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True Crime-Erfolgsautor Adrian Langenscheid entfacht mit 14 schockierenden Kriminalfällen aus Japan ein herzklopfendes Lesevergnügen. Es ist ein atemberaubendes, zutiefst erschütterndes Portrait menschlicher Abgründe, das gerade wegen seiner kühlen, sachlich-neutralen Schilderung gewaltige Emotionen weckt. Japan – ein Land der Gegensätze und Widersprüche, das für seine verschlossene und geheimnisvolle Gesellschaft bekannt ist – enthüllt in diesen Fällen seine düsteren Geheimnisse. Eiskalte Serienmörder, tragische Familiendramen, grausame Entführungen, skrupelloser Missbrauch und niederträchtige Folter: 14 schockierende True Crime-Kurzgeschichten zu wahren Kriminalfällen aus Japan erwarten Sie. Gebannt, fassungslos, verblüfft und zu Tränen gerührt werden Sie alles in Frage stellen, was Sie über die menschliche Natur zu wissen glauben. Das Leben schreibt entsetzliche Geschichten, und dieses Buch fasst sie zusammen. Tauchen Sie ein in Japans schockierende Welt der wahren Kriminalfälle und der echten Verbrechen!
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Adrian Langenscheid
JAPAN
TRUE
CRIME
Wahre Verbrechen Echte Kriminalfälle
Impressum
Autoren: Adrian Langenscheid, Caja Berg, Benjamin Rickert, C.K. Jennar
Ebook ISBN: 978-3-98661-100-2
1. Auflage Oktober 2024
© 2024 True Crime International/ Stefan Waidelich,
Zeisigweg 6, 72212 Altensteig
Coverbild: © Canva (canva.com)
Covergestaltung:@ Pixa Heros, Stuttgart
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Rechteinhabers und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Einige Dialoge und Äußerungen, der in diesem Buch auftretenden Personen sind nicht wortgetreu zitiert, sondern dem Sinn und Inhalt nach wiedergegeben.
» Das Böse entsteht im Herzen des Menschen, wenn seine Begierden unkontrolliert wachsen. «
- Laozi (ca. 6. Jh. v. Chr.), Chinesischer Philosoph-
Adrian Langenscheid
JAPAN TRUE CRIME
Wahre VerbrechenEchte Kriminalfälle
Über dieses Buch:
Als man ihre Leiche fand, war der Körper so sehr entstellt, dass es schwerfiel, sie wiederzuerkennen. Einundvierzig Tage lang hatten sie sie gefangen gehalten, jeder Tag ein neuer Akt der Grausamkeit. Niemand hatte sie gerettet, niemand hatte ihr geholfen. Doch in diesem Buch wird ihre Geschichte erzählt – eine von vielen, die man nicht so leicht vergisst.
Über den Autor:
Adrian Langenscheid ist ein gefeierter Bestsellerautor und True Crime-Experte, dessen Bücher international die Spitzenpositionen der True Crime-Bestenlisten erobert haben. Gerade durch seine sachlich-neutrale Erzählweise trifft er den Nerv der Leser – seine Geschichten gehen tief unter die Haut. Jedes Kapitel legt schonungslos die grausame Realität echter Verbrechen offen – präzise, ungeschönt und dennoch zutiefst berührend.
» Es gibt kein Verbrechen, das nicht aus dem Leiden geboren wurde. «
- Ryūnosuke Akutagawa (1892–1927), Japanischer Schriftsteller-
Kapitel 1: Die Witwe von Kyoto
Es ist ein lauer Septemberabend in der westjapanischen Stadt Muko. Ein leichter Wind weht ihm um die Nase, und er ist begeistert, dass die Temperatur nun angenehme 20 Grad beträgt. Doch Minoru Hioki ist nicht deswegen überglücklich. Der Grund ist die neue Frau an seiner Seite. Der pensionierte Architekt sitzt mit ihr bei einem romantischen Abendessen in einem Restaurant. Was für viele Paare normal ist, ist für ihn etwas ganz Besonderes. Dass er das noch mal erleben darf, denkt er ungläubig und freut sich seines Lebens. Fast wäre er gestorben, ohne noch einmal die Vorzüge der Liebe zu erfahren. Die letzten Monate und Jahre waren hart: Der 75-Jährige kämpfte nicht nur mit der Einsamkeit, sondern auch mit einem zurückgekehrten Lungenkrebs. Aber die Strahlentherapie schlug zuletzt gut an, der Krebs ist verschwunden. Jetzt hat ihm das Leben wohl eine zweite Chance gegeben. Endlich ist der Rentner dank Chisako auch nicht mehr allein. Ein unfassbares Glücksgefühl überkommt ihn. Verliebt greift Minoru nach der Hand der 66-Jährigen. Seine Auserwählte hat ihn komplett in ihren Bann gezogen. Sie hat kurze, dunkelbraune Haare, ein rundliches Gesicht und trägt auf ihrem Profilbild ein schlichtes, rosafarbenes Hemd. Scheu lächelt sie darauf in die Kamera. Nur Wochen, nachdem er Chisako über eine Partnervermittlung kennengelernt hat, kann sich der Witwer ein Leben ohne sie kaum noch vorstellen. Er will für immer mit ihr zusammen bleiben. In diese neue Liebe stürzt er sich Hals über Kopf. Ihm ist es egal, dass er diese wunderbare Frau erst vor Kurzem getroffen hat! Wer dem Tod gerade von der Schippe gesprungen ist, hat keine Zeit mehr zu verlieren. Acht Wochen nach ihrem Kennenlernen stehen sich die beiden so nah, dass sie oft zusammen essen, sich gegenseitig besuchen und gemeinsam in ihrem jeweiligen Zuhause übernachten. Der 75-Jährige will jede Sekunde genießen, denn wer weiß schon, wann die tödliche Krankheit zurückkehrt