JEDER - Thomas Seidl - E-Book

JEDER E-Book

Thomas Seidl

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Beschreibung

John Down, ein heruntergekommener Privatdetektiv, wird zu einem Auftrag ins beschauliche Dörfchen Steakbeaver in der Nähe von London gerufen, wo die Tochter der einflussreichen Familie Sterling seit zwei Monaten verschwunden ist. Die Polizei glaubt nicht an ein Verbrechen, denn Susan hinterließ einen Abschiedsbrief. Je tiefer aber John Down in den Fall eindringt, desto mehr wird ihm bewusst, dass es hier um mehr geht, denn in diesem Dorf werden mehrere junge Mädchen vermisst, und anscheinend hat hier JEDER seine Geheimnisse. Ein spannender Krimi, der unter die Haut geht, und den man nicht einfach beiseitelegt. Verschachtelt, gewieft und verzwickt. Ein wendungsreicher Krimi mit vielen Thrillerelementen. Sie werden ihn verschlingen und sich immer wieder dabei ertappen, wie Sie versuchen, die Geschichte zu entwirren. Wer hat hier welche Geheimnisse, und wie wird das alles enden? Warum wurden die Frauen entführt? Oder sind es keine Entführungen? Welche Geheimnisse hat die Familie Sterling? Warum wurde ausgerechnet ein heruntergekommener Privatdetektiv engagiert? Was macht diese alte, kauzige Dame in diesem Dörfchen? Und wo steckt Susan Sterling? Oder ist sie schon lange tot? Viele dieser Fragen werden Sie sich während des Lesens stellen, und ich warne Sie vor, denn Sie werden mitfiebern und es nicht erwarten können, die ganze schreckliche Wahrheit zu kennen. Leserstimmen Das Ende ist phantastisch und absolut unvorhersehbar! Es traten Wendungen in die Ermittlung ein die ich im Leben nie hervorgesehen hätte! Einfach super klasse! Die Aufklàrung ist sehr überraschend und unglaublich genial. Noch nie habe ich etwas Vergleichbares gelesen. Bisherige Werke des Autors: Thomas Seidl das Märchenbuch: Es war einmal... Thomas Seidl das Märchenbuch: Es war einmal...

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Seitenzahl: 341

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Thomas Seidl

JEDER

Krimithriller

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Gut geschlafen?

Die Rückkehr der Sterling-Männer

Die Villa

Wo ist John?

Lebenszeichen

Der Beweis

Folter

Überwachung

Ich will leben

Leben und leben lassen

Stirb, kleines Mädchen, stirb!

Des Rätsels Lösung

Familiendrama

Der Exodus

Die Wahrheit

Epilog

Danksagung

In eigener Sache

Impressum neobooks

Prolog

Mit einer Hand griff John Down hastig in das Handschuhfach und versuchte, eine Zigarettenpackung zu finden. Seit er aus London losgefahren war, hat er keine einzige Zigarette mehr geraucht. „Da muss doch noch eine Packung zu finden sein“, fluchte er vor sich hin. Er war süchtig nach diesen Dingern und wollte auch jetzt nicht damit aufhören. Der Auftrag einer gewissen Julia Sterling führte ihn von London ins beschauliche Steakbeaver. Vor fünfzehn Jahren war er noch ein hochrangiger Scotland Yard-Ermittler gewesen, doch dann war er dem Alkohol verfallen, als er einen bestialischen Serienkiller nicht hatte zur Strecke bringen können. Immer mehr gab er sich den Genüssen dieser legalen Droge hin; am Ende kostete ihn das seinen Job und danach verlor er sein komplettes soziales Umfeld. Er hatte sich einfach nicht mehr im Griff. Als es nur noch eine Frage der Zeit war, wann er sterben würde – sei es durch den Alkohol oder die Art, wie er sein Leben bestritt – raffte er sich noch einmal auf und kehrte dem Alkohol den Rücken. Er eröffnete eine Detektei und schaffte wieder den Sprung ins soziale Leben.

Fünf Jahre war das nun her, und jetzt hatte er einen Auftrag von einer reichen Familie erhalten, der ihm neben ein wenig Kleingeld auch noch in beruflicher Hinsicht Ansehen bringen könnte. Nur das Rauchen hielt ihn davon ab, wieder mit dem Trinken zu beginnen, und darum suchte er gerade verzweifelt nach einer Packung Kippen. „Ah! Da haben wir dich ja!“ Glücklich über den Fund, steckte er sich gleich eine Zigarette an. In seiner alten Klapperkiste, einem silbernen Mercedes Benz E270, Baujahr letztes Jahrtausend, war es nicht mehr wichtig, ob er auf Sauberkeit achtete oder nicht. Die besten Tage dieses Wagens waren ohnehin schon lange vorbei. Selbst den letzten Service hatte er nicht mehr machen lassen, denn es wäre nur mehr reine Zeitverschwendung gewesen. Die Bremsen waren fast im Eimer und die Stoßdämpfer nur mehr Requisiten von einem alten Auto. Die Liste der Schäden war lang, sehr lang, doch John Down war das egal – Hauptsache, der Wagen brachte ihn noch in dieses kleine Kaff mit dem wunderlichen Namen. Steakbeaver lag zwar nur knapp hundert Kilometer von London entfernt, aber da John noch nie zuvor von diesem Örtchen gehört hatte, hatte er auf Google Earth einige Fotos davon betrachtet, und so war ihm nun klar, dass er in ein typisches, kleines englisches Dorf fuhr.

Im Dorfkern standen viele Back-to-Back-Häuser, Reihenhäuser, die sich eine gemeinsame Rückwand teilen. Im 19. Jahrhundert wurden solche Häuser hauptsächlich für die Industriearbeiterschaft errichtet. Die Bauform, viele einzelne Häuser direkt nebeneinander zu bauen, ermöglichte es außerdem, die geraden Parallelstraßen über die Hänge und Kämme des hügeligen Baugrundes des Dorfes zu ziehen. John bedauerte, dass solche Bauten in den englischen Großstädten kaum noch zu finden waren, da sie spätestens Mitte der 70er-Jahre abgerissen worden waren. Langsam fuhr er in das Dorf hinein. Hier im beschaulichen Steakbeaver, wo einst eine große Kohlefabrik stand, gab es solche Häuser noch immer und formten das Bild des Dorfes, an dessen Rand zudem viele allein stehende kleine und größere Häuser, meistens aus Backstein gebaut waren.

