er eine Fotokamera, mit dem Handrücken der rechten wischte er sich gerade über die Stirn. Peckert konnte die Wärme der Strahler nachfühlen. Oaks blickte ihn über das randlose Glas seiner Brille an.

»Ich hoffe, du hast noch nichts gegessen, Charlie. Das ist kein schöner Anblick hier drin.«

»Ach, Pete, wie lange kennen wir uns jetzt?« Peckert mimte ein Klopfen auf seinem Bauch. »Metallmagen. Aber du hast recht, das hier ist ein besonders großes Pfui!«

»So kann man das natürlich auch nennen.«, erwiderte Oaks und wirkte geschafft.

Peckert trat in den Raum, holte aus seiner linken Innentasche einen kleinen Notizblock hervor und besah sich den Toten.

»Herrje, der Typ hat keine Eier mehr. Kannst du mir schon was sagen?«

»Nicht viel mehr als Officer Hanson. Ein pikantes Detail kann ich vielleicht ergänzen. Sein Glied könnte bis zuletzt erigiert gewesen sein.«

»Er hatte ‘nen Ständer?« Peckert notierte ohne auf den Block zu schauen.

»Der Größe und Lage seines Penis nach zu urteilen, ja.«

»Hatte er Geschlechtsverkehr vor seinem Tod? Denkst du, seine Frau …?«

»Kann ich noch nicht sagen, ich sehe keine Spuren von Gegenwehr, aber ausschließen würde ich es noch nicht.«

»Hast du ‘ne Ahnung, wo seine Juwelen abgeblieben sind?«

»Die hat er gefressen«, sagte Oaks trocken.

Die beiden waren langjährig gute Kollegen und leisteten sich gern einen Scherz, den andere pietätlos einstufen würden.

Peckert fragte mit seinem Blick nach, Oaks reagierte: »Ja, schau mich nicht so an, da sind sie!«

Mit gebührendem Abstand zum Bett beugte sich Peckert nach vorn und vergewisserte sich.

»Grundgütiger, sie wurden ihm buchstäblich zu fressen gegeben. Aber wie soll das gehen, ohne Spuren von Gegenwehr?«

»Soweit bin ich noch nicht, wir müssen die Autopsie abwarten. Ich würde aber wetten, dass irgendein Gift involviert war.«

»Das Naheliegende ist meist das Richtige. Sonst irgendwelche Verletzungen?«

»Bisher nicht.«

»Na schön, ich seh‘ mich mal um. Danke, Pete.«

»Keine Ursache, Charlie.«

Detective Peckert verließ das Schlafzimmer des Hauses. Auf dem Weg zur Haustür lief er zwischen den Officers Hanson und Clarke hindurch, die beide hurtig versuchten den Anschein zu wahren, für etwas gut zu sein. Die hölzerne, mit einem langen Stufenläufer ausgelegte Treppe knarzte leise unter seinen Schritten. Ohne nach links oder rechts zu sehen begab er sich durch die offenstehende Haustür nach draußen und machte auf dem Absatz kehrt. Jetzt begann seine Tatort-Routine. Er versuchte die möglichen Schritte des Täters nachzugehen.

Zunächst untersuchte er die Tür. Der Einsatz der Ramme hatte das Schloss aus dem Holz gerissen. Am Türrahmen und an den heilgebliebenen Strukturen darum herum fand er die Angaben von Officer Hanson bestätigt: Keine offensichtlichen Spuren eines unbefugten Eindringens. Im nächsten Augenblick öffnete ihm Fenders in seiner Vorstellung die Tür und bat ihn hinein. Das Erste, was ihm dabei in die Augen fiel, war der offene Durchgang zu seiner Rechten. Dahinter lag die Küche. Sie passte zum vorherrschenden, stilvoll gewählten Geschmack des Hauses und ließ einen komfortablen Wohlstand erkennen. Keine Überraschung im nördlichen Stadtteil Uptown.

Auf der Arbeitsplatte der Kücheninsel fanden sich geordnet die üblichen Boten des Alltags wieder: Zeitungen, Werbung, ungeöffnete Rechnungen und etwas, das in Peckerts Augen nicht ins Bild passte.

»Officer Hanson!«, rief er, ohne sich die Mühe zu machen, ihm entgegen zu gehen. Kurz darauf vernahm er die eiligen, durch Teppich gedämpften Schritte des dienstsamen, wenn auch gedanklich etwas trägen Mannes. Wenig später erkannte er im Augenwinkel dessen Schatten.

»Niemand hat etwas angefasst, Detective.« Hanson wusste mittlerweile, worauf es ihm ankam. Deswegen wartete er am Treppenabsatz auch gehorsam auf weitere Fragen.

»Danke«, entließ ihn Peckert schließlich.

Seine Pedanterie war nicht nur durch den vorliegenden Fall begründet. Oft genug kam es vor, dass übereifrige Beamte glaubten hervorstechen zu können, indem sie den Tatort einer ersten Untersuchung unterzogen und dabei entscheidende Hinweise zerstörten. Hanson hatte er mittlerweile Zurückhaltung einbläuen können, aber nachfragen musste er in diesem Fall trotzdem. Hinter den sorgfältig abgelegten Zeitungen und Prospekten stand ein Päckchen, das den Anschein machte, eilig geöffnet worden zu sein. Das braune Packpapier hing in Fetzen vom Karton herunter, abgerissene Stücke lagen unweit davon verteilt. Der Adressaufkleber war beim Öffnen ebenfalls zerrissen worden, würde sich aber problemlos wieder zusammensetzen lassen. Fenders Anschrift war darauf zu lesen und einige asiatische Schriftzeichen, mit denen Peckert nichts anzufangen wusste.

Bei genauerer Betrachtung – Peckert wühlte im zerknüllten, beigelegten Zeitungspapier herum – erwies sich das Päckchen als leer. Entweder war etwas darin gewesen, was sich jetzt an einem anderen Ort befand, oder es hatte die Funktion einer Eintrittskarte gehabt und war von vornherein leer gewesen. Egal, was es damit im Detail auf sich hatte, es spielte definitiv eine Rolle in diesem Mordfall. Die einzige Person, die dazu eventuell noch mehr sagen konnte, war tatverdächtig, saß draußen auf der Ladefläche der Ambulanz und versuchte wahrscheinlich mit den Bildern dieser Nacht fertig zu werden.

