Jeder Tag kann der schönste in deinem Leben werden - Emily Barr - E-Book

Jeder Tag kann der schönste in deinem Leben werden E-Book

Emily Barr

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Beschreibung

Sie hat kein Gedächtnis und nur eine Erinnerung: und dafür geht sie bis ans Ende der Welt. Ein außergewöhnlicher Coming-of-Age-Roman, den man so schnell nicht mehr vergessen wird. Emily Barrs ›Jeder Tag kann der schönste in deinem Leben werden‹ ist die Geschichte eines Mädchens, das für einen Kuss bis an den Nordpol reist und durch Briefe aus Paris die kleinen bunten Wunder des Lebens entdeckt. Ungewöhnlich berührend und bezaubernd erzählt! "Ich schaue auf meine Hand. Dort steht Flora, das bin ich. Die Buchstaben auf dem Handrücken bilden meinen Namen. Ich halte mich daran fest. Ich bin Flora. Darunter steht: Sei mutig! Ich schließe meine Augen und hole tief Luft. Ich weiß nicht, warum ich hier bin, aber alles wird gut." Flora Banks Leben ist wie ein tausendteiliges Puzzle in allen Farben des Regenbogens. Jeden Tag muss sie es erneut zusammensetzen. Sie muss sich daran erinnern, wer sie ist und was los ist. Manchmal stündlich. Nichts, was seit ihrem 10. Geburtstag passiert ist, bleibt ihr im Gedächtnis. Doch auf einmal ist da diese eine Erinnerung in ihrem Kopf. Und sie bleibt, verschwindet nicht wie die anderen Details aus ihrem Leben. Es ist die Erinnerung daran, wie sie nachts am Strand einen Jungen geküsst hat. Bewaffnet mit Handy, Briefen von ihrem Bruder aus Paris, einem prallgefüllten Notizbuch und tausenden von Zettelchen macht sich Flora Banks auf eine Reise, die sie letztendlich zu sich selbst führt. Denn zum ersten Mal in ihrem Leben kann sie jetzt entscheiden, wer sie wirklich sein will.

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Seitenzahl: 395

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Emily Barr

Jeder Tag kann der schönste in deinem Leben werden

Roman

Aus dem Englischen von Maria Poets

FISCHER E-Books

Inhalt

PrologTeil 11. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelTeil 28. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. KapitelTeil 322. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. KapitelFloras Regeln für das Leben

Prolog

Mai

Ich stehe ganz oben auf einem Hügel, und obwohl ich weiß, dass ich etwas Schreckliches getan habe, komme ich nicht darauf, was es ist.

Eine Minute oder eine Stunde zuvor wusste ich es, aber jetzt ist es aus meinem Kopf verschwunden, und weil ich keine Zeit hatte, es aufzuschreiben, ist es verloren. Ich weiß, dass ich mich von etwas fernhalten sollte, aber ich weiß nicht, wovon.

Ich stehe auf einem Bergrücken an einem unglaublich schönen, eisigen Ort. Tief unter mir befindet sich auf der einen Seite ein Gewässer, an dessen Strand zwei Ruderboote liegen. Auf der anderen Seite ist nichts: nur Berge, so weit ich blicken kann. Der Himmel ist von einem tiefdunklen Blau, die Sonne blendet. Auf dem Boden liegt heller weißer Schnee, doch mir ist heiß, weil ich einen dicken Pelzmantel trage. Es ist ein freundlicher, verschneiter Ort. Es kann kein realer Ort sein. Vielleicht verstecke ich mich an einem Ort im Inneren meines Kopfes.

Als ich zurückschaue, entdecke ich weit unter mir eine Hütte, sie liegt gleich bei den Booten: von dort bin ich fortgelaufen, den Hügel hinauf, fort von dem, was auch immer sich in der Hütte befindet. Ich sollte nicht allein hier sein, denn ich weiß, dass hier etwas Gefährliches lauert.

Doch ich will mein Glück lieber in der Wildnis versuchen, als mich dem Ding in der Hütte zu stellen.

Da es keine Bäume gibt, muss ich die Hügelkuppe überqueren, ehe ich mich verstecken kann. Sobald ich sie überwunden habe, werde ich in der Wildnis sein. Es wird nichts geben außer mir und den Bergen und den Felsen und dem Schnee. Ich stehe auf der Kuppe und ziehe zwei glatte Steine aus meiner Manteltasche. Ich weiß nicht, warum ich es tue, aber ich ahne, dass es unglaublich wichtig ist. Die Steine sind schwarz, und beide zusammen passen genau in meine Hand. Ich schleudere die Steine, einen nach dem anderen, so kräftig ich kann. Sie verschwinden zwischen den schneebedeckten Felsen, und ich bin zufrieden.

Ich laufe weiter. Schon bald werde ich nicht mehr zu sehen sein. Ich werde einen Ort finden, an dem ich mich verstecken kann, und ich werde mich nicht von der Stelle rühren, bis ich mich daran erinnere, was ich getan habe. Es ist mir egal, wie lange es dauert. Wahrscheinlich werde ich für den Rest meines Lebens hier an diesem kalten Ort bleiben.

Teil 1

1. Kapitel

Die Musik ist zu laut, der Raum zu überfüllt, und es fühlt sich an, es seien mehr Menschen in diesem Haus, als eigentlich hineinpassen. Die tiefen Basstöne lassen meinen Körper vibrieren. Ich habe eine ganze Weile in der Ecke gestanden: Jetzt hole ich tief Luft und schiebe mich durch die Fremden hindurch.

Ich schaue auf meine Hand. Party, steht dort in dicken schwarzen Buchstaben.

»Das sehe ich«, sage ich zu meiner Hand, obwohl ich nicht weiß, warum ich hier bin.

Die Luft ist stickig, es riecht nach Schweiß und Alkohol und Parfüm, was zusammen eine ekelerregende Mischung ergibt. Ich muss hier raus. Ich will frische Luft schnappen. Ich will mich an eine Brüstung lehnen und aufs Meer starren. Das Meer ist draußen vor diesem Haus.

»Hi, Flora«, sagt jemand. Ich erkenne die Person nicht. Es ist ein hochgewachsener, magerer Junge ohne Haare.

»Hallo«, erwidere ich mit so viel Würde, wie ich aufbringen kann.

Der Junge trägt Jeans. Alle Jungs hier und die meisten Mädchen tragen Jeans. Ich dagegen trage ein schimmerndes weißes Kleid mit abstehendem Rock, dazu ein Paar gelbe Schuhe, die noch nicht einmal hübsch sind und die mir nicht richtig passen.

Vermutlich habe ich mich angezogen für das, was ich mir unter einer Party vorstelle. Jetzt bin ich die einzige Person, die völlig peinlich aussieht. Dieses Gefühl kommt mir bekannt vor.

Als ich jünger war, liebte ich es, mich für Partys anzukleiden, und die Leute umarmten mich und sagten mir, ich sähe aus wie eine Prinzessin. Aber ich bin nicht mehr ein kleines Mädchen. Wenn ich einen Stift zur Hand hätte, würde ich es auf meinen Arm schreiben, um es mir zu merken: »Ich bin älter, als ich glaube.« Ich sollte keine Partykleider mehr tragen, sondern Jeans. Das sollte eine meiner Regeln werden. Ich blicke in meine Hand. Ich bin 17, steht dort. Ich schaue erneut an mir herunter. Ich sehe aus wie ein Teenager, aber ich fühle mich nicht wie einer.

