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Eine Kommissarin, ein Anwalt, ein charismatischer Killer – nach "13 Tage" schreibt V.M. Giambanco mit "Jemand wird sterben" ihre hochklassige Thrillerserie fort. Zwar ist es Detective Alice Madison in letzter Sekunde gelungen, ihrem kleinen Patensohn das Leben zu retten, doch der Preis dafür ist hoch: Jetzt steht sie auf ewig in der Schuld von John Cameron, dem Killer, dem nie etwas nachzuweisen ist, und Nathan Quinn, Camerons ebenso gerissenem wie düsteren Anwalt. Kann Alice einen Teil der Schuld begleichen, wenn sie herausfindet, was vor 30 Jahren am Hoh River geschehen ist? Drei Jungen wurden verschleppt, zwei kehrten zurück – Quinns Bruder ereilte ein unerklärliches Schicksal. Und auch heute noch scheint jemand ein mörderisches Interesse daran zu haben, dass niemand die richtigen Fragen stellt. "Dieses souveräne Thriller-Debüt erzählt vom Zwiespalt zwischen Gesetz und Moral - knackig, vielschichtig und immer überraschend." Für Sie zu "13 Tage"
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Seitenzahl: 561
Veröffentlichungsjahr: 2017
V. M. Giambanco
Thriller
Aus dem Englischen von Elke Link
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Zwar ist es Detective Alice Madison in letzter Sekunde gelungen, ihrem kleinen Patensohn das Leben zu retten, doch der Preis dafür ist hoch: Jetzt steht sie auf ewig in der Schuld von John Cameron, dem Killer, dem nie etwas nachzuweisen ist, und Nathan Quinn, Camerons ebenso gerissenem wie charismatischem Anwalt. Kann Alice einen Teil der Schuld begleichen, wenn sie herausfindet, was vor 30 Jahren am Hoh River geschehen ist? Drei Jungen wurden verschleppt, zwei kehrten zurück – Quinns Bruder ereilte ein unerklärliches Schicksal. Und auch heute noch scheint jemand ein mörderisches Interesse daran zu haben, dass niemand die richtigen Fragen stellt …
Vorbemerkung
Gestern Abend
Drei Wochen und fünf Tage vorher
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
Danksagung
Uralte Bäume ragen dreißig Meter in die Höhe, rote und gelbe Zedern neben Balsampappeln und Weinblattahorn. Ihre Wurzeln winden sich durch tiefes, grünes, glitschiges Moos und faules Holz.
Vier Männer hintereinander. Jung genug, um in dem schwierigen Gelände einigermaßen voranzukommen, alt genug, um zu wissen, dass in ihrem Leben an diesem Tag das Unterste zuoberst gekehrt wird. Sie sprechen nicht miteinander, denn es gibt nichts zu sagen.
Der Anführer wischt sich mit einem zerfetzten grauen Lumpen den Schweiß aus dem Genick. Er zeigt auf einen abgestorbenen Ast, der aus dem Boden ragt und über den sie stolpern könnten; die anderen gehen vorsichtig um ihn herum. Er ist kein aufmerksamer Mensch. Er ist ein übler Patron, der die Sache schnell hinter sich bringen und dann so bald wie möglich den Wald verlassen will.
Die anderen folgen ihm, sie achten genau auf seine Launen und auf den unebenen Boden; sie blicken nach vorne, ohne sich jemals umzudrehen. Täten sie es, so würden sie den Jungen sehen, den der letzte Mann in der Reihe in den Armen trägt, den Jungen, der, so kommt es ihnen vor, seit Stunden nicht mehr geatmet hat. Elf, vielleicht zwölf Jahre alt, helles, welliges Haar und bleiche Lippen. Sie halten ihre Schaufeln fest in der Hand und gehen weiter.
Der Mann, der den Jungen trägt, hält den Blick auf den Rücken des Anführers gerichtet. Die dünnen Ärmchen des Jungen hängen herab, die Hände streifen den hohen Farn. Dann, urplötzlich und laut wie ein Gewehrschuss, atmet er ein und öffnet die Augen weit. Der Mann schreckt unwillkürlich zurück, und das Kind rutscht ihm aus den Armen in das weiche Moos.
