Jeder Tag ein neues Wunder - Jona Sommer - E-Book

Jeder Tag ein neues Wunder E-Book

Jona Sommer

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  • Herausgeber: Lübbe
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Von einer unsterblichen Liebe, Abschieden und neuem Lebensmut - eine ungewöhnliche Reise nach Helgoland und auf die Orkney-Inseln

Während Simon bei der kleinsten Welle seekrank wird, hat seine Frau Anja das Meer immer geliebt. Nur ihm und den Kindern zuliebe gab sie ihren Traum, Meeresbiologin zu werden, einst auf. Nun ist Anja tot und Simon am Boden zerstört. Ein Jahr braucht er, bis er sich aufraffen kann, Anjas letzten Wunsch zu erfüllen, sie "nach Hause" zu bringen. Ohne seiner allzeit besorgten Tochter etwas zu verraten, reist Simon mit seiner resoluten Haushaltshilfe Milena nach Helgoland. Dort, wo er und Anja sich vor Jahrzehnten ineinander verliebten, soll seine Frau ihre letzte Ruhe finden. Doch irgendetwas sagt Simon, dass es noch nicht der richtige Ort ist, um sich endgültig von ihr zu verabschieden. Auf der Suche nach dem Warum reisen er und Milena weiter ...



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Seitenzahl: 351

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

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Dank

Über dieses Buch

Von einer unsterblichen Liebe, Abschieden und neuem Lebensmut – eine ungewöhnliche Reise nach Helgoland und auf die Orkney-Inseln

Während Simon bei der kleinsten Welle seekrank wird, hat seine Frau Anja das Meer immer geliebt. Nur ihm und den Kindern zuliebe gab sie ihren Traum, Meeresbiologin zu werden, einst auf. Nun ist Anja tot und Simon am Boden zerstört. Ein Jahr braucht er, bis er sich aufraffen kann, Anjas letzten Wunsch zu erfüllen, sie »nach Hause« zu bringen. Ohne seiner allzeit besorgten Tochter etwas zu verraten, reist Simon mit seiner resoluten Haushaltshilfe Milena nach Helgoland. Dort, wo er und Anja sich vor Jahrzehnten ineinander verliebten, soll seine Frau ihre letzte Ruhe finden. Doch irgendetwas sagt Simon, dass es noch nicht der richtige Ort ist, um sich endgültig von ihr zu verabschieden. Auf der Suche nach dem Warum reisen er und Milena weiter …

Über den Autor

Jona Sommer ist das Pseudonym eines erfolgreichen deutschen Schriftstellers, den es immer wieder, auch literarisch, ans Meer zieht. Eine sommerliche Schiffsreise nach Schottland, auf der während der Überfahrt neben einem Gefühl der Entschleunigung die raue und unvermutete Schönheit der schottischen Inselwelten auf ihn warteten, bildete die Inspiration für seinen Roman Jeder Tag ein neues Wunder.

Jona Sommer

Jeder Tag ein neues Wunder

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Dr. Stefanie HeinenTextredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, FriedbergUmschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München, unter Verwendung von Illustrationen von © GettyImages: stevecoleimages; © shutterstock: Eric Isselee | aksol | Guenter AlberseBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-2112-7

luebbe.delesejury.de

1

An diesem scheinbar gewöhnlichen Mittwochvormittag während seines routinemäßigen Besuches im Düsseldorfer Aquazoo beschloss Simon Barsch, dass es an der Zeit war, den letzten Wunsch seiner Frau zu erfüllen. Ziemlich genau ein Jahr hatte er damit gewartet. Hatte es immer wieder aufgeschoben und sich Ausreden einfallen lassen. Einfach aus der Angst heraus, was danach sein würde. Ob es dann überhaupt noch Sinn für ihn hatte weiterzuleben. Doch all das änderte natürlich nichts daran, dass er es versprochen hatte. Und an diesem Mittwochvormittag passierte es, dass er endlich beschloss, sein Versprechen einzulösen.

Wie so oft war er kurz nach Einlass einer der ersten Besucher im Aquazoo. Sachte, mit zusammengebissenen Zähnen und auf seinen Gehstock gestützt, ließ er sich auf die Bank vor dem Südseeaquarium sinken, seinen Stammplatz. Er ließ den Atem strömen, streckte sein schlimmes Bein aus und kam langsam zur Ruhe. Er mochte es, wenn kaum Besucher im Aquarium waren. Das gedämpfte blaue Licht und die sphärischen Geräusche entspannten ihn. Im Bein war nur noch ein dumpfes Pochen. Er hatte es vorerst geschafft.

Der Südseetank war einer der Lieblingsorte seiner Frau gewesen. Er versuchte, alles mit ihren Augen zu sehen. Vor seiner Nase leuchtete die farbenfrohe Unterwasserwelt der Südsee. Durch das Wasser schwebten gelbe Kugelfische, bunt gemusterte Kaiserfische, fremdartige gepunktete Rochen und ihre Lieblinge, die gestreiften Rotfeuerfische mit den langen Flossenstrahlen, die sie wie Lumpensegel durchs Wasser zogen.

Die Fische im Tank bewegten sich wie in einer Choreographie. Fließend und sacht, wie eine Welle im Ozean, schwammen sie an ihm vorbei. Leise, stumm und meditativ. Simon Barsch atmete tief aus, ließ die fremdartige Welt auf sich wirken und hing dabei seinen Gedanken nach.

An der Scheibe tauchte ein Zitronenkugelfisch auf. Es war ein alter Bekannter, ein vorwitziges Kerlchen, das gerne die Besucher angaffte. Schwer zu sagen, wer dann wen beobachtete. Mit seinen Glubschaugen musterte der Fisch ihn, als wüsste er nicht, was von dem alten Mann zu halten wäre. Zumindest konnte man sich das einbilden.

Simon wollte schon mit dem Finger gegen die Scheibe klopfen, als ihm einfiel, dass man das ja gar nicht durfte. Er wedelte stattdessen mit der Hand vor dem Glas herum, doch der Fisch ließ sich nicht verscheuchen. Eine Stimme ertönte.

»Wie ich sehe, haben Sie Bekanntschaft mit Jutta gemacht.«

Simon sah auf. Eine der Tierpflegerinnen war neben ihm aufgetaucht und grinste breit. Sie war jung, höchstens vierzig, und trug einen sportlichen Pferdeschwanz.

»Wie bitte?«, fragte er irritiert. »Jutta?«

»So heißt Ihr kleiner Freund dort.«

»Sie meinen …«

»Der Kugelfisch.«

Er hatte die Pflegerin schon einige Male gesehen, meistens jedoch nur ihre Hände, die von dem unsichtbaren Arbeitsbereich oberhalb der Aquarien in einen Tank eintauchten, um ihn zu säubern oder Tiere zu füttern.