Beim Weg zurück nach draußen ertappte er den Sicherungsbeamten dabei, wie er gerade den Kopf abwandte. Peckert fühlte sich beobachtet und an die Tage erinnert, in denen er sich der Vormundschaft und dem Urteil anderer unterordnen musste. Dieses langwährende Gerangel über Sinn und Unsinn seiner persönlichen Arbeitsweise war längst Geschichte, hatte aber einige seiner Nerven freigelegt, die jetzt bei der kleinsten Reizung reagierten.

»Gab’s was Interessantes zu sehen?«, fragte er den Beamten von der Seite und erwartete eine standesgemäße Entschuldigung.

Überrascht wandte sich der junge Mann um und sein Gesichtsausdruck hellte sich merklich auf. »Bei Ihnen gibt es doch immer etwas Interessantes zu beobachten, Detective.«

Peckert gefiel seine Art nicht, wie er auftrat, ohne sich vorzustellen und mit der Selbstverständlichkeit eines gleichrangigen Kollegen. Gleichzeitig bemerkte er seinen eigenen Faux-Pas, ihn vorhin beim Betreten des Grundstückes nicht gegrüßt zu haben. Unzufrieden rückte er seinen Hosenbund zurecht und stützte seine Arme in die Hüfte.

»Sie sollen Wache schieben und nicht Horchposten spielen, Officer«, pflaumte er ihn an und ging, ohne auf eine Reaktion zu warten.

Sowie er sich dem Krankenwagen näherte, der wegen der engen Straße schräg auf dem Gehweg stand, kam ihm der Notfallpsychologe entgegen und forderte ihn auf:

»Detective, bitte haben Sie noch etwas Geduld.«

»Ich verstehe Ihre Sorge, Doktor, aber ich habe nur eine harmlose Frage an Misses Fenders, die nichts mit ihrem Mann zu tun hat, versprochen.«

»In Ordnung, die eine Frage.«

»Danke.« Peckert stellte sich neben die Frau. Sie war in eine Decke gehüllt und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Um verständnisvollen Ausdruck bemüht sprach er sie an. »Misses Fenders? Das Päckchen in Ihrer Küche, woher kommt das?«

Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte sie die Frage nicht verstanden, doch dann sagte sie unerwartet laut: »Keine Ahnung, wovon Sie reden.« Sie richtete sich kaum merklich auf, räusperte und fragte mit kontrollierter Stimme: »Welches Päckchen?«

4

Am nächsten Vormittag saß Detective Peckert in seinem Büro des Obergeschosses der Revierzentrale. Sie gehörte zum Distrikt 17, lag nordwestlich vom Stadtzentrum Chicagos auf der North Pulaski Road und keine zehn Kilometer vom Lake Michigan gelegen. Auf Peckerts Schreibtisch lagen sein Notizblock, mehrere Schriftstücke und aufgeschlagene Mappen. Ein unbeteiligter Betrachter hätte ihm womöglich eine chaotische Arbeitsweise attestiert, was ihm eine eiskalte Abfuhr einschließlich des Begleitdienstes aus dem Revier eingebracht hätte. Peckert reagierte auf unqualifizierte Kommentare genauso empfindlich wie auf ungefragte Beobachtung seiner Person, was in ein und derselben Ursache besserwissender Vorgesetzter begründet lag.

Sein Telefon klingelte. Ohne von seiner Lektüre aufzublicken griff er nach dem Hörer, legte ihn sich ans rechte Ohr und drückte ihn mit seiner Schulter dagegen. So hatte er die Hände frei und konnte weiter in Notizen und Berichten blättern.

Peter Oaks meldete sich erstaunt: »Charlie? Ein Wunder, dass ich dich in deinem Büro erwische.«

»Warum ist das ein Wunder?«

»Ich meine ja nur, früher habe ich es immer erst unter deiner Büronummer versucht und du hast so gut wie nie abgehoben. Die letzten Male aber bist du immer sofort rangegangen.«

»Tja, Pete, die Zeiten ändern sich. Der elende Schreibkram nimmt überhand und wenn mir der Captain nicht bald ‘ne Assistenz besorgt, kann ich nur darauf hoffen, dass mir die Verbrechen per Einschreiben geschildert werden. Aber was soll’s?! Gibt’s was Neues?«

»Ja, ich habe die Autopsie durchgeführt. Zum einen hat das Massenspektrometer meine Vermutungen bestätigt, ich habe Strychnin und Sildenafil im Blut nachweisen können. Beides in rauen Mengen. Zum anderen habe ich neben den bekannten Verletzungen noch ein kleines Mal auf der rechten Seite des Halses gefunden. Meiner bescheidenen Meinung nach wird der Täter dort das Gift injiziert haben, aber die endgültige Einschätzung überlasse ich natürlich dir.«

»Sprich weiter, Pete.«

»Naja, das Sildenafil erklärt die Erektion und das Strychnin die fehlenden Anzeichen von Widerstand. Die Werte des Sildenafils zeigen eine Dosis an, die vergleichbar mit einer Handvoll Viagra ist – das dürfte zu einem Priapismus geführt haben. Und das Strychnin liegt in einer Menge vor, die beim Opfer sehr wahrscheinlich zu krampfartigen Zuckungen und sehr sicher zum Tod geführt hat.«

»Okay, ist notiert. Ich danke dir, Pete, wir hören uns.«»Wie immer gern, Charlie.«

Peckert legte auf, kreuzte seine Hände am Hinterkopf und lehnte sich trotz der knarrenden Proteste seines Bürostuhls zurück. Mit dem Blick zur Decke gerichtet ließ er sich die neuen und die bekannten Einzelheiten des Falls durch den Kopf gehen: Der Täter gelangte ohne Gewaltanwendung ins Haus, ein geöffnetes Päckchen mit asiatischen Schriftzeichen stand in der Küche, von dem die Ehefrau vorgab, nichts darüber zu wissen, und die Leiche lag im Schlafzimmer des Obergeschosses.

»Warum sich die Mühe machen?«, fragte sich Peckert. »Warum nicht einfach ein Messer aus dem Messerblock nehmen, zustechen und abhauen?«

In diesen Ablauf setzte er die bislang einzige Verdächtige ein, die Ehefrau des Opfers. Im direkten Vergleich wirkte sie zierlich und leicht angreifbar. Sie hätte ihm das Messer in den Rücken stoßen müssen, vielleicht sogar mehrfach, um sicher zu gehen, nicht überwältigt zu werden. Diesen Kampf hätte sie nicht riskiert. Jetzt zeigte das Strychnin anstandslos mit dem Finger auf sie, was jedoch ein klares Motiv voraussetzte.