»Willst du etwas trinken?« Mit einem Nicken deutet der Junge auf einen Tisch mit Plastikbechern und Flaschen mit Alkohol.

Ich schaue auf mein Handgelenk. Keinen Alkohol trinken steht dort. Aber alle hier trinken Alkohol.

»Ja, bitte«, sage ich, um zu sehen, was passiert. Meine Hand informiert mich weiter: Drake geht weg. P’s Freund. Diese Party findet statt, weil jemand fortgeht. Paiges Freund. Arme Paige. »Von dem Roten, bitte.«

Ich feuchte meinen Finger an und rubbel an dem Keinen Alkohol trinken herum, bis die Wörter unleserlich geworden sind.

Der große Junge reicht mir einen bis zum Rand mit Wein gefüllten Plastikbecher. Beim ersten Schluck zucke ich zusammen, doch einen Becher mit Alkohol in der Hand zu halten, gibt mir das Gefühl, hierher zu gehören. Also stürze ich mich erneut ins Getümmel und halte nach Paige Ausschau.

Ich bin siebzehn. Dies ist eine Party. Drake geht fort. Drake ist Paiges Freund.

Eine Frau legt mir eine Hand auf den Arm und stoppt mich. Ich drehe mich zu ihr um. Sie hat weißblonde Haare, die fransig geschnitten sind, und ich weiß, dass sie älter ist als alle anderen hier, weil sie Falten im Gesicht hat. Sie ist Paiges Mum. Ich weiß nicht, warum, aber sie mag mich nicht.

»Flora«, schreit sie, um sich über die Musik hinweg verständlich zu machen. Sie lächelt mit dem Mund, aber nicht mit den Augen. Ich mache es genauso. »Flora. Du bist hier, und es geht dir gut.«

»Ja«, schreie ich zurück und nicke heftig.

»Dann gebe ich deiner Mutter Bescheid. Sie hat mir bereits drei SMS geschickt und sich nach dir erkundigt.«

»Okay«, sage ich.

»Dave und ich verschwinden jetzt. Kommst du klar?« Sie wird ein bisschen gemein. »Ich weiß, dass du immer jemanden brauchst, der auf dich aufpasst.«

»Ja, natürlich.«

Sie sieht mich einen Moment an, dann wendet sie sich ab und geht davon. Diese Frau ist Paiges Mum, und dies ist ihr Haus.

Die Musik verstummt, und ich seufze erleichtert. Sie war viel zu laut. Doch sofort setzt ein neues Lied ein, und jetzt hüpfen die Leute um mich herum auf und ab und »tanzen« auf eine Art, die ich unmöglich nachmachen kann. Sie freuen sich ganz offensichtlich über den neuen, lebhafteren Song.

»Leg die Pixies wieder auf!«, brüllt jemand direkt neben meinem Ohr. Ich zucke zusammen und verschütte Rotwein auf mein Kleid. Es sieht aus wie Blut.

Ein Mädchen weicht zurück und tritt mir auf den Fuß. Sie hat sehr kurzes Haar, riesige Ohrringe und trägt hellen, glänzenden Lippenstift, der ihren Mund wie eine Wunde aussehen lässt.

»Sorry«, sagt sie und wendet sich wieder ihrer Unterhaltung zu.

Ich muss hier weg. Partys sind nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte, mit Spielen und Kuchen. Paige sehe ich auch nirgends: Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann.

Ich schiebe mich zur Tür, dem Geruch des Meeres und dem Geräusch der Nicht-Musik entgegen, ich will nach Hause, als ein klingelndes Geräusch ertönt und ein »Schhh« sich im Raum ausbreitet. Alle Gespräche kommen abrupt zum Erliegen, und ich bleibe stehen und wende mich in dieselbe Richtung wie alle anderen.

Ein Junge steht auf einem Stuhl: Drake ist Paiges Freund, und Paige ist meine beste Freundin. Mit Paige fühle ich mich sicher: ich habe sie kennengelernt, als wir vier Jahre alt waren und in die Schule kamen. Sie hatte ihre Haare zu Zöpfen geflochten, genau wie ich, und wir waren beide nervös. Ich erinnere mich noch daran, wie wir Gummitwist auf dem Pausenhof spielten. Ich erinnere mich, wie wir gemeinsam lesen lernten, ich konnte es bereits und half ihr. Als wir älter wurden, half ich ihr bei den Hausaufgaben, und sie schrieb kleine Theaterstücke, die wir aufführten, und entdeckte Bäume, auf die wir klettern konnten. Ich erinnere mich, wie wir in unserem letzten Grundschuljahr ganz aufgeregt waren, weil wir bald in die Sekundarschule kommen würden. Ich kenne Paige sehr gut, und als ich sie jetzt entdecke, bin ich überrascht, dass sie erwachsen ist. Das bedeutet, dass Drake ihr richtiger Freund ist, nicht nur so ein alberner Kinderfreund.

Drake hat, wie ich feststelle, dunkle Haare und eine Brille mit dunkler Fassung. Er trägt Jeans, wie alle anderen auch. Mir kommt er unbekannt vor.

Er überfliegt die Menge. Als sich unsere Blicke treffen, lächelt er kurz und schaut dann fort. Das bedeutet, dass wir uns kennen, selbst wenn ich mir dessen nicht bewusst bin. Neben seinem Stuhl steht ein blondes Mädchen und blickt zu ihm auf. Sie steht zu nah bei ihm. Ich glaube, ich habe sie schon einmal gesehen. Sie sollte ihn nicht so anschauen, nicht, wenn er Paiges Freund ist.

»Hey – danke, Leute, dass ihr, ihr wisst schon, vorbeigekommen seid«, sagt er in Richtung der jungen Leute, die dichtgedrängt im Raum stehen. »Ich hatte eigentlich gar keine richtige Party erwartet. Ich meine, ich war nur etwa fünf Minuten in der Stadt. Okay, fünf Monate, um genau zu sein. Es war super hier, bei Tante Kate und Onkel Jon, und ich hätte nie damit gerechnet, in der Zeit einen ganzen Haufen neuer Freunde zu finden. Ich hatte gedacht, Cornwall sei nur ein kleiner Außenposten von London, und dass ich hier mit Doppeldeckerbussen fahren und, na ja, scheußliches britisches Essen verputzen und ein Fußballhooligan werden würde. Stattdessen hatte ich hier eine echt geile Zeit. Wir bleiben in Verbindung! Wenn irgendeiner von euch nach Svalbard kommen und mich in der geilsten Gegend der Erde besuchen will, bitte, gerne. Ich habe davon geträumt, für immer dort zu leben, und bin so froh, dass ich jetzt die Gelegenheit dazu habe. Aber das soll nicht heißen, dass Cornwall nicht super wäre, denn das ist es.«

Hinter mir sagt jemand leise: »Er sollte noch etwas länger von der Arktis schwärmen«, und jemand anders lacht.

Ich habe ein Smartphone in der Hand und mache damit ein Foto von ihm, damit ich mich daran erinnere, warum ich hier bin. Ich weiß nicht, was Svalbard bedeutet. Es ist ein merkwürdiges Wort, aber ich merke, dass er es mag.

