Januargier - Ulrich Behmann - E-Book

Januargier E-Book

Ulrich Behmann

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Doktor Karl Mertens ist kein Rechtsmediziner, der seine Leichen gedanklich mit nach Hause nimmt. In seinen 38 Dienstjahren hat er schon mehrere Tausend Tote untersucht, aufgeschnitten und deren Inneres nach außen gekehrt. Deshalb ist er irritiert, dass ihn Nadja Stern bis in seine Träume verfolgt. Vielleicht liegt es ja daran, dass die Mittdreißigerin aus Hameln eine Kollegin war – bis zu ihrem plötzlichen und rätselhaften Tod hat sie im Krankenhaus „Rechts der Weser“ als Chirurgin gearbeitet. Den Anwalt der Toten wurmt es zwar, dass er die Todesursache nicht finden und damit ein Fremdverschulden nicht sicher ausschließen kann, doch die Kühlfächer in seinem Institut sind voll. In der Nacht nach der Obduktion raubt ihm die Tote den Schlaf. Es scheint so, als wolle sie ihm etwas mitteilen. Tags darauf untersucht der medizinische Forensiker die Frauenleiche ein zweites Mal. Dabei macht er eine grauenvolle Entdeckung, die den Mordermittlern Herma van Dyck und Kurt Brenner viel Arbeit bescheren wird. Treibt im Weserbergland ein skrupelloser Serientäter sein Unwesen? Falls ja, dann hat er womöglich schon viele perfekte Morde begangen.

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Zwischen Realität und Fiktion schaut Ulrich Behmann wieder einmal tief in die Augen und in die Seele eines Serienmörders. Januargier ist ein überaus fesselnder Psychothriller, der eine erschütternde Realität aufdeckt: Serienmörder leben mitten unter uns.Ruxandra Stănescu, Radio România, Deutscher DienstAuthentizität und Akribie mit Tiefgang charakterisieren dieses überraschende dritte Buch des Hamelner Journalisten. In seinem unverwechselbaren Stil schildert er Begebenheiten, beschreibt er, wie immer akribisch recherchiert, anschaulich Menschen und Landschaften und gewährt erneut einen Blick in den Abgrund der menschlichen Seelen, wobei er seine Protagonisten bis zur und manchmal auch über die Schmerzgrenze hinaus gehen lässt. Ehrlich gesagt: Wer am Schluss das Wort ,,ENDE“ lesen muss, würde am liebsten schon das nächste Buch Marke Ulrich Behmann in Händen halten.Beatrice Ungar, ChefredakteurinHermannstädter ZeitungFesselnd, mitreißend - absolut lesenswert und ausgezeichnet recherchiert. Ein echter Pageturner. Wechselnde Protagonisten und Handlungsstränge sorgen in diesem außergewöhnlich guten Gerichtsmediziner-Krimi für knisternde Hochspannung. Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen.Dr. Detlef Günther, Leitender OberarztInstitut für Rechtsmedizin an der Medizinischen Hochschule HannoverFesselnd, atmosphärisch dicht und vielschichtig, vor allem aber mal wieder ein Krimi, der es verdient, gelesen zu werden. Warum? Weil uns Ulrich Behmann mitnimmt in das Reich des Bösen und in die reale Welt derjenigen, die das Böse bekämpfen – und weil er als Kriminalreporter das Hintergrundwissen hat, das vielen Autoren fehlt. Ich konnte Januargier nicht aus der Hand legen. Dieser realitätsnahe Roman ist hoch spannend bis zur letzten Zeile. Ein Must-Read.Roman von Alvensleben, StrafverteidigerPräsident Gewaltfänger e.V., Verein für Friedfertigkeit und Gewaltfreiheit

Inspiriert von wahren Kriminalfällen. Kriminalroman – Realität und Fiktion vermischen sich zu einem ganz neuen Fall.Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8405-4

Ulrich BehmannJanuargier

Mortui vivos docent – die Toten lehren die LebendenLeitspruch der Pathologen und Rechtsmediziner

Vorwort

In diesem spannenden Kriminalroman beschreibe ich eine perfide Tötungsart, die mitunter sogar bei größter Akribie von Rechtsmedizinern übersehen werden kann. Ein solcher Mord (mehr möchte ich an dieser Stelle noch nicht verraten) konnte deshalb erstmals im Jahr 1957 nachgewiesen werden. Sechs Ärzte hatten sich intensiv mit einem mysteriösen Todesfall beschäftigt. 1020 Mäuse, 90 Ratten und 24 Meerschweinchen mussten seinerzeit ihr Leben für die forensische Beweisführung lassen. Die Forscher veröffentlichten ihre Erkenntnisse im berühmten „British Medical Journal“. Der Fall ging in die Kriminalgeschichte ein. Der mutmaßliche Mörder Kenneth Barlow wurde zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Im Jahr 1984 kam er nach 26 Jahren frei – er hat bis zuletzt seine Unschuld beteuert.

Kapitel 1

Er schaute auf die schwefelgelben Gummihandschuhe, in denen seine Hände steckten. Sie waren mit dem Blut der Toten in Kontakt gekommen und sahen nun seltsam marmoriert aus. Das Muster erinnerte ihn an den „Rausch in Rot“, den er sich vor ein paar Monaten für 140 Euro bei Palundu im Internet bestellt hatte. Das Acryl-Gemälde hatte ihm sofort gefallen. Es schmückte jetzt sein Arbeitszimmer. An den Namen des Künstlers konnte er sich nicht erinnern.

Von dem kleinen Finger seiner rechten Hand tropfte Blut auf das kleine Tischchen aus Edelstahl, das im Schein der Neon-Deckenlampen funkelte. Eigentlich war alles wie immer. Er hatte sich gerade die Leber der jungen Frau genauer angeschaut, das Organ vorsichtig abgetastet – und schließlich zum Messer gegriffen, es in daumendicke Scheiben geschnitten, um es mit seinen wachen Augen ausgiebig von innen zu betrachten. Um ihn herum herrschte Stille. Das war eher unüblich für diesen Ort – obwohl dort der Tod allgegenwärtig war. Aber heute war alles anders. Er beobachtete sich selbst, sah von oben auf sich herab, so als stünde er wie ein nektartrunkener Kolibri in der Luft. Das war definitiv nicht normal. Menschen, die klinisch tot waren und in diesen Momenten wohl an der Schwelle vom Diesseits ins Jenseits standen, schilderten nach einer erfolgreichen Reanimation so ihre Nahtoderfahrungen. Lag er im Sterben? Was passierte gerade? Er war irritiert. Seine grünen Augen zuckten wild hin und her, berührten dabei seine geschlossenen Augenlider. Irgendein Geräusch schreckte ihn aus dem Schlaf. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er schweißgebadet daheim in seinem Bett lag und nicht im Sektionssaal stand. Doktor Karl Mertens richtete sich auf, stützte seinen Oberkörper auf seinen Ellenbogen ab und schüttelte sich wie ein nasser Pudel, so als wolle er einen Albtraum fortschleudern. Auf seiner Stirn hatten sich feine Schweißperlen gebildet. Einige vereinten sich jetzt zu einem dicken Tropfen, der in Höhe seiner Stirnfalte auf seinen Nasenrücken lief und von der Spitze seines Riechorgans auf seine Brust tropfte. Durch das Fenster schien der Mond in sein Schlafzimmer. Das fahle Licht des Erdtrabanten ließ auf der weißen Schrankwand gruselige Schatten entstehen. Einer erinnerte ihn an die Abbildung eines fiesen Dämons. Aber das hier war nur das Schattenbild der Krusning-Hängelampe, die seine Frau Barbara im vergangenen Sommer bei Ikea gekauft hatte.

Mertens hatte schlecht geträumt. Von einer Leiche. Das war noch niemals zuvor geschehen. Er hatte in seinem Berufsleben schon mehr als 5000 Tote obduziert, sie mit scharfen Werkzeugen aufgeschnitten und deren Organe untersucht. Er schüttelte sich noch einmal, legte sich dann wieder auf den Rücken und dachte nach. Die Tote, von der er geträumt hatte, lag immer noch in einem Kühlfach des Instituts für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule, deren stellvertretender Leiter er war. Er hatte nicht herausfinden können, woran die junge Frau gestorben war, bei der Obduktion allerdings auch keine Spuren entdeckt, die auf Fremdverschulden hinwiesen. Vorerst gab es keine Anzeichen für Mord, Totschlag oder fahrlässige Tötung. Und dennoch hatte ihn diese Leiche bis in den Schlaf verfolgt. Das war neu für ihn – und wahrlich kein schönes Erlebnis. Jedenfalls beschloss der erfahrene Rechtsmediziner, sich den Leichnam ein zweites Mal anzuschauen. Er hatte in dieser Nacht das Gefühl, dass die Tote aus Kühlfach Nummer sechs ihm etwas sagen wollte. Wirst du jetzt auf deine alten Tage etwas crazy?, fragte er sich. Kurz bevor er wieder einschlief, kam ihm das lateinische Sprichwort „Mortui vivos docent“ in den Sinn. „Die Toten lehren die Lebenden“ – ja, so ist es, dachte er. Es war der Leitsatz aller Pathologen und Gerichtsmediziner.

Das erneute Krächzen des Fasans, das ihn wenige Minuten zuvor aus dem Tiefschlaf gerissen hatte, hörte Doktor Mertens schon nicht mehr.

