Jedes Kind darf glücklich sein - Maren Hoff - E-Book

Jedes Kind darf glücklich sein E-Book

Maren Hoff

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Beschreibung

Einen glücklichen Neuanfang beim eigenen Kind kann gelingen! Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre ihres Kindes empfinden junge Eltern als große Umwälzung in ihrem Leben. Sie möchten dem geliebten Kind einen guten Start ermöglichen, sehen sich dabei aber oft mit Unsicherheiten und Ängsten konfrontiert. In Maren Hoffs Praxis kommen täglich junge Mütter und Väter, die sich nicht an den eigenen Eltern orientieren möchten – viele von ihnen haben als Kinder unter der elterlichen Erziehung gelitten und befürchten, emotionale Verstrickungen und Mikrotraumata unbewusst weiterzugeben. Die Autorin zeigt  Wege, die schmerzhaften Muster der elterlichen Erziehung zu identifizieren und einzuordnen. Anhand plastischer Fallbeispiele und mithilfe einfacher Achtsamkeitsübungen und Mentaltrainings führt sie den Leser durch die verschiedenen Phasen der eigenen, auch durch soziokulturelle Umstände geprägten Kindheitserfahrungen, bis ins Heute. Mit angeleiteten Visualisierungen, Atemtechniken und Kurzmeditationen schafft Maren Hoff einen Raum der inneren Ruhe, der es dem Leser ermöglicht, die eigene Vergangenheit entspannt zu rekapitulieren, Erlebnisse aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und diese einzuordnen. Ziel ist es, verhärtete Schuldzuweisungen zu lösen und negativ geprägte Gedankenmuster in positive umzuschreiben. Am Ende des Buches steht ein Neustart, der es den jungen Eltern erlaubt, die Erziehung des eigenen Nachwuchses befreit von alten Wunden entspannt, gestärkt und glücklich zu meistern.

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Seitenzahl: 306

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Impressum

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Ariane Hug

Lektorat: Daniela Weise

Bildredaktion: Nele Schneidewind, Simone Hoffmann

Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Christina Bodner

ISBN 978-3-8338-7677-6

1. Auflage 2020

Bildnachweis

Coverabbildung: Stocksy

Illustrationen: Claudia Lieb

Fotos: Anne Oschatz Fotografie, Hamburg

Syndication: www.seasons.agency

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Wichtiger Hinweis

Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung der Verfasserin dar. Sie wurden von der Autorin nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie ersetzen jedoch nicht den Besuch eines Arztes oder Heilpraktikers und sind kein Ersatz für eine medizinische Diagnosestellung oder Therapie. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Für meine Familie von Herzen.

Für alle Eltern und Kinder auf dieser Erde.

Für die Erde, Mutter von uns allen.

Für dich.

Du bist wundervoll. Lass dir nie etwas anderes erzählen. Schon gar nicht von dir selbst.

FÜR EINE GLÜCKLICHE BEZIEHUNG ZWISCHEN ELTERN UND KIND

Viele Eltern wollen unbedingt vermeiden, dass ihre Kinder unter denselben Erziehungsfehlern leiden wie einst sie selbst. Das ist nicht immer einfach. Es kann aber gelingen.

Dieses Buch zeigt dir, wie du emotionale Verstrickungen und schmerzhafte Muster erkennen und überwinden kannst und wie Schuldzuweisungen – ­besonders an die eigenen Eltern – aufgelöst werden können. Damit die Erziehung des eigenen Nach­wuchses befreit von alten Wunden entspannt und vertrauensvoll gelingt.

Maren Hoff arbeitet intensiv mit Müttern und Vätern, die sich in der Erziehung nicht an den eigenen Eltern orientieren möchten. Ihr Wissen und ihre Erfahrung gibt sie in diesem Buch weiter.

Mit hilfreichen Achtsamkeitsübungen, Mentaltechniken,

Einleitung

»Mitakuye oyasin.

Wir sind alle miteinander verbunden.«

VON DEN LAKOTA-INDIANERN

WIE ALLES ANFING

Ich habe Hunger und will mich bewegen. Aber ich sitze in Thailand in einem Garten auf dem Boden, es ist morgens halb acht und wir haben zweieinhalb Stunden Yoga und Meditation hinter uns. Ich soll mich nicht bewegen. Es ist heiß. Ich frage mich, wann diese Morgensession endlich vorbei ist. Unser Lehrer sitzt vor uns und spricht, während ich gegen meine unendliche Müdigkeit ankämpfe. Was hat er gesagt? Ach so, wir sollen uns vorstellen, wir könnten uns selbst gegenübersitzen, unser Alter frei wählen, und dann sollen wir mit diesem jüngeren oder älteren Selbst kommunizieren.

Wie auch immer, denke ich. Ich mache alles, aber bitte gib mir bald Frühstück und eine Toilette. Es ist alles sehr schön hier, in diesem buddhistischen Kloster, weit weg von meinem normalen Leben, aber keiner hat mir gesagt, dass einfach still zu sitzen so wehtun kann. Statt der Erleuchtung beherrschen Hunger, Müdigkeit und Schmerzen meinen Tag. Außerdem fiese Gedanken über andere: Warum sitzt die Frau neben mir so still da und lächelt, als hätte sie gerade das Geheimnis des Lebens erkannt? So glücklich kann kein Mensch beim Meditieren aussehen. Das ist unmöglich! Ich sitze einigermaßen ruhig da und halte Konversation mit mir selbst – etwas, das ich recht gut kann und eigentlich hier nicht mehr tun wollte. Hier wollte ich doch die Stille in mir finden. Ich versuche, mich zu entscheiden: Soll ich mich lieber als Großmutter oder als 14-jährige Pubertierende einladen? Wer wird mir mehr helfen? Brauche ich jetzt Weisheit, und wenn ja, werde ich die als Großmutter überhaupt besitzen? Will ich diese bockige 14-Jährige vor mir sitzen haben? Lieber nicht. Gibt es denn keine kluge Version von mir, die mich mal beruhigen kann? Ich diskutiere noch mit mir selbst, als sich plötzlich mein Ich als Sechsjährige vor mich setzt und mich anlächelt. Ich stöhne innerlich auf. Ich im Alter von sechs Jahren, das ist eine happige Angelegenheit und bestimmt nichts für diese kleine Fünf-Minuten-Meditation. Geh weg, sage ich ihr. Ich habe jetzt keine Zeit für dich. Das machen wir bitte ein andermal … oder besser nie.

