Jeder lügt, so gut er kann - Gisa Pauly - E-Book
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Jeder lügt, so gut er kann E-Book

Gisa Pauly

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Beschreibung

Mit sechzig beschließt Anna, sich endlich ihren Lebenstraum zu erfüllen – ein Hotel in Siena! Hier in der Toskana möchte sie ihre Herkunft vergessen, denn Anna stammt aus einer Familie, die mit Gaunereien und Diebstählen traurige Berühmtheit erlangt hat. Doch ehe sie sichs versieht, steckt sie selbst mittendrin in einem Verbrechen: Erst wird bei ihr eingebrochen, dann wird sie in einen Bankraub verwickelt. Und als plötzlich ihre Tochter vor der Tür steht und Anna es zudem mit gleich zwei Männern zu tun bekommt, die in sie verliebt sind, muss sie feststellen, dass auch in ihrem neuen Leben Jeder lügt, so gut er kann. Ganz schön viel für eine Frau ihres Alters. Findet jedenfalls ihre Tochter …

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Ich danke meiner Freundin Gisela Tinnermann, die wieder einmal bereit war, meine Erstfassung zu lesen und mit ihren guten Ratschlägen die Endfassung maßgeblich beeinflusst hat.

ISBN 978-3-492-99166-7© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: U1 berlin / Patrizia Di StefanoCovermotiv: Patrizia Di Stefano unter Verwendung mehrerer Motive von dim86b / istockphoto; Sonsedska Yuliia / shutterstock; msv/123RF; pixhook / Getty Images; Jorg Greuel / Getty ImagesDatenkonvertierung: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

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Doch, ich liebe meine Tochter! Wo denken Sie hin? Sie ist mein einziges Kind, es war nicht leicht, sie alleine in Deutschland zurückzulassen. Aber als es dann geschafft war, als ich ihr genug Geld zugesteckt hatte, als die Gier aus den Augen ihres grässlichen Freundes vorübergehend gewichen war und aus ihren Augen die Angst, da ist mir klar geworden, dass das Leben mehr zu bieten hat, wenn man das Muttersein hinter sich lässt. Ehefrau bin ich nun nicht mehr, Tochter ebenfalls nicht. Schön, wenn man sich sagen kann, dass diverse Lebensabschnitte bewältigt sind, dass keine Lücken hinterlassen wurden, sondern jeweils die Tür zu einem Neuanfang geöffnet wurde. Schwester? Ja, das bin ich immer noch, aber von meinen Brüdern will ich hier nicht reden. Und von meinem Onkel, der mich seine Lieblingsnichte nannte, obwohl ich seine einzige war, auch nicht. Ich sehe da so ein Glitzern in Ihren Augen! Stellen Sie sich gerade ein Leben ohne erdrückende Lebenspartnerschaft, fordernde Kinder und lästige Verwandte vor? Dann machen Sie es doch so wie ich. Hauen Sie ab. Nach Siena. Oder irgendwo anders hin, egal. Hauptsache, weg!

Seit sie eine erwachsene Frau war, hatte sie nicht mehr in der Öffentlichkeit gesungen, weil sie wusste, dass sie nicht singen konnte. Nun tat sie es trotzdem – oder sogar gerade deswegen. »Strangers in the night …«

Die Seitenscheiben heruntergedreht, ließ sie die Stadt Siena, ihre Einwohner und sämtliche Touristen an dem teilhaben, was ihren Musiklehrer regelmäßig dazu veranlasst hatte, sämtliche Fenster zu schließen. Als sie den Wunsch erkennen ließ, dem Schulchor beizutreten, war ihm sogar der Angstschweiß auf die Stirn getreten. Damals war ihr noch nicht klar gewesen, dass sie keinen Ton traf und sich maßlos überschätzte, wenn es um Koloraturen ging. An denen hatte sie sich einmal während des Musikunterrichts derart unbekümmert versucht, dass der Hausmeister hereinstürzte und besorgt nachfragte, ob er den Notarzt alarmieren müsse. Erst als sie einem Mann, in den sie sich verliebt hatte, »Erinnerung« aus Cats vorsang, weil er Geburtstag hatte und mit etwas Besonderem beschenkt werden sollte, begann sie zu ahnen, wie es um ihr Talent bestellt war. »Hoffnung, in mir lebt noch die Hoffnung …« brachte den jungen Mann bereits komplett aus der Fassung, und »Spür mich, komm zu mir und berühr mich …« schlug ihn in die Flucht. Und zwar endgültig!

Am Singen hinderte sie diese Erfahrung nicht, sie sorgte aber von da an dafür, ihre Stimme maßvoll einzusetzen, zum Beispiel bei der Hausarbeit und immer bei geschlossenen Fenstern.

Seit sie in Siena lebte, war es mit dieser Zurückhaltung allerdings vorbei. Sie fühlte sich wieder so sorglos und auch naiv wie zu jener Zeit, als sie von ihrer Talentfreiheit noch nichts mitbekommen hatte. Italiener waren ja gottlob mit lautem Gesang und falschen Tönen nicht zu erschrecken, sondern allenfalls zu erheitern. Diejenigen, die sich missbilligend umblickten, waren garantiert deutsche Touristen. Doch die kümmerten sie nicht. Irgendwie musste es doch raus, ihr neues, ihr strahlendes, ihr in Regenbogenfarben glitzerndes Glück. Sie war selbstständig, unabhängig! Auf sich allein gestellt, dabei aber nicht allein. Auf Hilfe zwar angewiesen, aber in der Lage, sie zu bezahlen. Einfach himmlisch! Und jung! Ja, jung war sie auch. Total verrückt, aber sie fühlte sich in diesem neuen Leben wirklich jung. Und das mit sechzig Jahren und trotz ihrer Kniearthrose.

»Strangers in the night …«

Sie machte es wie der Postbote, gab Gas, als sie in die Via Valdambrino einbog, schoss durch die Straße, die durch unzählige fahrlässig abgestellte Autos sehr eng geworden war, bis zur Grundstückseinfahrt. Dort hupte sie zur Warnung, statt den Blinker zu setzen, und stieß mit einem letzten Gasgeben auf den Platz neben dem Haus, ohne auf den Schrecken des Fahrers zu achten, der ihr entgegenkam. Grellbunter Leichtsinn! Wie viel Spaß es machte, leichtsinnig zu sein, hatte sie in Siena zum ersten Mal erfahren. Das Erbe ihrer Vorfahren, die ohne Leichtsinn ein besseres Leben gehabt hätten? Dann besser nicht daran denken. Und auf keinen Fall an Clemens, dem Leichtsinn zuwider gewesen war.

Sie stieg aus, dehnte den Rücken, lockerte unauffällig ihr Kniegelenk, klopfte sich imaginären Schmutz von den Händen und betrachtete ihren weißen Fiat wie ein Cowboy sein neues Pferd. Ihr eigenes Auto! Sie tätschelte dem Wagen sogar die Blesse, ehe sie sich unter dem Gerüst duckte, um zum Eingang ihres Hauses zu gelangen. Ihr Haus! Stolz blickte sie an der Fassade hoch, alt, verwittert, alltagsgrau und bröckelig. Aber das würde niemand mehr sehen, wenn erst der Name ihres Hotels daran leuchtete. Albergo Annina! Das einzige Hotel in dieser Straße, in der sonst nur Wohnhäuser für sozial schwache Mieter standen, eine Straße mit viel Grau, aber auch voller hellblauer und zartgelber Tupfen in der Luft, sobald die Sonne auf die Dächer gestiegen war; eine Straße, die leider nicht zu den bevorzugten Adressen gehörte, da die Touristen nicht zufällig auf dem Weg zum Campo hindurchströmten. Dennoch bot sie einen guten Start für die Besichtigung von Siena, wenn sie auch außerhalb der Stadtmauer lag. Anna würde damit Werbung machen können, dass der Weg in die historische Altstadt nicht weit war. Auch mit dem Blick auf die Basilica di San Francesco, die dem heiligen Franz von Assisi gewidmet worden war, würde sie werben können. Sie lag oberhalb einer breiten Senke, direkt hinter der Stadtmauer, auf der Piazza San Francesco. Ein Anblick, der niemanden kaltließ, bei dem man vergaß, dass das Hotel nicht gerade mit zentraler Lage punkten konnte. Wenn erst ein paar Touristen, die eine gute und günstige Unterbringung suchten, davon erfuhren, das Albergo Annina mit der deutschen Hotelleitung kennenlernten und dann durch Mundpropaganda das Haus bekannt machten, würde ihr Vorhaben gelingen, da war Anna ganz zuversichtlich. »I turned out so right for strangers …«

»Attenzione!«

Sie konnte sich gerade noch mit einem beherzten Satz unter das Gerüst retten, bevor der Dachziegel neben ihr zerschellte. »Sind Sie wahnsinnig geworden?« Die Freude über ihre Reaktionsschnelle hielt nicht lange an.

