Ghosted – Eine unmögliche Liebe - Emily Barr - E-Book

Ghosted – Eine unmögliche Liebe E-Book

Emily Barr

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Beschreibung

Ein tragischer Todesfall und eine unmögliche Liebe

Als Ariel zufällig Joe trifft, einen hübschen Jungen, den sie noch nie gesehen hat, spürt sie sofort eine besondere Verbindung zu ihm. Aber auf die Nachricht, die sie ihm schreibt, erhält sie keine Antwort. Er hat sie geghostet und sie wird ihn wohl nie wiedersehen.
Aber dann begegnet sie ihm doch, an genau demselben Ort. Er benimmt sich, als habe er sie noch nie gesehen. Bald begreift Ariel: Er ist dort gestorben und durchlebt immer wieder seinen letzten Tag. Und nur Ariel kann ihm helfen, herauszufinden, wer ihn umgebracht hat.

Eine hochemotionale Liebesgeschichte mit einem packenden Twist

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Seitenzahl: 510

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Emily Barr

Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2022 Emily Barr

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Die Originalausgabe erschien erstmals 2022 unter dem Titel »Ghosted« bei Penguin Books Limited, London, in der Penguin Random House Group.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis

Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg

Umschlagmotiv: Xuan Loc Xuan

kk · Herstellung: AJ

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29957-6V001

www.cbj-verlag.de

Für Craig

PROLOG

11. März

Mia war wegen einer Routineoperation an ihrem Knie im Krankenhaus, und alle sagten, der Eingriff sei gut verlaufen. Am Donnerstagmorgen war sie noch benommen von der Narkose und stellte fest, dass sie die erzwungene Bettruhe sehr genoss. Der Tee im Krankenhaus war überraschend gut und der Toast schmeckte tröstlich vertraut. Sie hatte Zeitschriften zum Lesen. Auf der Station war es ruhig. Das war gut so.

Ihr Freund vermisste sie; sie wohnten noch nicht lange zusammen und waren noch frisch verliebt. Morgen würde sie nach Hause entlassen werden, er würde ihr ein oder zwei Wochen lang helfen, mit den Krücken zurechtzukommen, und dann würde alles wieder normal werden.

Mia war überhaupt nicht in Gefahr gewesen, bis sie plötzlich einschlief und nicht mehr aufwachte. Niemand wusste, warum. Aus ihren Unterlagen ging hervor, dass sie die richtige Menge an Schmerzmitteln zur richtigen Zeit eingenommen hatte, nichts hatte Anlass zur Sorge gegeben.

Ihre Familie lehnte eine Autopsie ab, weil der Gedanke daran zu verstörend war. Der Arzt legte einige Unterlagen vor und erklärte den Angehörigen, dass Mia wahrscheinlich ein Herzleiden gehabt habe, das früher oder später unweigerlich zum Tod geführt hätte, und es nur ein Zufall gewesen sei, dass es auf tragische Weise während ihres Krankenhausaufenthalts geschehen sei. Es sei niemandes Schuld, es sei einfach so passiert.

Das Leben musste ohne sie weitergehen.

Aber Mia konnte das nicht. Sie war noch nicht bereit dazu.

1

12. Februar 2019

»Aufwachen!« Er rüttelte an meiner Schulter. »Steh auf und zieh dich an. Zeit zu gehen. Zeit für einen Neuanfang.«

Ich blinzelte mich wach und versuchte, zu verstehen, was er meinte. Es war merkwürdig, dass er in meinem Zimmer war, und es war stockdunkel, nur der Schein meiner Uhr tauchte sein Gesicht in ein grünes Licht – 04:52.

Ich hatte so tief geschlafen. War das ein Traum? Es fühlte sich wie ein Traum an.

Ich konnte sein Eau de Cologne, seine Zahnpasta und das Teebaumshampoo riechen, das er benutzte. Nein, das war real: Er war wirklich aufgestanden und bereit zum Aufbruch. Und es war 04:52 Uhr … 04:53.

Mein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Das war nicht sein Ernst. Das konnte er nicht tun.

»Was?«, fragte ich und setzte mich auf. »Wo?«

»Keine Sorge!«, sagte er. »Es ist alles arrangiert. Wir fahren weg, Ariel. Ich erzähle es dir im Auto.«

Ich tastete nach der Nachttischlampe, schaltete sie ein und sah ihn an. Er hatte dieses manische Funkeln in den Augen. Mir war klar gewesen, dass es da sein würde. Er machte mir Angst, wenn er so drauf war. Dann konnte man nicht mit ihm reden.

»Was ist mit Sasha?«, fragte ich.

Er trug eine dunkelblaue Fleecejacke und seine grässliche Jeans, und neben ihm stand eine Reisetasche. Es war ihm ernst damit.

»Was soll mit ihr sein?«

»Wir können nicht einfach wegrennen. Wir …« Ich hielt inne. Ich wusste, dass ich nicht mehr sagen konnte, ohne in Tränen auszubrechen, und es war ein Fehler, zu weinen, wenn er in dieser Stimmung war. Das machte ihn wütend.

Ich hatte es immer geschafft, diesen Konfrontationen aus dem Weg zu gehen, weil Sasha den Kopf für mich hingehalten hatte. Ich schluckte schwer, als mir klar wurde, dass ich etwas tun musste, was ich noch nie getan hatte. Ich würde mich ihm widersetzen müssen.

»Nein«, sagte er. »Du hast das falsch verstanden. Wir rennen nicht weg. Wir rennen auf etwas zu. Ein neues Leben. Einen Neuanfang. Ich wollte das schon seit Jahren tun. Du hast im letzten Jahr genug durchgemacht, mein Schatz. Deine Schwester hat ihren eigenen Weg gewählt und das ist ihre Sache. Sie hat gesagt, sie braucht uns nicht. Es war ihre eigene Entscheidung.«

Sie hat gesagt, sie braucht dich nicht.

Aber das sagte ich ihm nicht.

Sie braucht mich. Sie braucht mich sehr. Sie hat sonst niemanden.

Auch das sagte ich nicht. Ich hatte ihm noch nie widersprochen. Deshalb war ich auch sein Liebling.

Er sah meine Erstarrung und sprach jetzt schneller. »Du brauchst mich und ich würde dich nie im Stich lassen. Niemals. Sasha ist erwachsen und hat ihre Entscheidung getroffen. Das hat nichts mehr mit mir zu tun. Wie sie gestern Abend deutlich gemacht hat, ist ihr meine Zustimmung egal, also ist es mir ab sofort egal, was sie tut. Ich habe einen Ort, an den ich gehen kann. Einen Job. Ein Haus. Eine neue Schule für dich. Wir können neu anfangen und –«

»Dad!« Mein Herz pochte so heftig, dass ich dachte, es würde das Haus zum Einsturz bringen, aber ich brachte nicht genug Lautstärke auf, um ihn zu unterbrechen.

»… ein neues Leben für uns aufbauen. Wir haben es verdient …«

Ich zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch, damit er nicht sah, wie ich zitterte. Ich hatte solche Angst vor diesem Mann. Ich würde nicht mit ihm gehen (das war undenkbar), und das bedeutete, dass ich das Mutigste tun musste, was ich je getan hatte.

Er sprach immer noch, also nahm ich meine ganze Kraft zusammen und unterbrach ihn so energisch, wie ich nur konnte. »Dad, ich gehe nicht mit. Sasha braucht mich hier.«

Ich sah das Funkeln in seinen Augen und wandte den Blick ab.

»Nein.« Er beugte sich vor, um meinen Blick wieder auf sich zu ziehen. Als das nicht funktionierte, griff er nach meinem Kinn und schob mir den Kopf in den Nacken, sodass ich ihm nur noch mit den Augen ausweichen konnte. Seine Finger gruben sich in meine Haut. »Es ist alles arrangiert. Du kannst alles haben, was du willst. Klamotten. Bücher. Wie wäre es mit einem MacBook? Du wolltest doch ein MacBook, oder nicht?«

Alles in mir sehnte sich danach, aufzugeben. Doch diesmal durfte ich es nicht.

»Ich kann nicht«, sagte ich und drehte meine Augen so weit weg, wie es nur ging. Ich sah eine Spinne an der Wand hochlaufen, ihr Schatten war im Lampenlicht riesig.

»Doch, du kannst.«

»Ich kann Sasha nicht alleinlassen. Ich will es nicht. Ich werde hierbleiben.«

Stille trat ein. Ich zwang mich, sie auszuhalten. Seine Hand rutschte von meinem Kinn.

»Meinst du das ernst?«

Ich nickte, den Blick immer noch auf die Spinne gerichtet. Ich hörte, wie er schwer schnaufend ausatmete. Ich hielt die Luft an. Das war der Punkt, an dem es gefährlich wurde.

Und tatsächlich, er ballte die Faust und schlug auf mein Bett. Unterdrückte Gewalt breitete sich im Raum aus. Bedrohung lud die Luft statisch auf. Er war zu allem fähig, das wussten wir beide. Er ging zur Wand und ließ die Faust dagegenkrachen. Dann stapfte er zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich um.