Als ich sechs war, ist mein Bruder gestorben.

Die Welt aus der Sicht einer Sechsjährigen

In der Zukunft meiner Sechsjährigen, also in meiner gesamten Vergangenheit, werden wir nie wieder über ihn sprechen, es werden keine Geschichten über ihn erzählt, keine Bilder aufgehängt. Er wird aus der Familiengeschichte radiert, als hätte er nie existiert. Niemand wird meine Sechsjährige jemals fragen, wie es ihr ohne ihren Bruder geht. Sie ist ziemlich allein. Ich sehe sie an und fange an zu weinen. Es tut mir so leid, dass sie so allein ist. Dass niemand sie beschützen konnte. Allerdings sieht sie keineswegs traurig aus. Im Gegenteil. Ich wische mir die Tränen von den Wangen und sehe sie mir etwas genauer an. Sie schaut aus ihren klaren braunen Augen zurück und lächelt – ich kann es nicht anders sagen – verschmitzt. Wieso weint sie nicht? Wieso guckt sie mich so kess an, so gar nicht traurig? Fröhlich streckt sie mir ihre Händchen entgegen. Es ist nur eine ganz kleine Geste. Liebevoll, intim und natürlich. Durch diese kleine Geste verstehe ich etwas auf ganz einfache Weise: Meine Kleine war immer sicher. Das ist es, was ich in ihrem Blick lesen kann: »Mach dir keine Sorgen. Ich war immer schon sicher. Ja, das ist alles nicht schön, ich vermisse Jens, und meine Eltern sind nicht da. Aber ich bin hier. Ich sorge für mich, ich bin lebendig. Ich bin immer sicher.«

Selbst in den ärgsten Augenblicken war sie stets behütet. Bei sich selbst. In ihrem Lächeln liegt keine Traurigkeit, keine Angst, keine Einsamkeit. Weil das nicht wirklich wahr war. Weil es nur manchmal wahr war. Aber eben nicht die ganze Zeit. Meine Kleine war traurig. Und sie war fröhlich. Meine Kleine war allein. Und sie wurde liebevoll im Arm gehalten.

In ihrem Lächeln jetzt – also irgendwie offensichtlich in meinem – liegt einfach eine tiefe Gewissheit der eigenen Herzkraft und eines In-sich-selbst-geborgen-Seins. Das ist es, was sie mir sagt, bei 30 Grad, an einem Morgen irgendwo im Nirgendwo von Thailand, ganz ohne Worte: »Ich bin in mir selbst geborgen. War ich immer. Werde ich immer sein.«

In diesem Augenblick fällt in meinem Herzen ein Stein in einen tiefen See bis zum Grund und findet endlich seinen Platz. Die Wellen, die er auslöst, werden noch lange nachschwingen. Die anderen haben an diesem Morgen eine Frau gesehen, die sehr still und aufrecht saß. Und lächelte, als hätte sie das Geheimnis des Lebens erkannt. Vielleicht dachten sie sich: Das ist nicht möglich. Ist es aber. Es ist möglich.

Welche Geschichte will ich mir erzählen?

Als ich damals in Thailand auf dem Boden saß und endlich verstand, dass ich sogar als Kind sicher gewesen war, löste sich ein dicker Knoten in mir, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte. Wir kennen das: Eine Last, die auf uns lag, spüren wir erst so richtig, wenn sie von uns abfällt. Mir war klar, dass meine Sechsjährige viel hatte wegstecken müssen. Nicht, dass ich mich nicht schon vorher damit beschäftigt hätte. Nur war ich jedes Mal wieder in der Traurigkeit angekommen. Ich war Expertin darin geworden, rational zu erfassen, was damals schiefgelaufen war. Und ich hatte die Schuld dafür verschiedenen Menschen in die Schuhe geschoben. Nur: Für mein Leben hat es nicht wirklich etwas gebracht. Zwar verstand ich jetzt meine Muster, lebte sie jedoch weiterhin fröhlich aus. Ich wusste einfach nicht, was ich hätte anders machen sollen. Bis zu jenem Moment, als die ganze Geschichte, die ich mir in all den Jahren über mich selbst erzählt hatte, einfach in sich zusammenfiel. Auf einmal verstand ich, dass ich mir viele Jahre lang eine Geschichte über mich selbst erzählt hatte und mir mit dieser Geschichte meine Identität aufgebaut hatte. Das ist völlig normal, die meisten Menschen tun es, ob unbewusst oder bewusst. Wir formen unsere Identität durch unser Erleben, durch unsere Erinnerungen, durch die Umgebung, in die wir hineingeboren wurden, durch das, was man über uns sagt. Jetzt wurde mir mit einem Mal klar: Ich hatte die Wahl, die Geschichte meiner Kindheit als Geschichte mit oder ohne Happy End zu erzählen. Was damals geschehen war, konnte ich zwar nicht rückgängig machen, aber ich konnte mich entscheiden, welche Geschichte ich mir selbst weitererzählen wollte: die von dem Kind, das alleingelassen worden war. Oder die von dem Kind, das immer aufs Beste versorgt war.