Das gelbe Kerlchen schwamm vor seinem Gesicht herum und beobachtete ihn.

»Er hat einen Namen?«

»Dieser schon. Er hat ihn gleich am ersten Tag bekommen, als er zu uns kam.«

Simon nahm das gelbe Wesen in Augenschein.

»Jutta … Ein seltsamer Name für einen Fisch.«

»Unsere damalige Chefin hieß Jutta. Und die guckte genauso in die Welt. Dösig und ein bisschen lahm.« Sie lachte auf. Ihr Lachen klang warm und freundlich. »Der arme Fisch! Unsere Chefin war alles andere als beliebt.« Sie legte den Finger an die Scheibe. »Hm, Jutta? Du bist uns nicht böse deshalb, oder?« Der Fisch schwamm dem Finger aufgeregt entgegen. »Du hast sonst nichts gemein mit deiner Namensvetterin. Das schwöre ich dir.«

»Sie sprechen nicht ernsthaft mit den Fischen?«

»Ich bin ja den ganzen Tag mit ihnen zusammen. Mit wem sollte ich sonst sprechen?«

»Aber sie verstehen Sie nicht. Die Fische, meine ich.«

Die Frau tat so, als spielte der Einwand keine Rolle.

»Ich kenne jeden einzelnen. Die meisten, seit sie auf der Welt sind. Die haben alle ihren eigenen Charakter. Das merkt man, wenn man lange mit ihnen zusammen ist. Einige sind gutmütig, andere verschlagen. Es gibt verspielte, träge, hinterlistige, traurige. Das ist wie bei uns Menschen. Keiner ist wie der andere.«

Die Pflegerin redete ja wie seine Frau! Anja hatte auch geglaubt, Meeresbewohner hätten ein eigenes Wesen. Eine Seele und einen Charakter. Dabei waren es doch nur Fische. Sie mochten ja lustig anzusehen sein, aber das war auch schon alles. Der gelbe Kugelfisch kreiste jenseits der Scheibe um den Finger der Pflegerin, als wollte er sich an ihn schmiegen. Ein merkwürdiges Bild.

Simon dachte über seine Frau nach.

»Aber Sie glauben nicht wirklich, dass Sie mit den Fischen in Kontakt treten können?«, fragte er.

»Das tue ich den ganzen Tag. Sie kennen mich genauso, wie ich sie kenne. Für mich ist das eine komische Frage.«

Sie betrachtete ihn eingehend.

»Ich hab Sie schon öfter gesehen. Sie kommen immer als einer der Ersten. Gleich wenn wir aufmachen. Lassen Sie mich raten: Sie sind im Ruhestand und haben endlich Zeit, regelmäßig in den Aquazoo zu kommen. Sie lieben das Meer, nicht wahr?«

Nun war er es, der laut lachte. Was für eine Idee.

»Nein. Ich liebe die Berge. Die Berge und das Wandern. Ich liebe meine Wildblumen. Gämsen und Steinadler. Meine Frau ist es, die das Meer liebt.«

Liebte, korrigierte er sich. Vergangenheitsform. Sie liebte das Meer. Er würde sich nie daran gewöhnen. Sein Lachen gefror, mit der Hand umklammerte er den Stock.

»Wo ist sie dann?«, fragte die Tierpflegerin. »Bringen Sie sie nicht mit?«

Simon wandte sich räuspernd ab. Fixierte den Tank.

»Sie arbeiten mit Strömungspumpen, sehe ich. So schafft man Bedingungen wie in einem Ozean.«

»Ja, das stimmt.«

»Ich denke, fürs heimische Aquarium gibt es so was nicht, oder?«

»Doch, das gibt es schon. Unsere sind leistungsfähiger. Aber theoretisch kann man das auch zu Hause machen.«

»Verstehe. Interessant.«

Dass die Pflegerin ihn durchschaut hatte, erkannte er an ihren Augen. Sie wusste, was los war. Er war nicht gut darin, sich zu verstellen. Doch was hätte er sonst sagen sollen? Die Wahrheit etwa? Das war unmöglich. Also sagte er lieber nichts.

»Wir haben einen Neuzugang«, meinte die Pflegerin. »Den kennen Sie nicht, darauf wette ich. Kommen Sie. Ich mache Sie miteinander bekannt.«

»Aber müssen Sie denn nicht zurück an Ihre Arbeit?«

»Ach, so viel Zeit habe ich. Kommen Sie schon. Er ist im Süßwassertank, bei den Tieren aus dem Amazonasbecken.«

Mühsam erhob er sich. Sein Bein schmerzte, doch es war schon besser als vorhin. Die Pflegerin trat diskret zurück und wartete, ob er Hilfe brauchte. Er schaffte es allein. Es war nicht weit bis zu dem Aquarium, in dem die Amazonasfische schwammen.

Es liegt am Wetterumschwung, dachte er, dann sind die Schmerzen immer am schlimmsten. Das Ganze verdankte er dem Unfall vor vier Jahren. Ein Auto hatte ihn an einem Fußgängerweg seitlich erwischt. Die meisten Brüche waren wieder verheilt, manchmal konnte er fast normal gehen, doch wenn das Wetter umschlug, so wie heute, würde er sich das Bein am liebsten mit Stumpf und Stiel rausreißen.

»Was sind denn die Lieblingsfische Ihrer Frau?«, fragte die Pflegerin.

»Sie liebt einfach alles, was im Meer rumschwimmt. Ich würde sagen, Hauptsache, es ist ein Fisch. Jeder Meeresbewohner hat einen Platz in ihrem Herzen. Fragen Sie mich nicht, weshalb, aber das war schon immer so.«

Auf gewisse Weise, dachte er jetzt, war Anja ebenfalls wie das Meer. Ihr Wesen war fließend, so wie das Wasser. Weich und offen. Sanft, rauschend und mühelos.

Seltsam, dass ihm das nicht eher aufgefallen war.

»Ich finde Ihre Frau schon jetzt sympathisch«, lachte die Pflegerin. »Ich liebe auch alles, was mit dem Meer zu tun hat. Das ist ganz normal für mich.«

»Sie hat zu Robben geforscht. In ihrem Studium.«

Sie wandte sich erstaunt um. »Ist das wahr?«

»Das war Anfang der Siebziger. Sie hat Meeresbiologie studiert. Robben waren ihr Spezialgebiet. Sie hat ihre Examensarbeit über den Robbenschutz geschrieben.«

»Dann ist Ihre Frau eine Kollegin? In welchem Bereich hat sie gearbeitet?«

»Wir … wir haben geheiratet, nach ihrem Studium. Und dann kamen schon die Kinder.«

Er war verlegen. Er hörte ja selbst, wie das in den Ohren einer modernen Frau klingen musste.