Der Junge sieht nicht, wie sich die anderen umwenden, als er auf dem kühlen Boden liegt; er atmet tief, und über ihm, über den höchsten Ästen, ist der Himmel so blau, dass es schmerzt.
Detective Alice Madison von der Mordkommission versuchte, einen allerletzten Rest Ruhe in sich zu finden. Um sie herum ächzte der Wald, ein Lufthauch fuhr ihr sanft über die Schnittverletzung an der Wange.
Jetzt, genau jetzt musste es sein – mehr Zeit würde sie nie mehr haben. Sie war am Ende vor Erschöpfung und vor Angst, Vernunft und Verstand schienen endlos weit entfernt. Es lief immer, immer wieder auf die gleiche Frage hinaus: Wie weit bist du bereit zu gehen?
Sie richtete ihre Glock auf den Mann vor sich und fragte sich, ob der sanfte Abendwind Einfluss auf die Flugbahn der Kugel haben würde, ob das kleine Stück Metall tun würde, was sie von ihm verlangte, oder ob die Dämmerung ihre Treffsicherheit beeinflussen würde. Präzision war alles, was sie hatte, das Ergebnis aus Vorsatz und Entschlossenheit.
Alice Madison hatte noch niemals auf einen Menschen gezielt und geschossen, bevor sie dieses Feld betrat, und das hatte sie auf der Polizeischule auch nicht gelernt. Das Ziel stellte keine Bedrohung dar, weder für sie noch für sich selbst, noch für andere. Ihr Ziel konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Madison drückte den Abzug und wusste, es war ein Treffer, so wie der Pitcher weiß, welche Bahn der Ball nehmen wird, sobald er die Hand verlassen hat.
Alice Madison setzte sich in dem bequemen Polstersessel zurecht und verschob das Holster, das sich ein wenig in ihre rechte Seite grub. Verstohlen warf sie einen Blick aus dem großen Fenster. Der Puget Sound schimmerte im fahlen Januarlicht, das Silber kräuselte sich an manchen Stellen weiß, und in der Ferne ragte der Mount Rainier aus blauen Schatten auf.
Sie merkte, dass das Schweigen länger andauerte, als es höflich war, und wandte den Kopf. Dr. Robinson betrachtete sie.
»Keine Sorge. Ich weiß schon, die Leute kommen hierher, um sich kluge psychologische Erkenntnisse abzuholen, aber die Aussicht ist der Grund, weshalb sie bleiben«, sagte er.
Sie kannte diesen Scherz bereits von ihrem ersten Besuch vor ein paar Wochen. Genau wie damals lächelte sie auch heute ein wenig und zweifelte, ob ihm wirklich nicht bewusst war, dass er sich wiederholte.
Auf dem Schild in der Eingangshalle stand: Stanley F. Robinson PhD. Das Büro im fünfzehnten Stock war elegant eingerichtet und in gedeckten Farben gehalten.
Er war Anfang fünfzig, seine graumelierten Haare waren kurz geschnitten, und er hatte große braune Augen. Ganz nützlich für einen Psychologen, der mit Polizisten arbeitete: einigermaßen unbedrohlich, nur hin und wieder ziemlich neugierig, dachte sie bei sich.
»Wie war Ihre Woche?«, fragte er sie. Auf Dr. Robinsons Schreibtisch lagen glücklicherweise weder Blocks noch Stifte. Falls er sich Notizen machte, dann nach ihren Sitzungen.
»Gut«, antwortete Madison. »Papierkram von ein paar alten Fällen, den ich noch erledigen muss. Ein häuslicher Zwischenfall, der sich als nichtig entpuppt hat. Nichts Außergewöhnliches.«
»Haben Sie an den Vorfall im Wald gedacht? Also länger als ein paar Sekunden am Tag?«
»Nein.«
»Hatten Sie irgendwelche ungewöhnliche Gedanken oder ungewöhnliche Reaktionen während Ihres normalen Tagesablaufs? Was ungewöhnlich ist, dürfen Sie für mich definieren.«
»Nein, nichts Ungewöhnliches.«
»Irgendeine Reaktion auf Chloroform oder was anderes, das auf posttraumatische Belastung hinweist?«
»Nein.«
»Möchten Sie über ein Ereignis in der letzten Woche oder etwas ganz Allgemeines sprechen?«
Madison besaß so viel Anstand, zumindest so zu tun, als würde sie über diese Frage nachdenken.