»Letzte Chance.« Er spuckte die Worte aus, dass ich sie fast auf mich zufliegen sah. Unsere Blicke trafen sich für ein paar Sekunden, ehe ich mich abwandte.

»Nein. Ich bleibe hier«, sagte ich zur Wand. Schweigend ging er hinaus.

Ich hörte, wie er unten hin und her lief, dann fiel die Tür ins Schloss und etwas landete mit einem dumpfen Geräusch auf der Fußmatte.

Ich wartete eine Ewigkeit darauf, dass er zurückkam, aber er kam nicht. Die Zeit dehnte sich immer weiter aus und nichts geschah. Nach einer Weile zog ich meinen Morgenmantel und meine Kuschelsocken an und schlich die Treppe hinunter.

Er hatte einen Umschlag mit Sashas Namen vorne drauf an den Wasserkocher gelehnt. Daneben lag eine Notiz für mich, gekritzelt auf ein Stück Papier von einem Block, auf dem oben auf jeder Seite in einer albernen Schrift To-do-Liste stand.

A., ich hatte etwas Besseres von dir erwartet. Du hast mir das Herz gebrochen. Ruf mich an, wenn du deine Meinung änderst. Wenn du bleibst, musst du deine Schule verständigen und die E-Mail, die ich gestern Abend geschickt habe, zurücknehmen. Ein schönes Leben noch als Pflegekind!!!

Bei den Ausrufezeichen am Ende hatte der Stift das Papier durchstochen.

Ich stand am Erkerfenster und zog den Vorhang zurück, meine Hand brachte den Stoff zum Zittern. Draußen war es stockdunkel, dicke Wolken verdeckten die Sterne und den Mond, nur der Schein der Straßenlaterne zeigte eine leere Einfahrt.

Er war weg. Seine Schlüssel lagen auf der Fußmatte, er hatte sie durch den Briefkastenschlitz geworfen. Ich stellte mir vor, wie er das Auto gleich um die Ecke abgestellt hatte und sich jetzt zurückschlich, um mich zu entführen.

Ich drehte mich um und schrie auf.

»Tut mir leid«, sagte meine Schwester, die in ihrem blauen Morgenmantel dastand und verwirrt blinzelte. Sie hielt den Umschlag in der Hand, auf dem Sasha stand – in Dads bester Handschrift (die trotzdem unleserlich war, auch wenn er sich Mühe gab; er war schließlich Arzt). »Was ist los, Meerjungfrau? Warum hat Dad mir einen Brief geschrieben?« Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich muss ich ihn gar nicht erst öffnen. Er regt sich wieder darüber auf, wie unverantwortlich ich bin. Prophezeit mir, dass aus mir nie eine Ärztin werden wird. Am besten, ich werfe den Brief sofort in den Müll.«

Ich umarmte sie ganz fest. Sie sträubte sich einen Moment, dann gab sie nach und erwiderte meine Umarmung. Ich weinte nicht. Ich weinte nicht. Sie roch nach Sasha und Schlaf.

»Was ist los?«, fragte sie. »Was hat er getan?«

»Er ist weg«, murmelte ich in ihr Haar (Sasha war vier Jahre älter als ich und ungefähr zehn Zentimeter kleiner). »Es könnte eines seiner Psychospielchen sein, aber er hat gesagt, er würde gehen. Er hat eine Reisetasche dabei. Das Auto ist weg. Er …« Ich wollte ihr diesen Teil nicht erzählen, aber ich wusste, dass ich mich nicht davor drücken konnte. »Was ich jetzt sage, ist schrecklich, okay?«

»Raus mit der Sprache.«

Sasha folgte mir in die Küche. Ich setzte den Kessel auf und holte zwei Tassen heraus.

»Er hat mich vor etwa einer Stunde geweckt. Vielleicht auch schon früher? Vor fünf Uhr. Er war schon geduscht und reisefertig. Er wollte, dass ich aufstehe und mitkomme.« Meine Stimme kippte, aber ich sprach weiter.

»Er sagte, es sei ein Neuanfang und er würde mir ein MacBook kaufen. Er sagte, du bräuchtest uns nicht. Als ich ihm erklärt habe, dass ich nicht mitkomme, hat er mich ganz kalt angesehen und ist davongestürmt. Ich glaube, er ist tatsächlich weg. Sieh mal, er hat seine Schlüssel durch den Briefkastenschlitz geworfen. Und er hat mir das hier hinterlassen.« Ich zeigte ihr den Zettel. Nun konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Komme ich jetzt in eine Pflegefamilie, Sasha? Muss ich das?«

Dieser Teil seiner Drohung zeigte erst allmählich Wirkung. Das würde ich nicht ertragen. Ich könnte es nicht.

»Scheiße«, sagte sie. »Oh Gott, Ariel. Nein, das musst du nicht. Natürlich nicht. Du bleibst hier bei mir. Ich bin sicher, dass dich niemand von hier wegholt.«

Als sie ihren Brief öffnete, stellten wir fest, dass er zusammenhängender war als das, was er für mich auf den Zettel gekritzelt hatte. Zusammenhängend, aber psychotisch.

Ich habe es mir überlegt. Wir brauchen keinen Kontakt mehr zu haben. Ich bin enttäuscht von den Entscheidungen, die du für dein Leben getroffen hast. Du hast mir ins Gesicht gesagt, dass du dir wünschst, ich wäre tot. Ich bleibe nicht länger hier, nur um mir so etwas von dir anhören zu müssen. Genug ist genug, Sasha, ich lasse mich nicht mehr von dir drangsalieren. Ariel begreift das nicht, ich schon, und deshalb muss ich sie vor dir schützen.

Bleib in diesem Haus. Die Hypothek ist abbezahlt. Ich überweise dir jeden Monat etwas Geld für Rechnungen. Ich traue dir nicht zu, für dich selbst zu sorgen, geschweige denn für einen anderen Menschen, aber egal was du von mir denkst, kein Enkelsohn von mir wird in Armut leben. Zu weiteren Zugeständnissen bin ich nicht bereit. Ariel und ich werden einen Neuanfang machen, ohne jemals wieder Kontakt zu dir aufzunehmen. Das ist das Beste.

»Es ist wie eine Scheidung«, sagte Sasha und steckte einen Pfefferminzteebeutel in eine Tasse. »Ich habe buchstäblich das Gefühl, dass mein Vater sich von mir scheiden lässt. Er zahlt mir genug Unterhalt, damit ich keinen Aufstand mache.« Sie blickte hoch und zwang sich zu einem Lächeln. »Und du bist seine Plattensammlung oder was auch immer. Er wollte dich mitnehmen, konnte dich aber nicht ins Auto packen, also musste er dich zurücklassen. In einer Sache hat er allerdings recht: Ich habe ihm gesagt, dass ich mir wünschte, er wäre gestorben. Schon als ich es aussprach, wusste ich, dass er mir das nie verzeihen würde, aber das ist mir egal. Ich habe es ernst gemeint. Ich fände es gut, wenn er tot und Mum noch am Leben wäre. Du doch auch.«

Diese Härte konnte ich nicht aufbringen, und ich fühlte mich auch nicht stark genug, um jetzt über Mum zu sprechen, also sagte ich nur: »Willst du wirklich keinen Kaffee?«

»Nein.« Sie tätschelte ihren Bauch. »Kein Kaffee bis Juli. Ich nehme einen Kräutertee und ein Stück Toast. Du kannst Kaffee trinken.«

»Das werde ich auch.«

Wir schwiegen, während ich die Getränke zubereitete und Sasha den Toaster mit einer ganzen Ladung Brotscheiben bestückte.

»Du drangsalierst niemanden«, sagte ich, weil ich wusste, dass dieser Teil von Dads Brief ihr am meisten zusetzen würde. »Er ist der Tyrann. Er sagt das nur, damit er sich besser fühlt.«

»Ich weiß. Hey, Ariel? Wir schaffen das. Ganz im Ernst. Ich frage mich, ob wir überhaupt jemandem sagen müssen, dass Dad fort ist. Was meinst du?«

Wir sahen uns an. Sasha und ich waren immer noch dabei, unsere Beziehung neu zu definieren. Sie hatte sich in letzter Zeit so sehr gewandelt und jetzt stand erneut eine Veränderung bevor.

»Wenn sie dahinterkommen«, sagte ich, wobei ich nur eine vage Vorstellung davon hatte, wen ich mit sie meinte, »werden sie mich dann in eine Pflegefamilie stecken, wie Dad gesagt hat? Oder in ein Kinderheim? Wie Tracy Beaker?«

»Nein.« Es klang eher tapfer als überzeugt. »Ich bin alt genug. Und du auch. Sechzehnjährige sind selbstständig genug. Du bist kein Baby mehr. Außerdem wird es bald ein richtiges Baby geben. Wenn ich ein kleines Kind versorgen kann, dann kann ich ja wohl auch noch auf dich aufpassen.«

Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beruhigte. Ihre Antwort klang vernünftig.

»Obwohl ich ihm nicht über den Weg traue«, fügte sie hinzu.

Ich reichte ihr den Pfefferminztee. Ich traute ihm auch nicht.