GLÜCK – WAS IST DAS EIGENTLICH?

Die meisten von uns wünschen sich ein glückliches und sicheres Leben. Leider haben wir als Kinder keinen großen Einfluss auf unsere Lebensrealität. Wir sind abhängig von anderen und darauf angewiesen, wie sie mit uns umgehen, wie sie Situationen handhaben, wie sehr sie für uns da sein können. Erst wenn wir selbst Kinder bekommen und sie ins Großwerden begleiten, spüren wir, was das für eine Mammutaufgabe ist. Es ist vielleicht die schwierigste Aufgabe, die das Leben einem Menschen überhaupt stellen kann. Wir wollen unsere Kinder beschützen, für sie da sein, ihnen unsere Liebe schenken und ihnen klare Grenzen setzen. Und das unabhängig von eigenen Erlebnissen und davon, welche Schwierigkeiten wir tagtäglich zu meistern haben. Wir wollen alles richtig machen. Vor allem wollen wir eines: Unsere Kinder sollen glückliche Menschen sein und werden. Wenn wir selbst schon nicht glücklich waren, sollen es doch wenigstens unsere Kinder sein. Dabei vergessen wir, dass sich auch unsere Eltern genau das für uns gewünscht haben. Jedenfalls ist das meist so. Nur in extremen Fällen ist Eltern das Glück ihrer Kinder egal. Wenn ihnen an unserem Glück gelegen war, hatten sie jedoch oft eine ganz andere Vorstellung davon, was für uns gut und was schlecht sei, als wir selbst. Mit der Idee »Jedes Kind darf glücklich sein«, wie sie im Titel dieses Buches zum Ausdruck kommt, sollten wir also sehr achtsam umgehen. Wir dürfen uns fragen:

Was bedeutet eigentlich Glück für mich?

Was bedeutet Glück für mein Kind?

Eltern versuchen, viel bis alles mit ihren Kindern richtig zu machen. Dennoch geraten sie an ihre Grenzen. Heutzutage sind die meisten Familien aus der Unterstützung der Gemeinschaft herausgerissen und mit Betreuung, Essen, Arbeit und Haushalt auf sich allein gestellt. Dazu kommen Deadlines und Termindruck, lange Arbeitszeiten und hohe Lebenshaltungskosten, die zusätzlich Stress verursachen. Ein Kind zu begleiten, ist die volle menschliche Erfahrung. Wir können uns nicht verstecken. Vielmehr werden wir bis zur tiefsten Erschöpfung gefordert. Und wenn wir nicht mehr weiterwissen, können wir unsere Kinder nicht wieder abgeben. Wir müssen Wege finden, wo uns kein Weg möglich scheint, denn der entspannte, fürsorgliche Umgang mit den eigenen Kindern ist nicht immer so einfach, wie uns das diverse Erziehungsratgeber weismachen wollen und wie das die Gesellschaft oft von uns erwartet. Wir vergreifen uns im Ton, sind gereizt, die Toleranzgrenze sinkt, die Wut wächst. Zusätzlich sind wir gefangen in allem, womit wir selbst groß geworden sind: den sogenannten Erziehungsfehlern unserer Eltern. Und die daraus resultierenden Glaubenssätze prägen manchmal unser Leben bis heute. Unbewusst verstärken sich solche alten Muster auch noch unter Druck. Und dann soll man die beste Mama oder der beste Papa sein.

Die meisten Eltern möchten ihren Kindern von Anfang an, oft schon im Mutterleib, vermitteln, dass sie genau richtig sind, wie sie sind. Aber wie gelingt uns das, wenn wir selbst nicht glauben können, dass wir richtig sind, wie wir sind? Wie können wir Liebe unter solchen Bedingungen weitergeben?

Wenn ich hier von glücklichen Kindern spreche, dann meine ich nicht das konsumbefriedigte Glücklichsein. Das hat zwar durchaus seine Berechtigung: Kinder können sich kurzzeitig glücklich fühlen, wenn sie ein Eis bekommen haben oder das lang ersehnte Spielzeug. Aber es geht um ein tieferes, ein lebensbestimmendes Gefühl von Glücklichsein. Ich spreche von dem tiefen Glücksgefühl, das sich einstellt, wenn man sich geborgen und sicher fühlt, wenn man weiß, dass man am richtigen Platz ist und sein darf, wie man ist. Wenn man sich der eigenen Natur gemäß entfalten kann und sich dabei liebevoll unterstützt und versorgt fühlt. Um ihre Kinder so begleiten zu können, ist es essenziell, dass Eltern ihre eigenen Kindheitswunden heilen lernen und sich erlauben, mit sich selbst glücklich zu sein. Dann können wir auch mal schimpfen, ohne dass sich unser Kind sofort entwertet fühlt.

Wenn wir in uns Frieden gefunden haben – mit der eigenen Geschichte, der Familie und mit uns selbst –, können wir unseren Kindern einen friedvollen, stärkenden, unterstützenden Start ins Leben geben. So können wir Selbstwirksamkeit als Wert weitergeben. Und wir können unseren Kindern das Gefühl geben, dass es schön ist und wichtig, dass sie auf dieser Welt sind.