Zu diesen gehörte auch die Villa der Familie Sterling, vor deren Einfahrt John Down gerade Halt gemacht hatte. Er stoppte den Motor, um Benzin zu sparen, und sah sich um. Das Anwesen war von einer imposanten Steinmauer umgeben, und die Zufahrt wurde durch ein großes schwarzes Tor mit einem Drachensymbol versperrt. Zwei Säulen, auf deren Spitzen sich jeweils zwei Drachenstatuen befanden, streckten sich links und rechts des Tores empor. Alles wirkte hier sehr alt, bis auf die Überwachungskamera, die an der linken Säule befestigt war.

Kurz darauf öffnete sich quietschend das Tor. John startete den Motor wieder, fuhr hinein und eine lange Allee entlang. Die Blätter fielen bereits von den Bäumen, denn es war schon Ende Oktober. Er erblickte die große alte Villa, die seiner Meinung nach eine Renovierung bitter nötig hatte. Am Vorplatz hielt er mit seinem Wagen an und wurde beim Aussteigen gleich vom Hausmädchen der Sterlings empfangen.

„Guten Tag, werter Herr! Willkommen in Steakbeaver! Mrs. Sterling erwartet Sie bereits.“

John folgte dem Mädchen ins Innere der Villa. Was außen nach einem alten, renovierungsbedürftigen Gemäuer aussah, zeigte innen seinen wahren Glanz. In der Eingangshalle funkelte ein riesiger Kronleuchter von der Decke, und das Eichenholz der Treppe, die einen Stock höher führte, erstrahlte wie neu. An den Wänden hingen wunderschöne Ölporträts, deren Gesichter er aber nicht zuordnen konnte. Es müssen wohl Familienporträts sein, schlussfolgerte John.

Die Haushälterin führte ihn in einen Nebenraum in der unteren Etage. „Warten Sie bitte hier. Mrs. Sterling wird Sie in Kürze empfangen.“

John bedankte sich und sah sich im Raum um. Es war eine mittelgroße Bibliothek, vollgestopft mit Werken, deren Entstehungsjahre sich quer durch das Jahrhundert zogen. Keine spezifische Literatur, und dem Staub nach zu schließen waren sie in letzter Zeit auch nicht gelesen, sondern wohl mehr zu Dekorationszwecken aufgestellt worden. Ein alter Bürotisch, vermutlich aus viktorianischer Zeit, stand fast in der Mitte des Raumes. Es herrschte Unordnung auf ihm, und auch in der Ecke des Zimmers war Staub zu finden. Rasch wurde John klar, dass normalerweise nur der Hausherr oder die Hausherrin Zugang zu diesem Zimmer hatten, denn es schien schon lange nicht mehr gereinigt worden zu sein. Der Eingangsbereich, den er sich zuvor gut eingeprägt hatte, wirkte dagegen lupenrein, sogar der Kronleuchter, der mehrere Meter über den Boden hing, war ohne Staub gewesen.

In diesem Moment betrat Mrs. Sterling den Raum. Sie war älter, als John sie sich vorgestellt hatte. Sie wog etwa 65 Kilo, war nicht sonderlich groß und trug einen mittellangen, blauen Rock mit einer dazu passenden Bluse. Die Haare waren schulterlang und dunkelbraun, und selbst das Make-up passte perfekt zu ihrem Outfit. Sie wirkte smart und selbstbewusst. Außer mit dem Alter lag John mit allen seinen Vermutungen richtig.

Ihre bestimmte, aber doch sanfte Stimme erklang. „Guten Tag, Mr. Down. Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange warten. Wie war die Fahrt von London in unser kleines Steakbeaver?“

„Sehr gut, danke!“

„Dann kommen wir gleich dazu, warum Sie hier sind. Ich habe Ihnen ja am Telefon schon erklärt, dass meine Enkelin vermisst wird. Seit zwei Monaten ist sie verschwunden, und ich mache mir große Sorgen. Erst vor einem halben Jahr ist sie von London zurückkehrt. Sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, und ich habe diesen immer und immer wieder durchgelesen, aber ich kann das dort Geschriebene einfach nicht glauben.“ Mrs. Sterling übergab John den Brief.

Aufmerksam las er ihn.

Liebe Großmutter, ich habe beschlossen, Steakbeaver wieder den Rücken zu kehren. Ich wollte in der Firma mithelfen, aber das ist einfach nicht mein Ding. Es tut mir leid, aber Du hättest es nicht verstanden, und darum gehe ich einfach. Mach Dir keine Sorgen. Deine Susan

John drehte das Schriftstück um, doch außer diesen Zeilen war auf dem Papier nichts zu finden. „Also, Sie denken nicht, dass Ihre Enkelin einfach gegangen ist?“

Mrs. Sterling schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht, denn obwohl sie schon ihren eigenen Kopf und auch mal die eine oder andere Dummheit begangen hat, ist so ein Abschiedsbrief einfach nicht ihre Art. Ich weiß, dass ich immer sehr streng zu ihr war und auch ihre Schauspielausbildung in London nicht für gut befand, aber sie hätte doch mit mir gesprochen, bevor sie gegangen wäre. Außerdem hat sie in letzter Zeit gar nicht unglücklich auf mich gewirkt. Für mich ergibt das alles keinen Sinn.“

John legte den Brief auf den Tisch. „Ich verstehe Sie, doch bisher habe ich noch nie einen Vermisstenfall betreut. Warum haben Sie ausgerechnet mich angerufen?“

„Wissen Sie, Mr. Down, wir sind eine sehr reiche und angesehene Familie hier in England. Alles, was wir tun, wird von den Medien verfolgt, und wenn ich jetzt einen bekannten Detektiv angeheuert hätte, würde das nur wieder die Aufmerksamkeit auf uns lenken. Diese Familie hat in den letzten Jahren schon zu viel durchgemacht. Das alles noch einmal durchzustehen, würde uns die letzten Kräfte rauben. Ich wollte damit jetzt nicht Ihre Integrität infrage stellen, sondern nur Ihre Frage auf das ‚Warum‘ beantworten.“

John beobachtete das Mienenspiel von Mrs. Sterling genau, vielleicht nur aus Gewohnheit, aber in den vielen Jahren bei Scotland Yard hatte er gelernt, dass nicht immer jeder die Wahrheit sagt, obwohl er um Hilfe bittet. „Sie erzählten mir vorhin, dass Ihre Enkelin in letzter Zeit nicht unglücklich schien. Heißt das, dass sie zuvor unglücklich war?“