Ich bürstete mein Haar, flocht es zu einem französischen Zopf, um so mustergültig wie möglich zu wirken, und fixierte ihn mit Haarspray. Ich vergewisserte mich, dass meine Uniform sauber und korrekt war. Ich trug nicht einmal Wimperntusche auf wie sonst immer. Als ich schließlich aussah wie ein Mädchen mit einem möglichst unkomplizierten Familienleben, ging ich extra früh zur Schule und zwang mich zu einem Alles-bestens-Lächeln, bevor ich der Schulsekretärin gegenübertrat, um herauszufinden, wie ich die verdammte Nachricht zurücknehmen konnte, die mein Vater am Abend zuvor geschickt hatte.

In der Eingangshalle war es still. Es roch noch schwach nach der nächtlichen Reinigung. Ich wusste, dass der Sauberduft bald von AXE, Chips und Schweiß überlagert werden würde. Ich konzentrierte mich. Es musste funktionieren. Ich hatte gehofft, dass der Computer vielleicht ein paar Sekunden lang unbeaufsichtigt wäre und ich die Mail löschen könnte, aber das war nicht der Fall.

»Es ist wirklich nichts«, sagte ich zu der Frau. »Mein Vater hatte es dieses Jahr nicht leicht, und er hat etwas geschickt, das er bedauert. Uns geht es total gut, also löschen Sie bitte die E-Mail. Sie brauchen sie nicht zu lesen.«

Ich sah, wie sie eine Notiz auf einen Zettel schrieb.

»Ich glaube nicht, dass heute Morgen schon jemand den Posteingang durchgesehen hat«, überlegte sie. »Wie lautet der Name deines Vaters? Ich werde mal nachschauen.«

»Alex Brown«.

»Natürlich. Du bist Ariel.«

Sie sah mich an, wie es die Erwachsenen seit Mums Tod immer tun.

»Ja«, sagte ich. »Uns geht es gut. Ehrlich. Dad hat es manchmal schwer, aber Sasha und mir geht es gut. Und …« Ich hielt inne. Die Sache könnte schieflaufen, wenn ich nicht mit Details rausrückte. »Die E-Mail könnte womöglich den Eindruck erwecken, dass ich die Schule verlasse, aber das stimmt nicht. Er hat es nicht so gemeint. Also bitte einfach löschen und ignorieren. Er war nur ein bisschen verwirrt. Halb schlafwandelnd, wissen Sie?«

»Ooookayyyyy«, sagte sie in einem Ton, der mich ahnen ließ, dass es eher nicht okay war. Tatsächlich verriet mir ihr Okay, dass sie, sobald ich weg war, als Allererstes den Posteingang nach der Mail meines Vaters durchsuchen würde, um danach jemand zu verständigen, der Dad sofort anrufen würde.

Ich schrieb Izzy eine Nachricht:

Wo bist du? Es läuft scheiße. WIEDERMAL.

2

»Halt die Klappe!«

Mit geschlossenen Augen taste ich nach dem Wecker. Das Piepsen der Uhr ist das schlimmste Geräusch der Welt, abgesehen von der Stille, nachdem man ermordet wurde.

Das ist der Gedanke, der mich wach rüttelt.

Ich öffne die Augen und starre an die Decke. Ein feuchter Fleck. Größer als früher? Vielleicht. Die Decke ist real. Absolut echt.

Ich drehe den Kopf. Ja, das ist mein Schlafzimmer. Klamotten auf dem Boden. Auf dem Tisch stapeln sich Bücher. Das Morgenlicht fällt durch die blauen Vorhänge. Meine Sachen sind überall. Meine Füße ragen unter der Decke hervor. Ich bin zu Hause und das ist normal.

Ich berühre meinen Hals. Er ist glatt und ein bisschen stoppelig. So, wie es sein soll. Ich fahre mit den Fingern durch meine Haare, betrachte meine Hände, oben und unten. Wie es aussieht, ist alles in Ordnung. Ich bin hier und lebe.

Natürlich.

Ich bin so ein Idiot.

»Joe!«

Dad ruft mich von unten. Gähnend setze ich mich auf. Ich strecke ein Bein aus dem Bett. Es ist haariger als früher. Ohne Scheiß. Fünfzehn Jahre alt, eins achtzig groß, erschreckt von einem Traum. Ich schüttle mich und versuche, einen klaren Kopf zu bekommen.

»Joe!«, schreit er wieder. »Bist du wach?«

»Ja!«, rufe ich, oder so ähnlich. Ich stehe auf und ziehe meinen Morgenmantel über, weil ich nur eine Unterhose anhabe. Dad besteht darauf, uns jeden Morgen zu sehen, bevor er zur Arbeit geht.

Gähnend öffne ich die Tür, blinzle ins Licht und sehe meinen Vater an.

Er steht auf der Treppe, trägt Jeans und das Polohemd mit dem aufgestickten Namen des Kindergartens auf der Brust: GRASHÜPFER-GARTEN. Ja, mit neunundvierzig Jahren ist er immer noch Kindergärtner. Er macht das schon so lange, dass er inzwischen der Chef des Kindergartens ist, aber eigentlich geht er nur zur Arbeit, um zu spielen. Ich weiß nicht, wie er es schafft, den ganzen Tag auf rotzfreche kleine Kinder aufzupassen, aber das ist das Besondere an Dad, dass er immer glücklich ist.

Seltsam.

»Bye«, sagt er, kommt auf den Treppenabsatz und klopft mir auf die Schulter. »Einen schönen Tag. Ich habe um fünf Uhr Feierabend, bin also um zwanzig nach zu Hause. Ich fahr dich um sieben wieder zur Schule und winke zum Abschied.«

»Shit!«

»Joseph!«

Er geht die Treppe hinunter. Ich folge ihm. Dad hasst alles, was man als »Schimpfwort« bezeichnen könnte, egal wie harmlos es ist. Gus und ich dürfen nicht fluchen, denn wenn wir es täten, »wäre es irgendwann normal für mich und dann würde ich womöglich im Kindergarten fluchen und gefeuert werden und wir müssten unser Essen aus der Mülltonne holen«. Das ist natürlich ein Argument. Aber trotzdem …

»Shit ist kein Fluch«, sage ich und springe die letzten drei Stufen in einem Satz hinunter. »Aber sorry. Das mit heute Abend hatte ich einfach völlig vergessen.«

Gus lacht mich vom Treppenabsatz aus an.

»Du hast deinen Frankreichaustausch vergessen?« Er zeigt mit dem Finger auf mich. »Total unglaubwürdig! Seit einem Jahr oder so redest du von kaum was anderem. Wie kannst du vergessen haben, dass du heute fährst?«

Jetzt deute ich mit dem Zeigefinger auf ihn. »Ich bin gerade erst aufgewacht! Ich habe irgendwas Blödes geträumt und nicht sofort an Frankreich gedacht. Also knall mich ab.«

Er formt seine Finger zu einer Pistole und feuert auf mich. Ich greife mir an die Brust und tue so, als würde ich sterben, aber es fühlt sich falsch an. Mein Traum hallt durchs ganze Haus. Ich lasse mich zu Boden fallen und atme dramatisch aus, um mich davon abzulenken.

»Ihr zwei!« Dad zieht seine Schuhe an und überprüft, ob er sein Schlüsselband dabeihat. »Ihr seid schlimmer als die Kleinen. Trotzdem traue ich euch zu, dass ihr allein in die Schule findet. Tschüss, Babys!«

Als die Tür hinter ihm zufällt, sehen Gus und ich uns an.

»Wo ist Mum?« Ich hatte nicht vor, das zu fragen, aber die Worte kommen einfach aus meinem Mund. Wo ist Mum? Oh Gott. Ich gehe ins Wohnzimmer. Gus folgt mir.

»Mum?« Er lacht. »Hallo? Sie ist weg, um Yogalehrerin zu werden? Das weißt du doch. Brauchst du deine Mami?«

Mein Verstand ist vernebelt. Natürlich weiß ich das. Ich bin nur noch nicht richtig wach.

»Hör schon auf. Du musst mir helfen, die Frankreichreise zu schwänzen.«

Ich tigere im Zimmer herum und komme nicht mit meinen Gefühlen klar. Ich nehme den kleinen Clown in die Hand, den Dad vor sechzehn Jahren bei einer Preisverleihung im Zirkus gewonnen hat. Ich betrachte seine gruselige Grimasse und lege ihn dann weg, sodass ich sein Gesicht nicht sehe. Er kann stattdessen aus dem Fenster starren. Unser Haus ist voll von derart seltsamem Zeug.

»Und wie?«, fragt Gus. »Soll ich dich unter meinem Bett verstecken? Wo du dann eine Woche lang bleibst und ich dir ein Twix gebe, falls ich daran denke?«

»Das wäre eine Möglichkeit«, sage ich. »Würde ich sogar machen. Eine Woche unter deinem Bett mit deinen stinkenden Socken und allem, was da sonst noch rumliegt. Und einem Twix.«

Er lächelt, und ich zwinge mich, zurückzulächeln. Ich weiß nicht, warum ich mich so fühle. Ich gehöre nicht zu der Sorte Mensch, die ausflippt. Die Reise dauert noch nicht einmal eine ganze Woche und trotzdem stehe ich völlig neben mir. Ich werde mich verstellen müssen, um den Tag zu überstehen. Ich werde meine ganzen Schauspielkünste aufbieten müssen, um ich selbst zu sein.