Sie klaubte ihren linken Flipflop unter den Ziegelscherben hervor und starrte nach oben, wo ein fragendes Gesicht erschien, das sich jedoch schnell wieder zurückzog. Die deutsche Signora wollte mal wieder auf Bauvorschriften pochen und über Sicherheit reden? Dann durfte sie sich nicht wundern, wenn sich die Bauarbeiten weiter in die Länge zogen und der Umbau von Tag zu Tag teurer wurde.

Aber die deutsche Signora hatte, seit sie in Siena lebte, einiges gelernt. Die Hoffnung der Arbeiter auf eine sanftmütige ältere Dame, die jeden kleinen Fortschritt mit Espresso und Gebäck belohnen und über alle Fehler milde lächelnd hinwegsehen würde, hatte sich schnell zerschlagen. Als die Gefahr vorüber war, von einem herabstürzenden Dachziegel erschlagen zu werden, trat Anna so weit unter dem Gerüst hervor, dass sie ungehindert nach oben schimpfen konnte. Die Bauarbeiter auf dem Dach und in der oberen Etage wunderten sich nicht schlecht über die Grobheiten, die zu ihnen heraufflogen. Und da sie, wenn sie sich wunderten, stiller waren als im Zustand der Verärgerung oder männlicher Überheblichkeit, kam von oben nichts zurück, was Anna dazu hätte bewegen können, in Zukunft auf das Anbieten von Limonade, Likör und deutschen Mettendchen zu verzichten.

Sie hatte ihr gesamtes Repertoire an Beleidigungen von sich gegeben und fühlte sich erleichtert, obwohl sie wusste, dass sie die Situation damit vermutlich nicht verbessert, sondern eher verschlechtert hatte. Es war ihr egal. Die Bauarbeiter waren schlampig und faul und würden es bleiben, aber sie hatte wenigstens dafür gesorgt, dass sie den Ärger darüber nicht in sich hineinfraß und am Ende mit einem Magengeschwür dastand.

»Idioten allesamt! Deppen! Armleuchter!«

Wenn einer der Arbeiter mit einem weiteren Dachziegel darauf geantwortet hätte, wäre sie weit weniger erschrocken gewesen als über die Reaktion, die sie nun traf wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

»Mama!« Die Betonung auf der ersten Silbe, mit so viel Vorwurf, wie darin unterzubringen war, und die Entrüstung, mit der die zweite Silbe nicht ausgesprochen, sondern ihr geradezu vor die Füße geworfen wurde.

Anna fuhr herum. »Henrieke?«

Die Stimme, so jung, war angefüllt mit der Herablassung und Anmaßung des Alters, das blasse Gesicht voller Zurechtweisung. »Ich habe dich singen hören.« Das klang so vorwurfsvoll, als wäre ihre Mutter wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet worden. Henriekes Blick wanderte von Annas Füßen zu den knappen Shorts, über das grellgelbe Top zu dem blond gefärbten Pixiecut, ihr Kopf bewegte sich im Rhythmus der riesigen Kreolen hin und her, die an Annas Ohren baumelten. »Mama, du siehst unmöglich aus.«

»Was machst du hier?«

Die Sonne kletterte an den Fassaden von Siena hoch und stieg in einem klaren Himmel über die Dächer, der Morgen nahm ganz allmählich seine himmelblaue Farbe an. Die Gassen blieben noch eine Weile im katzengrauen Schatten liegen und verteidigten die blasse Feuchtigkeit ihrer Pflaster. Sie waren im Morgengrauen von den Müllmännern abgespritzt worden, nachdem sie die Säcke mit dem Abfall eingesammelt und sämtliche Mülleimer geleert hatten. Das Gerumpel und Gepolter und die lauten Rufe der Männer waren zuverlässige Wecker. Anna hatte sich nur zwei-, dreimal darüber geärgert, als sie länger schlafen wollte, sich dann aber daran erinnert, dass sie von nun an Italienerin sein wollte. Daraufhin hatte sie sich schnell mit dem frühen Lärm abgefunden. Siena war so. In jeder italienischen Stadt ging es so zu, laut und lustig oder aggressiv, je nachdem. Aber auf jeden Fall laut.

Wenn es eben ging, begann sie ihren Tag auf der Terrasse, über die schon gegen neun die ersten Strahlen der Morgensonne huschten, häufig mit silbernen Spitzen, manchmal mit orangefarbenen Rändern. Die Terrasse war klein, darauf hatten nicht viel mehr als ein Tisch und ein paar Stühle Platz. Der Rest des Gartens stieg steil an, bis zu dem Zaun, hinter dem das Nachbargrundstück begann, das in der Via Boninsegna lag, die Straße über dem Albergo Annina. Dieser Garten war genauso steil, dort gab es allerdings hinter dem Haus eine gepflasterte waagerechte Fläche, die über die ganze Breite des Grundstücks verlief.

Auch Annas Wohnung war klein, eine enge Küche, ein winziges Schlafzimmer, ein kleiner Wohnraum, aber ein Bad, das erstaunlicherweise größer war als jedes andere Zimmer der Wohnung. Doch sie dachte selten an die geräumige Eigentumswohnung in Stuttgart zurück, in der für sie alles viel enger gewesen war als hier. Die Möbel waren allesamt verkauft worden, kein einziges Stück hatte sie nach Siena begleitet. Wenn schon ein Neuanfang, dann auch richtig! Kein blasser Start, sondern ein kunterbunter.

Sie goss sich eine Tasse Kaffee ein und zwang sich, die ersten Schlucke so zu genießen, als begänne dieser Tag genauso anemonenblau und sorglos wie der vorherige. Henrieke würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Mit einigem psychischen Kraftaufwand hatte Anna angezogen, was sie auch dann aus dem Schrank geholt hätte, wenn Henrieke nicht in Siena erschienen wäre: nein, nicht das dunkelblaue Sommerkleidchen mit den weißen Punkten, das Clemens gern an seiner Frau gesehen hatte, sondern über den Knien abgeschnittene Jeans und ein trägerloses Top. Henrieke würde ihr vermutlich vorhalten, dass sie auf einen BH verzichtete, aber Anna wollte sich diesen weiten Morgen nicht durch einen engen Wonderbra einschnüren lassen. Und dass sie dem Tag neuerdings unter brombeerfarbenem Lidschatten und aus kohlschwarz umrandeten Augen entgegensah, musste Henrieke einfach akzeptieren. Und wenn nicht …

»Dann eben nicht.«

Anna liebte diese frühe Stunde in Siena, wenn die Sonne bunte Flecken auf die grauen Hauswände malte und auch die fahle Müdigkeit zu buntem Leben wurde. Aber diesmal konnte sie die Frische des Morgens, die frühe, leichte Wärme nicht unbeschwert genießen. Henriekes Erscheinen hatte alles Beschwingte schwer gemacht und zu Boden gedrückt. Warum war sie nach Siena gekommen? Was wollte sie hier? Warum besuchte sie ihre Mutter schon so bald, wo sie doch vor deren Abreise angekündigt hatte, Anna mindestens ein Jahr nicht sehen zu wollen? Ihre Mutter sollte einsehen, wie verrückt ihr Umzug nach Siena war, schleunigst das Hotel wieder verkaufen und reuevoll nach Deutschland zurückkehren, wo ihre Tochter weiterhin lebte. Leben musste! Noch am Tag vor Annas Abreise hatte sie hinausposaunt, dass eine Mutter, die ihr Kind verließ, sehr fahrlässig mit der Liebe dieses Kindes umging. Dass es sich dabei um ein über dreißigjähriges Kind handelte, war angeblich ohne Bedeutung. Immerhin handle es sich nach Henriekes Bekunden um eine Tochter, die in Not war, die ihre Mama brauchte, die sich auf deren Unterstützung verlassen hatte – und zwar nicht nur auf emotionale. Anna wusste, dass Henrieke Dennis’ Sprachrohr war, dass sie seine Worte und Wünsche äußerte. Aber ihr war ebenso klar, dass auch ihre Tochter auf eine kräftige Finanzspritze gehofft hatte, als ihr Vater plötzlich starb und sich offenbarte, dass sein lebenslanger Geiz zu einer beträchtlichen Hinterlassenschaft geführt hatte.

Anna hatte in ihrer Kindheit und Jugend immer wieder den Satz gehört: »Wenn wir genug Geld zusammenhaben, machen wir ein Hotel in Siena auf.« Dann, wenn ihre Eltern gerade in Freiheit waren, fiel dieser Satz, von ihren Brüdern ebenfalls, wenn sie für eine Weile nicht einsaßen, aber Tante Rosi hatte sich jedes Mal an die Stirn getippt und Anna geraten, nicht auf diesen Unsinn zu hören. Sie war es auch gewesen, die aus ihrem Namen Annina, mit dem sie aus der Masse der vielen Heikes, Petras, Susannes und Sabines herausstach, den bescheidenen Namen Anna machte. »Ein Mädchen wie du sollte nicht auffallen.« Das war Tante Rosis Begründung gewesen. Und das Hotel in Siena, das sie ein Luftschloss nannte, sollte sie am besten schnell wieder vergessen. Aber in diesem Fall war es Tante Rosi nicht gelungen, aus den irisierenden Wolkenkuckucksheimen der Eltern und Brüder ein solides, blau gekacheltes Lebenskonzept zu machen. Der Satz war schon früh dort gesät worden, wo in Anna die Hoffnung saß, und die Saat war aufgegangen. Tante Rosi hatte es zum Glück nicht mehr erlebt.