„Nein, so würde ich das nicht sagen. Es ist nur so, dass vor fünf Jahren ihre Mutter, also meine Schwiegertochter Claire, Selbstmord beging, und das Mädchen in der darauf folgenden Zeit einfach nicht damit umgehen konnte. Teilweise verleugnete sie sogar den Tod ihrer Mutter und tat so, als würde diese noch leben. Es wurde immer schlimmer, bis ich ihr gestattete, eine Ausbildung zur Schauspielerin in London zu beginnen. Daraufhin besserte sich ihr Zustand. Ich half ihr, die Aufnahmeprüfung zu bestehen, und ließ meine Kontakte spielen. Ich tat alles für meine Enkelin, und auch heute ist das noch so.“

John bemerkte, dass Mrs. Sterling keine besondere Regung bei der Erzählung des Selbstmordes ihrer Schwiegertochter zeigte. „Ich verstehe. Wie war denn Ihr Verhältnis zu Claire?“

„Warum fragen Sie mich das? Ich meine, ja, ich gebe es zu, das Verhältnis zu meiner Schwiegertochter war nicht das Beste, aber den Tod habe ich ihr auch nicht gewünscht. Es war für alle sehr belastend, seit damals mein Enkelkind Chris umgebracht wurde. Er war doch noch so jung. Er wurde Opfer eines banalen Raubüberfalls, ganz hier in der Nähe. Wir konnten es alle nicht fassen, doch Claire hörte nie wieder auf zu trauern. Sie lag den ganzen Tag nur im Bett und weinte. Und wenn sie das nicht tat, saß sie einfach nur da und starrte in die Ferne. Es war irgendwie unheimlich. Wir holten die besten Psychologen, doch niemand konnte zu ihr durchdringen. Sie war in ihrem eigenen Gefängnis eingesperrt, und ich denke, sie wollte auch nicht mehr heraus. Fünf lange Jahre dauerte diese Tortur, bis sie sich eines Tages in die Pulsadern schnitt und vom obersten Balkon der Villa in die Tiefe sprang. Susan hörte ihre Mutter und sah sie dann blutüberströmt auf dem Vorplatz liegen. Sie war auf der Stelle tot. Unsere Familie muss endlich zur Ruhe kommen. Also bitte, finden Sie sie.“

John hatte aufmerksam zugehört und die Fakten für sich gesammelt. Er holte ein kleines Notizbuch aus der Tasche seines Mantels, den er noch immer nicht abgelegt hatte, und kritzelte einige Wörter hinein. Dann dachte er nochmals kurz nach. Claire hatte sich also umgebracht, weil ihr Sohn getötet worden war. Und Susan war nun verschwunden, weil sie nicht mehr hier sein wollte, was ja auch nur verständlich war, denn immerhin hatte sie hier den Selbstmord ihrer Mutter mitbekommen. Für John sah die Sache eindeutig aus, doch zuerst wollte er noch mehr Fakten sammeln. „Könnte ich vielleicht mit Ihrem Sohn sprechen?“

„Nein, mein Sohn ist mit meinem Ehemann auf Geschäftsreise. Sie treffen erst in zwei Tagen wieder hier ein.“

„Könnte ich das Zimmer von Susan sehen? Vielleicht finden wir dort noch einen Hinweis.“

„Ja, natürlich. Ich begleite Sie hoch. Das Zimmer von Susan liegt im ersten Stock.“

John folgte Mrs. Sterling in die obere Etage. Auch dort bot sich das gleiche Bild von Protz und Dekadenz. Selbst der Gang in Susans Zimmer war aufwendig gestaltet. Kleinere Bildhauereien gestalteten die Wände, und an die Decke war ein Kunstwerk gepinselt, fast wie in einer Kirche. Nur dass es keine Heiligen zu sehen gab – es waren ausschließlich Engel, die einen Weg in den Himmel suchten. Schöne Kunst, würde man dazu sagen, oder einfach nur der Wahn des Geldes war daran schuld. Wie dem auch sei, für diesen Fall war das nicht wichtig.

Mrs. Sterling öffnete die Tür zum Zimmer, und John trat vorsichtig ein. Es wirkte sehr jugendlich – Poster an den Wänden, und George Clooney war wohl ein Idol von ihr. Ein großer Spiegeltisch aus Eiche stand neben einem weißen Kleiderkasten, und auf dem Spiegel klebte ein Foto. „Mrs. Sterling, wer sind diese beide Personen dort auf dem Foto?“

„Ach, das sind unsere kleine Susan und mein Sohn James, also ihr Vater.“

John nahm das Bild ab und drehte es um. Auf der Rückseite stand nur geschrieben Dis la vérité. Alles war ordentlich aufgeräumt, das Bett war gemacht, eine ungeplante Abreise schien angesichts des Zimmers unwahrscheinlich. „Mrs. Sterling, ich hatte vorher ganz vergessen nachzufragen, ob sie meinen, dass Susan den Brief selbst geschrieben hat?“

„Wenn ich ehrlich bin, kann ich das nicht ganz beantworten, denn sie hatte schon immer eine sehr ungewöhnliche Handschrift. Manchmal schrieb sie so und ein anderes Mal sah es ganz anders aus. Ich habe das zuvor auch noch nie bei jemandem beobachtet, doch wie ich Ihnen vorher schon erzählt habe, schließe ich aus, dass sie einfach so gegangen ist. Ich weiß, was Sie denken: Ihre Mutter ist hier gestorben, und Sie glauben, dass sie es hier nicht mehr ausgehalten hat, aber ich glaube, das stimmt nicht, nein, ich weiß es, glauben Sie mir, Mr. Down.“

John hatte jede Regung von Mrs. Sterling genau verfolgt. Immer wenn sie von ihrer Enkelin sprach, war sie sehr emotional. Die einzige Schlussfolgerung war, dass sie sich wirklich Sorgen machte. Er durchsuchte das Zimmer weiter. Auf dem roten Bettüberzug entdeckte er ein dunkelbraunes langes Haar. Er zog eine kleine Plastiktüte aus der Innentasche und steckte es hinein. John war immer auf alles vorbereitet, denn er wusste, dass ein guter Detektiv immer an alles denken musste und dass jede Spur, sei sie noch so klein, von Bedeutung sein könnte. John hakte nach. „Mrs. Sterling, welche Haarfarbe hatte Ihre Enkelin eigentlich zuletzt? Sie wissen ja, die jungen Leute von heute ändern diese ja sehr häufig.“

„Sie hat ihre Haarfarbe nie geändert, sie war immer schon blond gewesen und wollte dies auch nie ändern.“