Kapitel 2

Der Regen, den „Lolita“ mit Windstärke 9 vor sich hertrieb, bildete eine Wand aus feinen grauen Nadelstreifen, die den nahen grasbewachsenen Seedeich unsichtbar werden ließen. Dicke Tropfen schlugen mit großer Wucht gegen die Haustür. Drinnen hörte es sich so an, als würde jemand kleine Steine gegen das Haus werfen. Im Schlot pfiff der erste Wintersturm des neuen Jahres, das gerade einmal 29 Tage alt war, seine schaurigen Lieder. Immer dann, wenn der ohnehin schon kräftige Nordwestwind auffrischte und Schauerböen über das flache Land peitschten, klang es in dem mit roten Ziegelsteinen verklinkerten Haus am Deich so, als rausche draußen ein D-Zug vorbei.

Vor sich auf dem Esstisch zwischen ihren Händen stand eine dampfende Tasse Ostfriesentee. Herma saß in der Küche ihrer gemütlichen Friesenkate in Ostbense und starrte in Gedanken versunken durchs Küchenfenster hinaus in das eintönige Grau, das die Felder und die Wiesen, die Bäume und die Windräder verschluckt hatte. Nicht einmal die im Sekundentakt aufblitzenden Warnlichter, die auf den Maschinenhäusern montiert worden waren, um Piloten von Hubschraubern und Kleinflugzeugen vor einer Kollision zu warnen, waren zu sehen. Mit ihren Augen, die müde und traurig aussahen, fixierte sie geistesabwesend einen Maulwurfshügel, der inmitten einer großen Pfütze stand, die sich über Nacht in ihrem Garten gebildet hatte. Der schwarze Erdhaufen, der aus der überschwemmten Rasenfläche herausragte, sah aus wie eine Vulkaninsel. Das Bild erinnerte Herma an ihre Kindertage. Damals hatte sie keine Folge der Augsburger Puppenkiste verpasst. Wenn „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ über die Mattscheibe flimmerten, hatte sie immer gebannt die Abenteuer der beiden auf der fiktiven Insel Lummerland, die aus zwei Bergen bestand, verfolgt. Noch heute waren ihr der Refrain der Titelmelodie und die Darstellung des Meeres mit flatternder Klarsichtfolie, die von einem blauen Licht angestrahlt wurde, in Erinnerung geblieben. Herma stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ach ja ... Alles Scheiße“, hörte sie sich sagen. Das letzte Wort schoss zischend aus ihrem Mund. Es hörte sich an, als versprühe eine Schlange wütend ihr Gift.

Anfang Dezember war die Mordermittlerin in Hameln von einem Serienmörder attackiert, entführt und sehr schwer am Kopf verletzt worden. Herma hatte schwere Schädel-Hirn-Verletzungen davongetragen – und wie durch ein Wunder überlebt. Sie war dem Tod sehr nahe gewesen, hatte den Neurochirurgen der Medizinischen Hochschule Hannover ihr Leben zu verdanken. Knapp zwei Monate war das jetzt her. Herma van Dyck hatte sich nach ihrem wochenlangen Klinik­aufenthalt mühsam ins Leben zurückgekämpft, allerdings zugleich auch in ein Schneckenhaus zurückgezogen. Sie vermied bewusst den telefonischen Kontakt mit Harm Harmsen, der gerade an einer Polizeimission in Afghanistan teilnahm, und mit ihren Kollegen vom FK 1 in Hameln. Herma hatte keine Lust, mit jemandem zu quatschen; sie war lieber allein. Die Kriminalhauptkommissarin befand sich in einer Art Sinnkrise. Sie fragte sich, ob der Beruf als Mordermittlerin, der vor wenigen Wochen noch für sie Berufung gewesen war, der richtige für sie war. Sie war dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen. Sollte sie das Schicksal erneut herausfordern und weitermachen – so als wäre nichts geschehen?

Herma nahm einen Schluck Tee, stützte ihre Ellenbogen auf der Tischplatte ab und umklammerte die 100 Jahre alte handbemalte Porzellan-Tasse, die einmal ihrer Urgroßmutter gehört hatte, mit beiden Händen. Sie war hin- und hergerissen. Sollte sie ihren Job, den sie so liebte, an den Nagel hängen? Oder sollte sie ihre Ängste verdrängen und sich möglichst schnell wieder in die Arbeit stürzen? Diese Entscheidung konnte ihr keiner abnehmen. Sie musste sie ganz alleine fällen. Herma kam eine alte Reiterweisheit in den Sinn, die ihr Vater häufig zitiert hatte. „Runterfallen. Wieder aufsitzen. Zügel richten. Weiterreiten.“ So hatte sie es bislang auch immer gehalten. Aber die hinterhältige Attacke hatte ihr Leben gänzlich verändert. Sie hatte ihr das Selbstvertrauen geraubt. Tagsüber wurde Herma häufig von Kopfschmerzen geplagt, nachts lag sie oft wach und verfiel in einen Grübel-Modus. Mit der rechten Hand strich Herma unwillkürlich durch ihr dünnes blondes Haar. An ihrem Hinterkopf ertastete sie die 15 Zentimeter lange OP-Narbe. An einigen Stellen war die inzwischen gut verheilte Wunde noch mit Schorf bedeckt. Mit den Fingerspitzen konnte Herma kurze Haarstoppel fühlen, die sich im Wundbereich gebildet hatten. Immerhin wachsen die Haare und ich behalte keine kahle Stelle zurück, dachte sie, presste die Lippen zusammen und quälte sich ein Lächeln heraus. Vorsichtig tastete Herma weiter ihre Kopfhaut ab. Mit ihrem Zeigefinger drückte sie auf das sich bildende Narbengewebe. Sofort schoss ein stechender Schmerz durch ihren Kopf. „Scheiße. Scheiße. Scheiße ...“, rief Herma. Es war ein Schrei der Verzweiflung. Würde sie wieder ganz die Alte werden?

Früher hatte sie Freude bei dem Gedanken empfunden, einen spannenden Fall zu lösen. Bei dem Wetter hätte sie ihren gelben Friesennerz, den sie vor langer Zeit im Emder Käptn’s Shop gekauft hatte und den sie so liebte, übergezogen und sich bei Sturm und Regen auf den Deich gestellt, um die Naturgewalten zu genießen. Heute saß sie in ihrer Küche und wurde von Depressionen gequält. Von Zeit zu Zeit hatte Herma das Gefühl, Wasser im rechten Ohr zu haben. Alle Geräusche und Stimmen, die sie wahrnahm, drangen dann seltsam gedämpft und nur sehr leise bis zu ihrem Innenohr durch. Manchmal brachte sie ein hoher Pfeifton fast um den Verstand. Diese Ohrgeräusche konnten tagelang anhalten. Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt, zu dem sie gegangen war, hatte von Tinnitus gesprochen und einen Hörsturz diagnostiziert. Eine Krankenschwester hatte ihr kurz darauf eine Kanüle in die Armvene geschoben und eine Infusion mit hoch dosiertem Cortison gelegt. Allein der Gedanke daran ließ Herma erschaudern. Kein Zweifel: Der Mordanschlag hatte Spuren hinterlassen – an ihrem Körper und an ihrer Seele. Herma schüttelte ihren Kopf. „Verdammt, der Kerl ist tot. Ich lasse es nicht zu, dass dieses Schwein weiter Macht über mich hat und ich am Ende daran zerbreche“, sagte Herma laut zu sich selbst – so als wolle sie sich Mut machen. Dann wäre es dem Serienmörder Ronny Rosslau nach seinem Selbstmord doch noch gelungen, sie zu zerstören. Ihr Vater hatte recht, als er zu Lebzeiten zu ihr gesagt hatte: „Nach dem Sturz muss man gleich wieder aufs Pferd steigen.“ Wenn ich jetzt aufgebe, ist mein Leben, so wie ich es mag, vorbei, dachte Herma. Das durfte sie nicht zulassen. Die Ostfriesin trank einen Schluck von dem starken Assam-Tee. Sie wirkte jetzt entschlossen, beinahe trotzig.

Es war eine Stunde vor Sonnenuntergang. Der Regen machte eine Pause, die Wolken flitzten wie Getriebene vorbei und ließen keinen Blick auf den Himmel zu. Herma beschloss, sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Sie wollte fühlen, dass sie lebte. Sturmböen trieben Nebelschwaden vor sich her. Die kahlen Äste der Bäume, die von ihrem Paps als Windbreaker rund ums Haus gepflanzt worden waren, schienen nach ihr zu greifen, als Herma van Dyck die Tür hinter sich ins Schloss zog. Der Mordkommissarin machte die unheimliche Stimmung keine Angst. Sie wollte ganz andere Gespenster loswerden. Herma lächelte nur; sie zog ihr iPhone 7 aus der rechten Gesäßtasche und hielt den magischen Moment fest. Dann ging sie schnellen Schrittes über den schmalen, aber asphaltierten Deichverteidigungsweg zum 200 Meter entfernten Seedeich, den sie aufgrund des dichten Nebels und der einbrechenden Dunkelheit nicht sehen konnte. Herma kannte den Weg wie ihre Westentasche. Sie war ihn schon unzählige Male gegangen – bei Wind und Wetter. Ein paar Minuten später hatte die Ostfriesin die Treppenstufen hinauf zur Deichkrone hinter sich gelassen. Sie breitete ihre Arme aus, lehnte sich in den Wind, der ihr das Gefühl gab, sie kurzzeitig halten zu können. Das Meer konnte Herma nicht ausmachen, wohl aber riechen und hören. Die Wellen klatschten gegen den mit schweren Basaltsäulen verkleideten Deichfuß. Herma atmete tief durch, sog die salzige Luft gierig ein wie ein Kettenraucher den Nikotinrauch. Sie würde sich heute Abend ein schönes Glas Rotwein gönnen, früh zu Bett gehen und morgen eine Entscheidung fällen.