WUNDE UND WUNDER

Die Worte Wunde und Wunder sind im Deutschen nur einen Buchstaben voneinander entfernt. Dort, wo es wehtut, verbirgt sich oft auch das größte Geschenk, das wir uns selbst machen können. Deshalb frage ich schwangere Frauen oft: Was hindert dich daran, dich mutig, selbstsicher und vertrauensvoll mit der Geburt deines Kindes zu fühlen? Und was will geheilt werden, damit du dich so fühlen kannst? Die Geburt eines Kindes kann ein wunderbarer Anlass sein für die Frage: Wie will ich leben? Welche Werte will ich leben und wie will ich sie weitergeben? Was sind die Werte, mit denen ich groß geworden bin? Kann ich die alle unterschreiben? Will ich etwas verändern? Für mich und für mein Kind? Für die folgenden Generationen? Und nicht zuletzt geht es eben darum: Wollen wir die eigenen Wunden, die vielleicht schon über mehrere Generationen weitergegeben wurden, an unsere Kinder und Enkel weitergeben?

Wir können in jedem Augenblick für uns entscheiden, wie wir dieses Leben leben wollen. Welche Basis für uns wichtig ist. Selbst wenn der Start ins Leben holprig war: Wir haben die Macht, unseren Kindern einen anderen Start zu geben. Wir müssen nicht kreislaufartig alles wiederholen. Wir sind frei. Und unsere Kinder können es dann auch sein. So frei und glücklich, wie sie es sein wollen.

EIN LEBENSLANGER WEG

Ich sitze nicht mehr in Thailand auf dem Boden, sondern im Schwarzwald am Schreibtisch im Haus meiner Eltern und bin dabei, mit dem Schreiben dieses Buches zu beginnen. Diese Wände kennen mich. Hier habe ich getanzt, geweint, geschrien, vor Wut gegen Wände geschlagen, bis mir meine wunderbaren Freunde einen Boxsack geschenkt haben. Diese Wände können erzählen von durchwachten Nächten, von Schmerz und Traurigkeit. Sie kennen einen Teil meiner Geschichte besser als meine Eltern und meine Freunde, sie erinnern sich besser als ich mich selbst. Dieses Buch ist als Kreislauf geplant und da macht es Sinn, dass ich selbst dort beginne, wo ich vor vielen Jahren familiären Schmerz erlebt habe und von wo aus ich aufgebrochen bin, um mein Leben nach meinen Wünschen zu gestalten.

Seit ich denken kann, hatte ich die Sehnsucht, in einer heilen und liebevollen Familie zu leben. Mit 18 schien mir das kaum vorstellbar.

Ich habe keine Vernachlässigung erlebt, keine Schläge, keinen Missbrauch. Ganz im Gegenteil: Ich bin mit Singen, Kuscheln und Vorlesen groß geworden – drei wunderbaren Dingen, mit denen jedes Kind beschenkt werden sollte. Mir wurde sehr viel Liebe entgegengebracht. Meine Eltern haben sich das Beste für mich gewünscht und sie haben es mir auf vielfältige Weise immer wieder gegeben. Nur bin ich in prägenden Kernsituationen eben auch verlassen worden, mehrmals. Und weil das menschliche Gehirn sich solche Situationen leider so viel besser merkt als die vielen alltäglichen schönen Momente, entwickelten sich auf dieser Grundlage über die Jahre bei mir tief sitzende Glaubenssätze. Ich dachte, alles allein schaffen zu müssen und auf niemanden zählen zu können. Meine Angst vor Trennungen war groß und ich tat alles dafür, sie zu vermeiden. Nach außen war ich ein »Sonnenschein«, mit meiner Traurigkeit war ich meist allein. Nicht weil meine Eltern das so gewollt hätten. Sondern weil es sich im Familiengeflecht so ergab. Ich bildete mir meine eigene Welt um meinen Schmerz herum.

Mein Bruder war der Sohn meines Vaters und wuchs zwischen zwei Familien auf. Der Nähe unserer Beziehung als Kinder tat dies keinen Abbruch. Der Schmerz und die Scham über den Verlust meines Bruders erschütterte meine Familie derart, dass alle Traurigkeit unter den Teppich gekehrt wurde, um irgendwie weiterleben zu können. Als ich in der Pubertät war, gab es dann ein Zuwenig an echter Kommunikation und ein Zuviel an harten Worten. Wie viel Mut muss es meine Eltern gekostet haben, weiterzuleben! Wie viel Liebe haben sie für mich empfunden, um mich dabei zu unterstützen, gut aufzuwachsen und die Frau zu werden, die ich heute bin! Dabei haben sie selbst viel Schmerz in ihrer Kindheit erlebt. Sie haben unbewusst alte Familienmuster weitergetragen – zum Beispiel, dass sie über schlimme Dinge nicht sprechen.

Mit 17 Jahren schien es mir unmöglich, mit meinem Vater jemals ein wahrhaftiges, warmherziges Gespräch zu führen. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, eines Tages werdet ihr zusammen in Urlaub fahren, du wirst mit deinen Eltern über deinen Bruder sprechen, ihr werdet euch eure Liebe zueinander sogar mitteilen – ich hätte es nicht geglaubt. Heute sitze ich in diesem Haus und spüre: Meine Sehnsucht nach einer liebevollen Familie und einem ehrlichen, warmen Miteinander hat sich erfüllt. Und das lässt mich jeden Tag dankbar sein.

Wenn ich hier Geschichten aus meinem Leben teile, dann mit Achtsamkeit, Respekt und Liebe meinen Eltern gegenüber. Wir sind, jeder für sich und alle zusammen, einen langen Weg gegangen und ich bin froh, dass heute Liebe, Verbundenheit, Ehrlichkeit und Vertrauen unsere Beziehung prägen.