Ich trinke den letzten Schluck Wein, der immer noch fürchterlich schmeckt, und schaue mich um, ob es mehr davon gibt. Mir ist etwas übel.

»Natürlich«, fährt er fort, »hatte ich wahnsinniges Glück, die wunderschöne Paige kennenzulernen.« Er schweigt und lächelt und wird ein wenig rot.

Die Person hinter mir murmelt: »Vom Aussehen her ist er absolut nicht ihre Liga.« Es folgt ein zustimmendes Schnauben.

»Und durch sie«, fährt Drake fort, »habe ich viele von euch supernetten Leuten kennengelernt. Ich werde euch vermissen. Wie dem auch sei. Danke an alle, und wir hören voneinander. Ich werde für euch ein paar Schneebilder bei Facebook hochladen. Ich glaube, das war’s dann. Ach ja, vielen Dank an Paige und Yvonne und Dave, dass wir in ihrem Haus feiern dürfen. Dabei wollte ich einfach nur in den Pub gehen. Cheers, Leute, und versucht, das Haus nicht zu zerlegen.«

Müder Applaus kommt auf, als er unbeholfen vom Stuhl klettert. Jeder hält einen Drink in der Hand und klatscht merkwürdig unfröhlich.

Ich versuche mir zusammenzureimen, was er gerade gesagt hat. Er geht fort. Er geht irgendwohin, wo es Schnee gibt, und er freut sich darauf. Er war für fünf Monate hier in Penzance, und er hat Tante Kate und Onkel Jon besucht. Paige hat diese Party für ihn arrangiert.

Paige steht in einer Ecke mit einer Gruppe von Leuten. Sie blickt auf und fragt mich mit einer bloßen Bewegung der Augenbrauen, ob es mir gutgeht. Ich signalisiere ihr zurück, dass mir nichts fehlt.

Paige ist wunderschön. Sie hat langes, schwarzes Haar, das dick und leicht lockig ist, und seidige Haut. Wenn sie lächelt, bekommen ihre Wangen Grübchen. Sie sieht aus wie eine Porzellanpuppe. Heute hat sie ein hellblaues Kleid an, kurz und figurbetont, dazu trägt sie dicke Strümpfe und klobige Stiefel. Ich zupfe an meinem albernen weißen »Partykleid« herum, versuche, nicht auf meine schrecklichen Schuhe zu starren. Es hilft nichts, ich fühle mich völlig fehl am Platz.

Ich überlege, wie ich wohl im Spiegel aussehe. Ich kann nirgendwo einen finden.

Auf der Innenseite meines Arms entdecke ich eine kleine Notiz. Morgen Kino mit Paige. Muntere sie auf.

Ich fülle meinen Plastikbecher mit Rotwein und schleiche mich so unauffällig wie möglich zur Seitentür hinaus – als würde es jemanden interessieren, ob ich weggehe. Die kühle Luft trifft mich ins Gesicht, und das Meer füllt meine Ohren und Lungen. Für ein paar Sekunden schließe ich die Augen. Gott sei Dank bin ich da raus.

 

Ich stehe mitten auf der Straße, und es ist Nacht. Ich sehe mich um und versuche, mich zu orientieren. Unter meinen Füßen ist eine weiße Linie. Dies ist exakt die Mitte der Straße. Ein Auto kommt mit hoher Geschwindigkeit auf mich zu und drückt auf die Hupe. Ich starre die näherkommenden Scheinwerfer an, doch dann weicht das Fahrzeug aus und fährt weiter, immer noch hupend, bis es in der Ferne verschwindet.

Ich sollte nicht allein draußen sein. Ich sollte nicht mitten auf irgendwelchen Straßen stehen. Ich darf nur in Begleitung eines Erwachsenen über die Straße gehen. Warum bin ich im Dunkeln draußen? Warum bin ich alleine? Wo ist meine Mum?

Ich trage ein weißes Kleid und komische gelbe Schuhe. Das Kleid hat vorne einen roten Fleck, aber als ich ihn berühre, tut es nicht weh. In meiner Hand halte ich einen Plastikbecher mit rotem Johannisbeersaft. Etwas davon habe ich auf die weiße Straßenlinie verschüttet.

Ich bin zehn Jahre alt. Ich weiß nicht, warum ich im Körper einer Erwachsenen stecke. Ich hasse es, und ich will nach Hause. Ich laufe über die Fahrbahn zum Gehweg neben dem Meer. Von irgendwoher höre ich Musik. Ich lehne mich an eine Brüstung und versuche, nicht in Panik zu geraten.

Ich nehme einen Schluck aus dem Becher und zucke zusammen. Das ist kein Saft, aber der eklige Geschmack kommt mir bekannt vor, also muss ich bereits davon getrunken haben.

Ich schaue in meine Hand. Flora steht dort, und das bin ich. Diese Zeichen auf meiner Hand stehen für meinen Namen. Daran klammere ich mich. Ich bin Flora. Unter diesem Wort steht: Sei mutig! Ich schließe die Augen, hole tief Luft und reiße mich zusammen. Ich weiß nicht, warum ich hier bin, aber alles wird gut. Ich bin 17 steht darunter.

Party, steht auf der anderen Hand Drake geht weg. P’s Freund. Da steht noch etwas, aber das ist verwischt und unlesbar. Auf meinem Arm steht Morgen Kino mit Paige. Muntere sie auf. Und mein Handgelenk verrät mir: Mum & Dad: 3 Morrab Gardens.

Ich weiß, wer Paige ist. Sie ist meine Freundin. Ich habe sie kennengelernt, als wir in die Schule kamen, da waren wir vier. Drake ist ihr Freund, aber er geht fort, und Paige braucht etwas Aufmunterung.

Ich weiß, dass ich Eltern habe, und ich weiß, wo ich wohne. Ich wohne in Morrab Gardens Nummer 3. Ich muss nach Hause gehen, und das werde ich jetzt tun. Mein Kopf fühlt sich ungewohnt an. Mir ist schwindelig.

Ich starre hinaus auf das zerhackte Spiegelbild des Mondes draußen auf dem Meer. An der Brüstung ist ein Plakat befestigt. Katze vermisst lautet die Überschrift. Schwarzweiße Katze ohne Ohren. Vermisst seit Dienstag. Da steht auch eine Telefonnummer, die man anrufen soll, wenn man die Katze gesehen hat. Ich mache ein Foto von dem Plakat, dann noch eines und noch eins. Die Vorstellung gefällt mir nicht, dass hier irgendwo eine schwarzweiße Katze ohne Ohren herumirrt. Sie wird den Straßenverkehr nicht hören können. Ich muss sie suchen. Ich überlege, ob ich bereits nach ihr gesucht habe. Vielleicht bin ich deswegen hier draußen.

Ich drehe das Handy um und mache ein Foto von meinem Gesicht. Als ich es mir anschaue, stelle ich fest, dass ich fremd aussehe. Ich bin älter als ich dachte. Ich bin nicht zehn.

 

Da war eine Party. Drake geht weg. Paige ist traurig. Ich bin siebzehn. Ich muss mutig sein.

 

Das Wasser ist schwarz, eine riesige leere Fläche erstreckt sich bis zu einem unsichtbaren Horizont. Die Spiegelung des Mondes funkelt in der Dunkelheit. Das Licht der Promenade reicht bis dorthin, wo das Land aufhört.