»Mach dir keine Gedanken«, sagt Gus. »Vom Moment deiner Abreise an läuft ein Countdown bis zur Heimreise. Wenn du erst einmal losgefahren bist, geht es plötzlich ganz schnell. Außerdem könnte er doch ganz cool sein. Dein ›Brieffreund‹«. Er macht Anführungszeichen in die Luft, um anzudeuten, wie unglaublich uncool dieses Konzept eigentlich ist. »Enzo. Wahrscheinlich stresst ihn die ganz Sache genauso wie dich, weißt du?«

»Ja. Er wird total genervt von meinem Besuch sein. Danke, Bro.«

Gus sieht mich mitfühlend an. »In seinen Briefen klingt er ganz nett, finde ich.«

»Er geht gerne ins Kino und fährt Fahrrad. Genau wie ich.«

»J’aime faire des promenades à vélo avec mon frère?«

»Sans mon frère«, sage ich. Ohne meinen Bruder.

Ich gehe unter die Dusche. Gus lässt mir den Vortritt, er ist in der Oberstufe und scheint nur dann zur Schule zu gehen, wenn er Lust dazu hat. Gus musste nie an einem blöden Frankreichaustausch teilnehmen, er musste auch keine Sprache für die Abschlussprüfungen belegen, weil er Legastheniker ist. Manche Leute sind echte Glückspilze.

Ich habe Troys Fußballpokal vom Schulturnier in meinem Rucksack, und wenn ich daran denke, wird mir ganz heiß vor Scham. Was ist nur los mit mir? Der Pokal ist aus Metall, ein Schuh, der einen Fußball kickt. Er hat ihn gestern gewonnen. Ich dachte, ich würde ihn bekommen, und alle anderen dachten das auch. Ich habe ihn aus seiner Tasche stibitzt, als er einen Moment lang nicht hingesehen hat. Weil ich eifersüchtig war. Was für ein Arsch ich doch bin.

Ich schüttle den Kopf, stecke die Trophäe ganz nach unten in den Rucksack und renne aus dem Haus. Ich werde sie ihm später zurückgeben und mich entschuldigen. Ich bin ein beschissener Freund.

Troy ist spät dran. Vielleicht hat er keine Lust, sich mit mir zu treffen, weil er gemerkt hat, dass die Trophäe fehlt, und weil er weiß, dass ich es war. Ich stehe an der Ecke und warte. Eine Frau aus der Nachbarschaft lässt ihren Hund mitten auf den Gehweg kacken. Sie sammelt die Kacke nicht ein, und als ich »Das ist ja widerlich!« rufe, tut sie so, als würde sie mich nicht hören, und eilt mit gesenktem Kopf davon.

Mr Armstrong, der traurige Mann von nebenan, kommt vorbei und sagt: »Ah, hallo, Joseph. Ich hole nur meine Zeitung.«

Bei ihm gebe ich mir extra Mühe. Dad sagt, seit dem Tod seiner Frau sind das vielleicht die einzigen Gespräche, die er den ganzen Tag über hat.

»Hallo, Mr Armstrong«, sage ich.

»Ist bei euch zu Hause alles in Ordnung?«, fragt er.

»Ja«, sage ich. »Ich fahre heute noch weg. Schüleraustausch mit Frankreich.«

»Tatsächlich? Ach«, seufzt er. »Ich habe Frankreich geliebt. Bernadette und ich waren jedes Jahr dort. Nehmt ihr die Fähre?«

»Ja. Wir fahren mit dem Bus, dann mit der Nachtfähre nach Roscoff und dann mit dem Bus den ganzen Weg durch Frankreich.« Ein Schauder überläuft mich. »Ich will eigentlich gar nicht«, gestehe ich ihm. Warum nicht gleich mit der ganzen Wahrheit rausrücken? Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen. Was zum Teufel soll das?

»Das wird eine wunderbare Reise«, entgegnet er. »Hast du Francs? Ich habe irgendwo noch ein paar Münzen. Ich könnte sie dir geben.«

»Nicht nötig, Mr Armstrong«, sage ich und lächle bei dem Gedanken an sein altes Urlaubsgeld. »Aber danke für das Angebot!«

Ich verabschiede mich und winke dem alten Mann kurz zu, weil ich inzwischen Troy entdeckt habe. Man sieht ihn schon von Weitem, denn er ist viel größer als alle anderen und hat leuchtend rotes Haar. Bei seinem Anblick muss ich immer grinsen. Ihm sei bewusst, dass er wie ein frecher Junge aus einem Kinderbuch aussieht, hat er selbst einmal gesagt, und das stimmt tatsächlich, aber es hält die Leute von Modelagenturen nicht davon ab, ihn auf der Straße anzusprechen. Er ist zu einem Viertel Holländer und meint, dass er deshalb so groß ist.

»Alles klar?«, fragt er. »Warum quatschst du mit diesem alten Perversling?« Ich bin so froh, dass Troy nicht sauer auf mich ist, dass ich ein bisschen zu hysterisch lache.

»Er ist kein Perversling!«, protestiere ich. »Er ist ein netter alter Mann. Er war jahrelang verheiratet. Wenn überhaupt, dann steht er auf Mädchen.«

»Ja und?«

»Er wollte mir sein französisches Geld geben.«

»Ein alter Mann bietet einem Teenager an einer Straßenecke Geld an?«

Ich weiß, dass ich ihm die Fußballtrophäe sofort zurückgeben sollte. Ich will es ja auch, aber vielleicht hat er gar nicht gemerkt, dass sie weg ist. Da fängt er an, Französisch zu reden, also mache ich stattdessen mit. Troy hat Französisch voll drauf. Er wird sich bei seiner Gastfamilie wohlfühlen. Er kann es kaum erwarten.

Wir brauchen etwa fünfzehn Minuten bis zur Schule. Troy bringt mich immer wieder zum Lachen. Wir sprechen über Frankreich und fragen uns, ob wir Froschschenkel essen müssen. Ich spüre, wie ich langsam wieder runterkomme.

»Weißt du noch, wie wir den Frosch auf dem Spielfeld gefangen haben?«, fragt er. »In der Grundschule?«

»Wir wollten damit die Mädchen erschrecken«, erinnere ich mich. »Aber sie fanden ihn niedlich.«

»Sie haben ihm ein Blatt als Hut aufgesetzt und ihn Glupschauge genannt.«

Unterwegs sammeln wir weitere Schüler ein, so wie in einem Musical, nur dass wir nicht anfangen, zu singen und zu tanzen. Als wir an der Schule ankommen, hat sich unser Grüppchen bereits in der Flut von Schülern aufgelöst, die über das Gebäude hereinschwappt.

Lucas ist sofort bei mir, wie immer. Er ist letztes Jahr neu an die Schule gekommen, und seither gibt er sich so viel Mühe, mein Freund zu sein, dass ich ihn ab und zu ein bisschen auf die Schippe nehmen muss. Ich bin groß, und Troy ist größer, aber Lucas ist riesig. Vor einiger Zeit gab es eine Geschichte über einen Dreißigjährigen, der wieder in die Schule ging. Er gab vor, sechzehn zu sein, und es ging sogar ziemlich lange gut. Genau so kommt mir Lucas vor. Troy und ich sind ziemlich dünn, aber Lucas ist gebaut wie ein Schrank. Er sieht nicht wie ein Teenager aus. Bei ihm fühle ich mich immer irgendwie unbehaglich.

»Alles klar?«, frage ich.

»Ja.«

»Schade, dass du nicht mit nach Frankreich kommst«, sage ich und lache dabei, denn er weiß genauso gut wie ich, dass ich das nicht wirklich so meine.

»Ja«, sagt er. »Zu teuer. Dommage.«

Ich verdrehe die Augen und gehe weg. Nach ein paar Schritten drehe ich mich noch einmal um und sage: »Verdammt noch mal Glück gehabt«, gerade so leise, dass er sich fragen kann, ob er mich richtig verstanden hat, und tauche dann in der Menge unter. Lucas ist in keinem meiner Donnerstagskurse, also werde ich ihn heute wahrscheinlich nicht mehr sehen, und das bedeutet, dass ich von seiner Gesellschaft verschont bleibe, bis ich aus Frankreich zurückkomme.

3

Wir hätten Dads Abreise noch viel länger geheim halten können, wenn er nicht diese E-Mail geschrieben hätte. So aber haben wir nicht einmal den ersten Tag überstanden. In meiner letzten Stunde (Physik) tauchten plötzlich ein Schüler und eine Schülerin im Klassenzimmer auf. Der Schüler reichte Mr Dean einen Zettel, das Mädchen setzte sich, um am Unterricht teilzunehmen. Ich versuchte wirklich, mich auf die Atomstruktur zu konzentrieren. Ich wollte (mir selbst, Sasha und der Welt) beweisen, dass ich in einem Haushalt mit zwei Teenagern und einem Fötus zurechtkommen würde. Ich musste, musste, musste ihnen zeigen, dass es mir in einer Pflegefamilie nicht besser gehen würde. Im Moment bedeutete das, die Isotope zu beherrschen.