Peckert vertraute seinem Gefühl. Julia hatte in seinen Augen keinen offenkundigen Vorteil vom Tod ihres Mannes. Sie war selbstständig und sorgte mit einem eigenen, ausreichenden Einkommen für ihren Lebensstil. Den einzig vorstellbaren Anlass vermutete er im intimen Bereich. Angenommen, sie wollte ihm etwas mit Deutlichkeit heimzahlen, dann wäre sie durch den Einsatz des Giftes einer handgreiflichen Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen und hätte die Voraussetzungen für zusätzliches Leid geschaffen: den Priapismus, eine schmerzhafte Dauererektion, ganz zu schweigen von seiner Kastration.

»Peckert! In fünf Minuten, mein Büro!«

Aus der Welt seiner Überlegungen gerissen fuhr er hoch und bekam gerade noch den schwarzen Absatz des rechten Schuhs von Captain de Sousa zu sehen.

»Ich werde da sein, Captain«, rief er hinterher.

Peckert war kein schreckhafter Mensch. Bei de Sousa fühlte er sich allerdings jedes Mal ertappt, als würde er heimlich an Schuhen kauen. In fünf Minuten stand ihm das übliche Gespräch über die Lage der aktuellen Fälle bevor.

In aller Seelenruhe wartete er die verstrichene Zeit ab, ging dann zur Bürotür des Captains und horchte aufmerksam. Hätte er Stimmen hinter der großen dunkelbraunen Holztür vernommen, wäre er später wiedergekommen. Es war jedoch alles ruhig, er klopfte an. Während er die Aufforderung zum Hineingehen abwartete, las er die Inschrift des glänzenden Messingschildes, wodurch er sich wie gewöhnlich seiner Hochachtung bewusst wurde: Captain‘s Office – Diane de Sousa.

5

Kommen Sie rein, Peckert!«, hörte er ihre gedämpfte Stimme und betrat das Büro. Er blickte direkt auf den Schreibtisch, hinter dem de Sousa saß und gerade etwas unterzeichnete. Geduldig wartete er ab und sah sich in dem Raum um, der in seinen Augen die Bescheidenheit des Captains widerspiegelte. An der Rückwand befand sich eine übergroße Stadtkarte mit kleinen, farbigen Pins daran. Die gesamte linke Wand bestand aus Fensterglas, die Aktenschränke zu seiner Rechten jedoch, und der massive Kirschholzschrank zu seiner Linken, ließen das Büro kleiner und dunkler wirken als es tatsächlich war. Neugierig ging er um den großen, mit Schnitzereien verzierten Schrank herum und wollte einen Blick ins Vorzimmer werfen. Denn dort saß Aaron Schulz, ihr Assistent, den alle beim Vornamen nannten, obwohl man das Gefühl hatte, ihn nie zu Gesicht zu bekommen. Peckert wollte sich in Erinnerung rufen, wie er aussah.

»Schließen Sie die Tür! Setzen Sie sich, bitte«, forderte ihn de Sousa auf.

Peckert überkam erneut das Gefühl, erwischt worden zu sein und folgte anstandslos ihrer Aufforderung. Während er sich auf den linken der beiden Lehnstühle vor ihrem Schreibtisch setzte, richtete er seine Krawatte.

»Hallo, Captain.«

»Wie geht’s Ihnen, Detective?«, fragte sie und lächelte zurückhaltend.

»Danke, soweit ganz gut.«

»Macht Ihnen etwas zu schaffen?«

»Nicht mehr als sonst, Captain.«

»Das freut mich zu hören. Was hat es mit unserem letzten Mordfall auf sich?«

»Gerald Fenders wurde in seinem Haus ermordet und verstümmelt.«

»Stimmt das, dass man ihn bei lebendigem Leib kastriert hat?«

»Ja, Captain, danach sieht es tatsächlich aus. Pete, also, Doktor Oaks …«

»Jetzt mal nicht so förmlich, Detective, ich kenne Pete. Sie dürfen sich entspannen.«

Ist das so?, dachte Peckert und richtete sich unbewusst auf. Er versuchte seit Jahren die Förmlichkeiten unter ihnen aufzuweichen, wusste aber, dass ihm das ohne die Absicht ihrerseits nicht gelingen würde.

»Okay, also, Pete hat hohe Dosen Strychnin und Sildenafil nachweisen können. Ich gehe davon aus, dass Fenders zunächst vergiftet und anschließend verstümmelt worden ist.«

»Sildenafil? Ist das nicht der Hauptwirkstoff von Viagra?«

Peckert nickte. »Wohl eine Art Denkzettel für verpasste sexuelle Pflichten oder dafür, dass er ihnen woanders nachgekommen ist..«

»Sie sind also auf seine Frau Julia aus, richtig?«

»Das ist richtig, Captain.«

»Und wie wird sie das angestellt haben?« Sie verschränkte die Hände auf dem Tisch vor sich.

»Pete hat eine Stelle in Fenders Hand gefunden, die er einem Einstich zuschreibt. Dort wird sie das Strychnin injiziert haben. Wie sie das genau gemacht hat, muss ich noch herausfinden.«

»Gut, ich bin bei Ihnen. Wie geht’s weiter?«, fragte sie und bediente nebenbei ihren Desktopcomputer.

»Naja, nachdem sie das Gift verabreicht und ihn außer Gefecht gesetzt hat, hat sie ihm die Tabletten verabreicht, die Wirkung abgewartet und ihm anschließend die …«

»Die Eier abgeschnitten, klar. Hmm, in der digitalen Akte des Falles haben Sie geschrieben, dass Fenders im Obergeschoss gefunden wurde. Trauen Sie Julia zu, ihren Mann da hoch zu tragen?«

»Offen gesagt, nein. Sie muss Hilfe bekommen haben. Oder er ist von selbst hochgelaufen. Zumindest sah sie aber aus, als hätte sie schwer zu tun gehabt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ihr Kostüm, ihre Haare, sie waren ungeordnet.«

»Stand nicht in irgendeinem Bericht, dass sie ohnmächtig aufgefunden wurde? Ja, klar«, beantwortete sie die Frage selbst, »Hanson hat das doch erwähnt. Das reicht nicht, Peckert, sie war vermutlich aufgelöst und ist in Ohnmacht gefallen, natürlich sieht sie da nicht aus wie auf ‘ner Messe. Haben Sie ein Motiv?«

Peckert zuckte mit den Schultern, für ihn lag die Sache auf der Hand: »Mit einem Jüngeren durchbrennen.«