Ich überlege, ob ich hinunter an den Strand gehen und diese komischen gelben Schuhe ruinieren soll. Ich könnte hier sitzen bleiben und den Becher mit dem roten Getränk leeren, den ich in der Hand halte, und noch etwas länger auf das Wasser starren. Vorsichtig gehe ich ein paar Stufen hinunter, in deren Mitte sich kleine Pfützen gebildet haben, und laufe über die Steine weiter. Ich sinke überhaupt nicht ein. Der Kiesstrand ist fester, als er aussieht. Ich finde eine Stelle, an der ich mich hinsetzen kann, und starre hinaus aufs Wasser.

Die Wellen rauschen geräuschvoll über die Steine, als ich Schritte höre, die sich mir von hinten nähern. Ich drehe mich nicht um. Dann setzt sich jemand neben mich. Unsere Schultern berühren sich.

»Flora«, sagt der Junge mit einem breiten Lächeln.

»Das ist Wein, oder?« Er nimmt mir den Becher aus der Hand und nippt daran. Ich betrachte ihn. Dieser Junge sieht nicht aus wie ein Model oder ein Filmstar. Er trägt eine Brille und Jeans, und er hat dunkle Haare.

Ich rutsche ein Stück beiseite.

»Ich bin’s«, sagt er, »Drake. Flora, ist alles in Ordnung mit dir?«

»Du bist Drake?«

»Ja. Klar. Ich kenne dich seit Monaten. Es ist okay, Flora. Ich war Paiges Freund.«

Ich bin mir nicht sicher, was ich ihm sagen soll.

»Es ist alles in Ordnung. Ehrlich. Du trinkst Wein? Das passt gar nicht zu dir.«

Ich will etwas sagen, aber mir fällt absolut nichts ein. Ich will so tun, als sei ich völlig normal. Das ist Drake. Er hatte eine Party, und jetzt ist er am Strand.

»Was tust du hier?«, frage ich. »Hier am Stand?«

Ich schaue auf die Wörter in meiner linken Hand. Im Licht der Straßenlaterne hinter uns kann ich sie kaum erkennen. Drake geht weg, erklärt mir meine linke Hand. Die Wörter darunter sind unleserlich. Die Rechte erinnert mich erneut daran, mutig zu sein.

Er nimmt meine linke Hand und liest sie. Seine Hand fühlt sich warm an.

»Drake geht weg«, sagt er. »P’s Freund.« Wir starren zusammen auf die Wörter. »Flora, sei mutig!«, sagt er und liest die andere Hand. »Ich liebe diese Notizen in deinen Händen. Funktioniert es? Helfen sie dir, dich zu erinnern?«

Er hält meine Hände weiter fest. »Ich war Paiges Freund.«

Ich weiß nicht, warum er hier ist. Er geht fort. Er geht irgendwo anders hin.

Der Abend ist kalt geworden, und vom Meer bläst mir ein eisiger Wind direkt ins Gesicht.

»Wie wird es dort sein?« Ich rede schnell, weil ich mich unbehaglich fühle. »Dort, wo du hingehst?«

Er hält immer noch meine Hände fest. Mir gefällt es, wie sich seine warmen Hände an meinen anfühlen. An dem Blick, mit dem er mich ansieht, merke ich, dass ich die Antwort auf diese Frage wissen müsste.

»Es wird wunderbar sein«, sagt er. »Kalt. Ich war schon einmal dort. Na ja, es ist lange her. Wir sind in den Ferien nach Svalbard gefahren, um die Mitternachtssonne zu sehen. Ich war zehn, und seitdem wollte ich dort leben. Jetzt, neun Jahre später, werde ich endlich dorthin gehen. Es wird phantastisch werden.« Er seufzt. »Meine Vorlesungen finden auf Englisch statt, weil dort Leute aus der ganzen Welt hinkommen. Was echt ein Glück für mich ist, denn in Sprachen bin ich wirklich miserabel.«

Er rutscht ein Stück näher, so dass sich unsere Seiten ganz berühren. Er lässt meine linke Hand los und hält meine rechte fester.

Es ist unmöglich, sich auf das zu konzentrieren, was Drake sagt, weil meine Haut am ganzen Körper ein Eigenleben entwickelt hat. Sie ist plötzlich überempfindlich geworden, und alles, was sie will, jeder Zentimeter meiner Haut, ist, dass er mich berührt.

Aber er ist Paiges Freund, und ich weiß nicht, was er hier tut.

»Was für ein Glück für dich«, plappere ich los. Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter, da ich nichts zu verlieren habe. »Du bist neunzehn«, sage ich. »Ich bin siebzehn.« Es scheint mir wichtig, daran zu denken. Ich nehme meinen Kopf fort, weil Drake der Freund meiner Freundin ist.

Drake streckt sich, legt den linken Arm um mich und zieht meinen Kopf zurück. Ich gebe nach, lehne mich an ihn und spüre, wie sein Arm mich umfasst.

»Paige und ich haben uns getrennt«, sagt er.

Er sieht mich an und ich ihn. Als seine Lippen meine berühren, weiß ich, dass es das Einzige auf der Welt ist, was ich will.

Über uns fahren Autos vorbei. Vor uns rollen die Wellen bis nah an unsere Füße heran und ziehen sich wieder zurück. Ich küsse Drake. Ich möchte für alle Ewigkeit mit ihm am Strand sitzen. Ich habe keine Ahnung, wie oder warum das hier passiert, aber ich weiß, dass es das einzig Gute ist, das je in meinem ganzen Leben passiert ist.

Licht blitzt auf. Der Rest der Welt verschwindet.

Ich schaffe es, mich von ihm zu lösen. Eine Welle kracht an die Küste, und der Wind bläst meine Haare in alle Richtungen.

»Hey«, sagt er. »Sag mal, hast du Bock, mit mir irgendwohin zu gehen? Ich meine, jetzt? Wir könnten die Nacht zusammen verbringen …«

Ich starre ihn an. Wir könnten die Nacht zusammen verbringen. Alles in mir spannt sich an. Ich will die Nacht mit ihm verbringen. Aber ich habe keine Ahnung, was ich tun muss. Er will, dass ich die Nacht mit ihm verbringe. Die Nacht. Diese Nacht.

Ich muss nach Hause.

»Aber meine Mum …«, sage ich. Wir starren uns an, und ich kann den Satz nicht beenden. Ich kann den Blick nicht von seinen Augen abwenden. Ich beuge mich vor, um ihn erneut zu küssen, doch er weicht zurück.

»Deine Mum«, sagt er. »O Gott. Es tut mir leid. Das war eine bescheuerte Idee. Ich meine. Was zum Teufel habe ich … Ich wollte nicht …« Er verstummt.

Ich kann nicht sprechen, also nicke ich. Er sieht mich an mit einer Miene, die schwer zu deuten ist.