und er ihr erliegt? So ist es für den Frischverliebten selbstverständlich, seine Lebensversicherung auf Chisako zu übertragen. Sie soll abgesichert sein, sollte er den Kampf letztendlich doch noch verlieren. Für solch trübsinnige Gedanken ist an diesem Abend aber kein Platz, denkt der Pensionär und lächelt seine Liebste erneut an. Minoru möchte das Dinner genießen. Sie reden, sie essen, sie lachen. Dieser Abend ist wunderbar, und doch soll er ein jähes Ende finden. Kaum hat der 75-Jährige sein Abendessen beendet, wird ihm extrem schlecht. Hat er etwas Falsches gegessen, fragt er sich noch bang. Der Rentner wird darauf keine Antwort mehr bekommen. Sein Zustand verschlimmert sich rapide. Der Mann krampft vor Schmerzen. Nicht nur seine Liebste ist alarmiert, auch das Personal ist besorgt. Sie rufen einen Krankenwagen. Bevor dieser eintrifft, hat Minoru bereits das Bewusstsein verloren und atmet keuchend. „Er leidet an Lungenkrebs im Endstadium“, berichtet seine neue große Liebe den Rettungskräften. Auch erklärt die geschockt wirkende Freundin, dass er keine Familie habe. Inzwischen könnten nur noch Wiederbelebungsmaßnahmen den 75-Jährigen retten. Doch Chisako lehnt diese ab. Die 66-Jährige möchte nicht, dass die Sanitäter ihren Freund reanimieren. Er stirbt – nur zwei Stunden, nachdem das romantische Dinner begann. Was zu diesem Zeitpunkt niemand ahnt: Chisako weiß sehr wohl, dass Minoru Kinder hat und der Krebs längst verschwunden ist. Aber ihr neuer Liebhaber sollte sterben. Deshalb hat sie seine Nahrungsergänzungsmittel mit Zyanid versetzt. Den Krebs hat Minoru Hioki überlebt – seine neue Freundin nicht! Er wird nicht ihr letztes Opfer sein, denn die „schwarze Witwe“ von Kyoto sucht nach Minorus Tod schon nach dem nächsten Partner.
Obwohl sie im Jahr 2014 die Schlagzeilen der japanischen Medien beherrschen wird, ist über die von ihnen als „schwarze Witwe“ bezeichnete Frau wenig bekannt. Sie kommt am 28. November 1946 in Japans südwestlicher Präfektur Saga als Chisako Yamamoto zur Welt und wächst in einer Mittelschichtfamilie auf. Die Schulnoten sind gut, und es zeigt sich vor allem in den wissenschaftlichen Fächern eine Begabung. Doch ihr Vater, ein Stahlarbeiter, verweigert ihr eine weitere Bildung, da seine traditionelle Auffassung es für unangemessen ansieht, dass Mädchen eine höhere Ausbildung erhalten. Stattdessen solle sie heiraten und sich niederlassen. So arbeitet die junge Erwachsene zunächst ab 1965 als Bankangestellte, gibt den Job jedoch auf, als sie ihren ersten Ehemann kennenlernt. Sie heiratet 1969 einen in Osaka ansässigen LKW-Fahrer. Die Ehe bringt zwei Kinder hervor. Zusammen eröffnet das Paar eine Textildruckerei in der großen Hafenstadt auf der japanischen Insel Honshu. Sie scheinen ein gutes Leben zu haben, bis ihr Mann nach der Silberhochzeit mit 54 Jahren stirbt. Das Schicksal trifft die Witwe nicht nur emotional, sondern auch finanziell. Nach dem Tod ihres Ehemanns meldet sie für die Firma im Jahr 1994 Insolvenz an. Wegen der anfallenden Schulden muss die nun 48-Jährige sogar ihr Haus versteigern. Im Jahr 2003 ist das Unternehmen endgültig am Ende.
Es ist anzunehmen, dass sie sich schon in dieser Zeit bei einer Partnervermittlung anmeldet. Doch ob sie tatsächlich Liebe sucht, kann durchaus bezweifelt werden. Die einzigen Suchkriterien, die die Witwe angibt, sind Einkommen und Familienstand. Sie interessiert sich für Männer, die umgerechnet über 85.000 Euro im Jahr verdienen und keine Kinder haben. Im besten Fall besitzen die geeigneten Kandidaten Wohneigentum. Gegen gesundheitliche Probleme hat die Suchende nichts einzuwenden. So lernt Chisako nicht nur Ehemann Nummer 2 im Jahr 2006 kennen, der jedoch an einem Herzinfarkt stirbt, sondern auch im Jahr 2007 den 78-jährigen Toshiaki Suehiro, einen ehemaligen Präfektur-Beamten aus Kobe. Sie beginnt eine Beziehung mit ihm. Die Bekanntschaft ist schnell so innig, dass der neue Liebhaber ihr sogar 40 Millionen Yen (das entsprach damals rund 322.000 Euro) leiht, da sie immer noch in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Das Paar verlobt sich rasch.
Am Nachmittag des 18. Dezembers isst die mittlerweile 61-Jährige mit ihrem neuen Freund und seinen Kindern zu Mittag. Sie kennen sie nur unter dem falschen Namen „Hiraoka“. Nur 15 Minuten nach dem Mittagessen bricht Suehiro bewusstlos auf der Straße zusammen. Ein Krankenwagen wird gerufen. Als die Rettungskräfte eintreffen, denen sich die Freundin ebenfalls unter dem falschen Namen „Hiraoka“ vorstellt, geht es dem 78-Jährigen so schlecht, dass er kaum noch atmet. Die Sanitäter schaffen es, den Mann lebendig ins Krankenhaus zu bringen, wo Ärzte sein Leben retten. Der pensionierte Beamte überlebt eine offiziell diagnostizierte innere Erstickung, doch der Preis ist hoch: „unheilbar höhere Funktionsstörungen und Sehbehinderungen“ bleiben zurück. Suehiro ist nicht mehr der Mensch, der er einst war.