»Eigentlich nicht«, sagte sie schließlich.
Dr. Robinson ließ sich ihre Antwort kurz durch den Kopf gehen. Er lehnte sich zurück.
»Detective, wie viele Sitzungen hatten wir bisher?«
»Das ist die dritte.«
»Genau, und Folgendes habe ich bisher erfahren: Sie sind Detective bei der Mordkommission, Sie sind letzten November Ihrem Dezernat zugeordnet worden – das war also, na ja, ungefähr vor zweieinhalb Monaten. Sie haben ein Examen in Psychologie und Kriminologie von der University of Chicago – eine gute Uni, klasse Footballteam. Ihre Akte im Seattle Police Department ist makellos. Sie verhalten sich kollegial, und in Ihrem Privatleben gibt es nichts Auffälliges. Nicht einmal eine Verkehrswidrigkeit. Ist das so weit korrekt?«
»Ja.«
»Gut. Im letzten Dezember bricht die Hölle los. Sobald sich der Rauch verzogen hat, schickt das Department Sie hierher, um sicherzugehen, dass Sie arbeitsfähig sind und bereit, zu schützen und zu dienen. Sie sind sehr offen: Sie geben zu, dass Sie nach Harry Salingers Angriff auf Sie und Ihren Partner auf Chloroform reagiert haben, aber das hat vor Wochen aufgehört. Keine Panikattacken, keine posttraumatischen Belastungsstörungen. Nichts, nach allem, was im Wald passiert ist. Der Junge, die Rettung, das Blut.«
Hier pausierte er. Madison hielt seinem Blick stand.
»Wissen Sie, wie lange ich gebraucht habe, um diese Erkenntnisse zu gewinnen?« Er wartete gar nicht erst auf ihre Antwort. »Sieben Minuten. Die restliche Zeit bekam ich nur ›gut‹ und ›ziemlich normal‹ und ›nichts Ungewöhnliches‹ zu hören.«
»Was wollen Sie von mir, Dr. Robinson?«
»Ich? Nichts. Ich bin ganz zufrieden damit, wenn Sie vorbeikommen und einfach nur die Aussicht genießen. Sie können die Pause gut gebrauchen, und ich werde so oder so dafür bezahlt. Aber eins wäre da noch: Auch wenn ich Ihnen bescheinigen werde, dass Sie wirklich arbeitsfähig sind und bereit, zu schützen und zu dienen – es ist schlichtweg unvorstellbar, dass diese dreizehn Tage im Dezember völlig spurlos an Ihnen vorübergegangen sind. Ich mache Ihnen ein paar Geschenke: Sie haben gelegentlich Alpträume, vielleicht auch eine genaue Erinnerung an den Vorfall. Sehr wahrscheinlich aber ist das nur Ihre eigene Wahrnehmung der Ereignisse und dessen, was Ihnen an Ihrer eigenen Rolle dabei Sorge bereitet. Und vor allem würde ich wetten, dass Sie sorgfältig darauf achten, nie mit Ihrem Patensohn allein zu sein, seit Sie ihn aus diesem Wald geholt haben. Wie mache ich mich?«
Madison antwortete nicht.
»Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Detective. Ein schönes Leben noch.«
Abenddämmerung. Alice Madison parkte ihren Honda Civic an der üblichen Stelle am Alki Beach. Ihre Laufsachen hatte sie in einer Sporttasche im Kofferraum, aber sie lehnte sich an die Motorhaube und atmete tief die saubere, salzige Luft ein. Die Seattle-Bremerton-Fähre fuhr gerade vorbei, verfolgt von Seemöwen. Bainbridge Island war ein blaugrüner Streifen im Wasser, und die Innenstadt von Seattle schimmerte in der Ferne.