So hatte sie auch nicht verhindern können, dass Henrieke ebenfalls mit diesem Satz aufwuchs. Aber Anna hatte ihn immer nur leise ausgesprochen, wenn ihr Mann es nicht hören konnte, der über solche absonderlichen Ideen nur den Kopf geschüttelt hätte. Ein Hotel in Siena! Total übergeschnappt! Dann jedoch stellte sich heraus, dass der Wunsch mit dem, was er seiner Frau hinterließ, erfüllt werden konnte, so verrückt und absonderlich er auch genannt worden war. Hätte Clemens geahnt, dass seine Frau noch immer dieser Idee nachhing, hätte er sein Geld vermutlich lieber einem Karnickelzuchtverein oder den Zeugen Jehovas vermacht.

Anna sah hoch, blinzelte in die Helligkeit und versuchte, ihre dunkelgrauen Sorgen von der Himmelsbläue erhellen zu lassen. Aber es gelang ihr nicht. Es würde nicht lange dauern, und ihr farbenfreudiger Neuanfang würde aussehen wie Buntwäsche, die mit schwarzen Socken gewaschen worden war. Am Abend ihrer Ankunft hatte Henrieke noch den Anstand besessen, nicht mit ihrem Anliegen ins Haus zu fallen, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sie damit herausrücken würde. Und dann?

»Ich habe es nicht mehr ausgehalten, Mama«, hatte sie erklärt und ihre Mutter noch einmal in die Arme gezogen, so vorsichtig, wie es die ganze Familie bei Clemens’ Tante getan hatte, die stets kränklich, von zarter Statur gewesen war und so zerbrechlich gewirkt hatte, dass niemand es wagte, ihr auch nur kräftig die Hand zu schütteln. Tante Erica war ja von so hinfälliger Konstitution, dass man ständig mit ihrem Dahinscheiden rechnen musste, was sich erstaunlicherweise von einem Jahr aufs nächste verzögerte. Am Ende hatte Tante Erica sogar Clemens um drei Monate überlebt.

Anna hatte sich so behutsam von ihrer Tochter frei gemacht, wie es auch Tante Ericas Art gewesen war. Dann aber hatte sie gefragt, was der alten Tante niemals über die Lippen gekommen wäre: »Prosecco oder Hugo?«

Sie war Henrieke vorausgegangen, hatte das Wohnzimmer durchquert, was lediglich drei, vier Schritte erforderte, und sich erst auf der Terrasse zu ihrer Tochter umgedreht. Die war damit beschäftigt, erst die Wohnungstür zu schließen, dann die Wohnzimmertür ins Schloss zu drücken und schließlich sogar die Terrassentür hinter sich zuzuschieben. »Dass du immer noch alle Türen offen lässt! Papa hat das wahnsinnig gemacht.«

»Papa lebt nicht mehr. Ich wohne hier allein. Niemanden stört es, wenn ich die Türen offen lasse.«

Henrieke betrachtete ihre Mutter mit einem nachsichtigen Lächeln, wie Tante Rosi es immer aufgesetzt hatte, wenn es ihr angemessen erschien, Anna an ihre Herkunft zu erinnern, damit sie nicht übermütig wurde und am Ende noch meinte, ihre Familie sei genauso gut wie jede andere.

»Ich weiß schon, warum du dich nicht gern in einem Raum mit geschlossener Tür aufhältst«, sagte Henrieke, wie es auch Tante Rosi gelegentlich beim Namen genannt hatte. »Du willst niemals so leben wie deine Eltern und deine Brüder. Hinter Schloss und Riegel.«

Anna antwortete nicht darauf. Sie sah in das Gesicht ihrer Tochter, die ihrem Vater so ähnlich war, und erkannte in ihren Augen etwas, das auch in Tante Rosis Blick gelegen hatte. Wohlanständigkeit, Ehrlichkeit, alles in verlässlichem Linoleumbraun. Was Clemens anging, leider auch Pedanterie und Geiz, während Tante Rosi neben ihrer Beharrlichkeit und Konsequenz auch viel Verständnis und Liebe ausgestrahlt hatte. Der Leichtsinn, an dem Annas Eltern gescheitert waren, und die Gewissenlosigkeit, die ihre Brüder daraus gemacht hatten, waren in Henrieke nicht zu erkennen. Manchmal hatte Anna es sich sogar gewünscht, hätte gern das Hausbackene mit pinkfarbener Leichtigkeit betupft und Henriekes konsternierte Spitzmündigkeit in ein breites Lächeln verwandelt. Aber Henrieke war geblieben, wie sie war, daran hatte nicht mal Dennis Appel etwas ändern können, der es sicherlich versucht hatte. Anna fragte sich wieder einmal, warum er sich in Henrieke verliebt hatte. War er überhaupt in sie verliebt? Die Angst, dass ihre Tochter ausgenutzt wurde, war Anna bis nach Siena gefolgt, das wurde ihr jetzt klar. Ihr geliebtes kleines Mädchen! Warum war es nicht gelungen, aus ihr eine selbstbewusste junge Frau zu machen, die auf ihrem Recht beharrte?

Henrieke hatte mit der Unterbringung in einem komfortablen Hotelzimmer gerechnet und war enttäuscht, als sie hörte, dass sie im Wohnzimmer schlafen sollte. »Auf dieser unbequemen Couch?«

Anna bot ihr das eigene Bett an und behauptete, ihr mache es nichts aus, auf dem Sofa zu nächtigen. Aber davon wollte Henrieke nichts wissen. »In deinem Alter! Ich will nicht schuld daran sein, dass du es morgen im Kreuz hast.«

Missbilligend betrachtete sie später Annas knappes Nachthemd mit den Spaghettiträgern. »Wenn du dir den Nacken verkühlst, bist du wieder wochenlang verspannt.« Auch Tante Rosi hatte manchmal diesen besorgten Blick aufgesetzt, der in Wirklichkeit ein einziger Vorwurf war. »Oder hast du etwa jemanden kennengelernt, Mama?« Und wieder der Zusatz: »In deinem Alter!«

Anna antwortete darauf nicht, sondern verzog ihrerseits missbilligend das Gesicht, als sie sah, wie Henrieke schlafen ging: in den uralten Adidas-Shorts, die sie schon besessen hatte, als sie noch zur Schule ging, und einem Shirt, das längst in die Altkleidersammlung gehörte. Es war das erste Mal, dass Anna einen freundlichen Gedanken für Henriekes Freund erübrigte. Seine Freundin tat wirklich nicht viel, um für ihn begehrenswert zu sein. Erstaunlich, dass er das hinnahm, ohne sich zu beklagen. Wo er sich doch sonst so ziemlich über alles beklagte, was das Schicksal ihm ungerechterweise vorenthielt, alles, was ihm nicht in den Schoß fiel, sondern mit etwas Aufwand erarbeitet werden musste. Das Leben war ja so ungerecht und das Schicksal mit Blindheit geschlagen! Dass Dennis Appel keine gut bezahlte Anstellung fand, konnte natürlich nur daran liegen, dass er für die meisten Bereiche des Arbeitsmarktes überqualifiziert war, und dass es keinen Markt für seine wirren Geschäftsideen gab, lag selbstverständlich daran, dass die Investoren, die die Kohle besaßen, nicht die Eier hatten, etwas zu riskieren. Und dafür, dass Megan Fox sich nicht für ihn entschieden hatte, konnte es nur einen Grund geben: Er hatte nie die Gelegenheit bekommen, ihr unter die Augen zu treten. Wenn er mit dieser Litanei noch nicht genug Aufmerksamkeit erhalten hatte, verstieg er sich auch gern zu der Behauptung, er habe sich einfach für die falsche Freundin entschieden. Henrieke verdiente kein Geld, hatte ihren Job riskiert und verloren, so musste er sie mit seiner kleinen Unterstützung durchfüttern. Also war sie schuld, dass er seine Pläne nicht in die Tat umsetzen konnte …

Henrieke trug noch die alten Adidas-Shorts, als sie zu ihrer Mutter auf die Terrasse kam. Sie war sehr blass, ihre Augen waren ohne Glanz, ihre Haare stumpf und trocken, die Haut sah schuppig und ungepflegt aus. Ihr ganzes Erscheinungsbild trug einen Grauschleier. Anna betrachtete ihre Tochter und spürte, dass sich ein Ring der Verzweiflung um ihr Herz legte. Henrieke war unglücklich, und es war schrecklich, ihr nicht helfen zu können. Sie hatte es daheim, in Stuttgart, oft genug versucht, war aber immer wieder an der Erkenntnis gescheitert, dass Henrieke unter Hilfe etwas anderes verstand als ihre Mutter. Anna wollte ihre Tochter aus der unglückseligen Verbindung mit Dennis lösen, ihr helfen, beruflich wieder Fuß zu fassen und auf eigenen Beinen zu stehen, Henrieke dagegen war nur auf finanzielle Unterstützung aus. Sie wollte Dennis Geld geben, damit er frohgelaunt war, sie sein Häschen nannte und ihr endlich einen Heiratsantrag machte. In Hundert-Euro-Scheinen wollte sie für ein Glück bezahlen, das es bei Dennis Appel nicht umsonst gab. Dass Liebe mit Geld nicht zu erkaufen war, hatte Henrieke nach und nach vergessen.