„Hatte sie öfters Besuch von Freunden, hier in der Villa?“

„Wenn ich genau darüber nachdenke, hatte sie eigentlich gar keine Freunde hier, denn seit damals, als ihre Mutter starb und sie sich veränderte, wandten sich alle von ihr ab, und Besuch hatte sie auch nie, soweit ich weiß.“

„Danke, ich habe jetzt genug gesehen. Alles, was ich jetzt noch bräuchte, wäre ein Foto von Susan.“

„Ich habe das alles schon vorbereiten lassen. Ingwa, meine Haushälterin, wird Ihnen beim Ausgang einen Umschlag mitgeben, darin finden Sie das gewünschte Foto und eine Wegbeschreibung zu Ihrem Motel, in dem ich Sie untergebracht habe. Außerdem erhalten Sie Unterstützung von der örtlichen Polizei. Ein Beamter wird Sie morgen um acht Uhr von dort abholen. Er wird Ihnen bis zur Klärung des Falles behilflich sein, auch wenn die Polizei nur glaubt, dass Susan abgereist sei. Falls Sie jetzt keine weiteren Fragen mehr haben, würde ich mich gerne zurückziehen. Das alles nimmt mich doch sehr mit.“

„Ich habe im Moment auch alle Informationen, die ich brauche. In zwei Tagen werde ich für die Befragung Ihres Sohnes und Ihres Mannes wieder kommen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Mrs. Sterling.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich John. Ingwa übergab ihm noch den Umschlag, und er verließ die Villa.

In seinem Auto öffnete er das Kuvert und sah sich das Foto akribisch an. Susan Sterling war ein bildhübsches Mädchen mit schulterlangen blonden Haaren, so wie Mrs. Sterling es ihm erzählt hatte, und einem zierlichen Körperbau. Warum war sie nur weggelaufen? Und was war ihr zugestoßen? Diese zwei Fragen beschäftigten John, doch eine schnelle Antwort darauf war nicht in Sicht. Außerdem stellte er sich die Frage, warum er in ihrem Zimmer ein langes, braunes Haar gefunden hatte, obwohl Susan blond war und keinen Besuch empfangen hat. Er drehte den Zündschlüssel um und ließ den Motor aufheulen. Die Wegbeschreibung zu seiner Unterkunft hatte er sich auch kurz angesehen und eingeprägt. In einem so kleinen Kaff konnte es nicht schwierig sein, dieses Motel zu finden.

Er fuhr einen langen, einspurigen Weg entlang, an Kornfeldern und dem einen oder anderen entlegenen Haus vorbei. Nach wenigen Minuten bog er an einer Kreuzung rechts ab. Diese Straße führte ihn genau in die Dorfmitte. Es war schon später Nachmittag, aber trotzdem sah er keine Menschenseele auf der Straße. Es fühlte sich an, als wäre er der letzte Mensch auf diesem Fleckchen Erde. Nachdem er den Dorfkern durchfahren hatte, kam er wieder auf eine einsame Straße, und nach einem guten halben Kilometer sah er das Motel. Von außen sah es schäbig und heruntergekommen aus. Die Leuchtreklame mit der Aufschrift Motel passte überhaupt nicht in das idyllische Dorfbild. Langsam bog er auf den Parkplatz ein. Er stellte den Wagen ab und begab sich zur Rezeption.

Die kleine Empfangshalle entsprach dem Eindruck, den er von draußen schon gewonnen hatte. Alles war sehr schlicht und mit minderwertigen Möbeln eingerichtet. Die Wände waren in einem hellen braun-weißen Muster tapeziert, die Lampen warfen gedämpfte Lichttöne in den Raum und erzeugten einen leicht schmuddeligen Look. Hinter der Rezeption befand sich der Schlüsselkasten. Zwölf Zimmer gab es in diesem Motel, acht Schlüssel hingen am Kasten, die anderen vier Zimmer waren im Moment wohl belegt. Eine altmodische Klingel befand sich vor ihm auf der Empfangstheke. John drückte sie zwei Mal, und ein heller Ton erklang und hallte durch den Raum. Eine Frau aus dem Hinterzimmer, das sich hinter der Rezeption befand, schrie ihm unfreundlich entgegen. „Ja, ja, ich komme gleich!“

John holte seine Zigaretten aus dem Mantel und zündete sich eine davon an. „Ich liebe diese kleinen Dinger!“, flüsterte er. Dann kam die Dame aus dem hinteren Bereich. Sie verbesserte das Bild des Motels gar nicht, denn sie sah ebenso verrucht wie ungepflegt aus. Die Falten in ihrem Gesicht ließen darauf schließen, dass sie sehr viel rauchte und Alkohol trank und sie dies mit ihren wahrscheinlich mindestens 55 Jahren nicht mehr verstecken konnte. Ihre besten Zeiten waren schon lange vorbei, wenigstens ihre Figur hatte sie noch halbwegs halten können.

„Wer sind Sie denn?“, fragte sie unwirsch. „Ach, Sie sind nicht von hier, also brauchen Sie sicher ein Zimmer.“

John nickte. „Ja, Mrs. Sterling müsste für mich eines reserviert haben.“

„Sie sind also der Detektiv, der die vermeintlich verschwundene kleine Sterling sucht? Ja, ich habe eines reserviert, auch wenn es unerheblich ist, denn wir haben zu dieser Jahreszeit nie viele Gäste.“ Die Dame überreichte John den Zimmerschlüssel.

„Sie sagten ‚die vermeintlich verschwundene‘? Glauben Sie nicht daran?“

„Was ich glaube, ist doch gar nicht wichtig. Die Sterlings sind hier die bekannteste Familie. Nachdem damals die Kohlefabrik in Steakbeaver in Konkurs gegangen war, ließen sie sich hier nieder und eröffneten die Brauerei. Es war für alle Menschen in diesem Dorf eine schwere Zeit, denn die meisten hatten zuvor in der Kohlefabrik gearbeitet. Die Sterlings gaben ihnen wieder eine Arbeit, und das Dorf erhielt dadurch wieder Aufwind. Sie haben viel für uns alle getan, dennoch sind sie nicht allseits beliebt. Ihre Art zu leben stieß vielen sauer auf, denn sie hatten alles, und die meisten anderen hatten nicht viel. Sie wissen doch, wie das ist, mit reich und arm. Und Chris war schon als Junge immer sehr seltsam. Er hatte einen Blick, der einen durchdrang und mit Angst erfüllte. Ein Gefühl, das ich nicht so recht beschreiben kann, aber viele hatten Angst vor ihm und das, obwohl er noch so jung war. Sie müssen verstehen, manche sahen in ihm den Teufel. Unheimlich, wenn ich daran zurückdenke, und ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich nicht froh wäre, dass er tot ist. Aber ich habe jetzt schon genug erzählt. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Schlafen Sie wohl, Herr Detektiv.“