Jemand verließ den Raum. Ich blickte auf und sah den Jungen aus der Neunten hinausgehen. Das Mädchen, das ich nicht kannte, saß nur da und las ein Buch. Seltsam, dass Mr Dean nicht mit ihr gesprochen oder sie als neu in der Klasse vorgestellt hatte.

Ich wandte mich wieder den Isotopen zu, war aber nicht ganz bei der Sache. Meine Gedanken schweiften ab. Wir hatten keine Eltern mehr zu Hause. Sasha war mein Anker und ich musste ihrer sein. Wir hatten beide das noch ungeborene Baby, aber es war ziemlich viel Druck für so ein kleines Würmchen, das erst halb entwickelt und, wie wir gerade erst herausgefunden hatten, ein kleiner Junge war.

Ich versuchte, mich mit der Anzahl der Protonen und Neutronen am Grübeln zu hindern, aber ich musste immer wieder an meine Mutter denken und daran, wie sehr sie sich über ihren Enkel gefreut hätte und wie wütend sie auf Dad gewesen wäre. Ich fragte mich gerade, ob ich sie mit der Kraft meiner Sehnsucht ins Leben zurückholen könnte, weil ich sie so sehr brauchte, als Mr Dean sagte: »Ariel? Könntest du kurz im Sekretariat vorbeischauen?« Er blickte auf die Uhr. »Du kannst auch gleich deine Sachen mitnehmen.«

Er legte den Zettel auf den Tisch und warf mir einen mitfühlenden Blick zu. Jeder wusste, dass Ariel in diesem Jahr eine schwere Zeit durchgemacht hatte.

Ich sah zu Izzy hinüber und sie tätschelte mein Bein. Die Elektronen würden auch ohne mich auskommen. Ich musste sofort mit Sasha sprechen, um zu erfahren, ob die Schule sie angerufen hatte. Wir mussten unsere Aussagen aufeinander abstimmen.

»Danke«, sagte ich, und Mr Dean fing an, herumzulaufen und über Atome zu reden, während alle außer dem neuen Mädchen (das einfach weiterlas) zusahen, wie ich meine Sachen zusammensuchte. Es waren noch fünfzehn Minuten bis zum Ende der Stunde, und ich spürte, dass viele, die keine echten Probleme hatten, sich wünschten, sie wären diejenigen, die früher gehen durften. Ich wollte, sie würden aufhören, mich anzustarren. Meine Hände zitterten, als ich meine Schulsachen einsammelte. Fast hätte ich meinen Stuhl umgeworfen, aber Izzy fing ihn auf und stellte ihn wieder hin.

Mr Dean ging zu Aisha und nahm neben ihr Platz, um in ihrem Buch etwas nachzuschlagen. Er hatte sich auf den Stuhl gesetzt, auf dem einen Augenblick zuvor noch das neue Mädchen gesessen hatte, das jetzt plötzlich nicht mehr da war. Ich überlegte, wohin sie gegangen sein mochte. Aisha drehte sich um und starrte mich an, ohne auf Mr Dean und ihr Buch zu achten, und ich wollte fragen, was mit dem Mädchen passiert war, aber ich tat es nicht.

Was war hier los? Ich weigerte mich, den Verstand zu verlieren und alles andere auch.

Stattdessen sah ich die Jungs an und flehte im Stillen, dass einer von ihnen etwas Dummes anstellen und die Aufmerksamkeit von mir ablenken würde. Ich konzentrierte mich auf Jack mit seinen unordentlichen dunklen Haaren und den markanten Wangenknochen. Mach schon, dachte ich. Tu etwas. Tu es für mich. Lass dein Buch fallen. Wirf etwas. Streite dich mit jemandem. Ich war nicht sexistisch: Es waren fast immer Jungs, die im Unterricht herumalberten, und obwohl Jack und ich uns getrennt hatten, als Mum krank wurde, hatten wir nie aufgehört, Freunde zu sein. Er hätte irgendeinen Unsinn veranstaltet, wenn er gemerkt hätte, dass ich das brauchte.

Aber leider unternahm niemand etwas. Ich schaffte es bis zur Tür. Jack sagte: »Tschüss, Ariel!«, und als ich mich umdrehte, winkte mir die ganze Klasse dumm hinterher, und Izzy sagte lautlos: »Viel Glück.«

Ich hatte immer Freunde gehabt, aber alle außer Izzy waren in den Hintergrund getreten, als Mum krank geworden war. Ich wusste, dass ich mich verändert hatte, und alle anderen hatten ohne mich weitergemacht, aber Izzy war immer da gewesen, am Telefon oder direkt neben mir. Sie hatte ihre eigenen Sachen zu tun, aber sie hatte immer alles stehen und liegen lassen, wenn ich sie brauchte.

Und das war sehr oft der Fall gewesen.

Ich schrieb ihr eine Nachricht, während ich langsam durch die stille Schule ging: Du bist eindeutig der beste Mensch auf der Welt.

Dann rief ich Sasha an und wurde dabei noch langsamer.

»Meerjungfrau!«, sagte Sasha. Sie und Mum waren die Einzigen, die mich so nennen durften. Ich hasste es, wenn es jemand anders versuchte. Nur dem Baby würde ich das erlauben, wenn es das wollte. »Gott sei Dank. Die Schule hat angerufen und wollte mit Dad sprechen. Ich habe ihnen gesagt, er sei auf der Arbeit. Haben sie schon mit dir gesprochen?«

»Ich bin auf dem Weg ins Sekretariat. Sie haben mich gerade aus dem Physikunterricht geholt.« Ich legte schnell auf und steckte mein Handy weg.

»Ariel«, sagte die Frau, mit der ich am Morgen gesprochen hatte, und brachte mich direkt zum Büro des Direktors.

Mr Morrow war in den Vierzigern und einer dieser Lehrer, die sich für cool und jedermanns besten Kumpel halten. Er sagte: »Ariel! Schön, dich zu sehen. Nimm Platz. Wie läuft’s denn so zu Hause?«

Er beugte sich vor und blickte mich bedeutungsvoll an. Ich sah als Erste weg. Ich würde den Anstarr-Wettbewerb ganz sicher nicht gewinnen.

»Na ja, meine Mutter ist gestorben«, sagte ich, nur um ihn in Verlegenheit zu bringen.

Er nickte in dieser Ich-höre-zu-Manier. »Und ist in den letzten Tagen etwas passiert?«

»Nein, nichts«, sagte ich. »Ich weiß, dass mein Vater eine seltsame Mail geschickt hat, aber er hat es nicht so gemeint. Er war in letzter Zeit sehr durcheinander. Sie wären sicher auch traurig, wenn Ihre Frau gestorben wäre, oder?«

Mr Morrow zuckte nicht mit der Wimper. »Ja«, sagte er.

»Und meine Schwester, Sasha. Sie ist fast zwanzig. Selbst wenn Dad mit sich zu kämpfen hat, habe ich ja immer noch sie. Und sie ist erwachsen.«

»Dem kann ich nicht widersprechen«, sagte Mr Morrow. »Angesichts der E-Mail deines Vaters und obwohl sowohl du als auch deine Schwester uns versichern, dass alles in Ordnung ist, haben wir beschlossen, ihn anzurufen, um uns zu erkundigen. Zu unserer Überraschung haben wir erfahren, dass er seinen Job aufgegeben und eine neue Stelle in Inverness angetreten hat. Das würde seine Ankündigung erklären, dich von der Schule zu nehmen, um anderswo neu anzufangen. Ariel, du und Sasha müsst uns endlich die Wahrheit sagen. Ist dein Vater ohne dich nach Schottland gezogen?«

Gleich am ersten Tag aufgeflogen.

»Ich denke schon«, sagte ich zur Schreibtischplatte.

Shit, Shit, Shit. Ich wartete darauf, dass ein Sozialarbeiter hereinkam und mich mitnahm. Ich umklammerte die Stuhlkante. Ich würde nicht mitgehen. Sie konnten mich nicht zwingen. Ich würde hierbleiben.

Nichts geschah. Ich spürte, dass Mr Morrow mich ansah, aber ich starrte weiter auf seinen Schreibtisch. Er war sehr ordentlich. Es gab nichts Interessantes darauf: Der ganze Papierkram lag auf einem Stapel an der Seite, obenauf ein lokales Mitteilungsblatt und ein Briefbeschwerer. Ich konnte nichts lesen und das war sicher auch so beabsichtigt. An der Wand hing ein Poster von jemandem, der klettert, aber wenigstens stand kein inspirierendes Zitat darunter.

Es passierte noch immer nichts.

»Du nimmst also an, dass dein Vater nach Schottland gezogen ist?«, fragte er, und endlich sah ich auf.