Aber wie bei einem suchtkranken Kind half es nichts, die Sucht zu unterstützen, damit ein paar Tage Ruhe war. Wirkliche Hilfe bot nur derjenige, der bereitstand, wenn das Kind ganz unten angekommen war und endlich einsah, was geändert werden musste. Anna erkannte, dass Henrieke noch längst nicht so weit war.

Schweigend sah sie zu, wie ihre Tochter ein Brötchen aufschnitt, und betrachtete dabei ihre abgekauten Fingernägel und die zerfetzte Nagelhaut. Erst als Henrieke ihr Brötchen mit Marmelade bestrichen hatte und zum Mund führte, fragte sie: »Du bist wegen Geld gekommen?«

Henrieke versuchte es mal wieder mit Entrüstung. »Ich bin da, weil ich sehen will, wie es dir geht. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Mama. Ganz allein in Siena! Andere Frauen in deinem Alter setzen sich zur Ruhe und pflegen ihre Gesundheit. Gelegentlich mal eine Kaffeefahrt oder meinetwegen eine Busreise in die Toskana … aber was machst du?« Zum Glück erwartete sie keine Antwort. »Du bist nicht mehr die Jüngste, Mama. Du hast dir zu viel vorgenommen. Wie willst du das alles schaffen?«

»Bis jetzt geht es ganz gut.« Anna wischte sich ihre Liebe zu Henrieke aus den Augen. »Ich glaube dir nicht, es geht dir nicht um mich. Es geht um Dennis. Wie immer! Du willst Geld, nur deshalb bist du hier.«

Henrieke rutschte das Brötchen aus der Hand, mit der Marmeladenseite auf ihren nackten Oberschenkel. »Wie kommst du nur darauf?«

»Ich sehe doch, dass es dir schlecht geht.« Anna beobachtete, wie Henrieke die Marmelade von ihrem Schenkel strich und den Zeigefinger ableckte. »Wenn es dir schlecht geht, hat das immer mit Dennis zu tun.«

In Henriekes Augen traten Tränen, aber sie schluckte sie tapfer herunter. »Er kann in ein Start-up-Unternehmen einsteigen. Eine tolle Gelegenheit! Ein alter Schulfreund …«

Aber Anna fegte mit einer Handbewegung alle weiteren Sätze aus der Luft, bevor sie ausgesprochen werden konnten. »Schon wieder eine tolle Gelegenheit? Die wievielte? Und so todsicher wie die, für die du in deiner Firma Unterschlagungen begangen hast? Todsicher an dieser Sache war nur, dass du deinen Job verloren hast und nie wieder einen neuen finden wirst.«

Nun weinte Henrieke doch. »Ich weiß, dass das ein großer Fehler war. Aber es war meine Schuld, nicht Dennis’.«

»Er hat dich dazu überredet.« Anna stand auf, um sich größer zu machen, um alles, was Henrieke auf der Zunge lag, all das, was sie schon tausendmal gehört hatte, zu unterbinden. »Du kannst dir alle weiteren Erklärungen sparen. Ich denke nicht daran, das Geld, das dein Vater zusammengespart hat …«

»Zusammengegeizt!«

»Egal! Dieses Geld werde ich jedenfalls nicht Dennis Appel in den Rachen werfen.«

»Ich bin es, die dich um Geld bittet, Mama.«

»Ich weiß doch, dass es bei Dennis landen wird. Solange du mit ihm zusammen bist, wirst du kein Geld von mir bekommen. Nichts!« Sie atmete tief durch und setzte sich wieder. Sie spürte, dass sie zitterte. Es war schrecklich, dass sie so mit ihrer Tochter sprechen musste. »Es geht sowieso nicht. Ich habe alles in dieses Hotel gesteckt. Was noch übrig ist, brauche ich für die Innenausstattung. Was meinst du, was das alles kostet!«

Sie betrachtete ihre weinende Tochter eine Weile und nur mit größter Willensanstrengung gelang es ihr, die eigenen Tränen zurückzuhalten. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen den Wunsch an, Henrieke mit einem ganz und gar unvernünftigen Versprechen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Schließlich griff Anna nach der klebrigen Hand ihrer Tochter. »Wir gehen heute Nachmittag in die Stadt und kaufen dir ein hübsches Sommerkleid. Einverstanden? Zum Friseur und zur Kosmetikerin gehen wir auch. Dann noch ein leckeres Eis … wir machen uns einen richtig schönen Tag. In Blaubeerenblau und Babyrosa.«

Henrieke betrachtete ihre Mutter kopfschüttelnd. »Du und deine Farben! Versuchst du noch immer, dir das Leben bunt zu machen?«

Anna schwieg und fühlte, wie die Verlegenheit in ihre Wangen stieg. Granatapfelrot fühlte sie sich an. Schon als Kind hatte sie jedes Gefühl in Farbe getaucht und auch ihren Alltag nach Farben sortiert. Anna war unfähig, ihre Emotionen anders einzuteilen als in die Katalogisierung, die die Farben boten. »Bei mir ist das nun mal so«, erklärte sie hilflos. »Mir weisen nicht Worte den Weg, sondern Farben. Auch meine Gefühle sind farbig. Also machen wir uns einen bunten Tag.«

Das Krachen einer Leiter unterbrach sie, als sie mit voller Wucht auf das Terrassengeländer fiel.

»Scusi, Signore!«

Anna seufzte. »Vorausgesetzt, die Bauarbeiter bringen uns vorher nicht um.«

Sie meinen, ich hätte nachgiebiger sein sollen? Nein, ich bin sicher, das wäre ein Fehler gewesen. Dennis Appel ist ein Fass ohne Boden. Das Geld, das Henrieke ihm beschafft, rinnt ihm durch die Finger. Es wäre in kurzer Zeit in dubiosen Geschäften versickert, und meine Tochter würde erneut vor der Tür stehen. Sie kauft sich damit nur ein paar unbeschwerte Tage, Wochen oder Monate, je nachdem, wie groß der Betrag ist, den sie bei Dennis abliefern kann. Ich verstehe nicht, warum sie bei ihm bleibt.

»Schlägt er dich? Droht er dir?« Anna stellte diese Frage, während sie vorm Spiegel ihre Haare zurechtzupfte und ihre Tochter die Schuhe wechselte.

Henrieke zuckte zusammen. »Wie kommst du darauf?«

»Warum trennst du dich nicht von ihm?«

»Weil ich ihn liebe.« Das kam wie aus der Pistole geschossen, so als brauchte Henrieke darüber nicht nachzudenken.

»Wie kannst du einen Mann lieben, der dich unglücklich macht?«

»Papa hat dich auch nicht glücklich gemacht. Und trotzdem bist du bei ihm geblieben.«

Touché! Anna wusste, dass es jetzt besser war, den Mund zu halten. Henrieke hatte ja recht, sie war mit Clemens nicht glücklich geworden. Aber er hatte sie geliebt. Auf seine Weise! Er hatte sie nie belogen, nie betrogen, hatte alles für sie getan – vorausgesetzt, es kostete nichts. Er hatte sie geliebt, ja, nur dass seine Liebe sie nicht hatte glücklich machen können, sie hatte nie gestrahlt, sie war immer dämmriggrau geblieben. Sein Geiz war immer unerträglicher geworden, je älter er wurde, aber seine Liebe war geblieben, wie sie war. Und deshalb hatte Anna es nicht fertiggebracht, sich von ihm zu trennen. Stattdessen hatte sie kleine Hoffnungen zu hübschen Wolkentürmchen aufgebaut und wie ihre Eltern oft vor sich hin gemurmelt: »Wenn ich frei bin … dann!« Und schließlich hatte sich das Gefühl von Freiheit eingestellt. Lange vor Clemens’ Tod. Noch keine wirkliche Freiheit, aber die Chance dazu. Das hatte schon gereicht, für eine ganze Weile. Henrieke hatte ja keine Ahnung, wie ihre Mutter dem Schicksal auf die Sprünge geholfen hatte. Und sie durfte es auf keinen Fall erfahren. Niemand durfte das! Ihr Geheimnis hatte sie mit nach Siena genommen, und hier würde es bleiben, von der Sonne beschienen, von Wärme umhüllt, von einem blauen Himmel behütet.