Ich kann heute sagen, dass ich mit allem, was geschehen ist, dankbar dafür bin, dass diese beiden meine Eltern sind. Wenn ich hier über unsere schwierigsten Momente schreibe, dann, um begreiflich zu machen, dass eine Versöhnung mit der eigenen Geschichte immer möglich ist. Ich danke meinen Eltern für ihr Vertrauen in mich, meine und damit auch einen Teil ihrer Geschichte teilen zu dürfen. Sie haben es wunderbar gemacht. Ich bin glücklich, dass dies meine Familie ist.

Wir könnten niemals dort stehen, wo wir stehen, wenn unsere Eltern nicht den ganzen langen Weg vor uns gegangen wären. Mag sein, dass sie es gelegentlich nicht optimal gemacht haben. In manchen Fällen haben Eltern nicht viel für uns getan. Doch selbst dann gilt: Sie haben uns das Leben geschenkt. Auch dafür können wir ihnen danken. Elternsein ist der schwerste und undankbarste Job der Welt. Ja, vielleicht gab es Situationen, die uns auf eine nicht förderliche Weise tief geprägt haben. Wir können den Eltern dafür die Schuld geben. Oder wir übernehmen selbst die Verantwortung und erkennen die Glaubenssätze, die sich in uns in frühester Kindheit und Jugend entwickelt haben, und machen uns daran, sie zu lösen und einen neuen Umgang mit uns selbst und unseren Eltern, Großeltern und Ahnen zu schaffen.

DAS LEBEN ALS LANDSCHAFT

Heute morgen bin ich durch die Landschaft meiner Jugend gewandert. Berge, Wald, Wiesen. Es ist schön hier. Während ich darüber nachdachte, was Heilung der eigenen Familiengeschichte eigentlich bedeutet, kam mir ein Gedanke. Er hatte damit zu tun, dass ich gerade lief. Es soll sich ja etwas im Inneren bewegen, wenn man sich im Äußeren bewegt. Denn festgefahrene Gedanken bewegen sich ebenfalls, Lösungen kommen in Sicht, Wut löst sich schneller und die Sorgen bleiben zurück.

Was ich dachte, war: Eine Wanderung ist nie nur schön. Es gibt Streckenabschnitte, die sind beschwerlich, steil oder steinig. Es gibt Zeiten, da läuft man vielleicht durch Regen oder hat Gegenwind. Niemand stellt dies bei einer Wanderung infrage. Es ist einfach so. Wir sind vielleicht genervt und hoffen, dass wir irgendwo ankommen, wo es uns gefällt. Manchmal denken wir: Hier war ich doch schon mal. Aber es ist nie derselbe Ort, allenfalls ein ähnlicher.

Vom Wunsch, für immer glücklich zu sein

Ich lief also und fand: Der Heilungsprozess der Familiengeschichte ist irgendwie ähnlich. Mein großer Wunsch, als ich mich auf den Weg machte, um mich mit meiner Geschichte und meinem Schmerz auseinanderzusetzen, war es, anzukommen. Dass ich eines Tages für immer glücklich sein würde und vielleicht sogar alle um mich herum glücklich machen könnte.

Seit über 20 Jahren bin ich nun auf diesem Weg. Und ich bin immer noch nicht angekommen. Sicher gab es in den letzten Jahren Stellen, an denen ich dachte: Jetzt! Jetzt haben wir es geschafft. Meine Familie und ich. Wir können miteinander sprechen, wir sind uns grundsätzlich zugeneigt. Ich habe verziehen, mir ist vergeben worden. Das fühlte sich sehr gut an. Wie ein schöner Ort auf einer Wanderung. Aber wie bei einer Wanderung ging es eben auch hier wieder weiter. Neue Herausforderungen kamen. Situationen, die niemand vorhersehen konnte. Heilung ist nichts, was irgendwann zu Ende ist. Wir haben uns vielleicht schon vor der Geburt auf den Weg gemacht und vielleicht finden wir vollkommene Heilung erst lange nach dem Tod. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, sie als wichtiges Ziel im Leben zu etablieren. Denn dieser Weg ist der einzige, den ich kenne, der das Leben langfristig leichter macht. Nicht, dass es keine schwierigen Situationen mehr gäbe oder dass sich diese auf wundersame Weise auflösen würden. Aber wir können uns auf diese Weise selbst den sicheren Boden geben, auf dem wir stehen. Indem wir die Fähigkeit erlernen, jede Situation zu unserem Besten zu wenden und Frieden zu finden, wo auch immer wir sind.

Der Weg ist nie zu Ende

Ja, es gibt Ruhepausen. Die werden immer länger. Aber es gibt immer auch schwierige Zeiten und das Einzige, was dann zählt, ist die innere Ausrichtung: Vertrauen einladen. Wissen, dass der Grund immer noch sicher ist. Einen Schritt nach dem anderen gehen. Sich an der Liebe orientieren. Einander gegenüber achtsam und zugewandt bleiben. Einatmen. Ausatmen. Weitergehen.

ÜBER DIESES BUCH

Das Buch, das Sie in den Händen halten, ist kein Ratgeber, denn ich glaube nicht, dass ein Mensch einem anderen wirklich einen Rat geben kann. Wir können Meinungen hören und vielleicht versuchen wir, sie in unser Leben zu integrieren. Aber leben können wir unser Leben nur selbst.