»Na gut. Also, für mich passt das noch nicht zusammen. Ich glaube auch nicht an das Motiv.« Sie drehte den Monitor zu ihm, dass er ihre Gedanken verfolgen konnte. »Hier steht, elf Jahre verheiratet, keine Kinder, beide haben gute Jobs und leben verhältnismäßig bescheiden. Keine Meldungen von Gewalt in der Ehe oder im erweiterten Umfeld. Affekthandlungen passen hier nicht rein, Peckert. Selbst wenn sie ihn mit einer anderen erwischt hätte, glaube ich, sie hätte ihn mit ihrem Anwalt und nicht mit einem Messer ausgeschlachtet. Dass sie selbst durchbrennen wollte, mag sein, aber auch da stellt sich die Frage, warum sie es nicht einfach getan hat. Julia ist keine 24 mehr. Sie ist, wie alt? 45?«

»47.«

»47 Jahre alt.« De Sousa hatte ihren rechten Ellbogen auf den Tisch abgestützt und rieb gedankenversunken mit dem Daumen an ihrem Zeigefinger, während sie erneut die Akte auf dem Bildschirm überflog. Sie schloss ihre Überlegungen mit einem unschlüssigen Kopfschütteln ab. »Gibt es Informationen zu dem Päckchen, das Sie gefunden haben?«

»Noch nicht, Captain.«

»In Ordnung, warten Sie ab, ob dabei Anzeichen für Ihre Theorie herauskommen und kramen Sie in der Bekanntschaft der Ehefrau. Finden Sie einen Freund, einen Kollegen, wen auch immer, der ihren Verdacht bis zum Ende der Woche erhärtet – das sind noch drei Tage. Andernfalls verabschieden sie sich von Julia als Täterin und prüfen Sie auf Übereinstimmungen mit unserem Lauerjäger. So! Jetzt zu etwas Angenehmeren. Ihre Gebete wurden erhört.« Bei ihrem letzten Satz warf sie sich zurück in den Stuhl und grinste unverhohlen.

»Sie wissen, dass ich nicht religiös bin?!«

»Ja, und das ist mir unbegreiflich. Peckert, kommen Sie schon. Wie lange liegen Sie mir schon in den Ohren, dass Sie eine Verstärkung haben wollen? Ich habe eine gefunden. Eigentlich würde ich sie ja für mich beanspruchen, aber ich habe keine Verwendung für ihn.«

»Für ihn?«

»Ja, für ihn. Die Verstärkung ist männlich, Peckert.

Probleme?«

»Nein, Captain, das geht nur sehr schnell gerade.«

»Ach, Sie sind ja süß.« Da war sie gefallen, die seltene Entscheidung, Formalitäten zeitweise ruhen zu lassen. »Keine Bange, ich sehe erfüllte Jahre auf Sie zukommen. Steven Kramer heißt der Junge.«

»Der Junge?« Peckert konnte seine Überraschung nicht verbergen.

»Wissen Sie, Charles, Sie machen es mir nicht gerade leicht. Er hat vor einem halben Jahr die Ausbildung abgeschlossen und sich im obligatorischen Streifendienst hervorragend und über die Anforderungen hinaus empfohlen. Ein guter Freund aus dem Elften hat mir den Tipp gegeben.«

»Ähm, entschuldigen Sie, dass ich hier einhake. Meine Vorstellungen gingen eher in Richtung Schreibkraft, Captain.«

»Bei aller Wertschätzung Ihrer Arbeit, es gibt keine Stellen bei der Chicago Police, die Schreibkraft heißen. Selbst die, die Sie so gern Aktenheinis nennen, heißen offiziell Verwaltungsbeamte und bearbeiten den Papierkram im Verhältnis von sieben zu eins, Sie verstehen?«

»Ich glaube schon.«

»Also, da Sie allein nicht annähernd so viele Fälle bearbeiten können wie sieben andere Detectives zusammen, bekommen Sie auch keinen eigenen Verwaltungsbeamten, sondern einen vollwertigen Partner. Und bevor Sie mir jetzt in Tränen ausbrechen, sehen Sie es mal so. Er ist jung und hat viel ungeschliffenes Potential. Sie können ihn sich formen, wie Sie sich das vorstellen – nur eine Schreibkraft sollte dabei nicht herauskommen, verstanden?«

»Klar und deutlich, Captain.«

»Sehr schön.« De Sousa ließ ihre Fäuste auf den Tisch fallen und beschloss damit die Abmachung. »Für heute erledigen Sie nur noch Außeneinsätze oder machen Ihren Kram zuhause, klar?«

»Warum …?«

»Weil Ihr Büro nachher für den Rest des Tages umgeräumt wird, schließlich haben Sie ab morgen einen Partner.«

Peckert fühlte sich an einen unbekannten Ort teleportiert und wusste nicht, wo er anfangen sollte.

»Nimmt Sie das wirklich so mit oder führen Sie mir Ihre schauspielerischen Talente vor?«

»Nein, Captain, es ist alles in Ordnung.« Er stand auf. »Ich, ich werde ein paar Sachen holen und mich dann auf den Weg machen, wenn Sie nicht noch …?«, murmelte er und schloss sein Jackett, was er nur selten tat.

»Wegen mir können Sie gehen. Danke, dass Sie da waren.«

»Geht klar, gern geschehen, glaube ich. Eins noch.«»Ja, Detective?«

»Ach, nicht so wichtig. Danke, Captain, für den Jungen, … den Partner, mein‘ ich.«

»Ha! Peckert, Sie bringen mich zum Lachen, das kann ich nicht erlauben, ich bin im Dienst. Verschwinden Sie endlich!«

Detective Peckert zog die Tür am Knauf hinter sich zu. Trotz ihres spürbaren Gewichtes fiel sie erstaunlich leise ins Schloss. In seinem Kopf sprang ein Pingpongball, den er von Spieler zu Gegenspieler schickte: Steven

Kramer, tock, Lauerjäger, tock, Kramer, tock, Lauerjäger, TACK! Er hatte Mühe diese beiden Themen auseinanderzuhalten, bewirkten doch beide denselben Effekt von Unzufriedenheit. Erschwerend kamen Captain de Sousas ablenkende Signale abseits des Spielfeldes hinzu, deren er sich jetzt erst bewusst wurde: Ha, Peckert, Sie bringen mich zum Lachen, Sie sind ja süß. Seine Konzentration sprang buchstäblich im Dreieck.