Es wurde ein schöner Nachmittag, wenn er auch durch Henriekes fortwährende Missbilligung nur schwer in Gang kam. Mit ihrer altjüngferlichen Miene erstickte sie zunächst jeden Übermut im Keim und war noch mit der »unmöglichen Aufmachung« ihrer Mutter beschäftigt, als sie schon im Gewimmel der Gässchen rund um den Campo angekommen waren, wo sich eine Boutique an die andere reihte.

»Was hast du dich verändert, Mama!«

»Gott sei Dank! Das wurde auch Zeit!«

Das wollte Henrieke auf keinen Fall bestätigen. Annas Frisur erschien ihr nicht altersgemäß, ihre enge Hose für eine Sechzigjährige geradezu skandalös, das tief dekolletierte Shirt erst recht und ihr Make-up war angeblich ein einziger Schrei nach männlicher Aufmerksamkeit. »So was gehört sich nicht für eine Frau in deinem Alter.«

Anna warf den Ball zurück. Nach ihrer Meinung gehörte es sich nicht, dass eine junge Frau auf jedes Make-up verzichtete, sich für eine Frisur ausschließlich nach praktischen Kriterien entschied, ein sackähnliches Kleid überwarf, wie es Annas Oma bei der Gemüseernte zu tragen pflegte, und in Gesundheitssandalen schlüpfte, als wäre ihr die psychische Gesundheit aller Ästheten total egal.

Dann aber stieg in Henriekes Augen endlich der Glanz, der bewies, dass sie noch jung war, noch unbeschwert sein und etwas genießen konnte, was oberflächlich, überflüssig und komplett banal war. Schon lange waren sie nicht mehr gemeinsam shoppen gewesen und noch nie so unbekümmert wie an diesem Tag. Normalerweise war es für Henrieke schwer, mit gut gefüllten Einkaufstaschen zu Dennis zurückzukehren, der ihr dann vorrechnete, dass das verschwendete Geld für etwas so Wichtiges wie das Tuning seines Autos besser hätte genutzt werden können. Und als Annas Mann noch lebte, waren ausschweifende Einkaufstouren sowieso undenkbar gewesen. Er hätte sich jeden Posten auf der Liste ihrer Einkäufe erklären lassen, Anna vorgehalten, dass sie überhöhte Preise gezahlt hatte, ohne zu handeln, und ihr auseinandergesetzt, dass der Kaffee bei McDonald’s billiger gewesen wäre als in einem alteingesessenen Café der Stadt. So lange hätte er geprüft und nachgerechnet, bis alle Freude in den Zahlen aufgegangen und die farbenfrohe Spontanität zu fahler Vernunft geworden wäre.

An diesem Nachmittag konnten sie Dennis und Clemens vergessen, jedenfalls für eine Weile. Henrieke stimmte sogar leise ein, als Anna auf der Rückfahrt die Seitenscheiben herunterließ und sich ohne Rücksicht auf das Andenken von Giuseppe Verdi zum Teil des Gefangenenchors aus seiner Oper Nabucco machte. Immerhin hielt es Henrieke so lange aus, bis sie merkte, dass ihre Mutter einen selbst erdachten Text sang, in dem sich Liebe auf Triebe reimte. Danach war Schluss!

Bei ihrer Rückkehr schwenkten sie Einkaufstüten und kicherten albern, als vom Dach des Hotels Pfiffe zu hören waren. Henrieke redete nicht einmal mehr davon, dass es unverzeihlich sei, die kurze Strecke mit dem Auto zu fahren, das Anna schon gleich hinter der Stadtmauer hatte stehen lassen müssen, weil der Stadtkern praktisch autofrei war. Aber Anna hatte kurz nach ihrer Ankunft in Siena eine junge Frau kennengelernt, die in der Nachbarschaft wohnte und an der Rezeption des Hotels Minerva, direkt hinter der Stadtmauer, arbeitete. Tabita hatte dafür gesorgt, dass Anna jederzeit die Hotelgarage benutzen konnte, die direkt neben dem Minerva lag und durch eine Schranke vor der Benutzung Unbefugter geschützt wurde.

Henrieke ging schnurstracks ins Bad, bewunderte im Spiegel ihren neuen Haarschnitt mit dem Fransenpony und lamentierte darüber, dass es zu gewagt gewesen sei, sich für türkisfarbenen Nagellack zu entscheiden. Währenddessen holte Anna einen Piccolo aus dem Kühlschrank. Ihr Herz war leicht, in ihrer Brust saß ein Kichern, durch ihren Kopf nebelte die apricotfarbene Hoffnung, Dennis Appel ein für alle Mal zu vertreiben und mit Henrieke ein glückliches Leben in Siena zu führen … da klingelte das Handy ihrer Tochter. Anna warf einen Blick aufs Display: Dennis.

Sie nahm die Flasche und zwei Gläser und ging auf die Terrasse, damit sie den flackernden Namen nicht mehr sehen musste. Dass sie die Badezimmertür schlagen und Henriekes schnelle Schritte hörte, erbitterte sie. Es kam ihr so vor, als hätte Dennis »Bei Fuß!« gerufen und Henrieke sich neben ihn gesetzt und zu ihm aufgeblickt. Zornig ließ sie den Korken knallen, während Henrieke mit dem Handy am Ohr an ihr vorbeiging, das Törchen öffnete, das von der Terrasse in den Garten führte, und dann die Steine hinaufstieg, die der Vorbesitzer im Garten verteilt hatte, damit man von Beet zu Beet kam, ohne abzurutschen und den steilen Garten herunterzupurzeln. Henrieke stieg, so hoch es ging, während Anna die Gläser füllte, als rechnete sie damit, dass das Gespräch nicht lange dauern würde.

Henrieke drehte ihrer Mutter den Rücken zu und hielt sich am Zaun fest, während sie mit Dennis sprach. Ihre Haltung veränderte sich, sie zog die Schultern hoch, senkte den Kopf, machte sich klein. Das neue Kleid schien plötzlich nicht mehr richtig zu sitzen, die bunten Farben waren mit einem Mal blasser, das Türkis passte nicht mehr zu den Fingernägeln.

Anna hörte, wie die Wohnungstür knarrte, die sie wieder einmal nicht geschlossen hatte. Schritte kamen auf die Küchentür zu, die ebenfalls offen stand. »Jemand da?«

Levi Kailer, der Architekt, den sie mit den Umbauarbeiten beauftragt hatte, machte einen langen Hals, als er Anna auf der Terrasse sah. »Ich muss mal eben nach den Leitungen im Badezimmer schauen.« Er schenkte ihr sein jungenhaftes, verlegenes Lächeln und verschwand wieder.

Anna hatte sich schon oft gefragt, wann das Unweigerliche passieren und sie Levi Kailer in einem Zustand begegnen würde, in dem man höchstens einem nahen Angehörigen gegenübertreten möchte. Schon einige Male hatte sie im allerletzten Moment eine Decke um sich gewickelt oder ein Badehandtuch vor ihre Blöße gehalten, »Besetzt!« geschrien, wenn seine Schritte auf die Toilettentür zukamen, und eine Feuchtigkeitsmaske eilig vom Gesicht gewischt, ehe er im Türrahmen auftauchte. Vielleicht hätte sie ihm den Schlüssel doch nicht anvertrauen sollen. Oder sie hätte ihn besser mit dem Hinweis übergeben, dass er nur im Notfall zu benutzen sei, also dann, wenn sie nicht anwesend war, Levi Kailer aber unbedingt ein Aufmaß nehmen oder irgendeinen baulichen Zustand überprüfen musste. Andererseits benutzte er ihn sowieso nur selten, da Anna in Siena niemanden hatte, der ihr einschärfte, die Türen hinter sich zu schließen. Bis jetzt jedenfalls …

Levi hatte wie immer eine Antwort gar nicht abgewartet und war im Bad verschwunden, ohne sich zu fragen, ob er dort auf die Dessous vom Vortag, einen vergessenen BH oder ein paar Slipeinlagen stoßen könnte. Anna hörte ihn rumoren und entspannte sich wieder. Der schnörkellose, geradlinige Levi war jemand, der über einen auf dem Boden liegenden Strumpfgürtel hinwegsteigen würde, ohne ihn zu sehen.

Er wohnte in dem Haus, dessen Garten an Annas Grundstück grenzte. Ein junger Architekt in Henriekes Alter, der sich über den Auftrag gefreut hatte, Annas Hotel umzubauen. Noch mehr hatte er sich gefreut, dass sie auch die Dienstleistungen seiner kleinen Bauunternehmung benötigte, die er seinem Architekturbüro angeschlossen hatte. Ein großer Name für das, was diese Bauunternehmung bot, aber immerhin. Levi beschäftigte einige Arbeiter, meist nur stundenweise und im Allgemeinen entweder Arbeitslose, die sich etwas dazuverdienten, wovon der Staat nichts wusste, oder junge, kräftige Kerle, denen das Gehalt in ihrer Festanstellung nicht reichte. Im Erdgeschoss seines Hauses waren nicht nur seine kleine Wohnung und ein Büro eingerichtet worden, dort gab es auch ein Sammelsurium von Abstellräumen voller Gerätschaften und Werkzeuge und eine Werkstatt, in der repariert wurde, was nicht mehr funktionierte. Ein paar alte Baufahrzeuge, die Levi in einer Konkursmasse entdeckt hatte, waren bei einem Bauern außerhalb der Stadt untergebracht worden. Zu Levis Leidwesen wurden sie selten benötigt. Er war immer hocherfreut, wenn es einen Grund gab, die kleine Raupe zu benutzen oder gar den Bagger, der bisher noch nie hatte zeigen müssen, ob er funktionierte.