John drückte seine Zigarette am Aschenbecher, der auf der Rezeptionstheke stand, aus und schlenderte nach draußen. Er parkte sein Auto um, denn jedes Zimmer hatte direkt vor der Tür den passenden Abstellplatz. Dann nahm John den Umschlag und sein Gepäck aus seinem Fahrzeug und begab sich direkt in sein neues Zuhause, das er wohl für die nächsten Wochen behalten würde. Das Zimmer sah ähnlich wie jenes aus dem Film Psycho aus, in dem Norman Bates die Frauen ermordete. Zwei Lampen standen auf zwei Nachtkästchen, eine rechts und eine links vom Doppelbett, das sich mitten im Raum befand. Alles wirkte wie aus den Sechzigern. Ein Bild von einer Landschaft hing direkt über dem Bett, und ein alter Fernseher stand auf einem Kästchenschrank direkt an der gegenüberliegenden Wand. Daneben stand noch ein alter Fernsehsessel mit grün-graulichem Bezug. Hier gab es keinen Flat Screen, und das Telefon direkt neben der Lampe rechts vom Bett musste man noch mit Wählscheibe bedienen. John fühlte sich wie in alten Kindertagen.

Er stellte sein Gepäck neben dem Bett ab und legte den Umschlag darauf. Jetzt musste er erst einmal duschen, denn es lag ein langer Tag hinter ihm. Er streifte seine Kleidung vom Körper und legte sie auf das Bett. Die Dusche sowie die Toilette befanden sich in einem kleinen Nebenzimmer. John drehte das Wasser auf und während er sich von diesem berieseln ließ, durchdachte er nochmals alle Fakten, die er bis jetzt gesammelt hatte.

Chris, der Enkel von Mrs. Sterling, war also ermordet worden. Dies war aber schon zehn Jahre her, und die Enkelin Susan verschwand spurlos, aber der Abschiedsbrief zeigte, dass sie ihrer Großmutter vielleicht ihre Entscheidung einfach nicht mitteilen konnte, denn diese war streng und verstand die Wünsche ihrer Enkelin nicht. Die Mutter der Beiden beging vor fünf Jahren Selbstmord. Alles sehr verworren, dachte John, aber da der Erwartungsdruck in der Familie sehr hoch zu sein schien, wäre dies eine Erklärung für den Selbstmord und das Verschwinden von Susan. Doch so ganz wollte er das nicht glauben, denn sein Gefühl sagte ihm, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Er stellte die Dusche ab, nahm das Handtuch, das neben dem Waschbecken auf einem Ständer hing, und trocknete sich ab. Er fühlte sich nach der Körperkultivierung wieder fitter. Danach nahm er die Kleidung, die auf dem Bett lag, und legte sie über den Stuhl neben dem Fernseher.

Splitternackt setzte er sich auf das Bett und nahm den Umschlag, den er zuvor auf das Gepäck gelegt hatte. Er holte das Bild von Susan heraus und sah es sich mehrere Minuten regungslos an, so, als wollte er, dass sie ihm etwas erzählte. Natürlich war das Schwachsinn, aber John starrte nur auf das Bild.

Dann legte er es auf das Nachtkästchen und schaltete das Licht aus. Dies ging durch einen Lichtschalter, der sich an der linken Seite kurz oberhalb des Nachtkästchens befand. John verschwendete jetzt keinen Gedanken mehr an den Fall, denn lösen konnte er ihn über Nacht sowieso nicht. Er deckte sich zu und wollte nur mehr schlafen.

Gut geschlafen?

Der nächste Morgen brach an. John hörte ein lautes Poltern an seiner Zimmertür. „Ja, ich komme ja schon!“ Im Halbschlaf setzte er sich auf die Bettkante und rieb sich seine Augen, um munter zu werden. Langsam schlich er zur Tür und öffnete diese.

„Haben Sie … Ach! Sie sind ja nackt! Haben Sie verschlafen?“

Ein weiblicher Police Officer in voller Montur stand vor ihm. „Ja, kann sein! Wie spät haben wir es denn?“

„Es ist kurz nach acht, und Sie sollten sich etwas anziehen!“

Jetzt erkannte auch John, dass er noch splitternackt war, so wie Gott ihn schuf. „Entschuldigung, ich war irgendwie noch nicht ganz wach. Außerdem sollte mich ein Police Officer abholen. Wer sind Sie denn?“

„Ich bin Sergeant Sarah Brown, und mir wurde aufgetragen, Sie in den nächsten Wochen zu unterstützen, denn mein Kollege wurde krank. Darum wurde ich Ihnen zugeteilt. Haben Sie etwa Vorurteile gegenüber Frauen im Polizeidienst?“, fragte sie spitz.

„Nein, nein, ich war nur nicht darauf vorbereitet.“ John grinste. „Ich werde mich noch schnell anziehen, wenn es Ihnen recht ist.“

„Natürlich, Mr. Down.“

John schlenderte von der Tür wieder zurück ins Zimmer. Dort zog er sich seine Kleidung, die er gestern über den Fernsehsessel gelegt hatte, wieder an. Als er wieder zur Tür schritt, die noch offen stand, musterte er Sergeant Sarah Brown sehr genau von Kopf bis Fuß. Ihre blonden Haare waren hinten zu einem Mob aufgesteckt. Das sah man auch unter ihrer Police Officer-Kappe. Ihr Alter? Wohl Mitte zwanzig. Ihre Hände zitterten leicht, so als wäre sie nervös. Dieser Eindruck verstärkte sich durch ihre Mimik, die sowohl Verlegenheit als auch Unsicherheit bedeuten konnte. Entweder ist ihr der Anblick von meinem nackten Körper unangenehm, dachte John belustigt, oder sie ist noch nicht sonderlich lange bei der Polizei. Es könnte natürlich auch beides zutreffen. John trat nahe an Sarah heran. „Ich brauche dringend einen Kaffee und ein oder zwei Zigaretten, sonst bin ich heute zu nichts fähig. Kennen Sie hier in der Nähe ein nettes Lokal? Dort können wir auch gleich die ersten Fakten besprechen. Ist das in Ordnung für Sie?“

Sarah nickte. „Im Dorfzentrum gibt es ein kleines Café. Es ist das einzige hier in der Nähe und heißt ‚De Luga‘, was immer auch das bedeuten soll, aber es ist ganz nett.“

„Sehr gut, dann machen wir uns auf den Weg. Ist es okay, wenn ich Sie Sarah nenne? Sie können mich auch John nennen, ich habe die Einfachheit lieber als das förmliche Geschwafel.“

„Einverstanden!“

John merkte ihr an, dass es ihr nicht ganz recht war, denn man verliert schnell seine Autorität, wenn es zu persönlich wird, doch er hätte sich so oder so nicht daran gehalten, er wollte nur den Schein der Höflichkeit wahren. Dann stiegen beide in den Streifenwagen, den Sarah direkt neben Johns Auto geparkt hatte.