»Es geht mir gut«, sage ich zu ihm. »Es tut mir leid. Ich … ich hätte niemals …« Ich schnappe mir eine Haarsträhne und nehme sie in den Mund. Ich kann meine Sätze nicht zu Ende bringen. Ich möchte ihm sagen, dass ich niemals erwartet hätte, dass mir so etwas passiert. Dass ich sicher bin, dass es nie zuvor passiert ist. Dass ich durcheinander bin und immer noch versuche zu begreifen, was gerade geschieht. Dass ich ihn ewig lieben werde, weil er mir das Gefühl gibt, normal zu sein. Dass ich gerne die Nacht mit ihm verbringen würde. Doch ich kann meiner Freundin gegenüber nicht illoyal sein; und ich kann nicht die ganze Nacht wegbleiben. Das geht einfach nicht.

»Sie wird die Polizei rufen«, füge ich hinzu und denke an meine Mutter.

»Die Polizei. O Mann. Ich bin so ein Idiot. Vergiss, was ich gesagt habe.«

Vor Kälte richten sich die Härchen an meinen Armen auf. Das Meer kracht und donnert, und der Mond und die Sterne sind hinter den Wolken verschwunden. Der Himmel ist ebenso leer wie das Meer.

»Die Sache ist die …«, sagt Drake. »Also, gut, ich kann das ruhig sagen, na ja, warum zum Teufel auch nicht? Du wirst dich sowieso nicht dran erinnern. Also, ich war in diesem Pub, mit dir und Paige, und hab dich angesehen, so hübsch und blond und anders als alle anderen Mädchen auf der Welt, und ich fragte mich, wie es wohl wäre, mit dir zusammen zu sein. Du bist so seltsam. Und du lächelst mich immer an. Ich wollte mich um dich kümmern und hören, was du erzählst, weil es ganz anders ist als das, was die Leute sonst so sagen.« Er nimmt mein Gesicht in seine Hände. »Wird es dir gutgehen, Flora?«

Ich nicke. Ich möchte aufschreiben, dass ich ihn geküsst habe, sofort. Es wäre komisch, es auf meinen Arm zu kritzeln, während er redet. Trotzdem, ich will aufschreiben, dass er mich für die Nacht irgendwo mit hinnehmen wollte. Ich will das nicht vergessen. Vielleicht könnten wir es sogar schaffen. Ich könnte einen Weg finden. Ich könnte eine Nacht lang völlig normal sein, wie eine Erwachsene.

»Ich komme klar«, sage ich. »Ich bin sicher, dass ich es schaffe. Und vielleicht können wir sogar …«

»Nein. Tut mir leid. Mein Fehler. Wir können nicht. Aber weißt du was – vielleicht können wir in Verbindung bleiben? Lass mich einfach wissen, dass es dir gutgeht, okay?«

»In Verbindung bleiben.« Ich will ihn noch einmal küssen. Ich will, dass er mich küsst und nicht damit aufhört. Jetzt, wo ich ihn geküsst habe, will ich alles aus der Welt um uns herum löschen, bis nichts mehr existiert außer Drake und mir und dem Strand.

Die Flut erreicht ihren höchsten Punkt, und das Wasser ist jetzt ganz nah, so dass wir zurückrutschen müssen, um trocken zu bleiben.

Er holt tief Luft und drückt meine Hand fester. »Flora Banks«, sagt er. »Pass gut auf dich auf. Erzähl Paige nichts davon. Erzähl deiner Mutter nichts. Schreib es nicht in deine Hand.« Er sammelt einen Stein vom Strand auf und hält ihn mir auf der flachen Hand entgegen.

Es ist ein kleiner Stein, einer von den glatten. Selbst im Mondlicht kann ich erkennen, dass er vollkommen schwarz ist, obwohl die meisten dieser Kiesel schiefergrau sind.

»Nimm ihn«, sagt er. »Dieser Stein ist für dich.«

Er legt mir den Stein in die offene Hand und schließt meine Finger darum.

»Ich werde ihn immer aufbewahren«, sage ich zu Drake.

Wir stehen auf. Ich friere und bin steif und durcheinander. Ich möchte ins Bett kriechen und diesen Moment im Geiste immer wieder durchleben. Drake steht neben mir, wir strecken uns und sehen uns an.

»Tja«, sagt er. »Ich werde … O Mann, ich kann heute Abend nicht zu Paige gehen. Nicht jetzt. Ich gehe, und morgen breche ich in aller Stille auf.«

Er küsst mich noch einmal, auf die Lippen. Ich lehne mich an ihn und spüre, wie seine Arme mich umschließen. Ich weiß, dass ich nie wieder auf diese Weise empfinden werde.

»Soll ich dich nach Hause bringen?«, fragt er, doch ich schüttele den Kopf.

Ich stehe am Strand und blicke ihm nach, als er geht. Er erreicht die Treppe und steigt hinauf in die reale Welt. Kurz bleibt er stehen und winkt, ehe er für immer aus meinem Leben verschwindet.

Ich habe den Mann meiner Träume geküsst. Und er geht fort, weit weg, irgendwohin, wo es kalt ist und es eine Mitternachtssonne gibt. Ich blicke hinauf in den dunklen Himmel.

 

Als ich nach Hause komme, wartet meine Mutter auf mich. Sie trägt ihren Morgenmantel, die Haare fallen ihr offen über den Rücken, und sie hält eine Tasse Tee in der Hand. Sie küsst mich auf die Wangen und mustert mich von oben bis unten.

»Hattest du eine schöne Zeit?«, fragt sie.

»Ja.«

»Du hast getrunken.«

»Ein winziges bisschen.«

»Sieh dir den Fleck auf deinem Kleid an. Ach, egal. War sonst alles in Ordnung?«

Ich strahle sie an. »Ja. Es war klasse, echt. Absolut superklasse.«

»Gut. Hat Paige dich nach Hause gebracht?«

»Ja.«

»Wunderbar. Dann hätte ich jetzt gerne meine Schuhe zurück.«

Ich streife die gelben Schuhe ab und gehe nach oben. In meinem Schlafzimmer ziehe ich einen Pyjama an und notiere jedes einzelne Detail meiner Begegnung mit Drake. Ich schreibe es hinten in ein altes Notizbuch, damit Mum nicht auf die Idee kommt, dort nachzuschauen, und verstecke das Buch unter all dem anderen Kram in dem Kasten unter meinem Bett. Ich schreibe außerdem eine Post-it-Notiz, um mich daran zu erinnern, dass es dort ist, und am Morgen wache ich auf und lese es immer wieder.

Aber das ist gar nicht nötig, weil ich mich erinnere.

Der schwarze Stein liegt auf meinem Nachttisch. Ich kann mich erinnern. Ich bin siebzehn.

2. Kapitel

»Du hast ihn geküsst!« Paige schreit nicht, aber es wäre besser, wenn sie es täte. Sie ist auf die ruhige Art wütend. Sie fixiert mich mit durchdringendem Blick und sagt es noch einmal. »Du hast ihn geküsst. Ich weiß, dass du es getan hast. Du wirst dich nicht daran erinnern, aber du hast es getan, und ich weiß es, weil …«

In meinem Kopf schrillt es, und ich kann mich nicht auf ihre Worte konzentrieren. Ich weiß, dass sie redet. Ich weiß, dass sie wütend ist. Ich weiß, dass sie das Recht hat, wütend zu sein. Aber ich höre sie nicht. Ich zwinge mich, sie anzusehen. Ich zwinge mich, ihre Worte aufzunehmen.