Der Ansatz, den ich Ihnen in diesem Buch vorstellen möchte, ist universal gültig. Zugleich habe ich ihn vor dem Hintergrund der westlichen demokratischen, kapitalistischen Welt geschrieben, in der ich lebe und die mich geprägt hat. Es sind die Geschichten von Menschen aus Mitteleuropa, mit denen ich mich bisher beschäftigt habe. Elternschaft kann sich so, wie ich sie verstehe, auf die verschiedensten Modelle beziehen: ein Elternpaar im klassischen Sinne, ein gleichgeschlechtliches Elternpaar, alleinerziehende Mütter und Väter, Stiefeltern, Adoptiveltern, Pflegeeltern, erziehende Großeltern sowie leibliche Eltern, die man niemals kennengelernt hat. Nicht zuletzt beziehe ich in meine Ausführungen alle Formen von gefühlter Elternschaft in engen Beziehungen zwischen Kind und Bezugsperson mit ein.

Egal, ob Sie dieses Buch aus der Perspektive des (mittlerweile erwachsenen) Kindes oder als Mutter oder Vater lesen: Jede zwischenmenschliche Beziehung ist von Bedeutung. Spüren Sie in sich hinein, welche Verbindungen nach Achtsamkeit, Verständnis und Heilung verlangen. Jeder Mensch geht seinen eigenen Weg und alles hat seine Zeit. Wenn ich jemanden mit meinen Methoden ein Stück weit begleiten kann, dann tue ich das aus dem Herzen. Doch ich maße mir nicht an, den Weg eines anderen Menschen zu kennen, geschweige denn, ihm oder ihr zu sagen, was die richtige Vorgehensweise wäre.

Niemand kann einen anderen retten. Das kann jeder am Ende nur selbst. Das Einzige, was für uns alle gilt und was ich jedem mit auf den Weg geben möchte, ist dies: Wir können uns tatsächlich selbst retten.

Schließlich habe ich mich gefragt, welche Ansprache sich am stimmigsten anfühlt. Manche Menschen sagen, wer schreibt denn heute noch »Sie«, andere sagen, wenn ein Autor mich mit »Du« anspricht, dann lese ich das Buch nicht. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich bewusst für das kollektive »Wir« entschieden. Denn bei diesem Thema gibt es keinen, der es besser weiß. Alle Experten, auch ich, können nur Wegweiser sein. Die wahren Experten für unsere Familiengeschichte sind wir ohnehin selbst und nur wir können alte Verwundungen heilen. Deshalb sehe ich im weiteren Verlauf des Buches von einer Trennung zwischen mir und Ihnen oder mir und dir vollkommen ab. Ich sehe es als ein Thema, das uns alle angeht und bei dem wir alle die Lösung in uns selbst tragen.

Der Prozess der Transformation

Die Idee zu diesem Buch entstand aus meiner Arbeit mit schwangeren Frauen. In den letzten Jahren kamen vermehrt Frauen, die ein Kind erwarteten und sich Stärkung in diesem Transformationsprozess wünschten, zu mir in die Beratung als Coach und Medizinfrau. Erst war ich skeptisch, in welcher Form ich hier behilflich sein könnte, denn selbst habe ich noch kein Kind auf die Welt gebracht. Aber in der weiteren gemeinsamen Arbeit kristallisierte sich eines heraus: Viele Eltern, die Kinder bekommen, tragen sich mit der Sorge, ob sie überhaupt gute Eltern sein können. Es treibt sie um, welche Erwartungen an sie gerichtet werden und ob sie diese erfüllen können. Sie wollen ihren Kindern den bestmöglichen Start ins Leben geben – und vor allem: Sie wollen es (oft) ganz anders machen als die eigenen Eltern. Beim Vertiefen dieser Prozesse wurde sehr deutlich: Wie wir Eltern sein und die Kindheit unserer Kinder gestalten wollen, hängt stark von der eigenen Kindheit ab.

Mit welchen Glaubenssätzen sind wir groß geworden?

Was tragen wir bewusst oder unbewusst durchs Leben?

Wollen wir die »Altlasten« unserer Familie und Ahnen unseren Kindern mitgeben oder nicht?

Die Vergangenheit ist geschehen und wir können sie nicht umkehren. Was getan wurde, wurde getan, was gesagt wurde, wurde gesagt. Veränderung entsteht nicht durch Umkehrung, sondern durch Bewusstwerdung und durch einen damit möglichen Perspektivwechsel.

Auch wenn wir vielleicht schon lange keinen Kontakt mehr zu unserer Familie haben – im Coaching zeigt sich, wie stark wir mit der eigenen Vergangenheit noch verbunden sind und wie tief sie uns prägt. Viele Therapeuten haben zu diesem Feld geforscht und wir können dankbar sein für ihre furchtlose Pionierarbeit. Besonders hervorzuheben ist hier die fantastische praxisnahe Arbeit von Medi und Stefan Becker sowie von Ingrid Alexander und Sabine Lück. Auch meine Arbeit beschäftigt sich nun schon seit vielen Jahren mit dem Heilungsprozess der eigenen Familiengeschichte und welches Potenzial dadurch für die Zukunft freigesetzt werden kann. Dieses Buch versteht sich als Brücke: Wir können unsere Vergangenheit heilen, um glücklicher in der Gegenwart und in die Zukunft hinein zu leben. Und das so weitreichend, dass sogar unsere Kinder davon profitieren. Veränderung ist möglich.

Die Vergangenheit heilen und der Zukunft eine neue Ausrichtung geben

In diesem Buch teile ich Mittel und Wege, mit deren Hilfe wir uns bewusst werden können, was wir verändern wollen und wie wir Vertrauen und Frieden in unserem Leben etablieren, egal, wie sich unsere Wanderung gerade gestaltet. Mit Erlaubnis der beteiligten Menschen stelle ich hier anonymisiert einige der Geschichten vor, die sie erlebt haben. Für ihr Vertrauen bin ich zutiefst dankbar.