Es war stockfinster geworden, als Herma zu ihrem Haus zurückkehrte. Von ihren schulterlangen Haaren tropfte das Wasser. Auf ihrem Gesicht hatte sich eine dünne Salzschicht gebildet. Mit dem Handrücken wischte sich Herma über ihre verklebten Augen. Im Schein einer alten Schiffslampe, die sie bei ihrem Lieblingsantikhändler Heino Onnen in Neugarmssiel gekauft hatte, erspähte die Kommissarin einen zweiten Maulwurfshügel – inmitten der kleinen Seenlandschaft, die sich in ihrem Vorgarten gebildet hatte. Wieder musste sie lächeln, wieder kam ihr Lummerland in den Sinn. Als sie die Tür öffnete und den gelben Kleppermantel abstreifte, war sie gut drauf – das erste Mal, seitdem sie das Krankenhaus verlassen hatte. Erst summte sie nur die Melodie aus Kindertagen, dann fing Herma zu singen an:

„Eine Insel mit zwei Bergen und dem tiefen weiten Meer ...

... mit viel Tunnels und Geleisen und dem Eisenbahnverkehr.

Nun, wie mag die Insel heißen, ringsherum ist schöner Strand ...

Jeder sollte einmal reisen in das schöne Lummerland.“

Kapitel 3

Als er in das schwarze Auge des fauchenden roten Drachens stach, der Frank Holdorfs rechten Oberarm zierte, leistete die Haut des Briefmarkenhändlers keinen nennenswerten Widerstand. Die feine Nadel drang blitzschnell vier Millimeter tief in das Unterhautfettgewebe des 55-Jährigen ein – gerade in dem Moment, als er ein Glas Bier an seine Lippen führen wollte. Es dauerte gerade mal eine Sekunde, da hatte die farblose Flüssigkeit den Spritzenkolben bereits durch eine äußerst spitze silberfarbene Kanüle, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen war, verlassen. Den Stich hatte Holdorf nicht gespürt. Er hatte allerdings die rasche Bewegung, die sein Mörder mit der Hand gemacht hatte, aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen. Der Hamelner wirkte überrascht. Ungläubig sah er den Mann an, den er wenige Stunden zuvor in einer Altstadt-Kneipe kennengelernt hatte. Dann fiel sein Blick auf die Spritze, die der sympathisch wirkende Mittvierziger zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt hatte.

„Ey, du Arsch, was soll der Scheiß?“, stieß Holdorf hervor und rieb sich instinktiv über sein Drachen-Tattoo. „Was bist du denn für ein Perverser?“ Der Täter blieb die Antwort darauf schuldig. Er verzog sein Gesicht zu einer fiesen Fratze und grinste. „Halt’s Maul, Franky. Du hast es gleich hinter dir.“ In aller Ruhe steckte der Spritzenmann einen schwarzen Gummistopfen, den er in seiner linken Hand gehalten hatte, auf die Injektionsnadel und ließ die Spritze danach in die rechte Tasche seines Sweatshirts gleiten. Er würde die Spritze noch öfter benutzen. Dessen war sich der Mörder sicher. Dass es so einfach war, den perfekten Mord zu begehen, faszinierte ihn von Mal zu Mal mehr. Er hatte schon viele Menschen auf diese Weise getötet, aber noch nie hatten die Ärzte, die die Totenscheine ausstellen mussten, oder die Polizisten, die die von ihm verursachten Todesfälle untersuchten, Verdacht geschöpft. Jedenfalls hatte er später nichts in den Zeitungen darüber gelesen.

Die Injektion zeigte rasch Wirkung. Frank Holdorf schwitzte stark. Auf seiner Stirn hatten sich dicke Schweißperlen gebildet. Sie tropften im Sekundentakt auf seine hervorstehenden Wangenknochen und fielen schließlich zu Boden. In seinem Schädel hämmerte ein Kopfschmerz, der rasch an Intensität zunahm und ihn wahnsinnig machte. Holdorf begann heftig zu zittern. Sein Herz raste, seine von der Tränenflüssigkeit brennenden Augen fingen plötzlich nur noch verschwommene Doppelbilder ein. Frank Holdorf saß wie gelähmt auf seinem Sofa. Dieser Typ musste ihm irgendeine Droge, die ihn wehr- und handlungsunfähig machte, injiziert haben. Holdorf erkannte, dass seine Kneipen-Bekanntschaft Schubladen öffnete und durchwühlte. Er konnte nichts dagegen tun, nicht einmal mehr sprechen. Der Schmerz in seinem Kopf wurde unerträglich. Er hatte das Gefühl, sein Schädel würde gleich platzen. Holdorf fing an zu fantasieren, er stellte sich vor, dass in seinem Gehirn ein Hufschmied mit einem schweren Hammer auf einen Amboss schlug – wieder und wieder. Er wollte, dass es aufhört, aber es war nur ein Wunsch, der nicht in Erfüllung ging. Er bekam keine Luft mehr, stöhnte und röchelte. Die kehligen und rasselnden Laute, die seinen Mund verließen, hörten sich an wie ein kaputter Auspuff. 20 Sekunden später wurde das Stöhnen und Gurgeln leiser, trübte Holdorf ein. Kurz darauf verlor er das Bewusstsein. Sein Oberkörper kippte zur Seite wie ein Sack Kartoffeln, dem jemand einen Fußtritt versetzt hatte, seine Augen waren weit aufgerissen und sahen angsterfüllt aus, seine Haut war aschfahl, seine Lippen wirkten blutleer. Das Gehirn hörte auf zu arbeiten. Weil deshalb die Impulse, die die Atmung auslösen, ausblieben, erstickte Frank Holdorf. Aber das bekam er schon nicht mehr mit.

Der Mörder würdigte Holdorf keines Blickes. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, die Wohnung nach Wertgegenständen zu durchsuchen. Dabei achtete der Mörder peinlich genau darauf, dass nichts auf einen Einbruch hindeutete. Was er aus Fächern, Schubladen und Regalen entnahm und nicht gebrauchen konnte, legte er an seinen Platz zurück. Sogar Handtücher, die Holdorf fein säuberlich in seinem Badezimmer aufgestapelt hatte, legte er wieder zusammen, nachdem er sich versichert hatte, dass darin nichts versteckt worden war, und strich sie danach mit seiner rechten Handfläche glatt. Der Briefmarkenhändler hatte oft damit geprahlt, eine größere Anzahl Goldbarren zu besitzen. Er hätte es ihm nicht sagen dürfen. Einmal hatte Holdorf einen 100-Gramm-Barren im „KaLeu“, einer in Hameln bei Jung und Alt beliebten urigen Hafenkneipe an der Kupferschmiedestraße, herumgezeigt und so getan, als wolle er damit seine Zeche bezahlen. Frank Holdorf musste also reich sein. Und er dürfte seinen Schatz keiner Bank anvertraut haben. Wie hätte er sonst einen Barren mit sich rumschleppen können. Er wollte das Gold finden, hoffte, bei der Suche auch auf Geld zu stoßen. Bares erbeutete er besonders gern, denn: Geldscheine konnten ihn nicht verraten. Dass sich jemand die Nummern notiert oder die Banknoten mit unsichtbarer Farbe markiert hatte, kam eher selten vor.

Der Mörder ließ sich Zeit. Er hatte keine Eile. Er nahm größere Bilder von der Wand, schaute sich die Rückseite genauer an. Manchmal fixieren Menschen dort einen Tresorschlüssel oder einen mit Geld gefüllten Briefumschlag. Bei Holdorf wurde er jedoch nicht fündig. Der Spritzenmörder tastete die Unterseiten der Schubladen ab – schon mehrfach hatte er an solchen Stellen gefunden, wonach er suchte. Aber Holdorf hatte auch dort nichts versteckt. Er schaute sich im Wohnzimmer um. Mit Argusaugen nahm er alles ins Visier, was als Versteck taugte. Dabei fiel sein Blick auf den Toten. „Wo hast du dein Geld und Gold versteckt, du Drecksack?“, rief er. Es war eine rhetorische Frage, eine, die er sich selbst stellte. Denn Frank Holdorf – das war ihm klar – würde ihm keine Auskünfte mehr geben können. Eine alte Milchkanne, in der ein roter Schirm und ein Spazierstock steckten, weckte sein Interesse. Die zum Schirmständer umfunktionierte Kanne stand im Flur neben der Garderobe. Das konnte er von der guten Stube aus sehen. Er kniff seine Lippen zusammen, beschloss, auch in der Kanne nachzusehen. Er hatte in den vergangenen Jahren etliche Wohnungen durchsucht und dabei gelernt, dass die einfachsten Verstecke meist die besten waren. Er wusste: Die meisten Frauen versteckten ihren Schmuck im Schlafzimmerschrank – zwischen Bettwäsche, Schals und Tüchern. Oder unter der Matratze. Besonders Gewiefte lagerten Wertgegenstände in der Küche. In gut gefüllten Zucker- oder Mehldosen. Männer deponierten das, was ihnen lieb und teuer war, gern in Hohlräumen im Fußboden, unter Dielenbrettern. Es gab unzählige Möglichkeiten, Dinge zu verstecken – er glaubte, alle zu kennen. Der Mörder betrat den schmalen, mit abgewetzten bunten, grob gewebten Läufern aus den 1970er-Jahren ausgelegten Flur, der von einer Deckenlampe erhellt wurde. Eine Mücke kreiste um den Halogenstrahler, schien aber keinen Gefallen an dem grellen kalten Licht zu haben.