Sie atmet tief ein. »Und du hast es aufgeschrieben!« Sie hält einen meiner Zettel in der Hand, ich kann also nicht so tun, als wäre nichts. Die Worte sind da, in meiner Handschrift, und sie weiß, dass meine Notizen so gut wie Fakten sind. Sie weiß, dass es wirklich passiert ist.

Und ich weiß es auch. Ich kann mich daran erinnern. Ich erinnere mich an Dinge aus der Zeit, bevor ich krank war, und jetzt erinnere ich mich daran, Drake geküsst zu haben. Ich weiß jetzt, dass ich kein kleines Mädchen bin, denn ich habe am Strand einen Jungen geküsst, und er wollte die Nacht mit mir verbringen. Ich bin nicht zehn. Ich bin siebzehn.

Mein Herz klopft wie wild. Ich erinnere mich. Der Stein oder Drake oder die Liebe bewirkt, dass ich mich erinnere. Vielleicht ist mein Gedächtnis wieder gesund, obwohl ich mich im Moment an nichts anderes erinnern kann, was seit meinem zehnten Lebensjahr passiert ist.

Ich schaue auf den Zettel in Paiges Hand und sehe, dass ich die Worte so klein wie möglich an den Rand des gelben Zettels gekritzelt habe. In der Mitte steht in dicker Schrift Milch kaufen. Am Rand, einmal rundherum, habe ich in winzigen Buchstaben geschrieben Ich habe Drake geküsst. Ich liebe Drake. Ich kann nicht aufhören, diese Worte anzustarren. Ich staune über die Tatsache, dass es geschehen ist. Es macht mich glücklich, und es bringt mich zum Weinen.

Ich rechne jeden Moment damit, dass die Erinnerung verblasst, aber bis jetzt kann ich mich immer noch erinnern. Ich saß am Strand, und er kam herüber. Er setzte sich neben mich, und wir küssten uns.

Dies ist meine einzige klare Erinnerung bis auf diejenigen aus der Zeit, bevor ich krank wurde. Ich klammere mich daran, ich will, dass sie bleibt. Ich weiß nicht, warum sie dort ist. Ich weiß nicht, wie lange sie bleiben wird. Ich liebe sie über alles. Ich muss sie für immer behalten. Wenn ich mich daran erinnern kann, werde ich mich auch an andere Dinge erinnern können. Drakes Kuss wird es sein, der mich heilt. Schon bald werde ich mich an noch etwas erinnern – obwohl ich hoffe, dass es nicht dieses Gespräch sein wird.

Paige hält den Notizzettel fest und starrt mich so hasserfüllt an, dass ich auf den Boden schauen muss. Wir sitzen in einem Café in der Market Jew Street und warten auf einen Becher Tee. Nach dem Tee wollten wir gehen und andere Dinge machen. Doch dann fand Paige die Notiz, weil ich mich hingesetzt und mein Handy gezückt habe, um Mum eine SMS zu schicken, dass ich hier bin. Ein Schwall gelber Notizzettel fiel aus meiner Tasche. Paige griff danach, um sie für mich aufzuheben, und ich hatte vergessen, dass möglicherweise auf einigen von ihnen etwas stehen könnte, von dem ich nicht will, dass sie es liest.

Ich hatte es vergessen. Natürlich hatte ich das. Ich erinnere mich an den Kuss, aber ich hatte vergessen, dass ich über diesen Kuss etwas aufgeschrieben habe.

Sie las seinen Namen am Rand eines Zettels, den ich aufgesammelt hatte, und nahm mir den Zettel aus der Hand.

Jetzt sieht sie mich an. »Du liebst ihn?«, fragt sie. »Dann hast du ihn nicht nur geküsst – oder ich habe keine Ahnung, wie oft das passiert ist, genauso wenig wie du. Nun, damit hatte ich nicht gerechnet.«

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich weiß, dass ich ihn liebe, aber ich will nicht, dass Paige weiß, wie leidenschaftlich ich mich an jenem Abend gefühlt habe. Trotzdem nicke ich.

»Und du hast ihn tatsächlich geküsst. Gib es zu. Ich weiß, dass du es getan hast. Ich weiß es mit hundertprozentiger Sicherheit.«

Ich starre auf den Boden, der aussieht wie aus Holz, es aber nicht ist. Dann wende ich den Blick von Paige ab und starre ein paar Leute an einem größeren Tisch neben uns an. Es ist eine Familie: zwei Erwachsene und zwei Kinder. Die Erwachsenen lesen Zeitung, die Kinder treten unter dem Tisch nacheinander. Alle vier tragen Jeans und blaue Fleecepullover.

»Er ist zum Strand gegangen«, sagt sie ruhig. »Aber ist nie zurückgekommen. Du hast also die ganze Nacht mit ihm verbracht.«

»Hab ich nicht! Ich bin nach Hause gegangen. Du kannst meine Mum fragen. Paige – ich kann mich erinnern!«

Ich erinnere mich, dass er mich gebeten hat, die Nacht mit ihm zu verbringen. Diesen Teil werde ich ihr jedoch nicht erzählen.

»Nein, das kannst du nicht. Und deine Mum würde dich ohnehin decken. Du könntest Drake auch über die Hintertür hineingeschmuggelt und die ganze Nacht in deinem kleinen Schlafzimmer mit ihm gekuschelt haben, bis er sich morgens heimlich davongemacht hat – sie würde es mir nicht erzählen, weil sie nicht will, dass du deine einzige Freundin auf der Welt verlierst. Und wo wir schon dabei sind – du kannst ihr ausrichten, dass ich meine Meinung über den kleinen Gefallen für sie geändert habe. Ich habe am Telefon nur eingewilligt, um sie loszuwerden. Sag ihr, sie müssen dich mitnehmen.«

»Nein!« Ich spüre Panik in mir aufsteigen. »Nein, ehrlich, Paige! Wir haben am Strand gesessen. Wir haben uns geküsst. Es tut mir leid. Ich bin danach nach Hause gegangen, und er ist … Ich weiß es nicht. Es tut mir so leid, Paige. Ich habe es nicht gewollt. Aber ich erinnere mich daran. Ich erinnere mich tatsächlich daran. In meinem Kopf.«

Ich habe keine Ahnung, was es mit dem kleinen Gefallen auf sich hat. Doch jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um zu fragen. Wahrscheinlich hat man es mir eh schon tausendmal erzählt.

»Du hast es nicht gewollt? Ja klar. Und erzähl mir bloß nicht, du würdest dich erinnern. Ich weiß, dass du es nicht tust.«

»Ich meine, ich habe es nicht geplant. Ich habe nicht damit gerechnet. Aber ich wollte es. Und ich erinnere mich wohl. Ich weiß nicht, warum, aber …«

Sie fällt mir ins Wort. »Du liebst ihn.«

Verlegen zucke ich die Achseln.