»Später hat sie als Biologielehrerin gearbeitet«, verteidigte er sich. »Das hat ihr gefallen, den Kindern die Natur nahezubringen.«

Die Pflegerin schenkte ihm ein mysteriöses Lächeln, das er nicht deuten konnte.

»Da vorn«, wies sie die Richtung. »Sehen Sie ihn? Der grüne Barsch? Ein Prachtexemplar, finden Sie nicht?«

Wie auf Zuruf schwebte ein mächtiger Fisch an der Scheibe vorüber, mit grün gestreiftem Leib und orangefarbenen Flossen, mit großem Maul und tiefliegenden Augen. Ein ziemliches Ungetüm.

»Das ist ein Humboldt-Kammbarsch«, erklärte sie. »Er gehört zur Familie der Buntbarsche und kommt im nördlichen Amazonasbecken vor.«

Der Fisch zog in gleichmäßigem Tempo seine Bahnen, ohne sie zu bemerken.

»Er würdigt uns keines Blickes«, lachte sie. »Das ist typisch für ihn.«

»Weshalb ist das typisch?«

»Wir gaffenden Menschen, wir sind unter seinem Niveau. Er hält sich für was Besseres.«

Simon bedachte diesen Kommentar mit hochgezogener Augenbraue.

»Vom Amazonas«, meinte er. »Dann hat er einen weiten Weg hinter sich.«

»Dieser hier nicht. Er ist aus dem Aquarium des Berliner Zoos. Die haben Nachwuchs bekommen.«

»Er musste nicht seine Freiheit aufgeben?«

Er wusste nicht, weshalb er das fragte. Es wäre eine typische Frage von Anja gewesen.

»Nein, er ist in Gefangenschaft geboren.«

Es wirkte, als läge es ihr am Herzen, etwas zu dem Thema Wildtiere in Gefangenschaft zu sagen. Jedoch wurden sie von einem Kollegen unterbrochen, der nach ihr rief.

Sie schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. »Ich muss leider weiter.«

Dennoch blieb sie stehen und betrachtete den Amazonasfisch.

»Glauben Sie mir, wenn Sie die Fische besser kennen würden, würden Sie auch mit ihnen reden. Sie würden verstehen, dass sie eine Seele haben. Dass jeder anders ist und man mit ihnen in Kontakt treten kann.«

Weshalb sagte sie das zu ihm? Eine Seele. Ein Hund mochte vielleicht eine Seele haben, aber bestimmt galt das nicht für Fische.

»Beim nächsten Mal erzähle ich Ihnen gerne mehr über den Kammbarsch. Wir sehen uns doch wieder, oder?«

»Das wird nicht mein letzter Besuch hier sein.«

»Freut mich. Dann machen Sie’s gut für heute.«

Bevor sie ihn vorm Süßwassertank alleine zurückließ, sagte sie: »Ihre Frau, die würde den Kammbarsch bestimmt auch so vergöttern wie ich.«

»Damit könnten Sie recht haben.«

Sie wandte sich ab und marschierte davon. Simon sah ihr hinterher, bis sie in einem Personalraum verschwand.

Er erinnerte sich, wie Anja blass und abgemagert im Krankenhaus lag, vollgepumpt mit Medikamenten, nur noch ein Schatten ihrer selbst. Meist war sie weggetreten, abgetaucht im Delirium. Doch dann war da dieser eine Moment, als wäre plötzlich eine Gardine zur Seite gezogen worden, und ihr Blick wurde scharf. Sie drückte seine Hand, zeigte ihr vertrautes, leicht nachsichtiges Lächeln, mit dem sie ihn so oft in ihrer Ehe bedacht hatte, und sagte: »Bring mich nach Hause, Simon.« Er hielt die zerbrechliche Hand gegen seine Wange. »Sag keinem was«, sagte sie. »Sie würden es nicht verstehen. Versprichst du mir das?«

Er konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. »Ich verspreche es«, sagte er. Nur ein kurzer Augenblick, vergänglich wie ein Regentropfen, dann versank sie wieder in Verwirrtheit.

Bring mich nach Hause, Simon. Es sollte das Letzte bleiben, was sie zu ihm sagte. In der darauffolgenden Nacht hörte ihr Herz auf zu schlagen.

Zwei Rochen glitten durch den Tank, ein Schwarm glitzernder Fischlein folgte ihnen. Simon versuchte zu verstehen, was seine Frau so sehr am Meer geliebt hatte. Er ließ die sanfte Bewegung des Wassers auf sich wirken. Das sich spiegelnde bläuliche Licht, das stille Rauschen und die Kraft der Natur. Er verlor sich in der Betrachtung der Fischschwärme. Wie mochte es sich anfühlen, ein Teil hiervon zu sein?, fragte er sich. Sich im Strom treiben zu lassen. Schwerelos, stumm und im Rhythmus der Natur? Sicher würde er sein Bein nicht mehr spüren. Er würde abtauchen und alles hinter sich lassen. Alle Schmerzen vergessen.

Hinter der Scheibe war eine gewaltige Bewegung. Aus der Tiefe des Beckens tauchte der Kammbarsch auf. Mit dem Gesicht voran trieb er sacht und erhaben im Wasser. Er blickte Simon an. Das Maul öffnete und schloss sich, die Flossen ruderten lautlos im Wasser. In seinen Augen lagen Ruhe und Kraft. Simon erwiderte den Blick. Alles andere wurde an den Rand seines Bewusstseins gedrängt. Da waren nur er und diese Augen, die bis auf den Grund seiner Seele blickten. Es war, als wüsste das Tier etwas über ihn. Über seinen Verlust. Als könnte es seine Trauer spüren. Simon war unfähig, sich zu bewegen oder auch nur zu blinzeln.

Mit einem dumpfen Rumms flogen die Eingangstüren auf, dann fluteten Kinderstimmen den Aquazoo. Eine Lehrerin befehligte die Gruppe zur Kasse, und es dauerte nicht lange, dann hallten Gelächter und Geplapper überall zwischen den Tanks. Mit der sphärischen Ruhe war es augenblicklich vorbei. Das Tier tauchte wieder ab und verschwand. Simon blieb verwirrt an der Scheibe zurück. Etwas hatte seine Seele berührt, doch er konnte nicht beschreiben, wie das passiert war. Bring mich nach Hause, Simon.

Das war der Moment, in dem er begriff, dass er sein Versprechen endlich einlösen musste. Er durfte nicht länger warten. Er würde ans Meer fahren, wie er es Anja versprochen hatte. Denn ihr Zuhause, das war nicht ihr gemeinsamer Bungalow in der Achthundert-Seelen-Gemeinde am Rhein, das wusste er. Es war auch nicht das thüringische Dorf, aus dem sie stammte und von wo ihre Eltern vor dem Mauerbau in den Westen übergesiedelt waren. Anjas Zuhause, das war das Meer. Dorthin sollte er sie bringen. Es war höchste Zeit, ihr diesen letzten Wunsch zu erfüllen. Das wusste er seit Langem.