Er horchte auf. War da ein Geräusch gewesen? War Holdorf wider Erwarten nicht tot und wieder zu sich gekommen? Nein, das ist unmöglich, dachte er. Die Dosis, die er ihm verabreicht hatte, war absolut tödlich. Noch niemals zuvor hatte jemand die Injektion überlebt. In der Wohnung war es jetzt mucksmäuschenstill. Nur das leise Summen der Mücke und das monotone Brummen des Kühlschranks, der in der Küche stand, waren zu hören. Er schüttelte seinen Kopf, stieß leise pfeifend Luft aus und griff nach dem Henkel der zum Schirmständer umfunktionierten Kanne. Beim ersten Anheben wusste er, dass er einen Volltreffer gelandet hatte. Die Milchkanne war eindeutig zu schwer. Es musste irgendetwas in ihr stecken. Er zog die Kanne zu sich heran, holte Stock und Schirm heraus und fasste erwartungsvoll hinein. Er hatte gerade damit begonnen, den Boden abzutasten, als er ein Klacken hörte und im selben Moment einen heftigen Schmerz an den Fingern spürte. Reflexhaft zog er seine Hand aus der Tonne, klappte den Metallbügel um, der auf Zeige- und Mittelfinger geschlagen war, und entfernte die Mausefalle. Sein Gesicht sah seltsam verzerrt aus. Der Mörder schüttelte seine Hand – so als wolle er die Schmerzen wegschleudern. „Verdammtes Arschloch“, schrie er lauter, als ihm lieb war. Holdorf hatte seinen Besitz mit einer Schlagfalle gesichert. Er verfluchte den Kerl, der tot auf dem Sofa lag. Wütend packte er die Milchkanne und kippte deren Inhalt auf den Fußboden. Als er die einzeln in transparenten Kunststoff-Blistern verpackten Feingoldbarren sah, erhellte sich sofort seine finstere Miene. Er lachte triumphierend und stieß einen Freudenschrei aus, als er den Schatz in seinen Händen hielt. „Bingo. Hauptgewinn“, sagte er zu sich selbst. Mit heraushängender Zunge zählte er die Barren – es waren zehn. Speichel tropfte aus seinem Mund. Der Anblick von Geld und Gold löste bei ihm jedes Mal einen Pawlow’schen Reflex aus. Der berühmte russische Neurologe und Physiologe Iwan Petrowitsch Pawlow hatte bei seinen Studien über den Speichelreflex beim Hund immer geläutet, wenn seine Laborhunde gefüttert wurden – mit dem Ergebnis, dass die Tiere beim Klang der Glocke auch dann zu sabbern begannen, wenn gar kein Futter in Sicht war. Bei ihm verhielt es sich ähnlich. Nur dass er nicht an Zitronen oder an Nahrungsaufnahme dachte, wenn sein Speichelfluss aktiviert wurde. Geld und Gold lösten bei ihm diesen Reflex aus.

Der Serienmörder fingerte aufgeregt sein Smartphone aus der Gesäßtasche. Seine Hände zitterten. Bei Google gab er die Suchbegriffe „Goldbarren“ und „100 Gramm“ ein. Während die Suchmaschine Ergebnisse ausspuckte, malte er sich aus, was er mit dem Geld machen würde. Ein Luxusurlaub auf den Malediven kam ihm in den Sinn. Wozu sparen? Er war jetzt reich, konnte sich ruhig mal etwas leisten. Mit dem rechten Zeigefinger tippte er die Internetseite von Degussa an. Er lächelte zufrieden, als er die Summe sah. Ein Barren Feingold wurde dort für 4831 Euro angeboten. Nach Adam Riese war Holdorfs Gold also 48310 Euro wert. Wie geil ist das denn? Der Mann, der vor weniger als einer Stunde skrupellos und heimtückisch einen Menschen mit einer Injektion ins Jenseits befördert hatte, grapschte sich das Gold, steckte es hastig in seine Hosen- und Jackentaschen. Als er sich aus der Hocke erhob, stellte er fest, dass seine Hose von den Hüften rutschte. Er musste den Gürtel enger schnallen, ausgerechnet deshalb, weil er so viel Gold bei sich trug. Was für ein irrer Witz ... Der Spritzenmann prustete laut los. Er kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen ... Als er sich wieder beruhigt hatte, ging er zurück ins Wohnzimmer und schaute von oben herab auf sein Opfer – wie ein Habicht auf eine von ihm erlegte Maus. Mitleid hatte er nicht mit dem Mann, den er getötet hatte. „Selbst schuld“, dachte er. „Warum konntest du auch nicht dein Maul halten?“

Der Serientäter zog mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand ein aus roten und weißen Wollfäden zu einem winzigen Zopf geflochtenes Band aus der Brusttasche seines bordeauxroten Oberhemds. Er beugte sich hinab zu Holdorf, legte das Bändchen um das linke Handgelenk der Leiche und knotete es zu. „So, mein Guter. Das ist mein Abschiedsgeschenk für dich“, sagte er. „Vielleicht siehst du ja irgendwo da oben einen Storch. You never know. Gute Reise.“ Was er damit meinte, sagte er nicht. Warum auch? Holdorf konnte ihn nicht mehr hören. Der Mörder lachte nur – er schien amüsiert. Er schaute auf das Band – es war seine geheime Signatur.

Die Ermittler würden sie übersehen. Dessen war er sich sicher. Niemand war ihm bislang auf die Schliche gekommen. „Tja, ich bin halt schlauer, als die Polizei erlaubt“, brabbelte er grinsend vor sich hin. Bevor der Spritzenmann die Wohnung seines Opfers verließ, ging er ins Badezimmer. Er drehte den Wasserhahn auf und wusch seine Hände, die bei der Suche nach dem Gold schmutzig geworden waren. Das heiße Wasser, das von seinen Fingern lief, färbte sich schwarz, tropfte in das weiße Waschbecken und hinterließ dort Schlieren. Der aufsteigende Wasserdampf hatte sich auf dem Spiegel niedergeschlagen. Er konnte sein Gesicht nicht sehen. Ihm kam die Idee, noch ein Zeichen zu hinterlassen. Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand malte er drei Striche auf die beschlagene Spiegeloberfläche. Es waren die Anfangsbuchstaben der Namen seines Idols, dem er seit fünf Jahren nacheiferte. Niemand würde seine Hinterlassenschaft deuten können. Wenn überhaupt, wurden die Initialen erst sichtbar, wenn der Spiegel ein weiteres Mal beschlug. Aber das würde wohl kaum passieren. Und falls doch ... Auch egal. Sichtlich zufrieden, mit einem Kilo Gold in den Taschen, verließ er Holdorfs Wohnung, die in der dritten Etage eines Mehrfamilienhauses an der Domeierstraße lag. Er würde jetzt nach Hause gehen, sich ein kühles Zagorka einschenken und den Tag mit Hits von Emilia ausklingen lassen. So ein Volltreffer kam schließlich nicht allzu oft vor – der Erfolg musste gefeiert werden.

Kapitel 4

Doktor Karl Mertens spürte ein leichtes Unbehagen in der Magengegend. Das hatte aber nichts damit zu tun, dass die 20. Leiche, die er sich heute kurz nach Sonnenaufgang im großen Kühlraum des Krematoriums auf dem Friedhof in Hannover-Lahe genauer anschaute, schon stark verwest war und deshalb einen intensiven süßlichen Geruch im Raum verströmte, den selbst er als unangenehm empfand. Der Rechtsmediziner kannte den Geruch des Todes nur zu gut. In seinen fast 40 Dienstjahren hatte er schon so ziemlich alles gesehen und gerochen, was mit dem Tod zu tun hatte – an ungezählten Leichenfundorten, in den Kühlräumen der Feuerhallen und im Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule, dessen stellvertretender Leiter er war. Mertens war für seine ausgezeichnete Nase bekannt. Er verstand es wie kaum ein anderer, Gerüche – wenn sie für die forensische Begutachtung einer Leiche wichtig waren – zu bewerten und zu identifizieren. Das konnte für die Klärung einer Todesursache von äußerster Wichtigkeit sein. Einmal hatte er einen Giftmord förmlich erschnüffelt. 1992 war das gewesen. Eine betrogene Ehefrau hatte sich seinerzeit ihres Mannes entledigt, indem sie ihm Zyankali in seine Leibspeise gemischt hatte. Weiß Gott, woher sie das Zeug hatte. Doktor Mertens hatte sofort den Bittermandelgeruch bemerkt – im Gegensatz zu manchen Menschen, die aus genetischen Gründen gar nicht dazu in der Lage waren, diesen verräterischen Geruch wahrzunehmen. Die hellroten Totenflecke waren ein weiteres sicheres Zeichen für eine Cyanid-Vergiftung gewesen.