Anna hatte sich auch gefreut. Darüber, den Architekten und Bauunternehmer in unmittelbarer Nachbarschaft zu haben und ständig mit Fragen zu ihm kommen zu können. Als Lohn für seine Dauerpräsenz hatte er ihren Wohnungsschlüssel bekommen, damit er jederzeit Zutritt zu sämtlichen Aufmaßen, Leitungen, Tür- und Fensteröffnungen hatte. Als sie ihn kennenlernte, war ihr der Gedanke durch den Kopf geflogen, dass er gut zu Henrieke passen könnte. Jetzt flatterte diese Idee erneut auf sie zu. Und gleichzeitig der Einfall, dass ein anderer Mann die Lösung sämtlicher Probleme sein könnte. Henrieke wusste ja gar nicht mehr, wie schön die Liebe sein konnte. Sie kannte nur noch deren Schattenseiten und hielt diese für den Preis, den sie für die kurzen Zeiten im Licht der Liebe zu zahlen hatte.

Andererseits hatte Levi eine schwere Enttäuschung hinter sich und war nicht bereit, sich auf eine neue Beziehung einzulassen. Das hatte Konrad, sein Vater, erzählt. Levi hatte sich während des Studiums in eine italienische Kommilitonin verliebt, deren Vater ein Architekturbüro in Florenz betrieb. Das sollte die Tochter später weiterführen, und ein Architekt an ihrer Seite war dem Vater hochwillkommen gewesen. So waren die beiden nach bestandenem Examen gemeinsam nach Florenz gegangen, mussten jedoch bald feststellen, dass ihre Liebe dem Alltag nicht gewachsen war. Levi hatte es an Sensibilität fehlen lassen, hatte jeden Jahrestag verpennt, nie bemerkt, wenn seine Freundin vom Friseur kam, kein neues Kleidungsstück erkannt und gewürdigt und nicht einmal reagiert, wenn sie ihn im Abendkleid empfing, um ihn zunächst mit einem großen Dinner und danach mit ganz viel Liebe zu verwöhnen. Irgendwann hatte sie sich gefragt, warum ihr nicht schon in Deutschland aufgefallen war, dass Levi zwar ein fürsorglicher und verlässlicher Typ war, aber nichts von Romantik verstand und seine Freundin so behandelte wie einen Kumpel, einen Geschäftspartner oder seinen besten Freund. Immer freundlich, immer fair, immer höflich. Aber ein leidenschaftlicher Liebhaber? Fehlanzeige! Für eine Italienerin ein Unding! So hatte sich Levi von seiner großen Liebe trennen müssen, war aber in Italien bereits derart heimisch geworden, dass er beschloss, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Und als ihm ein Auftrag in Siena winkte, ließ er sich in dieser Stadt nieder, eröffnete ein Architekturbüro und schuftete sich seitdem zu Tode, weil er sich keine Angestellten leisten konnte. Er hechelte jedem Auftrag hinterher, der sich bot, weil er ihn dringend nötig hatte. Trotzdem hatte er Mühe, die Raten für das Haus zu bezahlen, das er gekauft hatte, um es nach seinen Architektenträumen umzugestalten. Dazu war es bisher zwar nicht gekommen, aber Levi hatte seine Träume noch nicht begraben. Im Gegensatz zu Henrieke lief er der Zukunft entgegen, nicht hinterher, wartete auch nicht auf sie und legte erst recht nicht die Hände in den Schoß. Nein, die beiden würden wohl doch nicht zusammenpassen. Zielstrebigkeit war nie Henriekes Ding gewesen.

Sie stand noch immer in der Nähe des Gartenzauns, hinter dem das Grundstück der Kailers begann. Dort löste sich in diesem Augenblick eine männliche Gestalt aus den Büschen der Gartenbepflanzung und stieg vorsichtig zu dem niedrigen Zaun hinab. Ein Mann von Mitte sechzig, sehr groß, schlank und muskulös, mit riesigen Händen und Füßen, einem Schädel, der bei einem kleinen Mann den Verdacht der Mikrosomie geweckt hätte. Auf seinen Schultern wirkte er mächtig, ohne seiner Gestalt etwas anhaben zu können. Konrad Kailer, Levis Vater, hatte trotz seines Alters keine Schwierigkeiten, den Zaun zu übersteigen, und das sogar sehr lässig und elegant, ohne sich daran festzuklammern, bis seine Füße einen Halt gefunden hatten. Er lächelte Henrieke zu, die ihm perplex hinterherblickte, den Zaun losließ und beinahe ins Rutschen gekommen wäre. Als Konrad zur Terrasse herabstieg, sah Anna, dass Henrieke ihr Handy sinken ließ. Sie hoffte, Konrad möge es nicht übertreiben mit der Darstellung seiner männlichen Interessen. Er ließ sie ja immer gern wie Ansprüche aussehen, sooft Anna ihn schon in seine Schranken verwiesen hatte. Er versuchte trotzdem bei jeder Gelegenheit zu zeigen, wie gut ihm Anna gefiel und wie gerne er darauf vertraute, dass Hartnäckigkeit irgendwann zum Ziel führte.

In diesem Vertrauen begrüßte er Anna jedes Mal mit einem Kuss, meistens mit dem Anhauchen ihrer Schläfe. Aber ausgerechnet an diesem Tag küsste er ihre Lippen, was Anna derart überraschte, dass sie glatt vergaß, sich ihm rechtzeitig zu entziehen. Als sie sich aus seinem Arm wand und halblaut »Bist du verrückt? Was soll denn das?« zischte, machte sie alles noch schlimmer. Sie begriff es bereits im nächsten Augenblick, aber da war es schon zu spät. Sie hatte reagiert, als wäre sie erwischt worden, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, als wäre etwas ans Tageslicht gekommen, was im Verborgenen bleiben sollte. Nichts davon kam der Wahrheit auch nur nahe, aber dass Henrieke in diesem Moment zu einer Meinung gekommen war, an der sich nicht rütteln ließ, war sofort klar. Mit jeder Rechtfertigung würde Anna nun scheinbar ein Schuldgefühl verstecken, das nur in Henriekes Fantasie existierte.

Mit einer barschen Bewegung beendete Henrieke das Telefonat, wandte sich brüsk um, stieg mühsam wieder herab, ließ sich anmerken, dass dieser steil ansteigende Garten sie ärgerte, durch den man nicht rauschen konnte wie eine beleidigte Diva, und warf ihrer Mutter zu, während sie das Haus betrat: »Ich bin dann mal weg.«

Anna antwortete nicht. Sie lauschte auf Henriekes Schritte, hörte Levis freundlichen Gruß, der jedoch nicht erwidert wurde, dann das Schlagen der Tür und Levis enttäuschtes Gemurmel, der sich wohl über Henriekes Unhöflichkeit ärgerte. Er hatte an diesem Tag doppeltes Pech. Sein »Ciao!«, das er zurückwarf, ehe er ging, fand ebenfalls kein Echo.

Anna schwieg, bis die Tür ein zweites Mal ins Schloss gefallen war, und verzichtete darauf, die Wohnungstür wieder zu öffnen, weil es natürlich objektiv vernünftiger war, irgendwelchem Gesindel mit finsteren Absichten den Zutritt zu ihrer Wohnung zu verwehren. Sie glaubte zu wissen, was in Henrieke vorging. Dennis hatte soeben erfahren müssen, dass mit einer Finanzspritze von Anna nicht zu rechnen war. Seine Reaktion war sicherlich nicht freundlich gewesen. Kein Wunder, dass Henrieke Zeit brauchte, um seine Beschimpfungen oder sogar Drohungen zu verarbeiten. Und dann noch ein fremder Mann, der ihre Mutter küsste!

»Musste das sein?« Anna griff nach den beiden Sektgläsern und trug sie in die Küche. Konrad sollte bloß nicht auf die Idee kommen, beim Sekt als Lückenbüßer einspringen zu können und später als Etappensieger nach Hause zu gehen.

»Was habe ich Böses getan?« Als Anna auf die Terrasse zurückkam, hatte es Konrad sich auf einem Stuhl bequem gemacht und sah ihr entgegen wie ein kleiner Junge, der versprochen hatte, den ganzen Tag artig zu sein. Sie kannte diese Stimmung an ihm, lederhosengrau und bunt kariert.

Er sah gut aus in seinen kakifarbenen Bermudas, dem knallroten Polohemd und mit der großen Sonnenbrille auf der Nase. Anna ärgerte diese Feststellung, sie kam ihr in diesem Augenblick äußerst ungelegen. Sie wollte wütend auf Konrad Kailer sein, wollte ihm zeigen, wie zornig sie war.