„Sind Sie hier geboren?“, fragte John, während Sarah das Fahrzeug zurücksetzte.

„Ja, das bin ich, aber hier in dieser Gegend hat man als junger Mensch nur die Möglichkeit wegzuziehen oder sich den Gegebenheiten anzupassen. Als Frau heißt das Kinderkriegen und Hausfrau werden oder eben sein Glück in einer Großstadt suchen.“ Sarah lenkte das Auto auf die Straße und fuhr in Richtung Dorfkern.

John grinste. „Oder man wird Police Officer, habe ich recht?“

„Ja, Mr. Down. Oder man wird Police Officer.“

„Wir haben uns doch darauf geeinigt, dass Sie mich John nennen, also bleiben wir auch dabei. Und, Sarah, bereitet Ihnen die Arbeit als Police Officer Freude?“

„Freude ist vielleicht das falsche Wort, aber ich habe mich mit meiner Arbeit arrangiert. Es passiert einfach viel zu wenig hier in dieser Gegend, als dass man ausgelastet wäre, und darum wird man hier einfach nicht gefordert. Und ich bin ein Mensch, der die Herausforderung sucht. Sie verstehen hoffentlich, was ich meine.“

„Natürlich, darum könnte der Fall hier genau das sein, was Sie suchen.“

Sarah parkte den Streifenwagen auf dem Dorfplatz. Dieser war nicht sonderlich groß; genau genommen war es eine längliche Straße von rund 200 Metern, die als Fußgängerzone ausgewiesen war. Trotzdem konnte man diese einspurig in eine Richtung befahren. Fast alle Geschäfte des Dorfes befanden sich hier: ein Lebensmittelmarkt, eine Trafik, ein Kleidergeschäft. Auch einen Handwerkerladen und noch ein paar andere kleinere Läden fand man dort sowie das Café De Luga.

Nachdem Sarah und John ausgestiegen waren und langsam in Richtung Café trotteten, hörten sie ein lautes blechernes Geräusch. Hastig drehten sie sich um.

Eine alte Dame schlug mit ihrem Gehstock aus Holz gegen den Streifenwagen und krächzte und fluchte vor sich hin. „Verdammte Polizei! Die kriegen doch nichts auf die Reihe. Wir zahlen Steuern und für was? Damit sie hier im Dorf herumlungern und nichts tun. Gerade gestern hat jemand meine Hausmauer besprüht, und was bekommt man zu hören? Es tut uns leid, da können wir Ihnen nicht helfen. Ja, die wollen gar nicht helfen, das ist die Wahrheit!“

Sarah marschierte zu der alten Dame, die aussah, als wäre sie auf den Gehstock angewiesen. Sie hatte einen krummen Buckel und grau-braune Haare. Sie musste schon weit über 80 Jahre alt sein, und John hoffte nur, sie würde durch ihren Wutanfall nicht gleich aus den Latschen kippen.

Sarah versuchte, sie zu beruhigen. „Miss Nilgerst, beruhigen Sie sich. Wir haben Ihnen doch gestern schon auf der Wache gesagt, dass wir dem nachgehen werden. Es tut mir leid wegen Ihrer Hausmauer, aber ich kann Ihnen versichern, dass wir alles tun, um diejenigen zu finden, die sie besprüht haben. Und jetzt unterlassen Sie bitte das Schlagen auf meinen Streifenwagen, sonst muss ich noch eine Anzeige gegen Sie aufnehmen. Haben Sie mich jetzt verstanden? Ich werde das nicht noch einmal wiederholen.“

„Ja, ja, wie Sie meinen!“ Wütend zog die alte Dame von dannen.

„Wer oder was war das denn?“, fragte John stirnrunzelnd.

„Das war Miss Nilgerst! Sie ist erst vor Kurzem in die Stadt gezogen. Gut fünf Minuten von hier hat sie ein kleines Häuschen gekauft und seitdem hält sie uns ständig auf Trab. Jeden zweiten, dritten Tag hat sie eine Beschwerde oder ein Anliegen. Mal ist es ihre verschwundene Katze, ein anderes Mal will sie beobachtet haben, wie der Müllmann ihre Mülltonnen durchwühlt oder der Postbote schon geöffnete Briefe, die an sie adressiert sind, zustellt. Sie verstehen, sie sieht überall etwas, wo nichts ist, außer gestern, denn die Jugendlichen hier in der Gegend bezeichnen sie als alte Hexe und genau das haben sie auf ihre Hausmauer gesprüht. Ein jugendlicher Streich, mehr nicht. In meinen Augen hat diese Frau nicht mehr alle Tassen im Schrank.“ Sarah begutachtete den Streifenwagen, und da dieser keine Beule abbekommen hatte, schlenderten beide wieder in Richtung Café.

Dort angelangt, öffnete John die Eingangstür, betrat als Erster das Lokal und hielt ihr die Türe auf.

„Ein Gentleman der alten Schule!“ Sarah lächelte ihn an. „Das gefällt mir. Danke.“

„Keine Ursache.“

Der Raum war sehr rustikal eingerichtet. Dunkles Eichenholz prägte das Gesamtbild. Eine kleine Theke mit wenigen Barhockern war der erste Blickfang, und rechts daneben standen einige Tische mit Stühlen, die jeweils auf vier Personen ausgelegt waren.

Gleich nachdem sich beide gesetzt hatten, kam der Kellner zu ihnen. „Was darf es denn heute sein, Sarah? Das Übliche?“

„Hallo, Edgar. Ja, genau, das Übliche, danke.“

„Und für Sie, Sir? Was darf ich Ihnen bringen?“

„Bitte einen Kaffee ohne Milch!“

Der Kellner verschwand hinter dem Tresen und bereitete das Bestellte zu.