Seit mittlerweile acht Jahren führte der Rechtsmediziner im Krematorium Leichenschauen durch. Er machte das gleich nach dem Frühstück, noch bevor er mit seinem dunkelblauen Audi A6 das Institut für Rechtsmedizin ansteuerte, in dem die Leichen von Ermordeten, tödlich Verunglückten und Selbstmördern in Kühlfächern lagerten. Diese Toten wurden nicht wie die im Krematorium nur äußerlich genau unter die Lupe genommen, sondern auch aufgeschnitten und deren Organe und Körperflüssigkeiten untersucht. Vor der Einäscherung eines Verstorbenen musste immer dann eine zweite Leichenschau durchgeführt werden, wenn ein Arzt einen natürlichen Tod bescheinigt und die Polizei deshalb keine Kenntnis von dem Sterbefall hatte. Ein Totenschein genügte in diesen Fällen nicht. Bis zur Freigabe durch einen Rechtsmediziner oder Amtsarzt verblieben diese Verstorbenen in den Kühlanlagen des Krematoriums. Erst wenn ein Leichenbeschauer seine Zustimmung zur Einäscherung gegeben hatte, durfte ein Toter mitsamt dem Sarg in den Ofen geschoben und bei Temperaturen um 1000 Grad Celsius verbrannt werden. In der Regel dauerte dieser Vorgang 75 Minuten. Von einer Leiche blieben nur zwei bis drei Kilo Asche übrig. Anschließend wurden die sterblichen Überreste noch mineralisiert, um ihnen Schwermetalle und andere Schadstoffe zu entziehen, was sich für gewöhnlich ebenfalls über mehr als eine Stunde hinzog. War eine Leiche erst einmal kremiert und die fein zermahlene Totenasche in eine spezielle Kapsel gefüllt worden, ließ sich ein Fremdverschulden definitiv nicht mehr nachweisen. Deshalb legte der Gesetzgeber so viel Wert auf eine abschließende Zweitmeinung.

Doktor Mertens war ein gewissenhafter Mann. Er verstand sich als Anwalt der Toten und hatte schon das eine oder andere Mal eine Leiche „angehalten“, wie es im Fachjargon hieß, weil er Hinweise auf einen Unfalltod oder auf ein Verbrechen gefunden hatte. Er nannte das scherzhaft Boxenstopp. An diesem Morgen war Mertens froh, dass er im eisigen Vorraum der Feuerhalle nicht mehr als die üblichen 20 Leichenschauen durchführen musste. Er wollte, so schnell es ging, ins Institut für Rechtsmedizin. Ihm ging die Tote aus Kühlfach Nummer sechs nicht aus dem Kopf. In der vergangenen Nacht hatte er von dieser Frauenleiche geträumt. Das war ihm noch niemals zuvor passiert. Mertens deutete das als Zeichen – er wollte die Tote ein zweites Mal untersuchen. Der Leitende Oberarzt hatte bereits während der kurzen Fahrt von seinem Haus in Hannover-Bothfeld zum Krematorium in Lahe seinen jungen Kollegen Doktor Klaus Martin telefonisch darüber informiert und ihn gebeten, alles für eine zweite Sektion vorzubereiten.

Doktor Mertens wischte die Gedanken an die bevorstehende Nachuntersuchung beiseite, zwang sich, konzentriert zu arbeiten. Jetzt war erst einmal diese Tote an der Reihe. Leichnam Nummer zwanzig. Er lag nackt in einem geöffneten Sarg – wie die anderen 19, die er bereits zuvor akribisch in Augenschein genommen hatte. Bernie Krause, ein Mitarbeiter des Krematoriums, ging ihm heute zur Hand. Der Mann mit der roten Knollennase und den kräftigen Bauarbeiter-Händen drehte die Toten auf die Seite und auf den Bauch, wenn der Gerichtsmediziner ihn darum bat. Krause war Ende vierzig, von kräftiger Statur – und kein Freund von Nebensätzen. Er hatte sich im Laufe der Zeit an den Anblick von toten Menschen, an die seltsamen Schmatz- und Zischlaute der sogenannten Fäulnisleichen und an den üblen Geruch, den sie verbreiteten, gewöhnt.

Der Rechtsmediziner warf einen kurzen Blick auf den Totenschein. Seine wachen Augen erfassten innerhalb weniger Sekunden die für ihn wichtigen Daten: „Name: Heide-Marie Roth, Alter: 69, Todesursache: Verdacht auf Herzinfarkt. Am 27. Januar 2020 um 21.35 Uhr leblos zu Hause aufgefunden.“ Viel mehr wusste Doktor Mertens nicht über die Verstorbene, die von ihm für die Feuerbestattung freigegeben werden sollte. Viel mehr musste er auch nicht wissen. Das, was ihn interessierte, musste er selbst bei der Leichenschau herausfinden. Die Seniorin dürfte schon vor mehr als zwei Wochen gestorben sein. Darauf deutete der fortgeschrittene Verwesungszustand hin. Die Bauchdecke war gebläht und hatte sich grün verfärbt. Die nässende Haut sah marmoriert aus und war mit Bläschen übersät. Typische Anzeichen für eine Fäulnisleiche. Bernie Krause verzog sein Gesicht. „Alter Schwede ... Gut, dass nicht alle Leichen so heftig riechen ...“, sagte der Helfer. Doktor Mertens nickte. „Ja, Herr Krause. Das stimmt wohl. Aber auch diese Tote verdient es, dass wir ganz genau hinschauen und den toten Körper respektvoll behandeln.“ Bernie Krause nickte. Er beeilte sich, Zustimmung zu signalisieren. „Logisch, Herr Doktor. Ich meinte ja auch nur ... Sorry, das sollte nicht ... das war nicht despektierlich gemeint. Nicht, dass Sie das in den falschen Hals kriegen ...“ Der Rechtsmediziner schaute Krause in die Augen. Dabei lächelte er. „Keine Sorge, Herr Krause. Das habe ich schon richtig verstanden. Ich empfinde diesen stechenden und zugleich süßlichen Ammoniak-Geruch ja auch als unschön.“ Mertens, der wie im Sektionssaal der Rechtsmedizin Mundschutz, Kittel und Gummihandschuhe trug, drückte mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand auf den seltsam verfärbten Bauch der Toten. Bernie Krause räusperte sich: „Darf ich Ihnen mal eine Frage stellen, Herr Doktor?“ Mertens, der sich über den Holzsarg gebeugt hatte, richtete sich auf und unterbrach die Inaugenscheinnahme der Toten. „Na klar. Die erste Frage haben Sie ja schon gestellt. Wie lautet die zweite?“ Krause war irritiert. „Äh, die zweite Frage ...?“

„Ja, was wollen Sie wissen? Tun Sie sich keinen Zwang an. Raus damit ...“

Krause druckste herum. „Tja, also ... Ich frage mich, weshalb sich manche Leichen grün verfärben und so bizarre Muster auf der Haut haben.“ Der Leitende Oberarzt der Medizinischen Hochschule freute sich über Krauses Ahnungslosigkeit. Er stand gern im Hörsaal der Medizinischen Fakultät und bildete mit großer Freude angehende Mediziner aus. Jetzt war er in seinem Element. Mertens räusperte sich. Dann hob er zu einem Kurzvortrag an. „Fangen wir mit der Verfärbung an“, sagte Mertens, der das Dozieren liebte. Der Rechtsmediziner zeigte auf den Bauch der Toten. „Im Magen-Darm-Trakt befinden sich bekanntlich unzählige Bakterien. Diese Winzlinge sterben nicht, wenn ein Mensch stirbt. Sie vermehren sich unaufhörlich, produzieren jede Menge Fäulnisgase. Diese Gase enthalten unter anderem Schwefel. Wissenschaftler sprechen von Sulfhämoglobin. Das ist ein grünliches Hämoglobin-Derivat, das keinen Sauerstoff transportieren kann. Es entsteht durch Kontakt von Hämoglobin mit Schwefelverbindungen. Irgendwann durchdringen die Fäulnisgase das Unterhautfettgewebe und die Haut des Toten. Dadurch kommt es zu einer Grünfärbung der Bauchdecke und zu einem ausgeprägten Blähbauch.“ Mertens schaute Krause fragend an. „Na, alle Unklarheiten beseitigt?“

Der Helfer signalisierte durch heftiges Kopfnicken, dass er verstanden hatte. Dennoch wurde der Gerichtsmediziner das Gefühl nicht los, dass Krause noch etwas auf dem Herzen hatte. „Und? Noch eine Frage?“

Bernie Krause antwortete nicht sofort. Er zeigte stumm auf ein Geflecht aus roten Linien, die aussahen, als habe sich ein Maler in abstrakter Kunst versucht. „Und was ist das da?“, fragte er.

„Die Marmorierung, meinen Sie?“

Krause atmete hörbar ein. Das nasale Schnaufen, das dabei entstand, klang gar nicht gut – es verriet dem Rechtsmediziner, dass sein Gehilfe kurzatmig war. Vielleicht war der Mann erkältet, womöglich rauchte er Kette. Mertens dachte nicht länger darüber nach. Stattdessen beantwortete er die Frage. Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Ganz einfach. Dort, wo diese roten Linien zu sehen sind, schlägt das Venennetz durch“, erklärte Doktor Mertens. „Das ist bereits alles. Aber ich gebe zu: Das sieht schon ein wenig skurril aus.“ Mertens klatschte laut in die Hände, um die Konversation zu unterbrechen. Die Leichenschau musste weitergehen. „So, Herr Krause, dann drehen Sie doch bitte die Tote auf die linke Seite.“ „Jawoll“, quittierte der Leichenschau-Helfer und ging zur Sache. Während er die verweste Frauenleiche bewegte, lief eine rot-violette Flüssigkeit aus Mund und Nase der toten Frau. Ungefragt erklärte Mertens, was da gerade vor sich ging. „Diese schaumig-wässrige Substanz kommt aus der Lunge – das Organ ist verfault, deshalb hat sich darin Fäulniswasser gebildet.“

Über ihnen erhellten 40 Neonröhren den wohl 100 Quadratmeter großen Saal, der Eiseskälte ausstrahlte, was wohl dem kalten Licht und der Temperatur geschuldet war, die von den Kühlaggregaten auf konstante fünf Grad Celsius gehalten wurde. Doktor Mertens schätzte diese Kühle besonders im Hochsommer. Der Raum war, wenn er von Bernie Krause für die wöchentliche Leichenschau vorbereitet worden war, nichts für zarte Gemüter. Hinter einer großen Schiebetür aus Stahl, die beige lackiert war, standen rechts und links je zehn geöffnete Särge, die auf Rollwagen standen. Es war eine Leichenhalle, wie man sie aus Kinofilmen kannte.