Solange sie sich erinnern konnte, schon als frischgebackene Polizistin in ihrer frisch gebügelten Uniform, war Madison nach dem Dienst zum Alki Beach gefahren, um dort zu laufen. Der Sand unter ihren Füßen, der Rhythmus der Gezeiten nach einem harten Tag, eine körperliche Befreiung. Es war eine Konstante in ihrem Leben. Madison wusste sehr wohl, wie wenige es davon gab und wie wertvoll sie waren, und sie war dankbar dafür.
Als die dreizehn Tage vorbei gewesen waren und das Jahr gerade zu Ende, war Madison wieder an den Strand gefahren. Sie hatte ihre Joggingsachen angezogen, war losgelaufen und wurde plötzlich von einer so lebendigen, so körperlichen Erinnerung überkommen, dass sie stehenbleiben musste: Sie hatte den süßlichen Duft des Kiefernharzes noch in der Nase. Die Hände auf den Knien, bis zu den Knöcheln im Wasser, die Laufschuhe durchnässt.
Haben Sie Träume, von denen Sie mir erzählen möchten?
Ihr Arm war verheilt; der Rest würde so lange brauchen, wie er eben brauchte. Madison zog sich auf dem Rücksitz des Autos um. Die ersten Schritte machte sie noch zögerlich, aber sie ignorierte die Tatsache, dass der Waldboden unter ihren Füßen schwankte und dass es plötzlich nach Blut roch. Und sie lief weiter.
Danach ließ sich Madison mit dem Strom des Berufsverkehrs Richtung Süden treiben, die Fenster waren heruntergelassen, und ihr ausgebleichter brauner University-of-Chicago-Kapuzenpulli klebte ihr am Rücken. Sie wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, fuhr und lauschte den Lokalnachrichten im Radio, ohne an Stanley F. Robinson, PhD, zu denken.
Wir suchen unser Glück, wo es nur geht. Madison hielt auf einem Parkplatz gegenüber dem Husky Deli und streckte ihre schmerzenden Gliedmaßen aus, während sie das Auto absperrte. Bevor sie hineinging, rieb sie die Sohle ihres Turnschuhs am Randstein, um eine nicht unbeträchtliche Portion Alki Beach loszuwerden, der sich in die Rillen gemogelt hatte. Sie mischte sich unter die Kundschaft und füllte einen Korb mit Lebensmitteln für zu Hause, einem Chicken Cashew Sandwich – ohne Petersilie – und einer Brokkoli-Käse-Suppe, die es wahrscheinlich nicht bis nach Hause schaffen würde.
Als sie an der Theke stand, unterschied sie sich durch nichts von allen anderen.
»Groß oder klein?«, fragte der Mann.
»Groß.«
»Brötchen dazu?«
»Nein, danke.«
Der Mann ließ den Blick den Bruchteil einer Sekunde lang auf der fünf Zentimeter langen dünnen roten Linie über ihrer linken Augenbraue ruhen; mit der Zeit würde sie verblassen, hatte der Arzt gesagt. Madison war das damals egal gewesen, und es war ihr auch heute egal. Es machte sie nur ein wenig leichter erkennbar nach den vielen Artikeln und Medienberichten Anfang Januar.
Der Mann nickte. »Ein Eis? Karamell ist ganz frisch gemacht.«
Madison lächelte. »Heute nicht.«
Sie machte sich schon im Auto bei laufendem Motor an die Suppe, und als sie in Maplewood auf ihre Zufahrt fuhr, war der Karton leer.
Three Oaks ist ein grünes Viertel am südwestlichen Rand von Seattle, auf der einen Seite das ruhige Wasser des Puget Sound, auf der anderen Wälder und freistehende Häuser in gepflegten Gärten.
Madison parkte vor dem Haus. Mit der Sporttasche über der Schulter und der Einkaufstüte auf dem Arm sperrte sie auf, schlüpfte aus den sandigen Turnschuhen und schob die Tür sachte mit einem Fuß zu.
Sie tappte in die Küche und packte die Einkäufe aus. Im Dunkeln durchquerte sie das Wohnzimmer und ließ frische Luft durch die Terrassentür herein. Der Anrufbeantworter blinkte rot. Sie ignorierte ihn und machte es sich in einem Korbsessel auf der Veranda gemütlich. Die Füße legte sie auf das Holzgeländer und wickelte das Sandwich aus.