Im Februar 2008 schreibt die ehemalige Freundin einen Brief an seine Kinder. Darin berichtet die Frau, dass sie nun das Geld, das er ihr damals geliehen hatte, „mit dem Erbe eines anderen Mannes“ zurückgezahlt habe. Suehiros Kinder sind schockiert. Sie wussten weder etwas von dem Darlehen, das ihr Vater der Freundin gab, noch ihren wahren Namen. Als sie sich mit ihr in Verbindung setzen wollen, beantwortet sie keine weiteren Fragen. Später wird die Täterin zugeben, dass sie der Rückzahlung eigentlich entgehen wollte, indem sie ihn tötet, was jedoch misslang. Suehiro stirbt an einer Krebserkrankung, als die Ex-Partnerin längst aus seinem Leben verschwunden ist.
Chisako Kakehi ist schon wieder auf der Suche nach neuen Liebhabern. Ihre dritte Ehe geht sie bereits im Jahr 2008 ein, auch dieser Mann stirbt. Aber ob sie von ihm oder von einem anderen Mann das Geld für die Rückzahlung erbte, ist nicht bekannt. Gesichert überliefert ist, dass sie in Masanori Honda ihren nächsten Partner findet. Zwischen Herbst 2011 und Frühling 2012 stellt der 71-Jährige seinen Freunden und Bekannten die mittlerweile 66-Jährige als seine Verlobte vor. Honda ist für sein Alter topfit. Er leidet zwar unter Diabetes, ist jedoch gut mit Medikamenten eingestellt. Er ist in Sportvereinen aktiv und achtet auf seine Gesundheit. Auch Masanori Honda stürzt sich Hals über Kopf in die Beziehung mit der charmanten und liebevoll wirkenden Frau. Chisako zieht bei ihm ein, und er erwähnt sie sogar in seinem Testament. Die Hochzeitsplanungen laufen auf Hochtouren. Bis auch er plötzlich verstirbt.
Am 9. März 2012 plant der 71-Jährige eine Motorradtour. Kurz zuvor trifft er noch seine Freundin, bevor sich die Wege der Liebenden trennen. Auf dem Bike verliert der rüstige Rentner gegen 17 Uhr plötzlich das Bewusstsein, und es kommt zu einem Unfall, den er nicht überlebt. Eine abschließende Untersuchung ergibt zunächst, dass er einem Herzleiden erlag.
Zu dieser Zeit hatte die schwarze Witwe längst nicht mehr vor, Honda zu heiraten, denn schon seit zwei Monaten geht Chisako heimlich mit anderen Männern aus, die sie ebenfalls über eine Partnervermittlung kennenlernt. Hierüber trifft sie nach anderen Bekanntschaften im Sommer 2013 auch den pensionierten Architekt Minoru Hioki, der sich gerade von seiner Strahlentherapie gegen den Lungenkrebs erholt. Auch er stürzt sich ohne nachzudenken in eine Liaison mit der fürsorglich auftretenden Frau, und schon einen Monat nach ihrem Kennenlernen schreibt er ihr im August in einer E-Mail, dass er für immer mit ihr zusammen sein wolle. Sie gehen oft zum Essen aus, verbringen die Nächte gemeinsam. Doch dieses Glück hält nur bis zum 20. September, als Minoru mit seiner neuen Freundin in einem Restaurant sitzt. Kurz nach dem Essen bricht der 75-Jährige zusammen. Die gerufenen Rettungssanitäter möchten ihn wiederbeleben, doch Chisako verweigert die Erlaubnis für diese Maßnahmen mit der Begründung, ihr Freund leide an Lungenkrebs im Endstadium und würde das nicht wollen. Auch bezüglich seines Familienstandes belügt sie die Sanitäter und behauptet, er habe keine Kinder, obwohl es diese sehr wohl gibt. Aufgrund von Minorus Vorerkrankung schöpft auch hier niemand Verdacht, dass sein Tod nicht natürlich gewesen sein könnte.
Mindestens dreimal ist Chisako mit ihren Zyanid-Kapseln unentdeckt geblieben, die sie jeweils unter die Nahrungsergänzungsmittel oder Medikamente ihrer Partner mischt, nachdem diese sie finanziell bedacht haben. Das scheint die skrupellose Frau gierig zu machen. Sie verschwendet keine Zeit, um ein neues Opfer zu finden, das sie umbringen und beerben kann. Im November 2013 – nur zwei Monate nach dem Tod ihres vorherigen Freundes – ist die nun 67-Jährige bereits neu verheiratet. Ihr vierter Ehemann ist Isao Kakehi. Der 75-Jährige ist fit, hat keine gesundheitlichen Beschwerden, und vor allem ist er eins: verliebt! Er will Chisako die Welt zu Füßen legen und sein Bestes geben, „um ein strahlendes zweites Leben zu genießen und lange zu leben“, wie er in einer E-Mail an seine Frischvermählte schreibt. „Ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen“, antwortet sie. Das Paar zieht in Muko zusammen, einer Stadt westlich von Kyoto, und freut sich auf den Jahreswechsel. Die Verliebten wollen nach alter japanischer Tradition Reiskuchen backen, der in diesem Land am Neujahrsmorgen gegessen wird. Doch Isao wird das neue Jahr nicht mehr erleben. Am 28. Dezember 2013 erleidet er nach einem gemeinsamen Abendessen in ihrem neuen Zuhause einen Herz-Lungen-Stillstand. Seine Frau ruft den Krankenwagen, doch jede Hilfe kommt zu spät. Nur eine Stunde nach dem Dinner ist auch dieser Mann an Chisakos Seite verstorben.