Helfer Bernie hatte die Toten, die in den vergangenen 48 Stunden von Bestattern aus dem Umland angeliefert worden waren, schon am frühen Morgen aus kleineren Kühlräumen geholt, sie entkleidet und den ganzen Papierkram für die bevorstehende Leichenschau vorbereitet.

Heide-Marie Roth – oder besser: was von ihr übrig war – wirkte aufgedunsen. Ihre Lippen waren extrem stark aufgequollen. Sie sahen aus, als würden sie jeden Moment bersten. Die Haut war mit zahlreichen Bläschen, die mit Flüssigkeit gefüllt waren, übersät. Im Sarg stand das Fäulniswasser mehrere Millimeter hoch. Am linken Armgelenk entdeckte der Leichenbeschauer eine schmale kreisrunde Vertiefung. Die Schnürfurche weckte das Interesse des Gerichtsmediziners. Mertens schaute genauer hin, tastete die feine Rille mit dem Zeigefinger, der wie der Rest seiner Hand in einem blauen Einmalhandschuh steckte, ab. Dass die Haut dabei knisterte, erstaunte den erfahrenen Gerichtsmediziner freilich nicht. Er wusste: Das Weichgewebe war mit Fäulnisgasen durchsetzt. Bei Druck löste das ein Knistern aus.

Der routinierte medizinische Forensiker fand die Ursache für die Einschnürung, die ihn an eine Drosselmarke, wie man sie zuweilen an Hälsen von Mordopfern fand, erinnerte. Diese Druckmarke war jedoch unverdächtig. Die Frau hatte zu Lebzeiten ein Freundschaftsbändchen getragen. Die geflochtenen Fäden sahen aus, als seien sie im Laufe der Zeit ins Gewebe eingewachsen. Das war aber der post mortem aufgequollenen Haut und den mit Fäulniswasser gefüllten Bläschen geschuldet, die an einigen Stellen aufgeplatzt waren. Den stellvertretenden Institutsleiter erinnerte das Bändchen, dessen Farben er wegen der bereits austretenden Leichenflüssigkeit nicht mehr erkennen konnte, an den Schlagersänger Wolfgang Petry, der sich diese bunten Armbänder zu seiner besten Zeit inflationär, ja kiloweise, um seinen linken Arm gebunden hatte. Das Bild hatte sich tief in das Gedächtnis des Arztes eingebrannt.

Etwas bereitete dem gewieften medizinischen Detektiv ein leichtes Unbehagen – vor seinem geistigen Auge sah er plötzlich die Leiche der Frau aus Hameln, die ihm im Traum erschienen war. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte auch sie ein dünnes Stoffbändchen am Handgelenk getragen. Vielleicht ist das gerade wieder in Mode gekommen oder nur ein Zufall, wischte Mertens die Gedanken beiseite. Sorgfältig setzte Mertens die Untersuchung der Toten fort. Doch die Stimme von Wolfgang Petry konnte er nicht so einfach verscheuchen. Obwohl der leitende Rechtsmediziner kein großer Schlagerfan war, kam ihm der Anfang einer Strophe aus einem Hit des Sängers in den Sinn, der sich wie ein Ohrwurm in seinem Kopf festzusetzen drohte. „Verlieben, verloren, vergessen, verzeih’n ...Verdammt, war ich glücklich, verdammt, bin ich frei ...“

Doktor Mertens atmete tief durch und wieder aus. Er wunderte sich über sich selbst, dass er jetzt den Drang verspürte, das Lied zu singen – ausgerechnet während einer Leichenschau. Der Rechtsmediziner schüttelte den Gedanken daran ab, er konzentrierte sich auf seine Arbeit, strich Hautfalten glatt, leuchtete mit einer kleinen, aber starken Halogentaschenlampe in die Körperöffnungen der Leiche. Mertens konnte keine Hinweise auf Fremdverschulden entdecken. Allerdings gestaltete sich das auch schwierig, denn: Milliarden von Fäulnisbakterien waren dabei, den Körper zu zersetzen. Mertens schaute noch einmal auf den von einem Allgemeinmediziner unterzeichneten Totenschein. „Verdacht auf Herzinfarkt.“ Der Rechtsmediziner dachte einen Moment lang nach, zog die Augenbrauen hoch. „Na ja, der Hausarzt muss es ja wissen“, sagte er leise zu sich selbst und rümpfte die Nase. Dabei entstanden Sorgenfalten auf seiner Stirn. Nicht einmal er hätte bei dem Zustand der Leiche ohne Autopsie eine Todesursache benennen können. Das stand fest. Aber vielleicht hatte der Hausarzt ja ein wenig orakelt, weil er die Vorerkrankungen der Frau kannte. Ein Beweis war das natürlich nicht. Auch Todgeweihte konnten schließlich Opfer eines Mörders werden. „Hat es alles schon gegeben“, dachte Mertens, als er seinen Helfer anwies, die Tote auf den Bauch zu legen, um deren Rücken inspizieren zu können. Zum Glück war es nicht seine Aufgabe, die Todesursachen seiner „Patienten“ herauszufinden. Das geschah eher nebenbei. Seine vorrangige Aufgabe war es, nach Hinweisen auf ein mögliches Fremdverschulden zu suchen – sowohl bei der äußeren als auch bei der inneren Leichenschau. Gab es keine Anzeichen dafür, war der Fall für ihn erledigt. Das unterschied die Gerichtsmediziner von den Pathologen, deren Autopsie-Saal sich gleich neben dem der Rechtsmediziner befand. Die einen suchten im Auftrag der Polizei, der Staatsanwaltschaft und – manchmal auch – von Angehörigen nach einer Antwort auf die Frage, ob bei einem suspekten Todesfall ein Mörder seine Finger im Spiel hatte, die anderen fahndeten im Dienste der Wissenschaft – oft mithilfe eines Mikroskops – nach Anzeichen für Erkrankungen, die zum Tod eines Klinik-Patienten geführt hatten.

Der Leitende Oberarzt setzte seine akribische Untersuchung fort; er betrachtete jeden Quadratzentimeter Haut der Toten – zumindest das, was die Fäulnisbakterien davon übrig gelassen hatten. Was hatten Hausärzte bei der ersten Leichenschau nicht schon alles übersehen – sogar Stich- und Schusswunden. Die Literatur war voll davon. An den sterblichen Überresten von Heide-Marie Roth konnte der Gerichtsmediziner keine Auffälligkeiten entdecken. Der Leichenbeschauer gab schließlich sein Okay für die Einäscherung.

Nachdem Doktor Karl Mertens seine blauen Gummihandschuhe abgestreift, den hellgrünen Kittel ausgezogen und sich von Bernie Krause verabschiedet hatte, setzte er sich in seinen A6, stecke den Schlüssel ins Zündschloss und startete den 272 PS starken Motor. Nur 15 Minuten später stellte Mertens seinen Wagen vor dem Institut für Rechtsmedizin an der Carl-Neuberg-Straße Nummer 1 ab. Sein Mantel wehte im Wind, als er die rote Institutstür am Eingang Nord aufschloss. Er hatte ein Rendezvous mit einer Leiche. Dass er in Lahe ein Tötungsdelikt übersehen hatte, ahnte Doktor Mertens zu diesem Zeitpunkt nicht.

Kapitel 5

Herma knöpfte ihre weiße Bluse auf, legte ihren BH ab und betrachtete sich dabei im Spiegel. Mit den Fingern ihrer rechten Hand strich sie sich durch ihre dünnen blonden Haare, die noch vom starken Nordwestwind zerzaust und von dem feinen Nieselregen, der seit Tagen auf Ostfriesland niederging, feucht waren. Für mein Alter sehe ich noch ganz passabel aus, dachte sie. Manch junge Deern beneidete sie um ihre schlanke sportliche Figur und um ihre üppige Oberweite. Die Mordermittlerin hatte in den vergangenen zwei Monaten, die sie im Krankenhaus und daheim zugebracht hatte, etwas an Gewicht zugenommen – das zeigte nicht nur die Waage, davon zeugte auch die kleine Bauchspeck-Rolle, die jetzt über ihre Gürtelschnalle quoll. Die Ostfriesin beschloss, wieder mehr joggen zu gehen. Auf den Deichen zwischen der Nordsee, den zahlreichen Binnenseen und den Fehnkanälen, den unzähligen Schafen und Möwen fühlte sie sich besonders wohl. Dort lagen die von ihr bevorzugten Laufstrecken. Vielleicht sollte ich mich lieber in einem Fitnessstudio anmelden, dachte sie, als sie sich bäuchlings auf die Liege legte und auf Georg wartete. Sie mochte es, wenn er sie nicht mit Samthandschuhen anfasste und hart zur Sache ging. Sie wollte seine kräftigen Finger auf ihrer nackten Haut spüren – danach sehnte sie sich schon seit Tagen. Georg Schultz war Physiotherapeut und seit Neuestem auch Chef des Watt-und-Meer-Zentrums in Bensersiel – er besaß heilende Hände und hatte Herma vor ihrem Umzug nach Hameln oft geholfen, wenn ihr Rücken mal wieder vom langen Sitzen vor dem Dienstcomputer verspannt war. Einmal hatte sie sich bei einer Verfolgungsjagd in Aurich einen Nackenwirbel verdreht. Georg war auch nach Feierabend sofort zur Stelle gewesen; er hatte ihre Knochen wieder eingerenkt. An das fiese Knacken konnte sie sich noch gut erinnern.