„Sie sind also öfter hier, wie ich vermute?“, fragte John. „Was ist denn dem Kellner passiert?“

„Sie meinen Edgar? Ja, ich bin fast jeden Tag hier. Vor drei Jahren hatte er einen schweren Autounfall, dabei verlor er seinen rechten Arm. Es war schlimm für ihn, doch er gab seinen Job nicht auf und so serviert er jetzt alles mit einem Arm. Das dauert natürlich manchmal länger, doch alle Leute hier im Dorf mögen Edgar und darum nimmt ihm das fast keiner übel. Natürlich gibt es immer mal wieder den einen oder anderen, der sich darüber amüsiert, doch ich bewundere seinen Willen, denn es ist nicht leicht, alles nur mit einem Arm herzurichten und zu servieren. Vor allem Pete, der Besitzer des Lokals, steht voll und ganz hinter Edgar.“

John sah ihm vom Tisch aus beim Zubereiten zu. Edgar hatte eine leicht bräunliche Haut, die aber nicht von einem Solarium stammte, sondern angeboren sein musste. Wahrscheinlich war er südlicher Abstammung, denn der Hautton war gleichmäßig und passte zu seiner gesamten äußerlichen Erscheinung. Da John ihn nicht älter als 45 schätzte, musste es ein herber Rückschlag gewesen sein, seinen Arm zu verlieren. Immerhin steckte er doch erst in der Blüte seines Lebens. Das dachte John jedenfalls, denn er selbst war letztes Jahr 50 geworden und wusste, wovon er sprach. Edgar hatte jeden seiner Handgriffe für diese Arbeit perfektioniert. John war von der Art und Weise, wie dieser Kellner mit seiner Behinderung umging, sichtlich angetan. „Bemerkenswert!“

„Wie, bemerkenswert?“

„Entschuldigung, ich war in Gedanken! Ich habe kurz über Edgar nachgedacht und finde es einfach bemerkenswert, wie er das alles meistert. Aber nun kommen wir zu unserem Fall. Was haben die Ermittlungen bis jetzt ergeben?“

Sarah dachte kurz nach. „Wir stehen in diesem Fall ganz am Anfang, wenn man es denn als einen Fall bezeichnen will. Erstens gibt es einen Abschiedsbrief, zweitens gibt es keine Anzeichen dafür, dass Susan Sterling etwas zugestoßen ist, und drittens sind schon öfter junge Mädchen weggelaufen. Das ist nicht das erste Mal, und davon kann ich ein Lied singen, denn obwohl wir hier in einem Dorf leben, verschwinden immer wieder junge Leute und tauchen Wochen später wie aus dem Nichts wieder auf. Also, glauben Sie mir, das hier ist kein Fall, und es geschah kein Verbrechen.“

John hob seine Hand zum Mund und drückte mit dem Daumen und dem Zeigefinger seine Lippen zusammen. „Wie Sie meinen, Sarah! Aber ich zweifle daran, dass Susan einfach so gegangen ist. Um aber mein endgültiges Urteil zu fällen, ob es ein Fall ist oder nicht, bräuchte ich Ihre Hilfe.“ Edgar brachte in diesem Moment gerade den Kaffee für John. „Danke.“

„Bitte, Sir.“

John holte seine Packung Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine davon an. „Das habe ich gebraucht! Eine Zigarette und einen Kaffee. Ich bin wohl der einzige Engländer, der Kaffee einem Tee vorzieht. Aber zurück zu dem, wo wir waren. Ich habe mir Susans Zimmer genau angesehen. Dabei fiel mir ein Foto auf, das ihren Vater und sie als kleines Kind beim Angeln zeigt. Auf die Rückseite schrieb sie ‚Dis la vérité‘. Was das heißt, müssen Sie bitte herausfinden. Aber es war nicht die gleiche Handschrift wie die des Abschiedsbriefes, das konnte ich mit einem Auge erkennen. Die Handschrift des Briefes war gewollt ähnlich geschrieben, das fiel mir sofort auf, doch sie war auch leicht zittrig. Ob das etwas zu bedeuten hat, weiß ich noch nicht so genau, aber da kommen wir zu Ihrem dritten Punkt. Ja, Teenager laufen häufig weg, doch Susan ist keine vierzehn oder sechzehn Jahre mehr alt. Sie ist mittlerweile einundzwanzig und kam erst vor Kurzem in das Dorf zurück. Warum also sollte sie, ohne etwas zu sagen, davonlaufen? Das ergibt doch gar keinen Sinn!“

Sarah hatte währenddessen ihr Smartphone aus der Hosentasche geholt und nach dem französischen Ausdruck gegoogelt. „John, diese Worte bedeuten so viel wie ‚sag die Wahrheit‘. Vielleicht haben Sie recht. Vor allem ist uns aufgefallen, dass sie ihr Schauspielstudium in London abgebrochen hatte, nur um nach Steak­beaver zurückzukehren und in der Firma ihres Vaters zu arbeiten. Das hatte mich schon leicht stutzig gemacht und diese Worte jetzt … Ich weiß nicht so recht.“

„Wie gut, dass Sie so ein neuartiges Smartphone benutzen! Ich habe noch so ein altertümliches, darum wollte ich Sie erst fragen, ob Sie mir in der Polizeizentrale danach googeln könnten. Das hat sich ja jetzt erledigt, und ich hatte mir fast schon gedacht, dass sie ihr Studium abgebrochen hat. Das wäre meine zweite Frage gewesen. Dritte Frage – besitzt Susan eine Kredit- oder Bankomatkarte?“

In diesem Moment brachte Edgar gerade das Frühstücksei für Sarah. „Wie immer, weichgekocht, genau vier Minuten. Für mich noch immer zu wenig, aber für dich anscheinend genau richtig.“

„Danke, Edgar, vier Minuten für ein weichgekochtes Ei sind perfekt, das weißt du ja.“ Sarah griff nach dem Messer, das auf dem kleinen Teller neben dem Frühstücksei lag, und schnitt damit den oberen Teil des Eies ab. Dann nahm sie ein wenig Salz und schüttete es darüber. Mit dem kleinen Löffel, der sich ebenfalls auf dem Teller befand, löffelte sie langsam das Ei aus. „Also, wo waren wir gerade? Genau, Bankomatkarte und oder Kreditkarte. Sie hat beides, doch seit sie abgängig ist, hat sie keine von beiden benutzt.“