Sein Tod bleibt jedoch nicht ohne Folgen, denn jetzt werden die Behörden misstrauisch und ordnen eine Autopsie des Leichnams des einst kerngesunden Isao an. In Japan werden selten Autopsien durchgeführt, denn nur bei hinreichendem Verdacht forciert die japanische Administration eine Untersuchung der Todesursache – Isaos Todesumstände waren verdächtig und mysteriös genug. Zu Recht: In seinem Blut und Magen wird Zyanid nachgewiesen. Der 75-Jährige starb keineswegs an einem natürlich auftretenden Herz-Lungen-Stillstand, sondern wurde vergiftet. Das bringt die Ermittlungen in Gang, die auch die weiteren Todesfälle in Chisakos Umfeld untersuchen. Die Beamten gehen zunächst vorsichtig vor. „Wir können nicht sagen, wie viele es jetzt sind […]. Angesichts ihres fortgeschrittenen Alters müssen wir sorgfältig beurteilen, ob ihr Tod tatsächlich die Folge eines falschen Spiels war oder nicht“, sagt ein Ermittler über mögliche Mordfälle. Chisako wird verhört, Reportern gegenüber behauptet sie im März 2014, dass sie „das hinterbliebene Opfer einer Reihe tragischer Unglücksfälle“ sei.
Ungeachtet dessen laufen die Ermittlungen in ihrem Umfeld auf Hochtouren. Auch der Motorradunfall von Masanori Honda wird erneut ins Visier genommen. Das Krankenhaus, in das er damals eingeliefert wurde, hat noch eine Blutprobe von ihm. In dieser können ebenfalls Überreste von Zyanid nachgewiesen werden.
Im August 2014 spüren Polizisten in einem nahe gelegenen Recyclingcenter eine Topfpflanze auf, die Kakehi dort entsorgt hat. Darin findet sich eine versteckte Tüte, in der auch Spuren der toxischen Blausäure entdeckt werden. Die Farbe von Beutel und Inhalt weisen darauf hin, dass das Gift mehrere Monate lang vergraben gewesen sein muss. Die Vermutung lautet: Chisako Kakehi sei durch die Arbeit in der Druckerei an den tödlichen Stoff herangekommen. Dennoch behauptet die Beschuldigte zunächst weiterhin, sie habe keine Ahnung, wie man jemanden umbringt.
Am 19. November 2014 wird die 67-Jährige schließlich verhaftet. Nur einen Tag später durchsuchen die Behörden ihre Häuser in Kyoto und Osaka. Dort beschlagnahmen sie Kapseln und Oblaten zum Verpacken von Medikamentenpulver sowie Bücher über Drogen. Der Fund deutet darauf hin, dass die vierfache Witwe die Hüllen der Nahrungsergänzungsmittel geleert hat, um sie mit zu Pulver zermahlenem Zyanid aufzufüllen. Kakehi gibt kurzerhand zu, vier ihrer Opfer mit den Giftkapseln getötet zu haben, doch ihre Anwälte lassen die Aussage zurücknehmen. Sie plädieren auf die Unschuld der inzwischen 68-Jährigen. „Sind diese Männer tatsächlich an einer Zyanid-Vergiftung gestorben? Hat ihnen jemand tatsächlich das Gift verabreicht? Wir bezweifeln, dass hier tatsächlich ein Verbrechen vorliegt“, argumentiert die Verteidigung. Zudem plädieren ihre Rechtsvertreter für Kakehis Unschuld aufgrund von altersbedingter Demenz. Bereits im Jahr 2016 wurde eine leichte Form der Krankheit durch eine gerichtlich angeordnete psychiatrische Untersuchung diagnostiziert. „Wir werden jeden Punkt der Anklage energisch bestreiten“, erklärt ein Anwalt des Verteidigerteams bei der Anhörung vor Gericht. Das Team verneint sowohl die Fähigkeit der Angeklagten, die Verantwortung für die Verbrechen zu übernehmen, als auch ihre Verhandlungsfähigkeit. Sie betonen: „Kakehi kann sich nicht ausdrücken oder verstehen, worüber andere Leute reden, und daher kann in dieser Angelegenheit kein Gerichtsurteil erhoben werden.“
Tatsächlich hat sich die jetzt 70-Jährige verändert: Ihr Haar ist seit der Verhaftung vor fast drei Jahren weiß geworden, ihr Gehör hat sich verschlechtert. Zudem wirkt sie zeitweise müde und verwirrt. Umso überraschender ist es, dass sie im Laufe des Prozesses plötzlich doch ein Geständnis ablegt. Darin gibt sie zu, ihren vierten Ehemann Isao Kakehi umgebracht zu haben: „Ich habe ihn getötet […], weil er anderen Frauen zig Millionen Yen gegeben hat, mir aber nicht einen einzigen Penny. Ich habe mich so geärgert.“ Die Ehefrau habe ihn dafür gehasst und nehme die Todesstrafe in Kauf. „Ich habe nicht die Absicht, meine Schuld zu verbergen. Selbst wenn ich morgen hingerichtet würde, würde ich lächelnd sterben“, sagt sie zu den Richtern. Zwei Tage später widerruft die Angeklagte dieses Schuldbekenntnis, mit der Begründung, sie könne sich nicht mehr daran erinnern, es gesagt zu haben. Ihre Anwälte plädieren immer noch darauf, dass sie wegen verminderter Schuldfähigkeit aufgrund ihrer festgestellten Demenz nicht verurteilt werden könne. Im japanischen Justizsystem schützen psychische Krankheiten vor der Verurteilung zum Tode. Die Rechtsvertreter erklären, dass sich ihre Mandantin „kaum an Dinge erinnert, die kürzlich passiert sind“, geschweige denn an die angeblichen Taten und Zeiträume. Deswegen könne man ihrer Aussage nicht trauen. Doch die Staatsanwaltschaft argumentiert, dass das leichte Stadium der Krankheit die Angeklagte nicht schuldunfähig macht.