Indem wir erkennen, in welcher Verbindung wir zu unserer Vergangenheit stehen und welche alten Gefühle wir noch nicht gelöst haben, öffnen wir die Tür für einen wirksamen Weg, um unsere Vergangenheit, unsere Wurzeln zu heilen und damit der Zukunft, unserer und der unserer Kinder, eine neue Ausrichtung zu geben. Eine, die es uns ermöglicht, auf neue Art und Weise für uns selbst zu sorgen. Dadurch können wir eine neue Freiheit erleben – im Umgang mit unserem Partner, unseren Kindern und auch mit anderen. Ganz unabhängig davon, welche schwierigen Situationen wir in der Vergangenheit meistern mussten und in Zukunft noch meistern werden. Wir müssen nicht so weiterleben wie bisher. Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit – für uns selbst und für unsere Kinder.

DIE KRAFT DER VORSTELLUNG

Wir Menschen sind seit jeher Geschichtenerzähler gewesen. Geschichten lehren, formen und prägen uns und die nachfolgenden Generationen. So wie wir beim Erzählen der bekannten Märchen oft unbewusst kleine Details verändern – der Wald wird dunkler, der Drachen furchteinflößender und so weiter –, so wird beim Erzählen der eigenen Familiengeschichte vielleicht von Mal zu Mal die Großmutter verschlossener und der Vater gefühlskälter. Es gibt Geheimnisse, halb Angedeutetes, Erlebtes, Erinnertes, Erfundenes … Wir erzählen weiter, was wir für wahr halten. Wir erklären uns selbst aufgrund unserer Geschichten über uns. Nur wenige von uns verstehen, dass wir jedes Mal, wenn wir eine Geschichte erzählen, über eine Macht verfügen, mit der wir die Welt neu erfinden können. Wir haben die Fähigkeit, alles, aber auch wirklich alles neu zu erfinden. Die erinnerte, von uns als wahr eingestufte Wiederholung unserer Familiengeschichte kann viele von uns im Kreislauf von Schmerz, Enttäuschung und unerfüllter Liebe halten. Unsere Erinnerungen formen unsere Gedanken und prägen unser Verhalten bis in die Gegenwart und Zukunft. Aber das muss nicht so sein. Wir können unsere Geschichte in jedem Moment neu erzählen. Jeder Mensch hat seine oder ihre eigene Realität. Wir können also, wenn wir wollen, unser Gehirn liebevoll austricksen, indem wir uns neue Erinnerungen und damit neue Gedanken und Gefühle schaffen. Und wir erschaffen damit auch eine neue Zukunft für unsere Kinder.

Kinder finden Anzeichen für Liebe noch im schwierigsten Verhalten der Eltern.

Da muss ich an den Kinderbuchklassiker »Anne auf Green Gables« von Lucy Maud Montgomery denken – mittlerweile auch als Netflix-Serie »Anne with an E«. Anne mit ihrem überschäumenden Temperament wächst im Waisenhaus auf und wird dort schlecht behandelt. Immer wieder bezeichnet man sie als »Müll«. Aber sie verfügt über eine Gabe: ihre große Vorstellungskraft. In ihrer Fantasie hat sie sich eine eigene Welt erschaffen. Dort haben ihre Eltern sie sehr geliebt. Sie stellt sich vor, sie sei eine Prinzessin, wertvoll und wichtig, egal, wie viel Unschönes sie erleben muss. Die Aufseherinnen sind in ihrer Vorstellung dann nicht einfach nur fies und brutal, sie sind vielmehr Aufseherinnen in einem Schloss und halten die Prinzessin gefangen. Anne macht aus ihrer schwierigen Situation ein Spiel, mit dem sie sich ihre Würde, ihre Hoffnung und ihren Sinn für Schönheit und Freundschaft bewahren kann. Ungeachtet ihrer äußeren Situation bleibt sie in ihrem Inneren heil.

Diese Geschichte steht sinnbildlich für ein Talent, das viele Kinder haben: die Begabung, sich selbst Geschichten zu erzählen, die sich wahr und real anfühlen. Kinder erfinden sich Freunde, wenn sie keine haben. Sie spielen weiter mit verstorbenen Geschwistern. Ein Teil von ihnen weiß, dass das nicht die Realität ist. Aber wenn sie spielen, fühlen sie sich besser. Als Anne älter wird, will sie wissen, wie es denn nun »wirklich« war, aber es gibt keine Unterlagen mehr zu ihren Eltern, nichts, was sie über ihre Vergangenheit wirklich wissen kann. Und sie erkennt: Sie fühlt sich viel stärker und liebenswerter, wenn sie sich einfach weiter vorstellt, dass ihre Eltern sie geliebt haben. Egal, wie die Realität war. Sie hat sich eine bessere Vergangenheit gezaubert und dabei ein einfaches Geheimnis erkannt: Sie kann sich ihre Vergangenheit selbst gestalten. Dadurch hat sie Gestaltungseinfluss auf die Gegenwart. Und bis in ihre Zukunft hinein.