»Wer war das?« Er deutete auf den Gartenzaun, wo Henrieke gestanden und telefoniert hatte. »Etwa deine Tochter?«

»Hundert Punkte für den Schnellmerker!« Anna ließ sich auf den Stuhl fallen, der am weitesten von Konrad entfernt stand. Dass es sich um den Stuhl handelte, der schon seit Tagen nicht mehr an den Tisch gerückt wurde, sondern an die Hauswand geschoben worden war, damit sich niemand versehentlich darauf niederließ, fiel ihr zu spät ein. Die beiden Schrauben, die den Stuhl noch auf den Beinen hielten, solange er keinerlei Belastung ausgesetzt war, gaben mit einem hässlichen Knirschen nach.

Später sah Anna ein, dass Konrad in diesem Moment nur alles hatte falsch machen können. Dass er aufsprang und ihr auf die Beine half, erboste sie, weil er schuld war, dass sie auf die Idee gekommen war, sich auf den morschen Stuhl zu setzen. Hätte er ihr nicht geholfen, wäre er natürlich trotzdem schuld gewesen und überdies ein Banause, der nichts von Kavalierspflichten wusste. Seine besorgte Frage, ob sie sich verletzt habe, war nichts als lästige Rhetorik, hätte er sie aber nicht gestellt, wäre er natürlich in der Kategorie »Grobian« gelandet. Dass er sich nicht einmal rauswerfen ließ, war der Gipfel. Von ihrem Zorn ließ er sich einfach nicht treffen, fand sogar, dass sie seine Unterstützung brauche, und reagierte nicht einmal auf die Wut, die seine Hilfsbereitschaft hervorrief. Man konnte tatsächlich glauben, dass er sie besser kannte, als Anna für möglich gehalten hätte, und diese Erkenntnis setzte ihrer Aufgebrachtheit die Krone auf.

Konrad ließ sie so lange schimpfen und fluchen, wie sie wollte, und brachte sie ein letztes Mal damit auf, dass er auch damit recht tat. Dann erst fiel endlich Annas ganze Empörung in sich zusammen, und sie konnte auf die Frage antworten, was denn eigentlich los sei.

Was sie an ihm auf den ersten Blick gemocht hatte, war sein sanftes Lächeln, das sogar in seinem Gesicht stand, wenn es ernst war. Ein blaugraues Lächeln, das manchmal die Farbe von Lavendel annehmen konnte.

»Hat deine Tochter ein Problem?«

Was sie jedoch von Anfang an nicht gemocht hatte, war seine Besserwisserei, die grasgrün war und aus jeder anderen Farbe ein schmuddeliges Braun machte, wenn sie sich mischte.

»Mach ihre Probleme nicht zu deinen eigenen. Sie ist über dreißig, weiß Gott erwachsen. Wenn in ihrem Leben was schiefläuft, ist das nicht deine Sache.«

»Du fragst nach Henriekes Problemen und hast schon eine Antwort parat, ehe ich dir davon erzählen kann?«

Kennen Sie diese Männer auch? Clemens war ebenfalls stets der Meinung, er müsse mich belehren, egal, worum es ging. Auch er wusste oft schon die Antwort, bevor ich die Frage gestellt hatte. Was weiß Konrad Kailer von meiner Tochter und ihren Problemen? Er kann sich ja gar nicht vorstellen, wie es ist, mit einem Mann wie Dennis Appel zusammen zu sein. Henrieke wäre, wenn sie ihn nicht kennengelernt hätte, noch bei der Stadtverwaltung, würde nicht viel, aber regelmäßig verdienen, könnte ihre Ansprüche befriedigen, die ja nicht hoch sind, und wäre zufrieden mit ihrem Leben. Dennis hat sie überredet, zu einem Immobilienmakler zu wechseln, wo sie mehr verdiente. Natürlich, damit er mehr ausgeben konnte. Er war ja schon seit Jahren arbeitslos. Was würden Sie denken, wenn Ihre Tochter mit einem solchen Kerl zusammen wäre?

»Ich habe gesehen, dass sie geweint hat.« Zu Konrads hervorstechenden Eigenschaften gehörte, dass er sich nicht aus der Ruhe bringen ließ und selten eingeschnappt war. »Und sie hat gefragt: Wie kannst du das tun?«

Anna ließ sich auf den Stuhl sinken, der Konrad gegenüberstand und todsicher nicht zusammenbrechen würde. Konrad war nicht nur ein Besserwisser, sondern auch ein einfühlsamer, hilfsbereiter Mann, das wurde ihr in diesem Augenblick mal wieder klar. Er wusste, dass es Anna guttun würde, über Henrieke zu reden. »Dennis setzt sie unter Druck. Er ist auf mein Geld aus. Er wollte Henrieke sogar überreden, ihren Pflichtteil einzuklagen. Aber Clemens hat dafür gesorgt, dass zunächst alles an mich fällt und Henrieke erst nach meinem Tod erbt.«

»Du hast ihr also kein Geld gegeben«, stellte Konrad fest.

Anna musste gegen ihr Schuldgefühl ankämpfen. »Es ist richtig, ihr nichts zu geben. Ich würde nicht ihr helfen, sondern Dennis.«

»Besser wäre es, deine Tochter würde sich von dem Kerl trennen.«

Konrad verstand sie, ohne auf eine Erklärung zu warten. »Wir sind Seelenverwandte«, hatte er an dem Abend gesagt, den sie noch immer bereute. Ein paar Stunden Euphorie und violetter Leichtsinn – seitdem glaubte Konrad, sie küssen zu können, sogar dann, wenn ihre Tochter in der Nähe war.

Der Abend war schön gewesen. Konrad hatte über seine verstorbene Frau geredet, Anna über Clemens. Konrad hatte ihr von seinen Eltern und Geschwistern erzählt, aber von Anna hatte er nur erfahren, dass ihre Eltern tot waren, was immerhin der Wahrheit entsprach, und dass sie zu ihren Brüdern keinen Kontakt hatte, was eine glatte Lüge war. Sie waren sich nähergekommen, nicht nur körperlich, sondern vor allem emotional. An diesem Abend hatte Anna sich eingestanden, wie gern sie Konrad Kailer hatte. Er war angeblich bis über beide Ohren verliebt, aber sie? Über diese Frage dachte sie nicht weiter nach. Sie wollte sich nie wieder verlieben. Keine Abhängigkeiten, keine Kompromisse mehr, nie wieder leben, wie sie es eigentlich nicht wollte.

»Lass uns Freunde bleiben.« Mit diesem erbärmlichen Satz hatte sie jede Romantik vertrieben.

Anna strampelte sich von den Erinnerungen frei. »Wie kannst du das tun?«, wiederholte sie nachdenklich.

Konrad sah sie verwirrt an. »Ich? Was habe ich getan?«

»Ich meine Henrieke.«

»Was hat sie getan?«

»Ich meine natürlich Dennis!«

Nun reagierte Konrad nicht mehr, sah sie nur abwartend an.

Anna sprach langsam und nachdenklich und betonte jedes Wort: »Du hast gehört, dass Henrieke zu Dennis gesagt hat: Wie kannst du das tun? Richtig? Was kann sie damit gemeint haben?«

Jetzt verstand Konrad. Als Antwort hob er gleichzeitig die Schultern und die Augenbrauen.

»Vermutlich wird sie gleich morgen wieder zurückfahren. Sie hat ihm gesagt, dass bei mir nichts zu holen ist, und er hat irgendwas angekündigt, um sie dafür zu bestrafen, dass sie mich nicht rumgekriegt hat. Die Wohnung kündigen, weil er die Miete nicht mehr zahlen kann, oder einen seiner schrecklichen Freunde als Untermieter einziehen lassen oder ihre Klamotten auf dem Flohmarkt verkaufen … Sie muss zurück nach Stuttgart, um all das zu verhindern.«

Konrad unterbrach sie. »Er will, dass sie zurückkommt? Meinst du wirklich?«

»Klar! Sonst muss er sich am Ende noch selbst was zu essen machen. Und wer sonst sollte seine Wäsche waschen und die Bude aufräumen? Dennis Appel jedenfalls nicht. Wenn Henrieke in Siena nichts erreicht, soll sie gefälligst wieder nach Hause kommen. Ein längerer Aufenthalt hier war sicherlich nicht geplant.«

Sie lehnte sich zurück und blickte an der mörtelgrauen Hauswand hoch, unerreicht von dem blauen Himmel. So sickerten die Tränen in die Augenhöhlen zurück und konnten ihr nicht die Wangen herunterlaufen. Die eine, die aus dem rechten Augenwinkel trat und zum Ohr lief, würde Konrad nicht bemerken.

»Kotzgrün, dieser Dennis Appel«, murmelte sie. »Vielleicht sogar kackbraun.«

Konrad Kailer lachte. »Ich habe übrigens im Internet recherchiert. Du bist Synästhetikerin.«

Anna setzte sich wieder auf. »Hä?«

Bevor Konrad zu näheren Erklärungen ansetzen konnte, wehrte sich schon alles in ihr dagegen, sich seine Ausführungen anzuhören. Sie mochte es nicht, wenn er seine sympathischen Züge, die immer hell und ohne Schatten waren, mit Besserwisserei verdunkelte.