Der Garten führte hinunter zu einem schmalen Strand, der vor den ans Wasser grenzenden Grundstücken lag; hohe Tannen auf beiden Seiten funktionierten besser als ein Zaun. Im Halbdunkel betrachtete Madison die Pflanzen und Sträucher: Bald würden sie zu einem neuen Lebenszyklus erwachen – die japanischen Ahorne, die Magnolien –, das alles hatten ihre Großeltern gepflanzt und gepflegt.
Madison hatte keine Ahnung vom Gärtnern, aber sie jätete Unkraut, goss, schnitt zurück und sorgte dafür, dass alles weiterhin gedieh, denn ihre Großeltern waren nicht mehr da, um für die Pflanzen zu sorgen. Sie fürchtete nur, gute Absichten wären auf Dauer kein Ausgleich für Unwissenheit. Zumindest in ihrem Beruf war das meistens so.
Als die Sterne schließlich hell am Himmel strahlten, ging Madison nach drinnen. Ihre Glock verschwand samt dem Holster unter dem Bett, und ihre Reservewaffe – ein kurzläufiger Revolver – war geölt und trocken abgefeuert. Madison zog sich die Jogginghose aus und gönnte sich eine lange, heiße Dusche.
Die Nachricht stammte von Rachel: »Nächsten Monat feiern wir Tommys Geburtstag. Hoffentlich schaffst du es.« In ihrer Stimme lag nichts als Liebe und Freundlichkeit.
Sie haben gelegentlich Alpträume, vielleicht auch eine genaue Erinnerung an den Vorfall. Sehr wahrscheinlich aber ist das nur Ihre eigene Wahrnehmung der Ereignisse und dessen, was Ihnen an Ihrer eigenen Rolle dabei Sorge bereitet. Und vor allem würde ich wetten, dass Sie sorgfältig darauf achten, nie mit Ihrem Patensohn allein zu sein, seit Sie ihn aus diesem Wald geholt haben.
Ihrer eigene Rolle dabei. Madison war sich nicht ganz sicher, ob sie verstand, worin ihre eigene Rolle dabei bestanden hatte. Sie war immerhin so ehrlich, sich selbst einzugestehen, dass es in dieser Nacht Augenblicke gegeben hatte, die sie wahrscheinlich nicht voll und ganz verstehen wollte. Es war ein Schleier aus Angst und Wut, wie viel jeweils wovon, das wusste sie nicht genau.
Tommy wurde bald sieben. In jener schrecklichen Nacht hatte sie ihm Blackbird vorgesungen, und er war zu ihnen zurückgekommen, zu seinem Leben, seinem roten Fahrrad und seinen Jungsspielen. Ihr Patensohn wurde sieben, und Madison suchte verzweifelt nach einer Ausrede, nicht zu der Feier zu gehen. Vergeblich.
Wie an jedem Abend seit jenem Tag im Dezember galten ihre letzten Gedanken zwei Männern: Der eine saß im Gefängnis, eingeschlossen hinter Mauern und Metalltüren, bewacht von bewaffneten Vollzugsbeamten, und war dennoch erschreckend freier als jedes menschliche Wesen, dem sie jemals begegnet war; der andere steckte im Gefängnis seiner Verletzungen, irgendwo hinter den Gängen und den stillen Räumen tief im Inneren eines Krankenhauses ein paar Meilen entfernt. Durch sein Opfer konnte Tommy bald seinen siebten Geburtstag feiern. Sie konnte nicht an den einen ohne den anderen denken.
Madison schloss die Augen und hoffte, der Schlaf würde bald kommen.
Unter dem Bett, im Safe, lag unter ihrer privaten Waffe eine säuberlich zusammengefaltete Seite aus der Seattle Times.
BLUERIDGE MÖRDER GEFASST
In den frühen Morgenstunden des 24. Dezember konnte Seattle endlich aus seinem dreizehn Tage andauernden Alptraum erwachen. Harry Salinger, der Hauptverdächtige im Mordfall James und Annie Sinclair und ihrer beiden Söhne, wurde von Detective Alice Madison von der Mordkommission des Seattle Police Department an einer ungenannten Stelle im Hoh River Forest festgenommen.