Er nahm den Stock und prüfte, wie er das Bein belasten konnte. Mühsam erhob er sich und bahnte sich einen Weg durch die Menge der lärmenden Kinder. War ein Entschluss erst einmal gefasst, dann wurde Simon Barsch zu einem Mann der Tat. Als Behördenleiter hatte er über vierzig Angestellte geführt. Er wusste, wie man ein Ziel erreichte. Er würde diese Sache jetzt mit aller Kraft angehen. Es ist so weit, dachte er. Ich bringe dich nach Hause, Anja.

Am Ausgang blickte er nochmals zurück. Doch da zog nur ein Schwarm kleiner Fische durch den Süßwassertank, der Kammbarsch war fort. Was immer zwischen ihm und dem Amazonasfisch passiert war, es blieb kaum mehr als ein vages Gefühl zurück. Und so humpelte Simon, so gut es mit dem malträtierten Bein eben ging, durch die Türen hinaus und weiter ins Freie.

2

Draußen auf dem verwaisten Parkplatz stand der dunkle VW-Van seiner Tochter. Nieselregen fiel herab, und graue Wolkenbänke spiegelten sich in den Windschutzscheiben. Nicole war pünktlich, auf die Minute. Er wusste, sie tat das für ihn, denn eigentlich war sie eher chaotisch und unorganisiert. Aber ihr war klar, wie viel Wert ihr Vater auf Pünktlichkeit legte. Wie ungehalten er gegenüber Menschen wurde, die es damit nicht so genau nahmen. In ihrer Jugend hatten sich Vater und Tochter gegenseitig in den Wahnsinn getrieben. Doch inzwischen achtete sie ihm zuliebe auf diese Dinge, so sehr, dass ihm seine rebellische Tochter und ihr Widerspruchsgeist manchmal regelrecht fehlten, auch wenn er das offen niemals zugeben würde.

Ein kalter Wind kam auf und trieb Sprühregen über den Parkplatz. Er sollte sich beeilen und ins Auto springen, bevor die Feuchtigkeit in sein Bein zog. Doch zuerst musste er etwas erledigen. Er blieb stehen und zog sein Handy hervor. Er würde ein kurzes Telefonat führen, um alles einzuleiten. Ein Freizeichen ertönte. Er wartete. Dann meldete sich eine vertraute Stimme.

»Es ist so weit«, sagte Simon.

Am anderen Ende herrschte Stille.

»Bist du sicher, Simon?«

»Ja«, sagte er.

»Dann komme ich.«

»Danke, Hermann.«

»In einer Stunde bin ich da.«

Er beendete das Gespräch, steckte das Handy weg, holte Luft und humpelte auf den Wagen zu. Der Entschluss war gefasst. Die Zeit war gekommen. Er würde seine letzte Reise mit Anja antreten. Er würde sie nach Hause bringen, so wie er es versprochen hatte.

»Jetzt ist aber mal Ruhe dahinten«, hörte er Nicole im Wagen schimpfen. »Könnt ihr nicht zwei Minuten die Klappe halten?«

Die Beifahrertür wurde aufgestoßen, und das leicht abgekämpfte Gesicht seiner Tochter tauchte auf.

»Hallo, Papa. Steig ein, beeil dich. Du wirst ja nass.«

Die Stimmen der Jungs erklangen ebenfalls.

»Ich hab Opa zuerst gesehen.«

»Nein, ich hab Opa zuerst gesehen!«

»Mama! Sag Milo, dass ich Opa zuerst gesehen habe!«

Sie waren kurz davor, sich wegen dieser Frage an die Kehle zu gehen. Das kannte Simon schon. Am liebsten hätte er gesagt, dass derjenige, der ihn tatsächlich zuerst gesehen habe, ein Eis bekomme. Doch mit solchen Späßen machte er sich wenig Freunde, das wusste er schon.

»Ich muss gleich weiter zu Barbara Naumann«, sagte Nicole und nahm ihm den Stock ab. »Kindergeburtstag. Ich bring dich schnell nach Hause. Sei vorsichtig mit der Tasche im Fußraum. Hast du dein Bein verstaut? Deinen Stock lege ich nach hinten … Milo, was habe ich gesagt? Der Anschnallgurt bleibt zu.«

Simon zog die Tür ins Schloss. Das futuristisch anmutende Gebäude des Aquazoos lag jenseits der Windschutzscheibe im grauen Dunst. Im diffusen Licht wirkte es abweisend und trostlos. Regenläufer verzerrten nach und nach das Bild, bis das Gebäude unkenntlich wurde.

Nicole startete den Wagen, stellte den Scheibenwischer ein. Sein Bein pochte. Es wurde Zeit, dass er es hochlegte.

»Hast du Schmerzen, Papa?«

»Nein, gar nicht.«

»Das sehe ich. Dein Bein tut doch weh.«

»Es geht schon. Ich habe es im Zoo zu lange belastet.«

»Ist das der Wetterumschwung? Oder verschlechtert sich der Zustand weiter? Was sagt denn der Arzt?«

»Es ist nur das Wetter, keine Sorge.«

»Aber du warst beim Arzt? Was hat der denn gesagt?«

Simon schnaubte. Was wissen Ärzte schon, dachte er.

»Papa! Du musst das ernst nehmen. Soll ich beim nächsten Mal mitkommen? Dann spreche ich mal mit dem Arzt.«

Sie redete weiter, während sie auf die Straße abbog. Simon hörte kaum zu. Er sah dem grauen Aquazoo dabei zu, wie er kleiner wurde und verschwand. Am Rückspiegel entdeckte er eine Figur, die an einem Band baumelte. Ein Steifftier. Es war der Talisman von Anja gewesen. Eine Robbe, die sie ihr Leben lang mit sich herumgeschleppt hatte.

»Da ist ja unsere Susi«, meinte er.

»Ja, du erinnerst dich an sie?«

»Das ist also ihr neuer Platz.«

Das Steifftier hatte Nicole, als sie die Sachen ihrer verstorbenen Mutter durchgegangen war, hervorgefischt. Sie fragte, ob sie die Robbe als Erinnerung behalten dürfe. Simon zögerte zwar, doch überließ er ihr das Stofftier. Nicole war Anjas Tochter, sie hatte ein Recht darauf, sich etwas auszusuchen, fand er. Erst als Susi fort war, wurde ihm klar, wie sehr sie ihm fehlte. Wie sehr er selbst an diesem Talisman hing. Am liebsten hätte er Nicole gefragt, ob er sie zurückhaben dürfe. Doch das hatte er nicht übers Herz gebracht.