6

Am nächsten Tag, Peckert war noch nicht am Ende der Treppe ins Obergeschoss angekommen, erkannte er bereits durch das Fenster die ersten Veränderungen in seinem Büro. Er ließ sich aber nicht weiter darauf ein und vermied es, irgendwelche Vermutungen über den Zustand seines Arbeitsplatzes anzustelle, die womöglich noch Gefühle heraufbeschworen. Sein altes Reich war ihm sehr ans Herz gewachsen. Er hatte alles in mühsamer Detailarbeit liebevoll optimiert, bis er ein zweites Zuhause geschaffen hatte. An diesem Tag würde er es betreten und ohne Zweifel nicht wiedererkennen. Gefühle? Keineswegs. Er versuchte den Umstand abzuhaken und der neuen Situation vorurteilsfrei gegenüber zu treten. Wie an einer Schnur gezogen trottete er widerwillig vorwärts. Seine Nacht war alles andere als erholsam gewesen. An der Tür angekommen, legte er die Hand um den Griff, holte Luft, stieß sie geräuschvoll wieder aus und öffnete sie beinahe wie jeden Morgen.

Er hatte gut daran getan, sich keine Bilder auszumalen, denn dieses Elend, was da vor ihm lag, hätte ihn zurück in sein Bett getrieben. Wer weiß, vielleicht hätte er sogar gekündigt. Gestern noch war der Blick auf die aufgehende Sonne und die angestrahlten Kronen der Linden und Buchen der gegenüberliegenden Straßenseite gefallen; vor etwas mehr als 24 Stunden war er noch frei und auf eine Siedlung von Einfamilienhäusern gerichtet, die alles idyllisch wirken ließen und in einen harmonischen Zweiklang mit seinen Büromöbeln einstimmten. Heute dagegen war alles aus den Fugen geraten. Es war im wörtlichen Sinne entrückt.

Kraftlos ließ er seine Hand vom Griff fallen. Sein Schreibtisch war aus der Mitte heraus nach rechts gerückt worden, um links Platz für einen neuen, kleineren zu schaffen. Im Raum standen seine Grünpflanzen – Bogenhanf, eine Yucca-Palme und ein ansehnlicher Ficus – und Büromaterial zusammenhangslos gehortet. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, wieder Ordnung herzustellen. Der Tag hatte noch nicht mal richtig begonnen, da wünschte sich Peckert, er wäre bereits –

»Schluss jetzt!«, riss er sich selbst am Riemen, »Keine Zeit für dieses gefühlsduselige Gewäsch!«

In diesem Moment, am Ende des Ganges, öffnete de Sousa ihre Bürotür und bedeutete Officer Kramer, vorauszugehen.

»Nach Ihnen.«

Er bedankte sich höflich, ging drei Schritte und wartete dann auf sie. Sie blickte den Gang entlang zu Peckerts Büro und konnte Bewegung darin erkennen. Einer Ahnung folgend schlich sie so weit vor, dass sie ihn unentdeckt beim Umräumen beobachten konnte. Dabei drang sein aufgebrachtes Gemurmel an ihr Ohr und sie musste lachen bei dem Gedanken daran, dass er sich gleich über respektlose Zivilisten beschweren würde. An Kramer gewandt sagte sie:

»Wir warten noch einen Augenblick, bis er sich etwas eingerichtet hat, dann gehen wir hinein.«

Er nickte kurz und machte keine Anstalten, seine aufrechte Körperhaltung fahren zu lassen. Dass er die Akademie noch nicht lange hinter sich gelassen hatte, war ihm deutlich anzusehen. De Sousa bildete sich ein, an ihm immer noch den säuerlichen Geruchsmix aus verkochtem Mensaessen und aggressiven Fußbodenreiniger wahrzunehmen. Vielleicht war es auch nur seine Schuhcreme. Das alles würde ihm Peckert schon noch austreiben und in einigen Jahren hatte sie einen weiteren Vorzeigedetective in ihrem Departement.

Officer Kramer war nicht nur ein souveräner, gewissenhafter Sicherungsbeamter mit bemerkenswerter Lernkurve. Den Berichten der am Tatort ermittelnden Detectives nach war ihnen darüber hinaus seine präzise Auffassungsgabe aufgefallen, obwohl er noch keinen Fuß auf einen Tatort gesetzt hatte. Sie sprachen ihm ein hohes Abstraktionsvermögen und eine bemerkenswerte Veranlagung grundlegender Ermittlungsfertigkeiten zu. De Sousa freute sich über den Rohdiamanten, der da vor ihr stand, und musste lächeln.

»Ich bin ehrlich gespannt, Officer. Detective Peckert verfällt anfangs etwas in Alphagehabe, Sie wissen schon, aber ich bin mir sicher, dass sich daraus eine gute Sache entwickeln wird. Nehmen Sie’s am Anfang einfach etwas leichter, was seine Sprüche angeht.«

Sie linste ein weiteres Mal durch das Bürofenster.

»Gut, gehen wir. Bleiben Sie selbstbewusst, Kramer, und zielstrebig.«

Peckert hörte energische Schritte und wusste sofort, zu wem sie gehörten. Und hätte er es nicht besser gewusst, hätte er das dumpfe, fast vorsichtige Tippeln dazwischen einem geschniegelten Arschkriecher zugeschrieben, aber de Sousa umgab sich nicht mit derlei Charakteren. Das war natürlich Kramer, der Junge, der ihr wie ein Grundschüler am Rockzipfel hing.

Dieses Mal hatte Peckert nicht vor, sich verträglich zu zeigen. Er fühlte sich über den Mund gefahren, übergangen und im Recht. Trotzig ließ er einen schweren Stapel Akten auf seinen Tisch fallen. Sollten seine Besucher ruhig wissen, dass er gerade nicht gut zu sprechen war.

In der offenstehenden Tür erschien de Sousa. Kramer wartete hinter ihr mit einem gebührenden Abstand, Peckert konnte dessen linke Körperhälfte durch das Fenster sehen.

»Guten Morgen, Detective«, frohlockte Captain de Sousa.

Peckert störte ihre übertrieben gute Laune und konterte: »Danke für Ihre Mühe, mir einen guten Morgen ermöglichen zu wollen, Captain. Bitte nehmen Sie meine Anmerkung ernst, dass Sie dafür eine Menge investieren müssen.«

Sie zeigte sich wenig beeindruckt. »Peckert, ziehen Sie den Finger! Change it, love it or leave it. Entweder Sie sagen mir klipp und klar, was das Problem ist und wie Sie sich meinen Part bei der Beseitigung vorstellen, oder Sie bewahren Haltung, legen die Akten ohne Theater ab und beteiligen sich an unserem vereinbarten Termin. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

Ernüchtert stellte er fest, übertrieben zu haben. Ihm gelang es einfach nicht, ihr gegenüber den richtigen Ton anzuschlagen.