Mr. John Cameron, gegen den anfänglich wegen des Verbrechens ermittelt wurde, und sein Anwalt, Mr. Nathan Quinn von der Kanzlei Quinn Locke & Associates, waren ebenfalls vor Ort. Ersterer wird ohne die Möglichkeit, gegen Zahlung einer Kaution freizukommen, wegen versuchten Mordes im Gefängnis festgehalten. Mr. Salinger, wohnhaft in Everett, erlitt lebensbedrohliche Verletzungen und steht in einer sicheren medizinischen Einrichtung unter Bewachung.
Mr. Salinger wird außerdem der Entführung und vorsätzlichen Gefährdung von Thomas Abramowitz, 6, dem Patensohn von Detective Madison, sowie des Angriffs auf Detective Sergeant Kevin Brown und Detective Madison früher im Dezember beschuldigt.
Das Seattle Police Department hat noch nicht bekanntgegeben, wann Det. Sgt. Brown wieder in den aktiven Dienst eintreten wird.
Mr. Cameron und Mr. Sinclair verbinden tragische Ereignisse, die sie als Kinder vor fünfundzwanzig Jahren durchmachten. Drei Jungen aus Seattle waren damals im Hoh River Forest in Jefferson County entführt und ausgesetzt worden.
Nathan Quinn hielt die linke Hand hoch und bewegte die Finger. Einwandfrei. Keine Narben, keine Schmerzen. Er stand auf der Lichtung im Hoh River Forest; er sah die Krümmung jedes Astes, meilenweit gab es nichts als Wald und sich dahinschlängelnde Bäche. Die Luft blies ihm sanft über die Haut, die Sonne schien schräg zwischen den Fichten hindurch. Ein warmer, sonniger Augustnachmittag. Alles war gut, alles war friedlich.
Ein Flüstern im Gras hinter ihm, Quinn drehte sich um.
Ein Junge beobachtete ihn vom Waldrand aus. Zwölf Jahre alt, helle Locken und bleiche Lippen. So bleich.
»David?«
Der Junge war barfuß.
»David?«
Nathan Quinn kam ruckartig zu Bewusstsein, als die Wirkung des Morphiums nachließ und er sich erinnerte, dass er im Krankenhaus lag und sein Bruder seit fünfundzwanzig Jahren tot war.
»Mr. Quinn.« Die Stimme der Krankenschwester drang durch den dumpfen Schmerz, der seinen Körper wieder umfangen hatte. »Da draußen sind Polizeibeamte, die mit Ihnen sprechen möchten. Wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen.«
Nathan Quinn hielt die linke Hand hoch: Sie war vollständig eingebunden, und als er die Finger bewegte, schoss ihm der Schmerz durch den ganzen Arm. In den letzten vier Wochen hatte er niemanden gesehen außer Ärzten, Schwestern, zwei Detectives vom Seattle Police Department, die seine Aussage aufgenommen hatten, und Carl Doyle, seinen Assistenten bei Quinn Locke & Associates. Alle anderen waren weggeschickt worden, ohne Ausnahme. Nach zwei Wochen im künstlichen Koma hatte er kaum genug Kraft, um zu atmen.
»Sie kommen aus Jefferson County«, sagte die Schwester.
»Ja«, antwortete er. »Ich weiß.«
Es war Samstag, und Madison hatte dienstfrei – was selten vorkam. Ihre freien Tage liefen in letzter Zeit immer nach einem bestimmten Schema ab: der Anruf, die Fahrt, der Austausch von Informationen, der zweite Anruf. Madison sah auf die Uhr – es war die Uhr ihres Großvaters: 8:25 Uhr. Genug Zeit, noch eine Ladung Wäsche einzuschalten; sie hob ihre Joggingsachen vom Boden auf und stopfte alles, was noch im Wäschebehälter lag, dazu.
Sie zog eine schwarze Jeans, ein dunkelblaues Shirt und Lederstiefeletten an. Ihr Handy klingelte gerade, als sie die Kurzwaffe in ihr Knöchelholster steckte.
Sie nahm es von ihrem Nachttisch.
»Madison«, sagte Lieutenant Flynn.