Der Prozess schreitet voran, es werden mehr als 50 Zeugen angehört. Dass die Witwe weitaus mehr einsame, aber reiche Männer im Visier hatte und methodisch vorging, zeigt vor allem eine Aussage. Ein 80-jähriger Mann erklärt während des Prozesses: „Ich wollte mit Chisako zusammenleben, ich war so einsam.“ Seine Frau war verstorben, und das Alleinleben war hart für ihn, als er auf die Angeklagte traf. Der Zeuge habe ihr beim vierten Date seinen Wohnungsschlüssel anvertraut, berichtet er, was für das charmante und vertrauenerweckende Auftreten der Frau spricht. Doch dann warnte ihn ein örtlicher Polizist. Die Beamten waren zu dieser Zeit misstrauisch geworden, da bereits zahlreiche ihrer Partner gestorben waren. Den einen habe sie beerbt, der andere habe sie in der Lebensversicherung großzügig bedacht, erfuhr der Zeuge von den Ermittlern. Er beendete die Beziehung, was ihm möglicherweise das Leben rettete. Dennoch beschreibt er sie im Zeugenstand als „gute Frau“.
Am 7. November 2017 wird schließlich nach dem zweitlängsten Prozess in der Geschichte Japans das Urteil verkündet: Nach 135 Verhandlungstagen spricht das Bezirksgericht Chisako Kakehi schuldig, drei Männer ermordet zu haben und einen anderen zu töten versucht zu haben. „Es war ein abscheuliches Verbrechen, getrieben von Geldgier“, sagt Richter Ayako Nakagawa. Deshalb habe er keine andere Wahl, als die Todesstrafe zu verhängen, auch wenn er Demenz und weitere Faktoren berücksichtige. Die Angeklagte wird zum Tod durch den Strang verurteilt, denn in Japan wird die Hinrichtung am Galgen durchgeführt. Neben den USA ist das asiatische Land eine von zwei demokratisch regierten, hoch industriellen Nationen, in denen Hinrichtungen heute noch vollstreckt werden. In Japan wird sie nur bei schwerwiegenden Straftaten mit Todesfolge verhängt. Im Zeitraum von 1945 bis Ende Dezember 2021 starben 717 Menschen am Galgen. Trotz zahlreicher Proteste aus der EU sowie von Menschenrechtsgruppen unterstützt eine große Mehrheit der Japaner Exekutionen.
Kakehis Anwälte legen Berufung ein. Doch sie scheitern in den nächsten Instanzen. Im Juni 2021 wird das Urteil rechtskräftig, als auch die letzte Revision vom Obersten Gerichtshof Japans abgelehnt wird. Inzwischen ist die Mörderin 74 Jahre alt und sitzt seit sieben Jahren im Gefängnis. „Sie nutzte eine Partnervermittlungsagentur, um ein älteres Opfer nach dem anderen kennenzulernen, und vergiftete sie, nachdem sie sie dazu gebracht hatte, ihr zu vertrauen“, wird der Richter im öffentlich-rechtlichen Sender NHK zitiert. „Es handelt sich um ein rücksichtsloses Verbrechen, das auf einer geplanten und starken Mordabsicht beruht.“ Der Richter entscheidet, dass es nach geltendem Recht keine Alternative zur Todesstrafe gäbe. Zudem würden die E-Mails aus dem Jahr 2013 belegen, dass sie während der Taten geistig gesund gewesen sei. Auch ihr hohes Alter schütze die Täterin nicht vor der Hinrichtung, da sie in sechs Jahren viermal die gleiche Verbrechensart begangen habe. Die Bemühungen der Verteidigung, eine erneute psychiatrische Untersuchung für die Angeklagte zu bekommen, weil sich ihre Demenz verschlimmert habe, werden abgewiesen. Die Rechtsvertreter hatten argumentiert, dass die Witwe nicht mehr verstünde, dass sie an einem Strafverfahren beteiligt sei.
Anklage und Verurteilung betreffen nur drei Morde und einen Mordversuch, doch die Behörden nehmen an, dass Chisako Kakehi für weitaus mehr Todesfälle verantwortlich ist – unter anderem auch für den ihrer drei Ehemänner. In dem Zusammenhang wirkt sogar das plötzliche Versterben ihres ersten Ehemanns im Jahr 1994 verdächtig, da dieser kurz davor für stabil erklärt und aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Ihr zweiter Ehemann, ein Manager bei einem Pharmagroßhändler, starb bereits 2006 an einem Herzinfarkt, ihr dritter Gatte, ein landwirtschaftlicher Genossenschaftsunternehmer, verschied ebenfalls an einem Herzanfall, nur kurze Zeit nach der Heirat im Jahr 2008. Doch für diese Sterbefälle konnte keine Mordanklage erhoben werden, da die Leichen ohne Autopsie eingeäschert wurden – eventuelle Beweise einer Vergiftung waren somit vernichtet.