»Ich sitze ja die meiste Zeit im Auto«, sagte sie, »und so habe ich sie bei mir. Mama, meine ich. So fühlt es sich wenigstens an.«

Simon lächelte, und sie fielen in Schweigen.

»Die Robbe hat Oma gehört«, erklärte Luis von hinten, und sein Bruder rief hinterher: »Das ist Susi!«

»Da habt ihr recht, das ist Susi«, meinte Nicole. »Die hat eure Oma an der Nordsee gekauft, vor über fünfzig Jahren. Stellt euch das mal vor. So alt ist Susi schon.« Zu ihrem Vater sagte sie: »Ich glaube nicht, dass man heute noch Spielzeug in so einer Qualität bekommt. Oder was meinst du?«

»Nein. Wahrscheinlich nicht.«

»Oma hat mitgeholfen, dass die Robben nicht aussterben. Oder, Mama?«

»Ja, das ist richtig.«

»Und sie hat auf einem Eisberg mit Robben geschmust.«

»Man darf mit Robben gar nicht schmusen, das ist zu gefährlich. Und da war auch kein Eisberg, du Blödi.«

»Das waren wohl Eisberge. Und dann … Aua! Mama, Luis hat mich gekniffen.«

Simon unterdrückte den Impuls, das Steifftier in die Hand zu nehmen. Anja hatte Susi immer mit sich herumgeschleppt. Selbst am Ende, als sie auf der Palliativstation gelegen hatte, als sie kaum ansprechbar war und ihren Mann nicht mehr erkannt hatte, selbst da baumelte Susi über ihrem Bett.

Der Motor des VW summte gleichmäßig und monoton.

»Hätte ich häufiger mit ihr ans Meer fahren müssen?«, fragte er. »Was meinst du?«

Nicole warf ihm einen Seitenblick zu.

»Ach, Papa …«

»Sie war so gerne am Meer.«

»Aber Martin und ich wollten ja auch lieber in die Berge. Du warst nicht der Einzige, der keine Lust aufs Meer hatte. Wir waren wie du.«

Nicole erinnerte sich offenbar noch an das Gezerre vor den Sommerferien, wenn es um die Frage ging, ob die Berge oder das Meer anvisiert werden sollten. Anja hatte sich mit ihren Wünschen fast nie durchsetzen können, es stand immer drei gegen eins, weil die beiden Kinder genauso wasserscheu waren wie ihr Vater.

»Ich war ihr Ehemann«, sagte er. »Ich hätte ihr häufiger den Wunsch erfüllen müssen. Ans Meer zu fahren. Auch wenn ich keine Lust dazu hatte. Das wäre meine Verantwortung gewesen. Denkst du nicht?«

Nicole schien etwas erwidern zu wollen, überlegte es sich aber anders. Sie fielen erneut in Schweigen, beide in ihren Erinnerungen versunken.

Die Jungs kommentierten die Landschaft und das Regenwetter, und eine Weile gerieten sie sich dabei nicht in die Haare. Dann erreichten sie die kleine Gemeinde südlich von Düsseldorf, in der Simon Barsch lebte. Sein Bungalow mit Hanglage und Blick über den Rhein war früher für ihn das perfekte Zuhause gewesen. Doch seit er allein in dem riesigen Kasten lebte und sein Bein zunehmend Schwierigkeiten machte, entpuppte es sich als Gefängnis. Zu Fuß konnte er nirgends hingelangen, und ohne die Hilfe anderer war er aufgeschmissen.

»Wann musst du denn das nächste Mal zum Arzt?«

»Ach, das weiß ich gar nicht genau.«

»Dann sieh nach. Und sag mir Bescheid, ich fahre dich.«

»Doris von nebenan kann mich doch fahren. Sie fährt sowieso ständig in die Stadt.«

Nicole presste die Lippen aufeinander und zog seinen Stock hervor. Fürs Erste würde sie es dabei belassen.

»Dann sehen wir uns morgen Nachmittag, ja?«, sagte sie, während sie ihm den Stock reichte und die Tür öffnete. »Zum Kaffee?«

Das hatte er ganz vergessen. Sie waren verabredet.

»Macht Milena ihren polnischen Schokokuchen?«

Die Kinder jubelten drauflos. Seine Haushälterin – sie arbeitete seit etwas über zwei Jahren bei ihm, seit die Krankheit Anja ans Bett gefesselt hatte – war in der Familie berühmt für ihren Schokoladenkuchen.

»Milena?«, fragte er etwas blöde.

»Wer denn sonst? Oder willst du sagen, du bäckst heimlich die Kuchen selbst?«

»Nein, nein … Ich habe nur vergessen, dass ihr kommen wolltet, Nicole. Das tut mir leid. Ich bin gar nicht da. Können wir das verschieben?«

»Du bist nicht da? Wo könntest du denn sein?«

»Habe ich das nicht gesagt? Zu blöd. Ich fahre in Urlaub. Mit Hermann und Mechthild Rütten. Sie meinten, jetzt, wo Anja … du weißt schon, und deshalb haben sie mich eingeladen mitzukommen. Wir fahren zu dritt.«

Es war eine Notlüge. Doch Nicole würde niemals herausfinden, dass es diesen Urlaub gar nicht gab. Sie kannte die Rüttens nicht persönlich.

»Ist dieser Hermann Rütten nicht aus deinem Gesangsverein? Nein, von dem Urlaub hast du nichts gesagt.«

»Das muss ich ganz vergessen haben.«

»In den Urlaub. Wie kann man so was vergessen?«

»Kriegen wir dann keinen Schokokuchen?«, kam es enttäuscht von der Rückbank.

»Ihr bekommt euren Schokokuchen«, sagte Simon. »Den schönsten, den ihr euch vorstellen könnt. Nur nicht morgen. Opa Simon fährt nämlich weg. Aber sowie ich wieder da bin, feiern wir eine Schokokuchen-Party. Einverstanden?«

»Wohin fahrt ihr denn?«, fragte Nicole.

Da Hermann und Mechthild tatsächlich in den Urlaub fuhren, musste er sich nichts auf die Schnelle ausdenken.

»Wir machen eine Flusskreuzfahrt auf der Mosel. Fünf Tage sind wir unterwegs. Ihre Tochter fährt uns nach Köln zur Anlegestelle, und dann geht es los.«

»Auf einem Schiff?«, fragte sie verdutzt. »Du wirst seekrank, Papa. Ich kenne keinen anderen Menschen, der so unter Seekrankheit leidet wie du.«

»Es ist ja nur die Mosel. Da gibt es keinen Seegang. Mechthild sagt, da muss ich mir überhaupt keine Gedanken machen. Die beiden machen das nicht zum ersten Mal.«

Nicole fixierte ihn. Sie schien Lunte zu riechen. Dass er freiwillig auf ein Schiff stieg, erschien ihr abwegig.