Herma van Dyck versuchte zu dösen, aber es gelang ihr nicht, sich zu entspannen. Die Narben auf ihrer Kopfhaut schmerzten heute wieder einmal besonders heftig. Sie hatte Angst, gleich einen Migräneanfall zu bekommen. Seit dem Mordanschlag auf sie, der sie beinahe das Leben gekostet hatte, machte ihr jeder noch so kleine Wetterumschwung zu schaffen. Herma hörte die Schreie der Lachmöwen, die im Schwarm vom Meer landeinwärts flogen, vermutlich, um sich auf irgendeinem matschigen Acker niederzulassen und dort die Würmer, die sich an die Erdoberfläche gerettet hatten, zu fressen. Die scharfen durchdringenden Rufe der Vögel hörten sich wie „Kriiiärr“ und „Kik“ an. Diese Laute erinnerten Herma an ein spöttisches Lachen – es passte gut zu einem Shanty, der gerade leise aus einem Lautsprecher, der in die Decke des weiß gestrichenen Therapieraums eingelassen worden war, erklang. Radio Ostfriesland spielte „Nimm uns mit, Kapitän, auf die Reise ...“ Hermas Blick fiel auf ein großformatiges Bild der Auricher Malerin Katja Freimuth. Die farbenfrohen, kraftvollen, expressionistischen Werke der Künstlerin waren für Herma das i-Tüpfelchen in Watt und Meer – sie schienen inspiriert worden zu sein von der positiven Strahlkraft und Vielfalt der Natur und weckten in ihr positive Gefühle. Das Gemälde sollte wohl eine Blumenwiese zeigen.

Die Tür ging auf. Georg trat ein – seine blauen Augen strahlten, als er seine alte Freundin begrüßte. „Moin, Herma. Kannst es wohl kaum abwarten, dass ich dich durchknete“, sagte er vergnügt. Die völlig verspannte Mordermittlerin drehte ihren Kopf zur Seite. „Autsch! Verflucht“, schrie sie. „Gut, dass du da bist, Georg. Du musst mich von den Schmerzen im Nacken und im Kopf befreien. Alles tut höllisch weh. Das ganze Ibuprofen und Novalgin, das ich seit Wochen schlucke, hilft nicht.“ Georg schwieg, er begann stattdessen mit seiner Arbeit. Herma fühlte seine warmen Hände auf ihrer Haut, spürte, dass er mit seinen Fingerspitzen ihre Triggerpunkte ertastete.

„Mannomann ... Warum bist du nicht früher zu mir gekommen?“, fragte Schultz seine Patientin. In seiner Stimme schwang etwas Vorwurfsvolles mit. „Deine Muskeln sind ja total verhärtet. Überall fühle ich Knoten unter deiner Haut. Das sind alles heftige Muskelverhärtungen. Kein Wunder, dass du Schmerzen hast, die bis in den Kopf ausstrahlen.“

Herma stöhnte leise auf, als Georg mit seiner Triggerpunkt-Therapie anfing. Mit seinem rechten Ellenbogen drückte er das Blut aus den punktuellen Verhärtungen in ihrer Skelettmuskulatur. „Du musst jetzt ganz tapfer sein. Das wird wehtun“, kündigte Georg an. „Das tut es jetzt schon“, sagte Herma. „Was hast du vor?“, wollte sie wissen. „Wenn du es genau wissen willst. Ich werde mir zunächst die myofaszialen Triggerpunkte in deinem Schulterheber-Muskel und dann die in deinem Trapezmuskel vornehmen. Das sind exakt die Stellen, die bei dir Schmerzen im Nacken, im Hinterkopf und im Schläfenbereich auslösen, also triggern. Das ist auch schon alles. Ist keine Hexerei, nur: gewusst wie.“ Herma van Dyck stöhnte nur. Sprechen konnte sie nicht. Der Druck, den Georg auf ihren Rücken ausübte, ließ ihrer Lunge im Moment kaum Raum zum Atmen.

Herma und Georg kannten sich schon seit ihrer Jugend. Sie teilten eine Leidenschaft: das Segeln. Früher hatte Herma ihrem Jugendfreund oft beim Surfen zugeschaut. Im Gegensatz zu ihr war Georg, obwohl er im Ruhrpott das Licht der Welt erblickt hatte, ein Meister auf dem Brett. Der Wahl-Ostfriese liebte wie sie hohe Wellen und eine steife Brise. Immer wenn es ordentlich stürmte und die meisten Menschen lieber am warmen Ofen saßen, standen Georg und seine Freunde auf ihren Surfbrettern. Damals hatte er noch lange blonde Haare gehabt. Herma war oft zum Seedeich in Ostbense gegangen, um den muskulösen Beachboys zuzusehen. Die durch die Gischt der aufgewühlten Nordsee schießenden Surfsegel hatten farbenfrohe Akzente im braunen Wasser des Wattenmeeres gesetzt.

Herma und Georg waren beide im verschlafenen kleinen Ostbense, das zu Neuharlingersiel gehörte, aufgewachsen. Vor zwei Jahren hatte der Physiotherapeut der Siedlung den Rücken gekehrt, um im nahen Ben­sersiel die Geschäftsführung des renommierten Watt- und-Meer-Zentrums zu übernehmen.

Georg Schultz war nicht nur ein begeisterter Wassersportler, er interessierte sich auch für das Wetter, das er wie kaum ein anderer in Ostfriesland vorhersagen konnte. Der leitende Physiotherapeut besaß die seltene Gabe, Regen schon riechen zu können, bevor am Horizont die ersten Wolken auftauchten, obwohl die südliche Nordsee für ihr mitunter eigenwilliges Mikroklima bekannt war. Es hielt sich für gewöhnlich nicht an Vorhersagen. Insbesondere die Medizin-Meteorologie hatte es Georg Schultz angetan. „Ich vermute, dass dir das Wetter zusetzt, Herma“, hob Schultz zu einem Vortrag über sein Lieblingsthema an. Die Kriminalhauptkommissarin versuchte zu nicken. Außer einem zustimmenden „Hm“ kam ihr nichts über die Lippen.

„Ich weiß ja nicht, ob du es weißt. Wir hatten in den vergangenen vier Wochen eine ganz besondere Wetterlage“, klärte Georg Herma auf, während er seinen rechten Ellenbogen mit dem Gewicht seines Oberkörpers gezielt in einen Schmerzpunkt auf Hermas Rücken drückte, um das Blut möglichst vollständig aus dem Knubbel zu pressen und dadurch die Selbstheilungskräfte ihres Körpers zu aktivieren.

„Aha“, presste Herma van Dyck hervor. Georg Schultz meinte ein Fragezeichen herausgehört zu haben. „Die Messungen des Deutschen Wetterdienstes am Emder Flughafen zeigen, dass wir im Januar an der Küste ungewöhnlich große Schwankungen des Luftdrucks hatten – an zwei Tagen wurden sogar rekordverdächtige Werte von 1040 Hektopascal und mehr gemessen. Der helle Wahnsinn ist das.“ Herma konnte mit diesen Informationen nichts anfangen. „Also, für mich sind das böhmische Dörfer. Ich verstehe nur Bahnhof. Was hat das denn jetzt mit meinen Kopfschmerzen zu tun?“ Der Therapeut und Hobby-Meteorologe hatte auf diese Frage gewartet. Er freute sich jedes Mal, wenn er sein Wissen an den Mann oder an die Frau bringen konnte. Schultz holte kurz Luft, dann startete er einen Erklärungsversuch.

„Du musst wissen, dass die Standardatmosphäre hier bei uns – also auf Meereshöhe – einen Luftdruck von 1013,25 Hektopascal hat. Das ist das weltweite Mittel. Hier im Therapieraum herrscht ein Druck von cirka 1000 Hektopascal. In einem Autoreifen ist es doppelt so viel. Und wie ich schon sagte: An zwei Tagen hatten wir an der Küste einen Luftdruck von mehr als 1040 Hektopascal. Das wirkt sich schon auf den Kopf aus – bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Es liegt auf der Hand, dass das bei empfindlichen Menschen heftige Kopfschmerzen auslösen kann.“

Herma hob ihren Kopf an, schaute Georg in die Augen. „Ich war nie wirklich wetterfühlig. Okay, ein bisschen vielleicht, aber nicht so richtig ...“

Der Physiotherapeut zog seine Augenbrauen hoch. „Du, ich bin kein Arzt, aber ich kann mir gut vorstellen, dass dich die schweren Schädel-Hirn-Verletzungen, die dir von diesem Arschloch zugefügt wurden, anfällig für diese Luftdruckschwankungen gemacht haben.“ Herma van Dyck biss sich auf die Unterlippe – ihr liefen plötzlich Tränen über die Wangen. Sie schluchzte. „Hast du mal ein Taschentuch für mich, Georg?“ Der Cheftherapeut zog ein unbenutztes Stofftaschentuch aus seiner weißen Hose und reichte es seiner Patientin. Er schämte sich dafür, dass er bei Herma einen wunden Punkt getroffen und seine Bekannte zum Weinen gebracht hatte. Warum konnte er auch seinen Mund nicht halten.