In Japan werden nur rund 12 Prozent aller Todesfälle gerichtsmedizinisch untersucht, was auf einen großen Mangel an forensischem Personal zurückzuführen ist. Das Land hat eine der niedrigsten Mordraten der Welt (0,25 pro 100.000 Einwohner) – Kritiker glauben, dass gerade die wenigen Autopsien die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass in dem asiatischen Staat Verbrechen übersehen werden. So vermuten die Behörden jetzt auch im Fall der „schwarzen Witwe“, dass die Serienmörderin bis zu sieben weitere Männer umgebracht haben könnte. Seit dem Tod ihres ersten Ehemanns war sie mit mindestens zehn Partnern zusammen, die allesamt starben. Manche Berichte sprechen sogar von 14 Männern. Wären alle diese Vermutungen wahr, so hätte Kakehi zwei Jahrzehnte lang unentdeckt ihre Opfer getötet, um an deren Vermögen zu kommen. In einem Zeitraum von zehn Jahren soll sie sich so über eine Milliarde Yen (umgerechnet etwa mehr als 8 Millionen Euro) durch Lebensversicherungen und Testamente erschlichen haben. Die Frau nahm bei jeder Heirat den Nachnamen des jeweiligen Ehemannes an und konnte so Dutzende Bankkonten eröffnen. Doch beim Versuch, das Geld zu vermehren, hat sie es immer wieder durch erfolglose Finanzgeschäfte im Aktien- und Terminhandel verloren, weswegen sie stets neue Opfer suchte. Im Laufe der Jahre war sie bei mindestens zehn verschiedenen Partnervermittlungen angemeldet.
Bis heute hat die Serienmörderin keine Reue gezeigt. In einem Interview mit der Lokalzeitung „Yomiuri News“ im Jahr 2019 ist zumindest Resignation und Klarheit zu spüren: „Selbst wenn du darüber nachdenkst, werden deine Sünden nicht verschwinden“, sagt sie darin. „Es wird die Toten nicht erreichen.“ Die von den Medien weiter als „schwarze Witwe“ bezeichnete Frau wartet im Gefängnis auf die Vollstreckung des Urteils. Ein Datum steht noch nicht fest. Das Leben im Todestrakt in Japan ist hart, isoliert und streng diszipliniert. Wann die heute 77-Jährige sterben wird, erfährt sie erst am Morgen der Vollstreckung, denn die Planungen und Durchführungen der Hinrichtungen finden im Geheimen statt. So muss die Mörderin in ständiger Angst leben, dass der nächste Tag ihr letzter sein könnte.
» Der Mensch, der sich selbst nicht kennt, ist fähig, alles zu tun, auch das Verbrechen. «
- Xunzi (ca. 310–235 v. Chr.), Chinesischer Philosoph-
Kapitel 2: Für Japan
Die Nacht ist ruhig. Nur das Rauschen des Flusses in der Nähe ertönt in diesen Stunden am Stadtrand eines idyllischen Vorortes von Tokio, der hinter dem großen Haus unaufhaltsam durch sein grünes Bett fließt. Fast alle Einwohner von Sagamihara schlafen. In der Pflegeeinrichtung am Stadtrand wachen wenige Betreuer über den Schlaf ihrer Schutzbefohlenen. Zwischen saftigen Hügeln, Bäumen und Häusern mit Gemüsegärten träumen sie arglos in ihren Betten – das hauseigene Schwimmbad sowie das Fitnessstudio sind verwaist. Hier passiert normalerweise nicht viel. Bis zu den frühen Morgenstunden des 26. Juli 2016, als plötzlich ein Klirren erklingt. Gesplittertes Glas trifft auf den Boden. Durch das zerbrochene Fenster steigt ein komplett in schwarz gekleideter Mann ein. Sein Ziel sind jedoch nicht Schmuck, Geld oder andere Wertgegenstände. Der 26-Jährige will nichts stehlen, er will die Welt von einem Übel befreien – das ist seine Mission, die er mindestens zwei Mal angekündigt hat. Doch keiner hält ihn auf, und so wird ihn auch in dieser Nacht nichts von der Umsetzung abbringen. Ein aufmerksam gewordener Mitarbeiter, der schnell zum eingeschlagenen Fenster hastet, ist chancenlos. Der Einbrecher überwältigt und fesselt ihn mit Kabelbindern, dann nimmt er dessen Schlüssel an sich. Jetzt hat der Eindringling ungehindert Zugang zu allen Räumen im Komplex. Zielstrebig läuft er durch die Gänge des Pflegezentrums, das er sehr gut kennt, denn bis vor Kurzem hat er hier noch selbst gearbeitet. Jahrelang ist er diese Gänge auf und ab gelaufen, stets mit einer helfenden Hand. Doch diese Zeiten sind vorbei, diese Hilfe ist eine Verschwendung, das hat er inzwischen gelernt. Der Einbrecher hat ein neues Ziel, das er in den nächsten Stunden umsetzen muss. Er läuft durch die Anstalt in den östlichen Flügel, wo die Frauen untergebracht sind. Ohne zu zögern öffnet er die erste Tür und stürmt ins Zimmer. Entschlossen zückt der Täter eines der drei mitgebrachten Messer und sticht auf die wehrlose Frau ein. Dann verlässt er das Zimmer und eilt zum nächsten. In den folgenden Minuten öffnet er eine Tür nach der anderen, sticht auf die schlafenden Menschen in ihren Betten ein. Die einen verletzt er, die anderen tötet er – erst viele Frauen, dann zahlreiche Männer im Westflügel. Blutüberströmt hält der Amokläufer erst nach 40 Minuten wieder inne und glaubt, seine Tat sei nun vollbracht. Sofort flüchtet er aus dem Gebäude, hetzt zu seinem schwarzen Honda und rast davon. Zufrieden mit sich selbst macht der Mörder während der Fahrt ein Selfie und stellt es online. „Möge es Frieden auf dieser Welt geben. Wunderschönes Japan!“, schreibt er dazu. Sein Blutrausch bleibt nicht unentdeckt: Ein Angestellter setzt einen Notruf an die örtliche Polizei ab. Zehn Minuten danach treffen die ersten Beamten ein. Zu spät: Der Mörder ist längst verschwunden, seine Mission erledigt. In den Zimmern machen die Einsatzkräfte eine grausige Entdeckung: 26 teils schwer verletzte Menschen und 19 Leichen – getötet von ihrem ehemaligen Pfleger Satoshi Uematsu, der glaubt, dass behinderte Menschen kein Recht auf Leben haben.