»Das ist alles halb so wild. Man muss auch mal Dinge wagen. Was hat man denn sonst vom Leben?«

»Dinge wagen. Du überraschst mich immer wieder, Papa.«

»Ich will nicht alleine versauern. Da muss man über seinen Schatten springen.«

»Wenn das so ist, dann kannst du ja mit uns nach Griechenland. Martin und seine Familie kommen mit. Wir könnten alle zusammen sein. Alle außer Mama.«

»Nur weil ich auf ein Schiff gehe, heißt das noch lange nicht, dass ich einen Fuß in einen Flieger setze.«

»Du willst doch was wagen. So schlimm ist das nicht.«

»Ich bin einmal in meinem Leben geflogen, und das reicht mir völlig. Herzlichen Dank.«

Da konnten sie ihm hundert Mal erzählen, Flugzeuge seien die sichersten Verkehrsmittel der Welt. Allein die Vorstellung, wieder in so einen Stahlvogel zu klettern und keinen Einfluss auf das Geschehen zu haben, nein, darauf konnte er verzichten. Wenn der Mensch fliegen sollte, hätte der Schöpfer ihm Flügel verliehen.

»Der Flug dauert gar nicht lange. Und außerdem …«

»Nur über meine Leiche.«

Sie seufzte. »Wie du meinst, Papa.«

Er rutschte vom Beifahrersitz, nahm seinen Stock und kam wackelnd auf der abschüssigen Straße zum Stehen.

»Ich wünsche dir einen schönen Urlaub, Papa. Es freut mich, dass du mal rauskommst und was anderes siehst.«

In der offenen Tür hielt er inne. Dieser Abschied war anders als sonst. Er brach auf, um Anjas letzten Wunsch zu erfüllen. Das hatte auch mit Nicole zu tun. Bei dieser Reise ging es schließlich um die letzte Reise ihrer Mutter. Und er schob eine billige Lüge vor. Das war ein furchtbares Gefühl.

»Ich melde mich, wenn ich wieder da bin.«

Er wünschte plötzlich sehnlichst, er könnte Nicole in seine Pläne einweihen. Nur sie waren übrig geblieben, er und seine Kinder. Sie sollten zusammenhalten. Wäre es nicht schön, wenn Nicole und Martin ihn begleiten würden? Wenn sie gemeinsam diese letzte Reise antreten und sich gegenseitig unterstützen könnten?

Doch er wusste, es war unmöglich. Die beiden hatten keine Ahnung, dass Anjas Grab leer war. Dass ihre Asche bis zum heutigen Tag woanders aufbewahrt wurde. Sie würden ihn für komplett irre halten, wenn sie die Wahrheit erführen. In ihren Augen wäre sein Vorhaben eine durchgedrehte Idee, die zudem nicht einmal legal war. Man durfte die sterblichen Überreste eines Menschen nicht einfach irgendwo verstreuen. Sie würden es nicht verstehen. Sie würden alles unterbinden und seinen Plan zunichtemachen, so gut kannte er die Kinder. Auch Anja hatte das gewusst. »Sag keinem was«, hatte sie gesagt. »Sie würden es nicht verstehen.«

»Alles in Ordnung, Papa?«, fragte Nicole, die bemerkte, wie nachdenklich er war. »Soll ich dich noch zur Tür bringen?«

»Nein, nein. Es geht schon.«

»Hast du Schmerzen?«

»Ich muss nur das Bein hochlegen.«

»Wenn du wieder gefahren werden musst, ruf mich an. Ja, Papa? Ich komme dann vorbei.«

»Du hast doch selbst genug zu tun.«

»Ich fahre dich gern. Du brauchst keine falsche Rücksicht zu nehmen. Versprichst du mir das?«

Er wünschte, es wäre anders. Er wünschte, sie könnten gemeinsam auf diese Reise gehen. Ebenso für sich wie für Nicole und Martin.

»Ich verspreche es.«

»Dann mach’s gut, Papa. Wir sehen uns bald.«

»Ja. Bis bald.«

Er winkte und schlug die Tür zu. Nicole hupte, dann brauste sie mit dem Van davon.

Er wandte sich zu seinem Bungalow. Er würde Anjas Tagebuch mitnehmen, wenn er auf Reisen ging, sagte er sich. Auf diese Weise würde sie ihn begleiten. Außerdem würde er darin bestimmt einen Hinweis finden, wo der beste Ort war, um die Asche auf dem Meer zu verstreuen. Das Meer. Er würde tatsächlich auf einem Schiff reisen, so wie er es seiner Tochter gesagt hatte, nur nicht auf der Mosel, sondern auf der Nordsee. Keine schöne Vorstellung. Doch darüber konnte er später nachdenken, wenn es so weit war. Es gab bis dahin eine Menge vorzubereiten. Er sah auf die Uhr. Es wurde Zeit, dass er sich seinen Planungen zuwandte.

3

Draußen vor dem Fenster fuhr ein dunkler VW-Van vor. Das bedeutete, Herr Barsch kehrte zurück. Milena stellte das Bügeleisen beiseite und hielt seinen Anzug gegen das Licht. Er sah aus wie aus dem Ei gepellt. Das Handy zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, hängte sie ihn an die Schranktür.

»Das kannst du mir nicht weismachen, dass deine Schulaufgaben schon fertig sind«, sagte sie ins Telefon. »Du bist doch gerade erst von der Schule gekommen.«

»Wenn ich es doch sage, Mama. Alles fertig. Darf ich jetzt zu Kamil rüber?«

»Was ist mit Mathe? Hat Oma das kontrolliert?«

Sein Zögern dauerte den Bruchteil einer Sekunde. »Ja.«

»Ah, verstehe. Dann gib mir die Oma mal kurz ans Telefon. Ich frage sie einfach schnell.«

»Och, Mama. Bitte.«

Aber Milena blieb erbarmungslos. Nur weil sie mehr als tausend Kilometer entfernt war, hieß das nicht, dass sie keine Kontrolle über das Geschehen haben konnte. Ihre beiden Jungs, Szymon und Adrian, lebten in Polen bei ihrer Mutter. Sie waren gut aufgehoben bei der Oma, keine Frage, doch war die nicht annähernd so streng, wie sie es damals bei Milena gewesen war. Deshalb musste sie manchmal das Ruder übernehmen und den Daumen draufhalten, auch wenn das nur via Skype oder Handy funktionierte.