»Ich wusste nicht, dass er nach Schottland wollte.« Ich hörte selbst, wie angespannt und verängstigt meine Stimme klang. »Er hat mich gebeten, mitzukommen. Er wollte, dass nur wir beide gehen, ohne Sasha. Er versteht sich nicht mehr mit ihr, seit sie ihm gesagt hat, dass sie schwanger ist, und in letzter Zeit ist er deswegen völlig ausgerastet. Er war furchtbar zu ihr. Ich habe gesagt, dass ich nicht mitkommen will, da hat er einfach seine Schlüssel durch den Briefkastenschlitz geworfen und ist weggefahren. Das ist die Wahrheit.«

»Diesmal«, sagte Mr Morrow, »glaube ich dir.«

»Ich werde also hervorragend mit Sasha zusammenleben können«, sagte ich viel zu laut und fügte etwas dümmlich hinzu: »Ich habe mich gerade in Physik sehr gut konzentriert. Wir haben uns mit der atomaren Struktur beschäftigt.«

Inverness?

Nicht zu fassen, dass er so weit weggegangen war. Inverness war, keine Ahnung, vielleicht sechshundert Meilen entfernt? Wenn er heute Morgen gegen sechs losgefahren war, dann war er wahrscheinlich noch nicht einmal dort angekommen. Vielleicht hatte er unterwegs einen Unfall. Ich war mir sicher, dass er letzte Nacht nicht geschlafen hatte, und sein Fahrstil war selbst in den besten Momenten beschissen und aggressiv.

Er musste das schon seit Ewigkeiten geplant haben, wenn er bereits einen neuen Job hatte. Er wusste schon seit ein paar Monaten von Sashas Baby. Hatte er sofort mit der Jobsuche begonnen, als sie es ihm erzählt hatte? Was für eine Auffassung von Elternschaft war das?

Eltern sollten sich darüber freuen, Großeltern zu werden. Oder schockiert sein, aber sich dann mit der Idee anfreunden. Ganz sicher sollten sie nicht mitten in der Nacht abhauen und nach Schottland ziehen. Wie es wohl da oben in Inverness war? Auf welche Schule wäre ich gegangen? Gab es bereits irgendwo ein Schulregister mit meinem Namen? Würde ein Lehrer, den ich nicht kannte, morgen früh »Ariel Brown« sagen und sich wundern, warum niemand antwortete?

Und dann begann ich mir vorzustellen, wie das Leben ohne Dad aussehen würde. Wenn er wirklich gegangen war – wenn er nicht zurückkommen würde –, dann könnte es …

… schön sein.

Das Wort »Sozialamt« holte mich abrupt in die Realität zurück.

»Nein«, sagte ich. »Wir brauchen kein Sozialamt. Das ist völlig unnötig. Uns geht es sehr gut.«

»Weißt du, Ariel«, sagte Mr M., »ich denke sogar, du hast recht. Wenn du bei Sasha bleiben könntest, wäre das die Lösung, die am wenigsten Schaden anrichtet. Aber genau das ist der Punkt. Wir müssen uns mit dem Sozialamt in Verbindung setzen, damit sie prüfen können, ob es Sasha und dir gut geht. Das ist eine gute Sache. Nichts, was dich ängstigen müsste. Welche Rolle spielt Sashas Partner in Bezug auf die häusliche Situation?«

»Jai?«, fragte ich. »Er gehört irgendwie dazu. Es ist kompliziert, weil sie nie wirklich eine Beziehung hatten. Sie waren gute Freunde.« Mit gewissen Extras, doch das verkniff ich mir. »Aber er wird für Sash und das Baby da sein. Er ist cool.«

»Gut«, sagte Mr Morrow. »Nun, Ariel, ich möchte nur sagen, dass wir alle beeindruckt sind, wie du in den letzten Jahren zurechtgekommen bist. Du hast mehr durchgemacht als viele von uns Erwachsenen und du hast dich nicht unterkriegen lassen. Ich weiß, dass Ms Duke dir geholfen hat. Ich habe sie heute auf den neuesten Stand gebracht, und sie wird sich morgen mit dir unterhalten und auch danach in regelmäßigen Abständen, wenn du damit einverstanden bist. Danke, dass du dich mir anvertraut hast.«

Ich wollte ihm sagen, dass ich ihm rein gar nichts anvertraut hatte, dass er mich in die Enge getrieben und mir keine Wahl gelassen hatte. Stattdessen schaffte ich es, »Klar, danke, bye« zu sagen, während ich zur Tür hinausrannte.

Die Schule hatte sich geleert, nur ein paar Herumtrödler waren noch da und in einem der Musikräume spielte jemand stümperhaft Trompete. Izzy hatte mir eine Nachricht geschrieben: Bin nach Hause gegangen, aber melde dich, wenn wir uns treffen sollen.

Jetzt musste ich mich erst einmal sortieren. Ich rief Sasha an und erzählte ihr alles, sagte ihr, dass Dad in Inverness sei und dass ich bald nach Hause käme, dann ging ich zur Strandpromenade hinunter.

Es war ein trüber Tag, nur gelegentlich lugte ein Sonnenstrahl zwischen den Wolken hervor. Ich ging den einst so prachtvollen Spazierweg entlang, durch die städtischen Gärten Richtung Strand. Die Palmen standen völlig still, denn es wehte kein Lüftchen. Die Blumenrabatten quollen über von violetten Blüten und Abfällen. Es roch nach Junkfood und Meer.

Ich blieb stehen und schloss die Augen.

Ich wohne bei meiner Schwester, sagte ich versuchshalber in meinem Kopf. Es hörte sich gut an.

Ich wollte zum Strand gehen, aber da waren Leute aus der Schule, aus meinem Jahrgang, mit Cider und Chips. Also bog ich ab und ging zu einem Spielautomaten, wechselte zwei Ein-Pfund-Münzen in hundert Zwei-Pence-Stücke und steckte sie nacheinander in die Maschine. Zuzuschauen, wie die Münzen sich gegenseitig fast wegschubsten, hatte etwas Hypnotisches, und als sie in einer Kaskade herunterfielen, schreckte ich hoch. Ich warf sie immer wieder in den Schlitz, bis keine mehr da waren.

Dann ging ich die Treppe hinauf ins Einkaufszentrum. Es war kein Einkaufszentrum wie in den amerikanischen Filmen. Es waren nur ein paar Geschäfte unter einem Dach versammelt. Es war eigentlich nur eine Ladenzeile, aber keine coole, und sie hieß Beachview, obwohl es keine Fenster nach draußen gab. Die Luft war abgestanden und die meisten Leute hier waren auf dem Weg zum oder vom Pub im ersten Stock.

Ich schlenderte ziellos umher. Betrachtete das Schaufenster von H&M. Blätterte in den Zeitschriften von Smith’s, bis mir der Wachmann einen finsteren Blick zuwarf.

Mum war gestorben. Dad hatte uns verlassen. Sasha und ich waren fast Waisen.

Ich betrat einen schmalen Gang irgendwo hinter dem Drogeriemarkt. Er sah aus, als wäre er dem Personal vorbehalten, aber nirgendwo war ein Schild zu sehen, und ich erinnerte mich vage daran, schon einmal hier gewesen zu sein, als ich noch sehr klein war. Ich erinnerte mich, wie mein jüngeres Ich hier in einem Raum mit Dad gewartet hatte. Ich erinnerte mich daran, wie er, den Kopf in die Hände gestützt, dagesessen hatte, während ich eines dieser bunten Heftchen angestarrt hatte, die man für seine Kinder kauft, damit sie Ruhe geben.

Der Korridor endete in einer Kammer, die dem kleinen Raum in meiner Vorstellung exakt entsprach. Hoch oben befand sich ein schmales, schmutziges Fenster, durch das natürliches Licht fiel, das einzige im ganzen Beachview. Auf der einen Seite stand eine Bank, wie man sie in Umkleidekabinen von Schwimmbädern findet, und auf der anderen Seite befand sich eine Leine mit Wäscheklammern, an denen nichts hing. Die Wände waren schmutzig beige, an etlichen Stellen blätterte die Farbe an den Holzpaneelen ab.

Ich schloss die Tür und setzte mich auf die Bank.

Dad war immer schrecklich zu Sasha gewesen. Mal hatte er sie ignoriert, mal hatte er sie angeschrien, und einmal, das werde ich nie vergessen, hatte er sie gegen die Wand gedrückt und ihr ins Gesicht gebrüllt, bis Mum ihn weggezogen hatte. Nichts, was Sasha tat, war je gut genug. Selbst als sie die Prüfungen mit Bravour bestanden und sich für ein Medizinstudium beworben hatte – etwas, das immer sein Traum für uns beide gewesen war –, hatte er einen Grund gefunden, enttäuscht zu sein. Wenn sie in einem Test neunzig Prozent erreicht hatte, wollte er wissen, was bei den anderen zehn falsch gelaufen war, wohingegen er mir fünf Pfund gab, wenn ich siebzig Prozent erreichte. Er wollte, dass wir Ärztinnen werden, damit er gut dasteht. Eine Familie von Medizinern. Das war sein Traum.

Ich hatte mich nie getraut, ihm zu sagen, dass ich keine Ärztin werden wollte, und jetzt musste ich es nicht mehr.

Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Wand und versuchte, tief durchzuatmen, so wie meine Mutter es mir beigebracht hatte, als sie krank war. Seit fast einem Jahr war sie nun tot und ich habe sie jeden einzelnen Moment vermisst. Früher hatte ich mein Leben in dem festen Glauben gelebt, dass sie immer in der Nähe sein würde. Sie hatte mir das Sprechen beigebracht, das Überqueren der Straße, den Umgang mit Messer und Gabel. Sie hatte mir alles beigebracht, was ich wissen musste, und jetzt war ich sechzehn und wusste all diese Dinge und würde einfach allein klarkommen müssen.

Ich musste immer wieder daran denken, wie Dad erst auf mein Bett und dann gegen die Wand geschlagen hatte. Er hatte mich schlagen wollen, das wusste ich. Ich hatte mich ihm zum ersten Mal entgegengestellt und es hatte funktioniert. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich daran dachte, wie die Gewalt ihn wie eine Aura umgeben hatte.

Ich holte einen Filzstift aus meiner Tasche und schrieb an die Wand:

ICH HASSE DICH, ALEXANDER BROWN

Ich betrachtete die Buchstaben. Es war Vandalismus, und doch hatte es etwas Befreiendes. Ich lächelte. Ja. Du bist Alexander Brown und ich hasse dich. Ich schrieb es noch einmal.

Du bist weg. Ich habe mich dir widersetzt und gewonnen.

4

Wenn ich mir ein einziges Mal wünsche, dass der Schultag langsamer vergeht, vergeht er schneller. Typisch. Ich genieße den Tag, weil er normal ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wo ich morgen sein werde. Ich meine, ich werde auf einem Schiff aufwachen, und abends werde ich bei Enzo in Saint-Étienne sein. Saint-Étienne, wie die Band. Das ist ein guter Name für eine Stadt. Ich mag die Band. Enzo mag sie auch. Das ist eine Gemeinsamkeit! Vielleicht können wir über andere Bands reden, die wir mögen. Eine ganze Woche lang?

Jede Faser meines Körpers möchte zu Hause bleiben.

Ich sitze in der allmorgendlichen Klassenlehrerstunde und betrachte das Foto, das Enzo mir geschickt hat, von ihm und seiner Familie. Er hat dichtes schwarzes Haar und dunkle Haut. Sein Bruder sieht aus wie er, nur größer, und seine Schwester ist klein und hängt auf dem Bild an seinem Arm. Seine Mutter ist weiß, sein Vater schwarz. J’ai un frère et une sœur, sage ich leise, obwohl ich gar keine Schwester habe. Sie haben eine Mutter und einen Vater wie normale Menschen. Ich sollte schleunigst herausfinden, wie man sagt: »Meine Mutter wohnt nicht bei uns«, denn so etwas muss man gleich zu Anfang aus der Welt schaffen, bevor es später peinlich wird.

Ich nehme an, sie war frustriert von einem Vorstadtleben mit einem Ehemann, der Zirkusartist war, als sie sich kennengelernt hatten, der aber seither seine ganze Energie in die Betreuung klebriger Kleinkinder gesteckt hat. Dad kann nervig sein, und ich schätze, Gus und ich waren zu langweilig oder zu anstrengend, um sie bei der Stange zu halten.

Ich sehe mir das Foto von Enzos Haus an. Es ist groß und hat einen Garten mit hohen Bäumen und einem Baumhaus.

Über Musik reden.

Im Baumhaus abhängen.

»Hey«, sagt Troy. »Wach auf.«

Blinzelnd schaue ich mich um. Es ist Klassenlehrerstunde. Man erkennt auf den ersten Blick, wer heute Abend mitfährt und wer nicht. Diejenigen, die nicht dabei sind, sehen entspannt aus. Alle anderen sind nervös. Oder vielleicht liegt das nur an mir. Warum bin ich so zittrig?

Was ist los mit mir?

Ich fühle mich nicht wie ich selbst, also versuche ich, mehr ich selbst zu sein. Was würde Joe Simpson tun?

Ich drehe mich zu Troy und grinse übertrieben dümmlich.

»Es ist Schule«, sage ich. »Wie kann ich aufwachen, wenn der ganze Sinn von Schule darin besteht, dass sie langweilig ist?«

Das ist der größte Schwachsinn, aber Troy lacht trotzdem. Unsere Klassenlehrerin, Mrs Dupont, ist gleichzeitig unsere Französischlehrerin und hat daher kein anderes Thema als die bevorstehende Reise. Es ist ihr drittes Jahr als Leiterin des Frankreichaustauschs und sie ist schon ganz aufgeregt. Sie ist zwar keine Französin, aber sie ist mit einem Franzosen verheiratet und spricht die Sprache natürlich fließend. Sie hat laminierte Karten ausgeteilt, die wir in Frankreich überallhin mitnehmen sollen. Darauf steht Je me suis perdu(e) und ihre Handynummer. Viele der Jungs sagen, dass sie die Nummer auch danach noch behalten werden.

Einmal, nach einer Reisebesprechung mit den Eltern, bin ich dageblieben, während Dad ihr all seine Zusatzfragen stellte. Nein, wir werden keine Schnecken essen müssen (ich wäre am liebsten tot umgefallen). Ja, der Busfahrer ist Brite, aber er wird daran denken, rechts zu fahren. Sie erzählte ihm, dass sie früher Flugbegleiterin war, den Beruf aber aufgegeben hat, unter anderem, weil er viel anstrengender ist, als man denkt, und weil das Fliegen schlecht für die Umwelt ist.

Mrs Dupont sieht, ehrlich gesagt, wie eine typische Stewardess aus. Ich kann sie mir gut mit hochgestecktem Haar und viel Make-up vorstellen. Ich weiß noch, wie Dad sie damals angeglotzt hat und ich ihn nach Hause schleppen musste. Dad war damals noch richtig mit Mum verheiratet! Und Mrs Dupont ist mit dem geheimnisvollen Monsieur Dupont verheiratet! Also wirklich!

Ich schüttle den Kopf. Reiß dich zusammen!

»Joe?«, sagt sie jetzt, und ich frage mich, wie oft sie es schon gesagt hat.

»Ja!« Ich schenke ihr ein breites, aufgesetztes Lächeln. »Wie kann ich Ihnen helfen, Madame Dupont?«

Sie verdreht die Augen.

»Joe. Du siehst nervös aus. Hattest du eine Überdosis Koffein?«

»Sie kennen mich, Miss. Immer nur Red Bull.«

»Jetzt beruhige dich erst mal und mach dir keine Sorgen. Die Frankreichfahrt ist immer ein tolles Erlebnis.«

»Ich mache mir keine Sorgen!« Alle lachen, weil keiner die Lüge glaubt.

»Ich wohne auch bei einer Gastfamilie, weißt du«, sagt sie. »Ich wohne beim Englischlehrer.«

»Ich wette, Sie köpfen einige Flaschen, Miss«, sagt Troy.

Ich erhebe ein imaginäres Glas. »Santé!«, sage ich. »Cheers auf Madame Dupont, die mit ihrem Englischlehrerfreund trinkt.«

Ich schaue mich im Klassenzimmer um. Alle halten ihre imaginären Gläser in die Höhe und stoßen auf sie an.

»Auf keinen Fall.« Mrs Dupont lacht. »Oder wenn, dann hinter verschlossenen Türen, wenn wir nicht im Dienst sind.«

»Sie haben aber nie dienstfrei, oder?«

»Wem sagst du das, Joseph.«

Die Glocke läutet und wir machen uns auf den Weg in den Unterricht.

»Kommst du?«, fragt Troy. Wir stehen vor dem Eingang der Schule.

Wenn ich direkt nach Hause gehe, bin ich um zehn vor vier daheim. Dann habe ich anderthalb Stunden Zeit, um auf dem Bett zu sitzen und mich zu stressen, bevor Dad kommt und dann noch einmal anderthalb Stunden lang versucht, mich aufzuheitern.

Nope. Ausgeschlossen.

»Nö«, sage ich und überlege, was ich sonst tun könnte. »Ich mache noch einen Abstecher in die Stadt. Ich muss ein Geschenk für Enzos Familie besorgen.«

»Und ich muss nach Hause, ich habe noch nicht mal mit dem Packen angefangen.«

»Bis später.«

»Joe?«, sagt er.

»Ja?«

»Du hast nicht zufällig meine Trophäe gesehen, oder?«

»Deine was?«

»Meinen Fußballpokal.«

»Nein«, platze ich heraus. »Natürlich nicht.«

»Okay. Keine Ahnung, wo er abgeblieben ist.«

Er klopft mir auf den Rücken und geht, während ich schuldbewusst und verwirrt stehen bleibe. Warum habe ich das Ding genommen? Und warum habe ich gerade eben gelogen? Ich bin so aufgewühlt, dass mir das Atmen schwerfällt. Ich kann jetzt nicht nach Hause gehen. Ich will mich bewegen. Ich müsste hungrig sein, aber ich bin es nicht. Ich könnte mir im Beachview eine Cola holen und hoffen, dass das Koffein mich aufputscht, denn im Gegensatz zu dem, was ich Mrs Dupont gesagt habe, bin ich heute noch absolut koffeinfrei unterwegs.