Der 20. Januar 1990 ist ein kalter Wintertag in Sagamihara in der Präfektur Kanagawa, rund 40 Kilometer südwestlich von Tokio. Doch für zwei Menschen ist es ein besonders freudiger Tag, denn heute erblickt Satoshi Uematsu als erstes und einziges Kind der Familie das Licht der Welt. Sein Vater ist Grundschullehrer für Kunst und seine Mutter Karikaturistin und Comiczeichnerin. Das Paar ist überglücklich und bietet ihrem Jungen eine behütete Kindheit in einer ruhigen Wohngegend mit prachtvollen Holzhäusern, Kaki-Plantagen und Schrebergärten. Satoshi ist ein unauffälliger Junge, was sich jedoch ändert, als er älter wird. Im Teenageralter zeigen sich erste Anzeichen, welches Gewaltpotenzial in ihm steckt. Er muss sich unter anderem wegen Ladendiebstahl, Sachbeschädigung und Trunkenheit verantworten. Als 17-Jähriger kommt Körperverletzung hinzu. Ein behinderter Junge soll ihn angerempelt haben, was den Teenager dazu veranlasst, ihn anzugreifen. Doch dies scheint zunächst nur eine rebellische Phase gewesen zu sein, denn nach dem Schulabschluss gelingt es Satoshi, sein Leben wieder in ruhigere Bahnen zu lenken. Er träumt davon, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Der Jüngling mit den blond gefärbten Haaren und dem scheuen Lächeln auf den Lippen beginnt, an der Universität Lehramt zu studieren. Während des Studiums absolviert er ein einmonatiges Praktikum an einer lokalen Grundschule. Die betreuende Lehrerin sagt Jahre danach gegenüber der japanischen Zeitung „Yomiuri Shimbun“: „Er kam jeden Tag, ohne Pause, und er hat sehr ruhig mit den Kindern gespielt.“ Ein 76-jähriger Großvater aus seiner Nachbarschaft äußert sich ähnlich: „Mein Enkel fand, er war ein freundlicher und guter Lehrer.“ Andere Anwohner sehen ihn streunende Katzen füttern, der Jugendliche jätet in den Gärten von Rentnern Unkraut oder schippt im Winter den Schnee aus den Einfahrten. Nie habe er ihn wütend gesehen oder mit seinen Eltern streiten hören, erinnert sich der direkte Nachbar später an Satoshi Uematsu. Andere Anwohner beschreiben ihn als netten Kerl, der sich gut mit Kindern versteht.
Doch das soll nicht so bleiben. Während des Studiums ändern sich die Interessen des jungen Mannes plötzlich. Kinder sind ihm nun zu anstrengend, und die anvisierte Berufslaufbahn erscheint nicht mehr attraktiv. Stattdessen wünscht sich Satoshi eine Karriere als Tattoo-Künstler. Längst trägt er selbst ein großflächiges Kunstwerk auf dem Rücken, das den Nachbarn bereits auffiel. In Japan ist diese Art von Körperschmuck nicht so gesellschaftsfähig wie in der restlichen Welt. Tätowierungen gelten hier als schmutzig und niederträchtig. Sie sind unter anderem ein Erkennungszeichen von Bandenmitgliedern der japanischen Mafia. In öffentlichen Bädern werden Menschen mit Bildern und Schriften auf der Haut nicht eingelassen.
Satoshis Eltern heißen diese neue Entwicklung nicht gut. Im Jahr 2011 verlassen sie Sagamihara und lassen ihren Sohn allein im Elternhaus zurück. Es ist anzunehmen, dass sie dies tun, um das Ansehen der Familie zu wahren, weil sie den Lebenswandel ihres Sprösslings vor Bekannten und Verwandten verschleiern wollen. In dem asiatischen Land ist die öffentliche Achtung einer der wichtigsten Werte.
Ohne elterliche Aufsicht beginnt der jetzt 21-Jährige, Marihuana zu rauchen. Seine Karrierepläne im Tattoo-Business scheitern, und Satoshi muss erneut von vorn anfangen. Diesmal entscheidet er sich für die Pflegebranche. Sein Schulabschluss ermöglicht es ihm, eine Zusatzqualifikation zu erlangen, um in der Pflege tätig zu werden. Im Dezember 2012 bekommt der 22-Jährige dadurch eine Stelle in einem Heim am Stadtrand. Hier ist Platz für bis zu 160 Menschen im Alter zwischen 19 und 75 Jahren, die entweder geistig oder körperlich behindert sind. Der Start ins Arbeitsleben gelingt. Auch in diesem Umfeld gilt Satoshi zunächst als auffallend fröhlicher und freundlicher Mensch, seine Kollegen beschreiben ihn als höflich und zuvorkommend. Schnell wird er zur Vollzeitkraft befördert, denn in dieser Branche herrscht ein chronischer Personalmangel. Über dreieinhalb Jahre wird der junge Mann hier arbeiten.
Im Laufe der Zeit verändert sich das Verhalten des neuen Mitarbeiters jedoch zunehmend. Immer öfter erwischen ihn andere Angestellte dabei, wie er Bewohner beschimpft oder sie schlägt. Zahlreiche Gespräche mit der Heimleitung sind die Folge, doch es gibt keine Besserung. Es bleibt nur zu vermuten, dass die Geschäftsführung aufgrund der gravierenden Knappheit von Betreuungskräften keinerlei Konsequenzen zieht und den nun 26-Jährigen nicht aus der Anstalt wirft. In Japan ist zu wenig gut ausgebildetes Personal in der Pflege vorhanden. Die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich sind schwierig und schlecht bezahlt: Laut einer staatlichen Untersuchung beträgt das Durchschnittseinkommen einer Pflegekraft in den 2010er Jahren 220.000 Yen (damals umgerechnet etwa 1.900 Euro). Das ist gerade einmal die Hälfte des Durchschnittslohns aller Branchen Japans. Zudem steigen die Anträge auf Abfindung von Pflegern wegen psychischer Erkrankung zwischen 2009 und 2014 auf das Doppelte.