»Berichtigung: Du hast deine kleine Liebesgeschichte aufgeschrieben, und alle paar Stunden, wenn du alles wieder vergisst, liest du sie und überzeugst dich selbst davon, dass du ihn liebst. Das ist erbärmlich. Vor allem von ihm. Du kannst ihn gerne haben, wenn du so ein Verhalten bei deinem Freund gut findest. Vielleicht hat er dich in den letzten paar Monaten immer wieder verführt. Wie reizend! Ja, du kannst meinen Freund gerne haben, aber am Nordpol wird er dir unheimlich viel nützen. Ich war die Einzige, die jahrelang auf dich aufgepasst hat, und das weißt du. Ich habe dich mit rausgenommen, obwohl deine Mutter dich am liebsten zu Hause in Watte gepackt hätte. Ich bin mit dir ins Kino gegangen. Ich bin mit dir zum Zumba gegangen. Fast ein Jahr lang sind wir zusammen gerudert. Ich habe besser auf dich aufgepasst als deine Betreuerin an den Tagen, an denen du Schule hast. Jedes Mal, wenn du vergessen hast, wo du bist, habe ich dir geholfen. Meine Mum hat immer gehasst, dass ich so viel meiner Zeit für dich aufopfere. Sie meint, ich sollte nicht deine Aufpasserin sein. Und jetzt? Klar – nimm meinen Freund. Ob du’s glaubst oder nicht …«

Sie bricht ab, als die Kellnerin mit gelangweilter Miene mit unserem Tee auf einem runden Tablett auftaucht. Sie lässt sich ewig Zeit, um die Tassen, einen kleinen Milchkrug, dazu ein Schälchen mit Würfelzucker und schließlich die glänzende blaue Teekanne vor uns zu stellen.

Keine von uns sagt etwas oder sieht die andere an, während die Kellnerin beschäftigt ist. Am Ende sagt Paige knapp »Danke«. Am Nachbartisch fragt das kleine Mädchen im blauen Fleecepullover den Mann: »Kann ich mit deinem Handy spielen?«

Ich schenke uns beiden Tee ein, ihr zuerst. Paige sieht zu, und meine Hand zittert, bis Tee auf den Tisch tropft und die Pfütze auf den Rand zurinnt. Sie tut nichts, also schenke ich fertig ein und gehe dann zum Tresen, um eine Handvoll Servietten zu holen und die Pfütze aufzuwischen, bevor sie zu Boden tropft.

Paige rührt ihren Tee gar nicht an. Sie trägt eine hautenge schwarze Hose und ein enges, weit ausgeschnittenes T-Shirt. Ihr Haar ist zurückgebunden, und sie hat einen hellen Lippenstift aufgetragen. Auf meiner Hand steht, dass wir ins Kino gehen wollten. Unter normalen Umständen hätte sie im Café wahrscheinlich über Drake geredet und wie sehr sie ihn vermisst.

Jetzt werden wir nichts davon tun, nie wieder.

Paige holt einmal tief Luft und macht dort weiter, wo sie aufgehört hat.

»Ob du’s glaubst oder nicht, ich wusste schon immer, dass du auf ihn stehst. Ich konnte es sehen. Niemand ist einfacher zu durchschauen als du, Flora. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er das ausnutzen würde. Ich hatte keine Ahnung, dass er überhaupt von dir Notiz genommen hat, abgesehen von deiner interessanten Krankengeschichte. Ob du’s glaubst oder nicht, es gibt nichts, was du jemals sagen oder tun könntest, um mich zu überzeugen, dass du keinen Sex mit ihm hattest. Nichts. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du es getan hast. Meinen Freund. Meinen. Ich weiß, du wirst Drake vergessen, weil du ihn vor deiner sogenannten Krankheit nicht gekannt hast, aber sein Name stand auf deiner Hand, und auch, dass er mein Freund ist. Ich weiß …«, sie wedelt mit dem Notizzettel in der Luft herum, »… dass du glaubst, du würdest ihn lieben. Hast du ihn womöglich die ganze Zeit über heimlich geliebt?«

Ich versuche, den Kopf zu schütteln, aber ich schaffe es nicht. »Ich weiß nicht«, sage ich schließlich. Meine Stimme ist dünn und zittrig. »Ich kann mich nicht erinnern.«

»Hey. Das ist in Ordnung.« Sie lächelt jetzt eisig und sieht mir direkt in die Augen. »Du hast dir selbst eine hinreißende Liebesgeschichte geschrieben, und dadurch fühlst du dich weniger kindisch. Aber jetzt ist es kein Geheimnis mehr, du kannst also deinen albernen kleinen Zettel auf den neuesten Stand bringen. Gib her. Ich mache es für dich.«

Sie hält mir die ausgestreckte Hand entgegen. Ich schiebe den leeren Notizblock über den Tisch. Sie nimmt einen Stift aus ihrer Tasche und beginnt zu schreiben, zunächst auf meinen ursprünglichen Zettel, dann schreibt sie erst einen, dann zwei, dann drei neue voll. Als sie fertig ist, knallt sie alle drei vor mir auf den Tisch. Danach nimmt sie ihre Tasche und geht hinaus. Sie hat ihren Tee nicht angerührt.

In der offenen Tür bleibt sie stehen und blickt zu mir zurück. Ich sehe sie an. Sie öffnet den Mund, als wollte sie etwas sagen. Ich bin schon halb aufgestanden, als sie den Kopf schüttelt und geht. Die Tür knallt hinter ihr zu.

Ich lese die Sammlung gelber Quadrate. Die Wörter Milch kaufen sind durchgestrichen. Jetzt steht da nur noch:

Ich habe Drake geküsst. Ich liebe Drake.Das ist KEIN Geheimnis. Ich muss eine neue beste Freundin finden. Auf dem zweiten Zettel steht: Paige wird nie wieder mit mir sprechen. Denk daran, dich nicht bei ihr zu melden, nie wieder. Der Text auf dem dritten Zettel lautet: RUF PAIGE NIE WIEDER AN UND SCHICKE IHR NIE WIEDER EINE SMS.

Ich trinke meinen Tee und starre die Wörter an. Der Stein in meiner Tasche passt auf tückische Art auf mich auf.

»Ich erinnere mich«, sage ich zu dem Platz, an dem Paige gesessen hatte. »Und ob ich mich erinnere.«

 

Als ich nach Hause komme, empfängt mich eine hektische Atmosphäre, dabei habe ich noch den Streit mit Paige im Kopf. Gleich hinter der Tür steht ein Koffer. Mum ist nicht zu sehen. Oben höre ich Schritte. Es klingt geschäftig und ungewohnt.

»Hallo?«, rufe ich, während ich die Schuhe abstreife. Ich überlege, ob der Koffer bedeutet, dass jemand kommt oder geht. Vielleicht ist Drake hier. Vielleicht gehen wir fort.

Ich sammle die Werbeprospekte von der Fußmatte auf. Die Speisekarten eines Pizzaservices und einen Flyer über die Sommersaison in Flambards. Flambards ist ein Ort mit Achterbahnen und Helikopterbahnen und Karussells. Ich möchte sofort dorthin. Ich schiebe den Flyer in meine Tasche zu dem Stein.

Alles in mir drängt danach, meinen Eltern unbedingt zu erzählen, dass ich eine Erinnerung habe, aber ich kann ihnen nicht sagen, dass es ein Kuss mit Paiges Freund ist. Doch irgendetwas geht hier vor, und ich habe Angst, dass Paige angerufen und ihnen mein Geheimnis verraten hat. Vielleicht wissen sie schon alles und schicken mich fort.

Dad kommt die Treppe herunter, er nimmt zwei Stufen auf einmal.