Sie konnte es eben nicht ändern, dass sie im Ausland arbeiten musste, um ihre Familie durchzubringen. Ja, sie hatte mal andere Pläne für ihr Leben gehabt, aber der Alltag hatte sie nach und nach geschliffen. Mit ihrer unglücklichen Ehe, mit den Jobs in der Fabrik und im Supermarkt, wo man miserabel bezahlt wurde, und dann, nachdem ihr Mann abgehauen war, hatte es nur noch geheißen, die Familie über Wasser zu halten. Da war die Stelle als Haushälterin in Deutschland so was wie ein Jackpot gewesen. Eine bittere Erkenntnis vielleicht, aber sie schaffte es jetzt, den Laden am Laufen zu halten. Und das war eine ganze Menge.

»Dziecko! Ich habe alles im Griff.«

Ihre Mutter war in der Leitung. Im Hintergrund plärrte der Fernseher, irgendeine Telenovela lief.

»Mamusia, hat der Junge dir seine Schulaufgaben gezeigt? Schau genau hin, er betrügt dich.«

»Wir kommen gut ohne dich klar. Uns bleibt ja nichts anderes übrig.«

»Lass dir die Aufgaben zeigen, Mama. Das ist mein Ernst.«

Milena sah wieder durchs Fenster. Auf der Straße rutschte Herr Barsch vom Beifahrersitz des Vans. Er fuchtelte mit dem Stock herum, blieb in der offenen Tür stehen und sprach mit seiner Tochter. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Wie immer war er pünktlich auf die Minute. Sie musste sich beeilen, wenn das Mittagessen rechtzeitig auf den Tisch kommen sollte.

»Herr Barsch kommt nach Hause, Mama. Ich muss auflegen. Aber ich rufe heute Abend noch mal an. Und in der Zwischenzeit: Sieh dir Szymons Aufgaben an.«

»Da fällt mir ein, hast du die Sache mit Adrian schon gehört?«, plauderte ihre Mutter drauflos und fügte wie zu sich selbst hinzu: »Ach nein, natürlich nicht. Wie solltest du auch?«

»Was denn für eine Sache?«

»Hast du es nicht eilig?«

»Mama! Es ist doch nichts passiert?«

Adrian ging in die Abschlussklasse. Er war sensibel, ihm fiel die Trennung von seiner Mutter schwerer als Szymon, obwohl er älter war. Er würde das nie zugeben, aber Milena wusste es. Adrian war ihr ähnlich, er hatte auch eine Menge Träume. Nur war er noch nicht vom Leben gestählt worden.

Milena sah eilig nach draußen. Herr Barsch stützte sich wacklig auf den Stock und steuerte im Schneckentempo die Haustür an. Seine Tochter wollte ihn zur Tür bringen, doch er winkte ab, als wäre das eine Beleidigung für sein Bein, sich helfen zu lassen.

»Du wirst es nicht erraten, dziecko. Ich weiß gar nicht, ob ich dir überhaupt davon erzählen darf.«

»Jetzt mach schon. Ist alles in Ordnung mit ihm?«

»Aber ja. Er hat nur eine Freundin.«

»Eine was?«

»Eine Freundin.«

Milena war sprachlos.

»Tu nicht so, als wäre das nicht zu glauben.«

»Natürlich nicht. Ich meine nur …«

»Er ist ein hübscher Junge, dein Adrian.«

»Das weiß ich doch.«

»Und jetzt ist er furchtbar verliebt. Sie sind wie zwei Turteltäubchen, den ganzen Tag flattern sie zusammen durch die Gegend. Ein nettes Mädchen, kannst du mir glauben.«

Adrian hatte eine Freundin. Es traf sie mehr, als sie gedacht hätte. Er wurde erwachsen. Und wenn sie das nächste Mal nach Hause kommen würde, wäre da ein anderer, älterer Junge. Einer, der seine erste Freundin hatte. Und von ihrem kleinen Adrian wäre nichts mehr da. Sie verpasste alles. Ihre Kinder entwickelten sich und nabelten sich ab, und sie saß in Deutschland fest, am anderen Ende der Welt.

»Wer ist es denn?«, fragte sie matt.

»Sie heißt Anna. Aus seiner Schulklasse.«

»Anna.«

»Ja, du müsstest sie eigentlich kennen.«

Nein, das tat sie nicht. Den Namen hatte sie noch nie gehört. Sie wusste nichts über das Leben ihres Sohnes. Zwar war ihre erste Regel in Deutschland, kein Heimweh zu haben. Sich nicht zu sehr nach den Kindern zu sehnen. Weil es auch so schon schwer genug war. Da musste man sich zusammenreißen. Doch jetzt konnte sie nicht anders. Sie ließ ihn zu, diesen brennenden und vergeblichen Wunsch, zu Hause bei ihren Kindern zu sein. Nur einen Moment lang, dann schluckte sie die Sehnsucht runter und wandte sich wieder dem Bügelbrett zu.

»Ich könnte Adrian sagen, er soll dich heute Abend per Skype anrufen«, schlug ihre Mutter vor. »Aber sag ihm nicht, dass du das mit Anna weißt.«

»Das ist eine gute Idee. Sag ihm, ich will wissen, ob er neue Turnschuhe braucht. Das ist unverfänglich.«

»Ja, darüber könntet ihr reden.«

»Sag ihm, ich kann ihm welche aus Deutschland mitbringen, wenn ich das nächste Mal komme. Dann erzählt er mir vielleicht von Anna.«

»Ach, dziecko! Wir zählen die Tage, bis du wieder zu Besuch kommst. Adrian wird sich freuen, wenn er dich am Computer sieht.«

Im Wäschezimmer hing ein Wandkalender, auf dem sie die Tage abstrich, die sie in Deutschland arbeitete. In zwei Monaten war es so weit, dann würde sie für vier Wochen nach Hause fahren. Doch sie wusste: Zwei Monate konnten sich unendlich lang anfühlen.

Draußen rollte der VW-Bus davon. Herr Barsch hielt sich aufrecht, bis seine Tochter außer Sichtweite war. Dann wechselte er schmerzerfüllt in eine Schonhaltung und humpelte schwerfällig zur Tür. Milena sollte ihm helfen, die Stufen hochzukommen. Sein Bein verkraftete den Wetterumschwung nicht.

»Ich muss Schluss machen, Mama. Guck dir Szymons Aufgaben genau an. Wir hören uns.«

Sie trennte die Verbindung, ließ das Handy in die Tasche ihrer Strickjacke gleiten, stellte das Bügelbrett zur Seite, hob den Wäschekorb auf die Kommode und eilte zur Haustür. Adrian wurde zum Mann. Sie musste diesen Gedanken zur Seite schieben. Später konnte sie immer noch darüber grübeln.