Zur gleichen Zeit wächst Satoshis aufflammender Hass auf beeinträchtigte Menschen ungehindert und zeigt sich nun deutlich. Kollegen ertappen ihn Anfang 2016, als er in der Nähe der Pflegeeinrichtung Flugblätter verteilt, auf denen steht: „Es ist Verschwendung, Behinderte weiterleben zu lassen.“ Im Februar des gleichen Jahres verkündet er vor anderen Mitarbeitern, dass Menschen mit körperlicher oder geistiger Einschränkung getötet werden sollten. Einen Tag später kommt er möglichen Folgen zuvor: Satoshi kündigt ohne Vorwarnung aus „persönlichen Gründen“.
Es scheint, dass sich der jetzt Arbeitslose fortan ausschließlich dem Kampf widmet, die Welt von der Belastung durch Pflegebedürftige zu befreien. Am 13. Februar twittert er: „Ich weiß nicht, ob es richtig ist, aber ich sollte handeln.“ Der 26-Jährige verfasst in den Tagen nach seiner Kündigung einen Brief, in dem er seine grausamen Pläne ausführlich beschreibt: Er will Behinderte töten! Mitte des Monats begibt er sich zur Residenz des damaligen Parlamentspräsidenten Tadamori Oshima, um ihm das Schreiben auszuhändigen. Doch Sicherheitsbeamte stoppen ihn und lassen Satoshi nicht vor. Daraufhin erscheint er am nächsten Tag erneut an der Residenz und übergibt das Schreiben an einen Security-Mitarbeiter, mit der Bitte, dieses an den Präsidenten weiterzuleiten, was auch geschieht. Als Oshima die Zeilen liest, diskutiert er deren Inhalt jedoch nicht – wie vom Absender gewünscht – mit Premierminister Shinzo Abe, sondern ruft die Polizei. Der ehemalige Pfleger bietet darin nämlich an, er könne „für Japan“ 470 Menschen mit Behinderung töten. Nach der Tat würde er sich stellen, wenn ihm nach einer zweijährigen Haftstrafe eine Schönheits-OP, eine neue Identität und fünf Millionen US-Dollar (umgerechnet rund 4,6 Millionen Euro) zugesichert würden. „Ich bin mir bewusst, dass meine Bemerkung exzentrisch ist“, schreibt er. Er denke an die „müden Gesichter“ und leeren Augen der Betreuer. „Behinderte können nur Kummer bereiten […] Mein Ziel ist eine Welt, in der Schwerbehinderte, die nicht zu Hause leben und in der Gesellschaft aktiv sein können, mit der Einwilligung ihrer Betreuer Sterbehilfe bekommen können.“ Satoshi fordert in seinem Brief eine Gesetzesänderung, die dies ermöglicht. So könne seiner Meinung nach die Weltwirtschaft angekurbelt und ein dritter Weltkrieg verhindert werden. Er bezeichnet sein Vorhaben als eine Revolution.
Japan ist eines der Länder, in denen die Integration von Behinderten im Vergleich zu anderen Staaten nur schwer voranschreitet. Lange Zeit wurden Betroffene als minderwertig angesehen. Bis 1996 galt in dem asiatischen Land das sogenannte „Eugenik-Schutzgesetz“, das erlaubte, behinderte Menschen ohne deren Wissen oder Einwilligung zu sterilisieren. 48 Jahre lang war das in Japan legal, bis ein Gericht in Kobe den Paragrafen für verfassungswidrig erklärte. Doch auch noch im ersten und zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts schämen sich viele Familien, wenn ein Mitglied betroffen ist. Oft wird es geheim gehalten, um das Ansehen in der Öffentlichkeit zu wahren, in der beeinträchtigte Menschen so gut wie unsichtbar sind. Laut eines Jahresberichts des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales leben 2018 in Japan über 9,6 Millionen Betroffene mit körperlichen, intellektuellen oder geistigen Beeinträchtigungen. Das sind 7,6 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die meisten wohnen zu Hause bei ihren Familien (über 93 Prozent), die restlichen Betroffenen in Heimen – in vielen Fällen versteckt. Das asiatische Land braucht sechs Jahre, um einen Beschluss der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2008 gegen die Diskriminierung Behinderter umzusetzen. Erst 2014 ratifiziert die japanische Regierung die UN-Konvention, die Staaten dazu verpflichtet, „Personen mit Behinderungen bestehende Menschenrechte zu gewährleisten, ihre Ansprüche auf Selbstbestimmung, Diskriminierungsfreiheit und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe geltend zu machen“. Lediglich in den Bemühungen der Barrierefreiheit ist der Staat gegenüber anderen westlichen Ländern fortgeschritten. Doch in den Köpfen der Bevölkerung existiert die Stigmatisierung von Behinderten weiterhin.
Dieses Denken erklärt vielleicht, warum die Behörden Satoshi Uematsu aufgrund seines Briefes nicht strafrechtlich verfolgen. Da der Absender das Schreiben mit vollem Namen, Adresse und sogar seiner Telefonnummer unterzeichnet hat, können Polizeibeamte ihn am 19. Februar 2016 ausfindig machen. Der Verfasser wird nicht ins Gefängnis gebracht, sondern in eine Psychiatrie eingewiesen. Am gleichen Tag twittert der junge Mann wieder: Man habe ihm einen „freiwilligen Ruhestand“ gewährt, aber er „könnte trotzdem verhaftet werden“.
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