»Ja, Captain, wie immer, sehr verständlich«, gab er kleinlaut bei. »Mir wäre es recht gewesen, wenn ich bei der Umgestaltung meines Büros involviert gewesen wäre oder wenn die Herren Externe zumindest ein wenig Respekt vor Raum und Eigentum anderer an den Tag gelegt hätten. So muss ich jetzt leider kostbare Dienstzeit opfern, um das gewohnte Raum- und Arbeitsklima wiederherzustellen.«

»Ist recht, Detective, Antrag angekommen.« Sie nickte und machte eine kurze Pause, bevor sie das Thema wechselte und die Sicht auf den Jungen freigab: »Hübsche Ansprache, oder was meinen Sie, Officer Kramer?«

»Hörte sich gut an, Captain«, stimmte er pflichtbewusst zu.

»Sehen Sie, Detective? Da haben sie doch gleich einen Draht gefunden. Detective Charles Peckert, das ist Officer Steven Kramer, Ihr Partner. Brechen Sie ihm bei der Begrüßung bitte nicht die Hand, ich kenne Ihre Angewohnheiten. Kramer ist Ihnen von nun an nicht nur unter-, sondern auch an die Seite gestellt, ich hoffe, Sie verstehen mich. Ich möchte, dass Sie ihn auf seinem Weg zum fähigen Detective begleiten. Sollte er sogar besser werden als Sie selbst, winkt Ihnen nicht nur wieder ein eigenes Büro, sondern auch der Posten des Lieutenants. Oh, habe ich da Ihr Ego gekitzelt? Das freut mich. Ich muss jetzt los, die neuesten Gerüchte dementieren. Wir sehen uns, und lassen Sie’s ruhig angehen!« Mit einem verschmitzten Lächeln auf ihrem Gesicht machte sie sich aus dem Staub.

Detective Peckert kam nicht umhin festzustellen, seine selbstauferlegte Ablehnung an Captain de Sousas Angebot verloren zu haben. Er fragte sich, wie sie das immer schaffte. Im gleichen Moment fiel ihm Officer Kramer ins Auge, dem er bisher keine Beachtung geschenkt hatte, und musterte ihn sogleich. Eine übergroße Spielzeugpuppe, die man gerade aus der Originalverpackung genommen hatte. Rein äußerlich ohne Fehl und Tadel. Steril war das Wort, was ihm dazu einfiel.

Sieh einer an, dachte Peckert als ihm klar wurde, dass er den Sicherungsbeamten vom Fenders-Tatort vor sich stehen hatte. Auf einmal kennst du Umgangsformen.

Mit seiner tief ins Gesicht gezogenen Dienstmütze, den auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhen und einer nie dagewesenen Bügelfalte in der Hose war er vermutlich ein Vertreter der Heimatsoldaten. So nannte Peckert diejenigen, die gern dem Militär angehört hätten, dafür aber zu ängstlich waren und nun den Nervenkitzel bei der Polizei suchten. Ihnen konnte er nichts abgewinnen. Zwar zeigten sie angemessenes Auftreten, doch letztlich war das nur ein stummer Hilferuf. Sie lechzten danach, dass ihnen jemand das Denken abnahm und Befehle erteilte, sie kannten nur Vollgas oder Stillstand. Das waren keine Charaktermerkmale eines Detectives.

Es gab einen einfachen Test, um herauszufinden, ob er recht hatte.

»Rühren!«, sagte er, und tatsächlich, Kramer nahm robotergleich die eingebläute breitbeinige Körperhaltung ein und klemmte sich die Mütze unter den rechten Arm. Peckert lächelte spöttisch.

7

Na schön, Kramer, da drüben steht Ihr Schreibtisch, richten Sie sich ein. Ich brauche hier noch ‘ne Weile.«

»Geht klar, Detective, danke.«

Peckert widmete sich weiter seiner Büroordnung und sah gestapelte Akten durch. Darunter befanden sich auch Fälle, bei denen er um Unterstützung gebeten worden war und die in den letzten Monaten immer mehr seiner Zeit in Anspruch nahmen. Die Bittsteller nannte er mittlerweile nur noch Mickymäuse, da er zu der Einschätzung gelangt war, sie zögen ihre berufliche Motivation aus der Lektüre der gleichnamigen Comichefte und deren Spielzeugbeilagen. Das führte in seinen Augen dazu, dass diese Hobby-Detectives ihre Fälle früher oder später wie die Kinder ihrer Verwandten behandelten und trotz anfänglicher Euphorie froh waren, sie wieder abzugeben. Sie waren der Grund, warum er den Captain um Unterstützung gebeten hatte. Stattdessen brachte dieses Neugeborene, das scheinbar noch nicht mal die Augen geöffnet hatte, nur noch mehr Arbeit mit sich.

Im Augenwinkel verfolgte er Kramers Aktivitäten. Er ordnete die eben übertragenen Arbeitsmittel auf seinem Tisch an, wobei er aussah wie jemand, der sein Gedächtnis verloren und nur ganz entfernt eine leise Ahnung davon hatte, was er da gerade in die Finger nahm. Anschließend stellte er es zehn Zentimeter vom ursprünglichen Platz entfernt wieder ab. Mit dem Bürostuhl verfuhr er nach dem gleichen Muster, zog ihn unter dem Tisch hervor, rückte ihn ein paar Mal hin und her, und schob ihn dorthin, wo er ihn eben hervorgeholt hatte. Anschließend ging er langsam um den Tisch herum und schien zu überlegen, ob er ihn kaufen wollte. Dann blieb er breitbeinig stehen, mit auf den Rücken gelegten Händen, und sah geradewegs in Peckerts Richtung. Er erwartete offenbar Befehle.