Das Gehirn macht mit

Die Neurowissenschaften haben das mittlerweile auch bewiesen. Das Gehirn speichert unsere Erinnerungen an vielen Stellen, vor allem aber im Hippocampus im vorderen Teil des Gehirns. Allerdings vermag es nicht zu unterscheiden, ob eine Erinnerung tatsächlich passiert ist oder ob man sich nur kraftvolle Bilder vorgestellt hat (oder sogar schlicht geträumt hat). Sind die Bilder – ob nun real oder vorgestellt – von hoher emotionaler Bedeutung, verknüpft das Gehirn neuronale Bahnen und die Bilder haben einen prägenden Einfluss auf unser Körpergefühl, unser Verhalten und unseren Ausdruck. Da das Gehirn aber nicht unterscheiden kann zwischen Realität und Fiktion, haben wir sogar in der Gegenwart die Möglichkeit, uns eine andere Vergangenheit – oder auch eine andere Gegenwart oder eine neue Zukunft – vorzustellen.

Wenn wir das oft tun, und mit Einsatz unserer ganzen Vorstellungskraft, können wir dem Gehirn Impulse geben, die wiederum andere neuronale Bahnen stärken werden: Wir schaffen uns »fiktive« Erinnerungen, die aber eben im normalen Ablauf unser Körpergefühl, unser Verhalten und unseren Ausdruck prägen. Mit anderen Worten: Durch achtsame Vorstellungskraft in Bezug auf die eigene Vergangenheit können wir unser Gefühl in der Gegenwart und für die Zukunft dauerhaft verändern.

Wenn es also keinen faktisch prüfbaren Unterschied für das Gehirn macht, welche Geschichte, die wir uns erzählen, wahr ist und welche nicht, dann bleibt einfach nur eine Frage: Welche Geschichte ist besser? Welche Geschichte verursacht uns ein besseres Gefühl, stärkt unser Selbstbewusstsein, mit welcher Geschichte fühlen wir uns geliebt? Und: Wollen wir diese Geschichte bevorzugen?

Licht ins Dunkel bringen

Damit man etwas ändern kann, ist es allerdings sinnvoll, erst mal zu wissen, was denn gerade Stand der Dinge ist. Das heißt: Wie sieht die eigene Familiengeschichte aus? Wer gehört denn dazu? Wie heißen die Menschen? Was ist da überhaupt früher geschehen? Selbst wenn wir niemanden unserer Vorfahren kennen, so ist doch einiges an Mustern in der Erziehung unserer Eltern an uns weitergegeben worden.

Und zum anderen sind da ja auch noch die Gene, durch die man mit teilweise völlig unbekannten Menschen verbunden ist. Wenn man also seine Familienverstrickungen lösen möchte, kann es hilfreich sein, Licht ins Dunkel zu bringen und nachzuvollziehen, welche Verstrickungen existieren. Ich erlebe es gar nicht selten, dass Klienten fast kein Wissen mehr über ihre eigene Familiengeschichte haben. Krieg und Flucht haben dazu geführt, dass etliche Geschichten und Erinnerungen verloren gegangen sind. Menschen sind gestorben und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde darüber sehr wenig gesprochen, am wenigsten über die, die den Krieg nicht überlebt haben.

Falls wir gar keine Idee haben, wer außer unseren Eltern und Großeltern zu unserer Familie gehört, kann es interessant sein, sich auf die Suche zu begeben, nach Namen zu forschen und Fragen zu stellen. Oder wir lassen es bleiben, schließen Frieden mit dem Nichtwissen und konzentrieren uns darauf, uns mit dem zu beschäftigen, was uns jetzt am Herzen liegt: unsere Familie im Jetzt.

Das Wissen um unsere Vorfahren ist nicht essenziell notwendig für unser jetziges und zukünftiges Glück und unser Leben im Allgemeinen. Allerdings kann es hilfreich sein, ungefähr zu wissen, woher man kommt, um zu entscheiden, wo man wirklich hingehen möchte. Aktuelle Probleme in der Gegenwart sind oft Spiegel für Verletzungen, die wir aus unserer Kindheit mit uns tragen – und die oft im Kontakt mit denen entstanden sind, die vor uns sind beziehungsweise waren und die ihrerseits geprägt sind von denjenigen, die vor ihnen waren. Anhand unserer Vorfahren erkennen wir nicht nur Muster und Ursachen von Schmerzen. Heilen wir alte Muster und schaffen einen neuen inneren Kontakt zur Vergangenheit, der nicht von Verlust, Scham oder Angst beherrscht ist, sondern von Verständnis und Vergebung, so kann die Vergangenheit auch Kraft und Unterstützung entfalten: durch das stärkende Gefühl von Wurzeln, Sicherheit und liebevoller Zugehörigkeit.

Unsere spezielle deutsche Geschichte

In Deutschland ist ein Verbundenheitsgefühl mit den Ahnen durch unsere spezielle Geschichte sehr verpönt, denn dieses Gefühl ist schwer korrumpiert, verdreht und missbraucht worden. Es ist für uns deshalb mehr als wichtig, achtsam mit Begriffen und Gefühlen zum Thema Ahnen umzugehen. Aber niemand von uns kommt aus dem Nichts, jeder ist verbunden mit denen, die vor uns gegangen sind – so wie mit denen, die nach uns kommen werden.

Wenn wir bereits Kinder haben, dann ist uns vielleicht schon irgendwie klar: Auch wir werden einmal Ahnen sein. Was wollen wir dann weitergeben? Wie viel Verständnis, Achtsamkeit, Selbstvertrauen, Kraft zur Vergebung wollen wir verschenken? Wie gute Ahnen wollen wir einmal werden?

Denn Ahnen zu haben, kann eine Quelle der Kraft und Unterstützung sein.

Wurzeln und Prägung. Unsere Ahnen

»Walking, I am listening to a deeper way. Suddenly, all my ancestors are behind me. Be still, they say. Watch and listen. You are the result of the love of thousands.