Der Angriff auf Herma lag gerade mal zehn, elf Wochen zurück. Herma van Dyck hatte die Attacke definitiv nicht verarbeitet. Sie war noch nicht wieder die Alte. Das hätte er ahnen können. Georg Schultz kratzte sich verlegen auf seiner Glatze. Dann strich er Herma übers Haar.

„Hey, nicht weinen. Das wird schon wieder. Wirst schon sehen. Du bist eine starke Frau. Aber du musst Geduld haben ...“

Herma schnäuzte sich die Nase. „Ja, klar. Ich kriege das schon hin. Mich kotzt es nur an, dass da vielleicht etwas in meinem Gehirn kaputtgegangen ist – und dass mich das bis an mein Lebensende schmerzlich an dieses beschissene Arschloch erinnern wird. Auf dieses Andenken kann ich gut verzichten.“

Georg machte eine abwehrende Handbewegung. „Noch ist nicht aller Tage Abend. Vielleicht ist das ja auch nur der Winterblues, der dir aufs Gemüt geschlagen hat. Und wie gesagt: Diese extremen Luftdruckschwankungen haben bei vielen Menschen Kopfschmerzen ausgelöst. Meine Praxis wird von diesen leidgeprüften Menschen förmlich überrannt. Bei einigen lösen diese Wetterkapriolen Migräneattacken aus. Denk positiv ... Wichtig ist doch nur: Der Scheißkerl ist tot – und du lebst. Kopf hoch ... Wirst sehen: Bald bringst du wieder Verbrecher zur Strecke und trägst dazu bei, dass unser Land noch sicherer wird.“

Georg Schultz hatte es geschafft, Herma zum Lächeln zu bringen. „Hast ja recht, Georg. Ich bin eine Kämpferin. Ich beiße mich schon durch. Weißt du, wie sie mich in Rumänien früher genannt haben?“ Herma schob die Antwort gleich grinsend hinterher. „Starke Typin.“ Sie strahlte dabei Zuversicht aus, erzählte von der Zeit, als sie als Ehrenamtliche der DLRG-Ortsgruppe Wangerland in Ostfriesland Hilfsgüter für Siebenbürgen gesammelt und auf den Balkan gefahren hatte. 20 Jahre war das jetzt her. Wie schnell doch die Zeit verging. Herma wurde nachdenklich. In 20 Jahren würde sie schon längst in Pension sein. Georg Schultz blieb nicht verborgen, dass Herma van Dyck Stimmungsschwankungen hatte. Er fragte sich, wann die Mordermittlerin wohl wieder diensttauglich sein würde. Sie musste möglichst rasch wieder das tun, was sie am liebsten tat – Mörder jagen und festnehmen. Der Physiotherapeut verkniff sich die Frage, ob Herma Hilfe vom Polizeipsychologischen Dienst bekam. Er wusste aus Fernsehserien, dass Polizisten, die Schreckliches erlebt hatten oder im Dienst schwer verletzt worden waren, erst dann wieder als dienstfähig eingestuft wurden, wenn sie zuvor von einem Polizeipsychologen oder Psychiater eine Art Unbedenklichkeitserklärung bekommen hatten. Aber ob das der Wahrheit entsprach oder ob sich das die Drehbuchautoren bloß ausgedacht hatten, wusste Schultz nicht. Während er mit seinen Händen Hermas Nacken- und Rückenmuskulatur bearbeitete, dachte er über das nach, was seiner alten Freundin im Dezember im Dienst widerfahren war. Er war froh, etwas dazu beitragen zu können, dass Herma wieder auf die Beine kam. Die Arbeit würde ihr guttun. Davon war er überzeugt.

Kapitel 6

Schneller als sonst üblich hatte sich Doktor Karl Mertens in einem mit Spinden gefüllten Nebenraum des Sektionssaals umgezogen und seinen steingrauen Lieblingsanzug gegen einen hellgrünen Kittel getauscht. Darüber trug der stellvertretende Leiter des Instituts für Rechtsmedizin eine schneeweiße Schürze aus hauchdünnem Kunststoff. Sie sollte seine Berufskleidung vor Blutspritzern und anderen unkontrolliert austretenden Körperflüssigkeiten schützen.

Um 8.45 Uhr betrat Mertens den Saal, der sich im Erdgeschoss des Gebäudes I6 befand. Er ließ die Glastür hinter sich ins Schloss fallen und verschaffte sich zunächst von seiner leicht erhöhten Position einen Überblick. Die rechte Hand lässig gegen die geflieste Wand gestützt, seine linke in die Hüfte gestemmt, ließ er seinen Blick über die drei Stufen tiefer liegenden fünf baugleichen, etwas klobig wirkenden Sektionstische aus poliertem Edelstahl schweifen. Mertens’ Pose erinnerte an einen Feldherrn, der versuchte, ein Schlachtfeld zu überblicken. In gewisser Weise stimmte das Bild – wenn auch im übertragenen Sinne. Im Sektionsraum wurde zwar nicht gestorben, aber hier lagen immerhin die sterblichen Überreste derjenigen, die in den vergangenen Tagen und Nächten möglicherweise durch fremde oder eigene Hand Opfer stumpfer oder scharfer Gewalt geworden waren. Die Toten hatten eines gemeinsam – sie warteten darauf, dass ihnen jemand ihr Geheimnis entlocken würde. Auf jedem Untersuchungstisch lag eine unbekleidete Leiche. Mertens zählte drei weibliche und zwei männliche Tote. Die Präparatoren hatten bereits aufgetischt. Den stechenden Geruch von Formalin, der sich an der kühlen Luft mit dem leicht süßlichen Gestank von faulendem Fleisch vermischte, nahm Doktor Mertens nicht wahr. Er betrachtete die Szene ein, zwei Minuten lang und stieß sich dann ruckartig von der kalten Wand ab. Na, dann mal frisch ans Werk, dachte der Leitende Oberarzt und klatschte dabei – lauter, als ihm lieb war – in die Hände.

Mertens war voller Elan. Auch nach fast vier Jahrzehnten konnte er sich noch für seine Arbeit begeistern. Der von Neonröhren bis in den letzten Winkel ausgeleuchtete große Raum war bis zur Decke weiß gekachelt, der Fußboden bestand aus unzähligen kleinen grau-weißen Mosaikfliesen. Mertens kniff die Augen zusammen – er hielt angestrengt Ausschau nach Assistenzarzt Doktor Martin. Dort, wo sich Klaus aufhielt, war die Tote aus Kühlfach Nummer sechs vermutlich nicht weit. Das hoffte Mertens zumindest. Er wollte sich als Erstes um die junge Frau aus Hameln, die ihn bis in den Schlaf verfolgt hatte, kümmern. Als der stellvertretende Institutsleiter seinen Mitarbeiter erspäht hatte, ging er zielstrebig auf ihn zu. „Guten Morgen, Klaus“, sagte Mertens und klopfte seinem jungen Kollegen väterlich auf die linke Schulter. Doktor Klaus Martin war Anfang 30 – er schnitt erst seit vier Jahren Leichen auf und lamellierte eigenständig deren innere Organe. Auch Martin hatte offenbar schlecht geschlafen. Seine braunen Augen, die die Farbe dunklen Holzes hatten, sahen müde aus, als er seinen Chef über den oberen Rand seiner rahmenlosen Brille hinweg anschaute. „Was soll an diesem Morgen gut sein?“, fragte Martin und zeigte auf die Seziertische. „Da liegen fünf Tote, die wir obduzieren müssen. Und in den Kühlfächern lagern bei konstanten sechs Grad Celsius noch sieben weitere Polizeileichen.“ So nannten Gerichtsmediziner die Toten, die auf Anweisung der Staatsanwaltschaft ins Institut gebracht worden waren.

Doktor Mertens runzelte die Stirn, signalisierte mit ausgebreiteten Armen Unverständnis. „Was willst du mir damit sagen, mein Lieber? Das ist doch fast jeden Tag so ...“ Klaus Martin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Äh ... Na ja ... Ich meine nur: Wir können uns über Arbeit nicht beklagen, und wir beide nehmen uns jetzt noch mal die Leiche einer Frau vor, die wir bereits gestern obduziert haben. Ganz offen und ehrlich: Ich verstehe nicht, warum ...“ Der Leitende Oberarzt lächelte wissend, verschränkte seine Arme vor der Brust. „Geht es in unserem Job nicht immer um das Warum?“

Doktor Martin winkte ab. „Ist ja auch egal ... Du machst ja eh, was du willst. Die Frau liegt auf Tisch eins.“ Präparator Hermann Schmidt stand am Kopfende und wartete geduldig auf die Mediziner. Auf Anweisung von Doktor Klaus Martin hatte er die Bahre, auf der der Leichnam lag, vor einer halben Stunde aus dem Kühlfach, von dort auf einen höhenverstellbaren Rollwagen gezogen und dann zum Sektionstisch geschoben. Er war gespannt, was Mertens und Martin vorhatten. Es kam nicht häufig vor, dass Rechtsmediziner eine Leiche ein zweites Mal untersuchen wollten – zumal sich die aufgeschnittenen Innereien der Toten bereits in einem blauen Kunststoffsack befanden, den Schmidt nach der Autopsie in die zuvor ausgeräumte Bauchhöhle der Toten gestopft hatte. Auf Geheiß der Obduzenten hatte der Präparator den tiefen Längsschnitt, der von der Drosselgrube am Hals über das Brustbein bis hinunter zur Schambeinfuge reichte, mit einer großen chirurgischen Nadel und einem starken blauen Faden ordentlich wieder verschlossen.