„Und das hat Sie nicht stutzig gemacht?“

„Nein, denn Mrs. Sterling erzählte uns, dass Susan über eine größere Menge an Bargeld verfügt, denn sie liebt ihre Kredit- oder Bankomatkarte nicht so sehr, und wenn sie im Moment bei Freunden untergekommen ist, würde sie wahrscheinlich ziemlich lange mit ihren Reserven auskommen. Natürlich war es ein Punkt, der zum Nachdenken anregte, aber einer meiner Kollegen kannte Susan ziemlich gut, denn er ist mit ihr in die Schule gegangen. Er beschrieb sie als sprunghaft und eigensinnig und meinte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt habe, dann zöge sie das auch durch. So schien es uns schon glaubhaft, dass sie nach kurzer Zeit und obwohl sie ihre Ausbildung abgebrochen hatte einfach so wegging.“

„Ich verstehe, Sarah. Eines beschäftigt mich aber noch. Sie haben mir vorher erzählt, dass schon mehrere Teenager weggelaufen sind. Von wie vielen sprechen wir da?“

„Also, das weiß ich jetzt auch nicht auswendig, aber ich könnte in den nächsten Tagen in den Akten nachsehen.“

„Das wäre wirklich gut.“

Sarah rief nach dem Kellner. „Edgar, wir würden gerne zahlen.“

Der Kellner kam zu ihnen. John holte seine Geldbörse hervor. „Das geht auf meine Rechnung, danke.“

„Nein, ich zahle meine Rechnungen noch immer selbst, ich lasse mich nicht einladen, trotzdem danke.“

Nachdem John und Susan bezahlt hatten, verließen sie das Café.

Fragend sah Sarah John an. „Und was machen wir jetzt?“

„Das ist eine sehr gute Frage. Gibt es noch weitere Verwandte der Sterlings hier in der Gegend, die Susan kennen?“

„Ja, den Onkel und Susans Tante. Sie wohnen ungefähr zwei Kilometer von der Villa der Sterlings entfernt und besitzen ein größeres Herrenhaus. Sie müssen am Anwesen der Sterlings vorbeifahren und dem Verlauf der Straße folgen, dann sehen Sie es auf der rechten Seite. Das Haus hat einen hässlichen blauen Anstrich, den man gar nicht übersehen kann.“

„Sehr gut, dann werde ich den beiden einen Besuch abstatten, und Sie fahren währenddessen zum Polizeiposten zurück und suchen mir die Akten der weggelaufenen Jugendlichen heraus.“

Sarah fuhr John zurück zum Motel und ließ ihn dort aussteigen.

„Ich komme dann so gegen 16 Uhr auf dem Polizeiposten vorbei. Denken Sie, dass Sie bis dahin die Akten gefunden haben?“

Sarah nickte. „Ja, ich denke schon. Bis später dann.“

John begab sich in sein Motelzimmer und setzte sich auf das Bett. Er holte seinen Notizblock aus der Manteltasche und kritzelte einige Zeilen in das Büchlein. Er wirkte dabei etwas fahrig, doch nachdem er fertig war und den Notizblock beiseitegelegt hatte, schien es so, als würde er sich besser fühlen. Dann stand er auf, verließ das Zimmer, stieg in sein Auto und machte sich auf den Weg zum Onkel und zur Tante von Susan. Einen kleinen Umweg nahm er aber noch in Kauf, denn er wollte das Haar, das er auf Susans Bett gefunden hatte, überprüfen lassen. Er schickte es einem alten Freund, der noch immer bei Scotland Yard arbeitete, für eine DNA-Analyse. Nachdem er beim Postamt den Brief aufgegeben hatte, fuhr er in die Richtung des Anwesens der Sterlings, denn das Haus des Onkels lag nur wenige Kilometer davon entfernt. Gerade hatte er das Anwesen der Sterlings passiert, als er auch schon das blaue Herrenhaus, so wie es ihm Sarah geschildert hatte, sah. Und die Farbe war wirklich hässlich! John nahm an, dass es wohl das einzige blaue Herrenhaus in ganz England war, denn diese Farbe stach ins Auge. Wer das verbrochen hatte, gehörte hinter Gitter! Da war sich John sicher. Er bog in die Einfahrt ein und fuhr auf das große Anwesen zu. Das Herrenhaus war im Historis­musstil gebaut, ein zweistöckiges Haus, dessen Säulen am Eingang nur zur Zierde dienten. Die Fensterläden waren weiß gestrichen, und das hässliche Blau der Mauerfarbe musste man nicht mehr erwähnen. Im Grunde war es ein rechteckiger Kasten mit schön verzierten Säulen vor dem Eingang, aber John gefiel es sonst sehr gut, denn er mochte diesen alten Stil. Ein wirkliches Prunkstück! – Dies war seine Meinung.

Vor der Tür des Hauses stand eine Frau mittleren Alters mit langen dunklen Haaren, einem kurzen Minirock und Stöckelschuhen, und winkte John zu, so als würde sie ihn schon erwarten. Doch John hatte sich gar nicht angemeldet und wunderte sich, aber er blieb kurz vor der Frau mit dem Auto stehen und stieg aus.

„Sie müssen John Down sein. Meine Schwiegermutter hat mich angerufen und gesagt, dass Sie wohl in den nächsten Tagen bei uns vorbeikommen würden.“

John hatte Mrs. Sterling gegenüber zwar nicht erwähnt, dass er den Onkel oder die Tante aufsuchen würde, aber sie konnte es sich wohl denken, dass er alle näheren Verwandten unter die Lupe nehmen würde. „Ja, ich bin John Down. Und Sie sind?“

„Ach, ich Dummerchen! Ich bin Marie, die Tante von Susan. Ich hoffe, das arme Mädchen kommt bald zurück! Hier hat sie doch alles! Ich verstehe nicht, warum sie gegangen ist, ohne etwas zu sagen.“

„Sie glauben also auch, dass sie einfach von zu Hause weggelaufen ist?“

„Ja, was denn sonst? Wir leben hier in einem beschaulichen kleinen Dorf, wer soll ihr denn hier etwas angetan haben? Nein, nein, Susan war schon immer sehr sprunghaft und ein bisschen merkwürdig. Sie erzählte oft Dinge, die nicht wahr waren.“

„Von welchen Dingen sprechen Sie?“

„Ach, sie erfand einfach Sachen über ihren Bruder oder ihre Mutter, und nachdem diese gestorben war, wurde das alles noch schlimmer. Sie war ein bisschen verrückt, müssen Sie verstehen. Vielleicht wollte sie einfach wieder mehr Aufmerksamkeit, nachdem sie die Schauspielschule nicht geschafft hatte.“

„Sie hat sie nicht geschafft? Ich habe erfahren, dass sie sie abgebrochen hat! Stimmt denn das nicht?“