»Synästhetiker fühlen Farben, manche können sie sogar schmecken.« Konrad sah sie an, als erwartete er Beifall. »Zahlen sind für viele farbig …«

»Klar, die Sieben ist gelb«, murmelte Anna.

»Und wie ist es mit den Buchstaben?« Konrad beugte sich gespannt vor.

»Am schlimmsten ist es mit dem Ypsilon«, antwortete Anna. »Das ist so grüngelb wie eine Zitrone.« Sie schüttelte sich. »Gut, dass das nicht häufig vorkommt.«

Anna verbrachte am nächsten Nachmittag viel Zeit mit Lebensmitteleinkäufen, mehr Zeit, als nötig gewesen war. Und während sie Preise studierte, die teils rosarot und andererseits zu hoch, also zinnoberorange waren, versuchte sie zu vergessen, was Konrad ihr über Synästhesie erzählt hatte. Das hatte sich ja angehört, als wäre sie krank! Nein, sie wollte sich nicht vorhalten lassen, dass die Musik im Supermercato manchmal sanddornfarben war und dann wieder dottergelb, und sie wollte auch nicht, dass Konrad darüber lachte und von dieser angeblichen Synästhesie sprach, als wäre sie eine talentierte Bauchrednerin oder könnte auf einem Seil tanzen. Tante Rosi hatte ihre Affinität zu Farben nur belächelt, Clemens hatte sie bedeutungslos gefunden, Henrieke erwähnte sie nur, wenn sie ihrer Mutter weismachen wollte, dass sie anders sei. Allen anderen war ihre Art der Wahrnehmung gar nicht aufgefallen.

Henrieke hatte sie nicht begleiten wollen, sondern verkündet, währenddessen eins der Hotelzimmer herzurichten. Das Musterzimmer! Levi hatte dafür gesorgt, dass die Handwerker dieses Zimmer vorab fertigstellten, damit Anna, die sich die Vorschläge des Innenausstatters nicht recht vorstellen konnte, wusste, ob ihre Entscheidungen richtig gewesen waren. Das Mobiliar verströmte noch einen unangenehmen Geruch, die Matratze des Bettes steckte noch in einer Plastikhülle, die Bettwäsche war noch nicht geliefert worden. Aber Henrieke entschied, dass ihr eine alte Wolldecke und saubere Laken ausreichten. Dass es im Badezimmer noch keinen Föhn gab, war ihr gleichgültig, und die fehlenden Handtücher holte sie sich aus dem Bad ihrer Mutter.

»Auf dem Wohnzimmersofa übernachten, das ist ja auf die Dauer kein Zustand.«

Auf die Dauer? Anna hatte es geschafft, diese Frage nicht laut auszusprechen. Wollte Henrieke doch bleiben? Sich endlich von Dennis trennen? Auf ihre Mutter aufpassen, die ja viel zu alt für ihr italienisches Abenteuer war? Darüber wachen, dass sie sich nicht zu viel zumutete, dass sie ihren Rücken schonte, jeden Abend ihren Salbeitee trank, möglichst wenig Alkohol zu sich nahm und sich so kleidete, wie es sich für eine Frau von sechzig Jahren gehörte? Oder wollte sie in Deutschland ebenfalls alles aufgeben und mit ihrer Mutter gemeinsam das Hotel in Siena leiten? Anna hatte einmal diesen Wunsch geäußert, aber von Henrieke damals eine deutliche Abfuhr bekommen. »Du willst ja nur, dass ich mich von Dennis trenne.«

Nun aber sprach sie von einer Dauer, die zwei Tage oder zwei Wochen bedeuten konnte, vielleicht sogar zwei Monate. Oder zwei Jahre? Während Anna durch die Markthalle auf der Piazza Mercato schlenderte und einkaufte, lauschte sie diesen Gedanken nach. Während die Händler auf sie einredeten, ließ sie die Bilder und ihre Farben vorüberziehen, während sie Obst betastete und Käse in Augenschein nahm, stand Henriekes Gesicht vor ihr. Sie sah die säuerliche Miene ihrer Tochter, kaktusgrün mit hellen Dornen, die es nur schwer ertrug, dass die Mutter als Witwe eine andere, Jüngere, Glücklichere war, dachte über das Altjüngferliche nach, das nicht zu Henriekes Alter passte, die farblose Entrüstung, die sich hinter jedem ihrer Worte versteckte. Sie schien sich gern zu entrüsten, vermutlich, um der Entrüstung anderer zuvorzukommen. Es würde nicht leicht sein, mit ihr zu leben, das wurde Anna klar, als sie sich ins Auto setzte und den Zündschlüssel drehte. Aber es würde ganz und gar unmöglich sein, solange Dennis Appel die Fäden zog.

Sie versuchte es mit »One Moment in Time«, konnte aber mit einem Mal nicht daran glauben, dass ihr ein Whitney-Houston-Fan verzeihen würde. Und das, nachdem sie es doch gerade geschafft hatte, sich über solche Zweifel hinwegzusetzen. Auch als sie die Seitenscheibe wieder heraufgedreht hatte, blieb ihr der Versuch, das Letzte aus ihrer Stimme herauszuholen, im Halse stecken. Es mussten die Gedanken an Dennis Appel sein, die ihr den Spaß an der Sorglosigkeit verdarben.

Der vergangene Abend hatte Anna zugesetzt. Sie hatte auf ihre Tochter gewartet wie früher, als sie Angst haben musste, dass Henrieke auf einer Party in falsche Gesellschaft geriet, Drogen probierte oder zu viel Alkohol trank. Wie belastend Warten sein konnte, hatte sie zwischenzeitlich vergessen. Gestern Abend war es ihr wieder eingefallen. Warten, ohne zu wissen, was geschehen würde. Warten, ohne etwas tun zu können.

Und dann die Erleichterung, als sich der Schlüssel im Schloss drehte. Diese Erleichterung hatte tatsächlich zwanzig Jahre überdauert, war nur ein wenig in Vergessenheit geraten, aber genauso groß gewesen wie zwanzig Jahre vorher, als Henrieke ins Wohnzimmer getreten war.

»Ich bin müde, ich gehe gleich schlafen.«

Das hatte sie früher auch gesagt, wenn sie sich einem mütterlichen Verhör entziehen wollte. Und wie damals sah sie aus, als hätte sie zu viel getrunken.

»Wo warst du?«

»In irgendeiner Bar«, hatte Henrieke gemurmelt. »Keine Ahnung, wie die hieß. Da waren viele deutsche Touristen. War echt lustig.«

»Bar?«, wiederholte Anna verwundert.

»Na, in Italien redet man doch von einer Bar, wenn wir in Deutschland ein Café meinen.«

Henrieke hatte ihr Bettzeug geholt und sich auf dem Sofa eingerichtet. Derart breitarmig, breitbeinig, von so breiter Gegenwart und mit so weit ausholenden Gesten, dass Anna ihr eine Gute Nacht wünschte und sich ins Schlafzimmer vertreiben ließ.

»Zieh dir einen warmen Schlafanzug an.« Das hatte Henrieke ihr noch hinterhergerufen. Aber Anna hatte es vorgezogen, darauf nicht zu antworten und die Schlafzimmertür, wenn auch ungern, hinter sich zu schließen. Erst nach einer Stunde, als es im Wohnzimmer still geworden war, hatte sie die Tür ganz leise wieder geöffnet, damit es eine spaltbreite Fluchtmöglichkeit gab, die sie selbst nie nötig gehabt, von der ihre Mutter vergeblich geträumt hatte.

Henrieke hatte am Morgen lange geschlafen, war nach dem Aufstehen barfuß, nur in ihren alten Adidas-Shorts und dem vergilbten Shirt, durch Annas Wohnung getapst, hatte den einen oder anderen Gegenstand aufgenommen und betrachtet und allen Erinnerungsstücken, die ihre Mutter aus Stuttgart mitgebracht hatte, einen beschwörenden Blick zugeworfen. Alles Neue schien sie mit Angst zu erfüllen, das Alte mit einer Sehnsucht, die Anna unangemessen vorkam. Die bunte Glasschale, die früher auf dem Sideboard im Wohnzimmer gestanden hatte, betrachtete sie, als müsste sie vor einem Leben in einer Küche Sienas gerettet werden, die Kissen, die es schon in Stuttgart gegeben und die sie am Abend, bevor sie sich schlafen legte, achtlos zur Seite geworfen hatte, wurden nun sorgsam an die Rückenlehne des Sofas gestellt, wie Clemens’ Mutter es getan hatte. Nur auf den Knick verzichtete sie, den die Oma mit einem Handkantenschlag Morgen für Morgen jedem ihrer Kissen verpasst hatte. Dann machte sie sich weiter auf die Suche nach vertrauten Gegenständen …