Keine Einstellung, mit der Peckert arbeiten konnte, und er fragte unumwunden: »Was ist?«

»Nichts Konkretes, Detective, ich habe nur nicht viel dabei und kann Ihnen gern behilflich sein.«

»Ich wüsste nicht, wobei.«

»Während Sie Ihren Schreibtisch ordnen, könnte ich die Pflanzen umstellen, wenn Sie mir sagen, wohin.«

»Kramer, ich sag Ihnen jetzt mal was. Sie sind wahrscheinlich noch nicht mal ganz darüber hinweg, dass man Ihnen eben den Schnuller für immer weggenommen hat und versuchen das durch die Umsetzung der idealistischen Utopien aus der Akademie zu kompensieren. Die heile Welt einer Polizeifamilie, die Ihnen suggeriert wurde, ist Wunschdenken. Sie werden bald begreifen, warum das so ist. Von mir aus können Sie versuchen, bei anderen unter den Rock zu kriechen, aber nicht bei mir, verstanden?«

»Wüsste nicht, was es da nicht zu verstehen gibt, Detective. Danke für die ehrliche Ansage.«

»Kramer! Ich kenne Sie keine fünf Minuten und bin kurz davor, es dabei zu belassen. Setzen Sie sich an Ihren Schreibtisch und, und … was weiß ich, suchen Sie im Darknet nach Fall Nummer D siebzehn Strich null, sieben, acht!«

»Dazu brauche ich die Verbindungsdaten.«»Das ist alles schon eingerichtet.«

»Okay, ich schau mal, was ich finden kann.«

Peckert hatte ihm das Erstbeste gegeben, was ihm eingefallen war, die Fallnummer von Gerald Fenders. Mit dieser Aufgabe würde der Junge eine Weile beschäftigt sein. Kramer setzte sich brav an seinen Computer und schaltete ihn ein, Peckert konnte sich weiter den wichtigen Dingen widmen. Die Ausrichtung seiner Grünpflanzen erforderte hohe Sorgfalt. Sie mussten gut im Licht stehen und gleichzeitig den besten Anblick für den Betrachter bieten. Einfacher gesagt als getan. Er rückte seinen Ficus ein paar Mal hin und her und schob ihn um wenige Zentimeter versetzt dorthin, wo er ihn eben hergeholt hatte. Es war ein permanentes Vor und Zurück, Laufen und Betrachten, Zustimmen und Ablehnen. Zuletzt stellte er sich in den Raum und befand, würde er diesen Anblick in einem Katalog sehen, dann würde er die Einrichtung sofort kaufen.

»Hmm«, drängte sich ihm Kramers Stimme in den Weg, »ich kann hier nichts von einem P-to-P-Overlay-Netz erkennen.«

»Was zum Geier?! Wissen Sie überhaupt, was das Darknet ist?«

»Ja, ein Peer-to-Peer-Overlay-Netzwerk, bei dem die Teilnehmer …«

»Unfug! Das ist das Digital Analyzation, Registration and Key Data Net, unsere digitale Aktenbearbeitung und Aktenverwaltung.«

»Gut, alles andere hätte mich auch gewundert, ehrlich gesagt.«

»Sie sollen sich über den Fall wundern, Herr Gott noch eins, und über nichts anderes! Und von Ihrem Dark Schweinkram will ich nichts wissen.«

»Das hat nichts mit Schweinkram zu tun, Detective, aber wird erledigt.«

Diese erste Begegnung empfand Peckert als ungewöhnlich. Das rührte daher, dass Kramer zwar merklich kleinlaut geworden war – wie alle anderen niederen Dienstränge auch, nach einem seiner Auftritte – aber in seinen Worten und seiner Körpersprache lag keine Verunsicherung. Wusste Kramer von seiner Taktik? Peckerts Ärger über den bisherigen Tag rückte durch den Eindruck dieser ersten gewechselten Sätze jedenfalls in den Hintergrund. Sie hatten seine getrübte Aussicht auf das Kommende tatsächlich aufklären können. Mit der nächsten Frage wollte er prüfen, wie Kramer tickte.

»Was denken Sie über den Fall?«

»Schwierig. Von dem, was hier steht, kann ich mir kein Bild machen – keine Tatwaffe, kein Motiv für die Ehefrau. Das Einzige, was wohl eindeutig feststeht, ist, dass es hier nicht darum ging, jemandem einfach das Leben zu nehmen. Der Hintergrund der Kastration würde die Sache sicherlich weiter voranbringen.«

Peckert war überrascht, gab sich nach außen aber ungerührt: »Okay, was würden Sie vorschlagen?«

»Tiefer graben.«

»Wo?«

»Im Umfeld unserer einzigen Tatverdächtigen, Julia Fenders.«

Der Captain schien nicht falsch zu liegen mit ihrer

Einschätzung.

»Gut, die Akademie ist noch ziemlich frisch. Wird Zeit, dass wir etwas dagegen unternehmen. Gehen wir.«

8

Zu dieser Uhrzeit war der Verkehr auf der Wilson Avenue kein Hindernis. Innerhalb von fünfundzwanzig Minuten erreichten sie ihr Ziel, das Guesthouse, den Arbeitsplatz von Julia Fenders. Sein Vorgesetzter, Detective Peckert, fuhr auf der gegenüberliegenden Straßenseite rechts ran und schaute sich das Objekt zunächst aus sicherer Entfernung an.

»Da ist es, achtundvierzig zweiundsiebzig, North Clark Street. Stellen Sie mal das Radio aus, Kramer, das Gerede lenkt ab.« Ohne Zögern betätigte Kramer den Aus-Knopf.

»Besser?«

»Viel besser.«

Peckert beobachtete, was sich im Hotel tat und wer ein- und ausging. Kramer dagegen war nach Smalltalk.

»Sieht gar nicht mal schlecht aus, sie haben sogar ein paar imposante Grüngewächse vor den Eingang gestellt. Was ist das? Buchsbaum?«

»Buchsbaum, Kramer, ernsthaft? Das sind Berberitzen, sieht man doch auf zwanzig Meter im Nebel.«

»Wie dem auch sei, die Zimmer sind vermutlich größer als mein Appartement.«

»Erwarten Sie bloß kein Mitleid, wir haben alle mal klein angefangen«, erwiderte Peckert, ohne wirklich am Gespräch teilzunehmen.