»Flora!«, sagt er. Er dreht sich zur Treppe um. »Annie!«, ruft er. »Es ist Flora!« Er wendet sich wieder an mich. »Wir müssen reden.«

Mein Vater ist lustig und liebevoll. Er arbeitet als Buchhalter, aber wenn zu Hause die Tür hinter ihm zufällt, trägt er gemusterte Pullover, die er selbst strickt. Seine Haare stehen ein wenig ab, wenn Mum sie nicht platttätschelt. Er sagt witzige Sachen. Er würde alles für mich tun, das weiß ich, und ich würde alles für ihn tun, wenn ich fähig wäre, irgendetwas zu tun. Sobald ich ihn sehe, geht es mir besser, und ich verspüre Erleichterung. Er ist mein Zuhause.

Im Moment sieht er besorgt aus. Ich überprüfe meine Hände und Arme, überlege, welche wichtige Sache ich vergessen haben könnte.

»Ziehen wir um?«, wage ich zu fragen.

Er lächelt schwach. »Nein, nein, mein Schatz, wir ziehen nicht um. Annie!«

Meine Mutter eilt die Treppe herunter und fällt beinahe, einen langen Strickmantel hinter sich her schleifend, die Haare wild und wuschelig. »Flora, Liebes«, sagt sie. »Wie geht es Paige? Lasst uns einen Tee trinken.«

Sie schaut auf meine Arme, und ich strecke sie aus, um ihr zu zeigen, dass nichts Neues darauf steht. Die gelben Zettel von Paige sind in meiner Tasche, und Erleichterung überwältigt mich, weil sie nicht über Drake Bescheid wissen. Sie würden in Panik geraten und versuchen, mit Paige zu reden und alles wieder geradezubiegen, als sei ich ein kleines Kind, das nicht für das eigene Handeln verantwortlich ist. Aber ich bin kein kleines Kind mehr. Ich bin siebzehn.

Drake hat mich dazu gebracht, mich zu erinnern. Ich öffne den Mund, um ihnen alles zu erzählen, doch dann schließe ich ihn wieder. Ich will nicht, dass sie von dem Kuss wissen. In diesem Haus bin ich ein kleines Mädchen. Es wäre falsch, einen Jungen zu küssen.

Ich wusste, was ich tat. An diese Tatsache klammere ich mich. Es war nicht nett von mir, aber der Kuss gehört mir, und er war real. Er ist immer noch da. Er ist in meinem Kopf. Ich kann mich daran erinnern, weil ich Drake liebe. Ich umfasse den Stein in meiner Tasche, überzeugt, dass ich, wenn ich diesen Stein verliere, auch die Erinnerung verliere.

»Ich setze das Wasser auf«, sage ich zu ihr.

»Danke, Liebes.«

In der Küche stelle ich den Kessel auf die Herdplatte und bereite den Tee in der gepunkteten Teekanne zu, die wir besitzen, seit ich klein bin. Dann kommt sie auf den Tisch, auch die Milch in der Plastikflasche aus dem Kühlschrank, und für jeden seine Lieblingstasse. Am Kühlschrank hängt ein Poster mit den Lieblingstassen: ein A4-Ausdruck mit Fotos und den Namen darunter. Ich stelle mir vor, ich hätte es selbst gemacht. Meine Lieblingstasse ist offensichtlich rosa gepunktet, die geistloseste Tasse der Welt. Die von meiner Mum trägt die Aufschrift Weltbeste Mum, dazu einen Cartoon mit einer Frau in einer Schürze, und auf Dads steht William Shakespeare mit dem Bild eines bärtigen Mannes. Ich wette, das sind nicht ihre echten Lieblingstassen, aber ich hole sie trotzdem heraus.

Ich kann Paiges Notizen in meiner Tasche spüren. Ich muss nicht nachsehen, um genau zu wissen, was sie bedeuten. Jetzt nicht. Die Worte brennen sich durch den Jeansstoff in meine Haut.

 

»Flora«, sagt Dad, sobald wir am Tisch sitzen. Es ist ungewöhnlich für ihn, dass er ein Gespräch beginnt. »Es ist etwas passiert, ein Problem ist aufgetaucht.«

Vor mir liegen mein Notizblock und mein Handy, weil es sich anfühlt, als bräuchte ich etwas, an dem ich mich festhalten kann.

Mum umklammert ihren Tee mit beiden Händen. Sie hat bisher noch nichts gesagt und nur Kekse angeboten.

»Kennst du Jacob?«, fragt sie jetzt.

»Ich liebe Jacob! Jacob ist mein Bruder. Wo ist er?«

Ich folge den Blicken meiner Eltern und schaue zu den Fotografien an der Wand.

Es gibt ausgedruckte Bilder von mir, Mum, Dad und einem Jungen, alle mit Tesa an die Wand geklebt. Unter den Bildern stehen unsere Namen, und unter dem Bild des Jungen steht Jacob (Bruder).

Ich kenne Jacob. Er ist der Mensch auf der Welt, den ich am meisten liebe. Er ist größer als ich. Früher hat er mich immer hochgehoben und herumgetragen, und er hat mich beim Fernsehen auf seinem Schoß sitzen lassen. Ich habe eine sehr klare Erinnerung, wie er mir erlaubt hat, ihm die Zehennägel anzumalen.

»Er ist in Frankreich«, sagt Mum rasch. »Du weißt, dass Jacob älter ist als du. Das weißt du doch? Er ist vierundzwanzig. Er lebt jetzt in Frankreich, und wir sehen ihn nicht sehr oft, aber er liebt dich sehr. Mehr als uns.«

»Vierundzwanzig?« Stirnrunzelnd blicke ich zum Bild. Dieser Junge ist mager und dunkelhaarig und auf knochige Art gutaussehend. Er sieht jünger aus als vierundzwanzig.

»Es ist ein altes Foto«, sagt Dad. »Ja, er ist jetzt vierundzwanzig. Wir haben ihn ein paar Jahre nicht gesehen.« Er sieht mich an, mustert prüfend mein Gesicht und fährt dann fort: »Gestern hat er uns angerufen, und heute morgen rief das Krankenhaus an. Es scheint ihm sehr schlecht zu gehen. Wir müssen zu ihm, Flora.«

Ich versuche seinen Worten zu folgen.

»Wenn wir ihn jahrelang nicht gesehen haben, woher könnt ihr dann wissen, dass er mich liebt? Ich weiß, dass ich ihn liebe, weil ich mich an ihn erinnere.«

»Wir wissen es einfach«, sagt Mum. »Aber das ist nicht der wichtige Teil. Wir müssen ihn im Krankenhaus besuchen.«

»Wir fahren nach Frankreich? Steht deswegen der Koffer da? Wir fahren von zu Hause weg? Wir werden Jacob sehen?« Ich war noch nie von zu Hause fort. Ich habe keine Vorstellung davon, wie Frankreich ist, außer einem vagen Bild des Eiffelturms.

»Nein«, sagt Dad, und Mum trinkt die Hälfte ihres Tees mit einem Schluck. Sie ist wahnsinnig angespannt. »Du nicht. Wir fahren, aber du musst hierbleiben. Dies ist der beste Ort für dich. Frankreich wäre zu viel, und wir müssen uns auf Jacob konzentrieren. Die Reise wäre zu schwierig, und du müsstest damit zurechtkommen, an einem ganz neuen Ort zu sein. Es ist viel besser für dich, wenn du hierbleibst.«