Im Flur sah sie gewohnheitsgemäß in den Spiegel. Das feuchte Wetter war ein Albtraum für ihre Frisur. Die Locken, die sie jeden Morgen mühsam glattföhnte, kehrten dann zurück. Sie zupfte eilig an den Haaren herum, ohne großen Erfolg, und ging weiter zur Tür.

»Herr Barsch, warten Sie, ich helfe Ihnen.«

Trotz der Schmerzen schüttelte er ihre helfende Hand ab.

»Es geht schon, Milena, es geht schon.«

»Sie werden stürzen. Lassen Sie mich …«

»Ich kann das schon.«

Ja, das sah sie. Es hasste es, sich eine Schwäche einzugestehen. Kurzerhand hakte sie sich unter und stützte ihn.

»Lassen Sie los. Es sind nur ein paar Stufen.«

»Wenn ich loslasse, kippen Sie um.«

»Milena, es geht schon!«

»Nehmen Sie meine Hand. Ostroźny.«

Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an sie und ließ sich von ihr hochziehen. Niemals wäre er alleine die Stufen hochgekommen. Doch tat er dabei, als wäre sie eine einzige Zumutung. Sie musste aufpassen, nicht die Augen zu verdrehen, denn er war nicht blöd, er merkte so was. Oben angekommen, befreite er sich von ihr. Doch er wirkte erschöpft. Schweiß stand auf seiner Stirn.

»Bringen Sie mich ins Arbeitszimmer, Milena.«

»Möchten Sie sich nicht lieber ausruhen? Ich kann einen Tee ins Wohnzimmer bringen.«

»Nein, nein. Heute ist ein normaler Werktag. Ich habe zu tun.«

Nicht, dass Herr Barsch tatsächlich etwas zu erledigen hätte. Er war Pensionär und seit dem Tod der Frau alleinstehend. Doch zu seinen festen Gewohnheiten gehörte es eben, zwei Stunden pro Tag Büroarbeit zu machen. Dann saß er da und beschäftigte sich mit Dingen, vor denen es jedem normalen Menschen graute. Beschwerdebriefe ans Straßenbauamt zu schreiben oder Widerspruch gegen seinen Steuerbescheid einzulegen. Buchhaltungsbelege zu sortieren oder, wenn ihm sonst gar nichts einfiel, Leserbriefe an die Zeitung zu schreiben. Am besten ließ sie ihn machen und kümmerte sich nicht weiter darum.

»Bis zum Mittagessen möchte ich nicht gestört werden.«

»Essen gibt es pünktlich um halb eins.«

Im Arbeitszimmer wurde alles von der Fensterfront dominiert, die zwar ein bisschen zugig war und im Winter das Heizen erschwerte, jedoch einen Panoramablick über den Rhein ermöglichte. Regenschleier hingen über den nebligen Hügeln, in denen überall saftiges Frühlingsgrün sprießte. Sie brachte ihn zu seinem Schreibtisch, wo er sich mit einem Seufzer auf den Stuhl fallen ließ.

»Einen Tee mache ich Ihnen trotzdem. Zum Aufwärmen.«

»Das wäre lieb, Milena. Einen Earl Grey, bitte.«

Als sie ein paar Minuten später den Tee brachte, saß er reglos da und starrte auf die nebligen Rheinhänge. Er achtete kaum auf sie, seine Arbeitsunterlagen hatte er nicht angerührt. Sie wollte ihn fragen, ob sie etwas für ihn tun könne, doch er kam ihr zuvor.

»Danke, Milena. Dann sehen wir uns zum Mittagessen.«

Was einem höflichen Rauswurf gleichkam. Wie er wollte, sie war ohnehin spät dran mit der Arbeit. Sie schloss die Tür, warf im Vorbeigehen einen weiteren Blick in den Spiegel, zupfte wieder vergebens an ihren Haaren herum und ging weiter in die Küche. Es würde Piroggen geben. Zuhause in Polen machte sie die zwar so gut wie nie, Adrian und Szymon aßen lieber Nudeln oder Pizza. Doch hatte sie dieses polnische Nationalgericht gekocht, als sie neu in Deutschland war. Weil es sie an ihre Mutter erinnerte und an die Heimat. Herr Barsch war überrascht gewesen, weil er das Essen nicht kannte. Und es schien ihm zu schmecken.

»Wenn Sie möchten, mache ich nächstes Mal was anderes.«

»Nein, nein«, beeilte er sich zu sagen. »Ich habe immer gesagt: Jeder soll das machen, was er kennt. Sie müssen für mich keine deutsche Küche machen, Milena. Ich kann mich anpassen.«

Mit anderen Worten: Er liebte ihre Piroggen. Das war seine Art, ein Kompliment auszusprechen. Er mochte die polnische Küche. Dabei unterschied die sich gar nicht so sehr von der deutschen, fand Milena. Kartoffeln, Würstchen und Kohl waren hier wie dort beliebt. Dazu gab es überall regionale Spezialitäten, rund um Krakau genau wie im Rheinland. Aber wenn er polnische Küche wollte, dann bekam er sie auch.

Sie stellte das Radio an, hörte Popmusik und machte sich an den Teig für die Piroggen. Da klingelte es an der Haustür. Eilig wusch sie sich die Hände und stellte das Radio wieder aus. Als sie in den Flur trat, um zur Tür zu gehen, stand Herr Barsch mit seinem Stock in der Diele.

»Ich gehe schon, Herr Barsch.«

»Nein, nein. Lassen Sie.«

»Aber ich gehe doch immer zur Tür.«

»Ich bin schon da, Milena.«

Es wirkte, als würde er jemanden erwarten. Sonst machte er sich nie die Mühe, die Tür zu öffnen. Sie blieb unschlüssig stehen.

»Schon gut, ich übernehme das. Sie können weiterkochen.«

Sie ging zurück in die Küche, ließ dabei die Tür einen Spalt weit offen und lugte hindurch. Seltsam. Draußen stand ein älterer Herr mit Schiebermütze und Cordjacke. Milena erkannte ihn, es war einer von Herrn Barschs Chorfreunden. Der Männergesangsverein traf sich wöchentlich im Bungalow, um alte Schlager zu singen. Herr Barsch sang die Erste Stimme, und auch wenn das keiner vermuten würde, der ihn sonst erlebte, konnte der alte Mann sich regelrecht in eine Rampensau verwandeln. Beim ersten Mal hatte Milena gar nicht gewusst, wie ihr geschah, als sie ihren gesetzten und strengen Arbeitgeber hatte vorsingen sehen, mit Rhythmus und mit Leidenschaft und mit einer tollen Stimme. Inzwischen hatte sie sich an diese Auftritte gewöhnt, ebenso wie an die Männergesangsabende. Und der Mann an der Tür war definitiv einer der Herren, die einmal wöchentlich mit ihrem Chef alte deutsche Schlager sangen, da war sie zu hundert Prozent sicher.