Es hat aufgehört zu regnen und es ist warm für März. Ich möchte meine Jacke ausziehen, aber dann müsste ich sie mit mir herumschleppen, also behalte ich sie an. Die Gehwege glänzen vom Regen. Ich gebe meinen Schritten einen zusätzlichen Schwung und bügle die Sorgenfalten aus meinem Gesicht. Alles ist normal. Alles ist in Ordnung.

Die Beachview Mall bietet, anders als es der Name vermuten lässt, keinerlei Blick auf den Strand. Allenfalls vom Dach des Pubs im Obergeschoss könnte man das Meer sehen. Trotzdem ist es einer meiner Lieblingsorte. Das Einkaufszentrum ist eine in sich geschlossene Welt. Es ist ein kleines, überschaubares Universum, in dem man etwas kaufen kann. Die Läden sind so, wie man sie erwartet: Es gibt eine Filiale von jeder bekannten Ladenkette, wie man sie auch in den Haupteinkaufsstraßen findet. Es gibt Smith’s, einen winzigen, aber gut begehbaren H&M, einen Bioladen und so weiter. Langweilig, aber ganz nett. Am besten gefällt mir jedoch ein geheimer Raum, den ich vor einiger Zeit entdeckt habe. Man muss nur um ein paar Ecken hinter die Drogerie gehen und gegen eine Tür drücken, dann öffnet sie sich. Dahinter befindet sich eine kleine Kammer mit mehreren Wäscheleinen und einer Bank, und außer mir ist sonst niemand dort.

Ich hole mir eine Dose Cola von einem Verkaufsstand, und als ich mich umdrehe, laufe ich direkt in einen Mann hinein. Er ist groß und schlank, und ich hatte keine Ahnung, dass er direkt hinter mir stand.

»Oh«, sage ich. »Entschuldigung.« Ich trete zur Seite.

»Verflucht noch mal!«, sagt er und versperrt mir den Weg.

»Entschuldigung?«, sage ich. Mich packt die Wut. Ich werde zum Vulkan. »Es war keine Absicht. Ich konnte ja nicht wissen, dass Sie hinter mir stehen.«

Er starrt mich an, als ob er mich hassen würde.

»Fick dich«, sagt er, und ich bin froh über das Gefühl, dass er in mir auslöst. Das ist gar nicht schlecht. Ich fühle mich jetzt lebendiger als den ganzen Tag über. Ich beschließe, über ihn zu lachen, wie ich es bei Lucas tue.

»Fick dich selber«, sage ich und gehe immer noch lachend weg, wie ein (hoffentlich) sehr cooler Typ, der ihn dumm dastehen lässt, und nicht wie ein Schuljunge, der einen auf harten Kerl machen will. Ich höre ihn hinter mir rufen, also setze ich mich in die kleine Kammer, wo er mich nicht aufspüren kann, und versuche, zur Vernunft zu kommen.

Mum ist weggegangen, um eine Ausbildung zur Yogalehrerin zu machen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie jetzt in Indien ist, weil sie immer gesagt hat, dass sie dort richtiges Yoga lernen muss. Ich glaube, ich weiß schon seit einer Weile, dass ihr Weggang mich in vielerlei Hinsicht komplett durcheinandergebracht hat. An einige Dinge aus der Zeit vor ihrem Weggang kann ich mich kaum noch erinnern. Ich bin mir nicht einmal sicher, wie lange das her ist. Einen Monat? Ein Jahr? Vielleicht ein Jahr.

Ich habe kein Problem damit, wenn jemand einen Yogakurs macht, der vielleicht ein Jahr dauert, aber meine Mutter hätte auch warten können, bis wir von zu Hause ausgezogen sind. In drei Jahren hätte sie tun können, was sie wollte. Drei Jahre müssen eine wirklich kurze Zeit sein, wenn man fünfzig ist. Es ist ein winziger Bruchteil ihres Lebens, aber für mich ist es eine Menge.

Eines Tages, als die Dinge mit Marco schwierig wurden, verließ ich die Schule in der Mittagspause durch die hintere Hecke und ging in die Stadt, um herauszufinden, was zum Teufel da los war.

Ich kaufte mir bei H&M einen billigen Kapuzenpulli, damit es nicht so aussah, als würde ich die Schule schwänzen, und suchte mir einen Platz, an dem mich niemand sehen konnte. Ich wollte gerade zum Strand gehen, als mir ein Durchgang an der Rückseite des Einkaufszentrums auffiel, den ich zuvor noch nie bemerkt hatte. Der Gang führte ein Stück weiter, überall verliefen Rohre, in einer Ecke stand ein abgestellter Reinigungswagen. Dann war da eine Tür, die einen Spaltbreit offen stand. Ich drückte sie auf, und da war mein Geheimzimmer. Ich saß eine halbe Ewigkeit darin.

Von da an wurde die Kammer zu meinem Rückzugsort, wenn ich in Ruhe nachdenken musste. Ich habe sogar eine Decke hingelegt, eine rosafarbene, flauschige Decke, auf der meine Mutter früher immer Yoga gemacht hat. Es ist eine Kuscheldecke. Keiner darf es je erfahren.

Ich stoße die Tür an und sie schwingt auf. Ich wickle mich in die Decke, lehne mich mit dem Rücken an die Wand und merke, dass ich schnaufe und schluchze. Ich wische mir mit dem Ärmel über die Augen und schreie: »REISSDICHZUSAMMEN!« Ich schreie es so laut, dass es in dem kleinen Raum widerhallt. Ich versuche, meine Wut auf den Mann aufrechtzuerhalten, aber sie ist bereits verflogen. Ich bin wieder gefühllos gegenüber fast allem, und ich habe unnötige Angst vor der Reise.

Es ist nur eine Woche im verdammten Frankreich. Ich rede mir gut zu, um mich zu beruhigen. Wir wohnen etwa eine Stunde von Plymouth entfernt, also wird der erste Teil der Reise gut verlaufen. Ich werde mit Troy ganz hinten im Bus sitzen. Das wird lustig. Ich werde ihm gleich seine blöde Trophäe zurückgeben, damit er sich nicht mehr den Kopf zerbrechen muss.

Dann werden wir auf der Fähre schlafen. Wir teilen uns zu viert eine Kabine, und ich mag die anderen alle, also wird das bestimmt super.

Morgen werden wir durch Frankreich fahren. Das wird mega. Keine Ahnung, wieso ich so panisch bin. Jede Faser meines Körpers ist angespannt, verkrampft, verängstigt. Ich will weglaufen, aber ich will nirgendwohin. Ich möchte vor der Reise weglaufen, damit ich zu Hause bleiben kann.

Die peinlichste Fluchtaktion aller Zeiten.

Ich nippe an meiner Cola und versuche, richtig zu atmen und vernünftig zu sein. Es wird schon gut gehen. Der einzige Weg, es hinter sich zu bringen, ist, es durchzuziehen. Das ist ein Klacks, eine Kleinigkeit. Mir fallen die Dinge immer leicht. Es gibt keinen Grund, die Nerven zu verlieren.

Ich muss mich sehr anstrengen, um dieses Bild aufrechtzuerhalten.

Ich setze meinen Kopfhörer auf und versuche, mich mit Musik zu beruhigen. Ich habe nur ein Album dabei, aber es ist Different Class, und das ist okay. Ich drücke auf Play und entspanne mich bei »Something Changed«.

Nach einer Weile geht die Tür auf.

5

8. März

Ein Mädchen und ein Junge standen vorne im Klassenzimmer und trugen Uniformen einer anderen Schule. Sie sahen sich ständig an und lachten. Sie flirteten miteinander. Ich konnte meinen Blick nicht von ihnen abwenden.

Die Unterrichtsstunde verging und sie standen einfach nur da und kicherten. Niemand sonst konnte sie sehen. Und nicht nur das, sie schienen auch uns nicht wahrzunehmen. Genau wie das unbekannte Mädchen, das ich an dem Tag, als Dad wegging, gesehen hatte.

Ich schaute aus dem Fenster. Der Himmel war blassblau. Er war ruhig und klar, und ich versuchte, diese Ruhe und Klarheit in meinen Kopf zu übertragen. Ich war nicht dabei, den Verstand zu verlieren. Es ging mir gut. Es handelte sich lediglich um einen … kurzzeitigen Aussetzer.

Als ich mit dem Blau des Himmels im Kopf das Mädchen und den Jungen ansah, merkte ich, dass auch sie blau waren. Um sie herum und aus ihnen heraus leuchtete es, als ob in jedem von ihnen ein blaues Licht wäre. Ich hörte auf, an Blau zu denken, und es war nicht mehr da. Ich dachte an Blau und es kehrte zurück.

Oh Shit! Ich war dabei, durchzudrehen, und zwar in epischen Ausmaßen.

Ms Duke redete auf Französisch vor sich hin und die beiden standen nur einen Meter von ihr entfernt. Ich verbrachte eine Weile damit, sie in meinem Kopf von Blau zu Nichtblau wechseln zu lassen, bis sie sich gegenseitig ansahen, in (lautloses) Lachen ausbrachen und gemeinsam aus dem Klassenzimmer rannten.