»Das haben Sie falsch verstanden, denke ich.«

»So? Hab‘ ich das? Was hätte ich denn verstehen sollen?«

»Dass Julia Fenders hier als Hotelmanagerin sicherlich keinen schlechten Verdienst hat.«

»Das wissen wir bereits und trotzdem haben Sie Ihre Unzufriedenheit über Ihre derzeitige Wohnsituation geäußert.«

»Keine Unzufriedenheit, Detective. Wir haben alle mal klein angefangen.«

»Mhm, Kramer. Los, raus aus dem Wagen, wir fragen uns mal durch.«

Kramer stieg aus dem Sondermodell des Ford Interceptor, das im Vergleich zu seinem alten Streifenwagen deutlich unauffälliger war. Peckert ging zügig voraus und überquerte die schmale zweispurige Straße, ohne auf ihn zu achten – so, wie er es auch am Tatort von Gerald Fenders getan hatte, aber Kramer hatte nicht vor, ihn darauf anzusprechen. Stattdessen beobachtete er Peckert, wie er Kragen und Revers seines Jacketts richtete, dessen Seiten im Gegenwind aufbauschten. Es saß erstaunlich gut und der dunkle nacht-blaue Stoff passte gut zu seinen kurzgeschnittenen, dunkelblonden Haaren. Vermutlich war der ganze Anzug eine Maßanfertigung, das konnte Kramer nicht beurteilen. Er lief ihm hinterher. Kurz bevor er ihn erreichte, beschloss er beim Anblick des sportlich breiten Rückens für die Zukunft, seinen Vorgesetzten lieber nicht bis zum Äußersten zu reizen.

Gemeinsam kamen sie am vierstöckigen, geziegelten Gebäude an. Sie durchquerten einen kleinen Vorbau, dessen Front mit weißen Sandsteintafeln verkleidet und in dessen oberen Schlussstein die Hausnummer 48 72 gemeißelt war. Eine Glastür führte in das Innere. Peckert änderte nichts an seinem Auftritt, ging als erster hinein und ohne Umschweife an die Rezeption. Kramer entschied, es sei das Beste, nicht im Weg zu stehen und seiner Arbeit mit einem gewissen Abstand zu folgen.

Peckert stellte sich und Kramer dem jungen Mann hinter der Theke vor. Ein typischer Rezeptionist, wie man sie in guten Hotels häufig antraf. Man wusste nie, ob er sich über einen lustig machte oder aufrichtig freundlich war. Während Peckert seine Marke zeigte und nach Julia Fenders fragte, ging der Gesichtsausdruck des Mannes von geübter, beinahe glaubhafter Freude in unwissende Skepsis über. Er wisse nichts von ihr, erklärte er wohl eher aus Solidarität denn aufgrund von Tatsachen. Während er weitere Fragen von Detective Peckert beantwortete, sah sich Kramer unaufdringlich um.

Alles, was er entdeckte, bekräftigte seine im Wagen abgegebene Einschätzung eines Etablissements mit hohem Standard. Bereits im Empfangsbereich entstand das Versprechen von Luxus und unbeschwertem Komfort. Ausladende, helle Polstermöbel standen umgeben von dunkleren, eher rustikal anmutenden Sitzgelegenheiten. Bunte, vollgefüllte Kissen lockerten den Eindruck auf. Im Raum nebenan, rechts von der Rezeption, stand nüchtern ein Beistelltisch mit zwei Sesseln vor einem offenen Kamin und deckenhohen Bücherregalen. Diese Einrichtung als komplettes Gegenteil zu seinem eigenen, mehr als bescheidenen ersten Appartement zu bezeichnen, entsprach durchaus der Wahrheit; dass er damit nicht unglücklich war, auch. Kramer verbrachte kaum Zeit zuhause und zur Erholung taugte seine Bleibe allemal.

Gerade wollte er sich zurück zur Rezeption begeben, als ihm ein weiterer junger Mann auffiel. Er stand mit dem Rücken zu Kramer und etwa zwei Meter hinter Peckert, trug ein hängendes, braunes Sakko sowie Jeans und Freizeitschuhe. Sein Kopf war gesenkt, er schien ein Smartphone zu bedienen. Kramer näherte sich ihm langsam und suchte den Blick über dessen Schulter. Als er erkannte, dass er Stichpunkte notierte, entschloss er sich, ihn anzusprechen.

»Guten Tag.«

Der Mann fuhr zusammen und klappte reflexartig einen neongrünen Deckel über das Display.

»Ich bin Officer Steven Kramer. Zeigen Sie mir bitte einen Lichtbildausweis oder legen Sie Ihren rechten Zeigefinger hier auf.« Kramer hielt ihm einen tragbaren Fingerabdruckscanner entgegen.

»Boah, schleichen Sie sich immer so an? Sie haben mich gehörig erschreckt. Ich muss Ihnen meine Papiere nicht zeigen«, weigerte er sich, »und meinen ausgestreckten Finger zeige ich Polizisten schon lange nicht mehr.«

Kramer ignorierte die Andeutung.

»Sie zeigen verdächtiges Verhalten im Rahmen einer laufenden, polizeilichen Ermittlung. Bitte zeigen Sie mir jetzt –«

»Okay, okay, schon gut. Mit meinem Fingerabdruck werden Sie nichts anfangen können, ich bin nicht vorbestraft. Aber ich muss hier irgendwo meinen …« Er tastete aufgeregt sein Sakko, dann seine Hosentaschen und schließlich die Gesäßtaschen ab, bevor er seine Umhängetasche öffnete. Der Reißverschluss gab ein lautes Krrrss von sich.

»Ah, da ist mein Führerschein. Bitte sehr.«

»Vielen Dank, Mister … Garner.« Kramer sprach bewusst eintönig um den Eindruck zu erwecken, dass alles Routine war und rein gar nichts Aufsehenerregendes passierte. Oft wurden Befragte dadurch unvorsichtig. »Was tun Sie hier?«

»Ich schreibe eine Rezension über dieses Hotel und habe mir ein paar Stichpunkte gemacht.«

»Zeigen Sie mir bitte Ihre Aufzeichnungen?«»Nein, tut mir leid, das dürfen Sie nicht.«

»Sie kennen sich gut aus, was Ihre Rechte betrifft, Mister Garner. Sind Sie Journalist?«

»Nein.«

»Sondern?«

Garner zuckte mit den Schultern. Kramer beschlich der Eindruck, er würde diese Geste schon oft gezeigt haben.

»Na gut, Mister. Bitte kommen Sie später wieder, wenn Sie weitere Notizen machen wollen.« Kramer gab ihm seinen Führerschein zurück.

In diesem Moment drehte sich Peckert zu den beiden um.

»Er kann bleiben, Kramer, wir sind hier fertig.«

»Gut, Detective, wenn das so ist. Einen schönen Tag noch, Mister Garner«, verabschiedete sich Kramer mit freundlichen und weiterhin gleichklingenden Worten.

»Ebenso, Officer, vielen Dank.«

Peckert hatte gerade den Motor gestartet und den Rückweg zum Revier eingeschlagen.

»Was wollte dieser Kerl?«