»Sir.« Madison erstarrte, die Hose steckte noch in ihrem Stiefel. Ihr diensthabender Kommandant würde sie kaum an ihrem freien Tag zu Hause anrufen, um ein bisschen zu plaudern.
»Gerade kam ein Anruf aus Jefferson County. Die Park Police hat vor vier Tagen menschliche Überreste gefunden, etwa eine Meile von der Stelle entfernt, wo Sie waren. Sie haben so lange gebraucht, sie zu bergen.«
Madison wusste, was kommen würde, noch bevor es ausgesprochen war.
»Ein Kind. Die Überreste sind Jahre alt.«
»David Quinn«, flüsterte sie.
»Gut möglich. Die County Police besorgt gerade eine neue DNA-Probe von Nathan Quinn. Bald wissen wir es.«
»Die Kinder sind in Seattle entführt worden. Es ist unser Fall.«
»Ich weiß. Wenn es sich um David Quinn handelt, schicken sie die Überreste zu uns in die Rechtsmedizin, und wir holen sie dort ab.«
»Vielen Dank für die Information.«
»Es ist schlimmer, als wir dachten.«
»Was meinen Sie damit, Sir?«
»Der Schädel weist Spuren von Verletzungen auf.«
Madison rief sich die Einzelheiten in Erinnerung, die sie aus den Zeitungen hatte.
»Nein, David Quinn litt an einer angeborenen Arrhythmie. Bei der ursprünglichen Untersuchung …«
»Madison, wenn dieses Kind David Quinn ist, dann war es kein Unfalltod. Er wurde durch einen stumpfen Schlag auf den Kopf getötet.«
»Das ist …« Sie rang nach den richtigen Worten.
»Ich dachte, Sie würden es ihm sicherlich gerne persönlich sagen.«
»Ja, ich mache mich sofort auf den Weg.«
»Eine schöne Art, seinen freien Tag zu verbringen.«
Fynn hatte gerade das Gespräch beendet, als das Handy wieder klingelte.
»Doyle hier.«
»Carl. Wie geht es Ihnen?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, Detective. Und Ihnen?«
»Ich habe es gerade erfahren; mein Chef hat mich angerufen.«
»Es soll ein paar Tage dauern, bis es bestätigt ist. Müssen Sie mitschreiben?«
»Nein, schießen Sie los.«
»Blutdruck normal, die Abstriche waren sauber – keine Infektion. Die Physiotherapie diese Woche war die Hölle – wie erwartet –, aber es geht vorwärts. Beim Sehtest kein Unterschied zur Zeit vor dem Vorfall. So weit, so gut. Wegen der Teilentfernung der Milz bekommt er sehr starke Antibiotika, sie wollen die Dosis nach und nach verringern und dann sehen, wie der verbliebene Teil der Milz reagiert. Kein Fieber, keine ungewöhnlichen Werte bei der Blutuntersuchung.«
»Danke, Carl.«
»Sie peilen die Besuchszeit um zehn Uhr an?«
»Ja.«
»Sagen Sie es ihm?«
»Ja, er hat ein Recht, es zu erfahren, bevor es in den Nachrichten kommt.«
»Wir reden danach.«
Madison schlüpfte rasch in einen Blazer und schloss die Haustür ab. Auf der Fahrt konnte sie sich innerlich vorbereiten. Wofür immer es gut sein mag.
Sie hatten fünfundzwanzig Jahre gebraucht, um ihn zu finden, aber nun kam David Quinn endlich nach Hause. Er war mit zwei Freunden entführt, in den Hoh River Forest gebracht, mit einem dicken Seil an einen Baum gefesselt und dort nach Atem ringend stehen gelassen worden, bis er ohnmächtig wurde. Dann hatten die Männer ihn mitgenommen und die anderen Kinder in der herannahenden Nacht zurückgelassen.
Niemand war je wegen der Entführung angeklagt worden, niemals war ein Grund dafür gefunden worden. Es gab keine Leiche, keine Forensik, keine Chance auf eine Strafverfolgung.
Die Kinder waren in den Wald gebracht worden, zwei waren lebend wieder herausgekommen. Einer, James Sinclair, sollte ein guter Mensch werden, eine Familie gründen, um dann im letzten Dezember durch die Hand eines Wahnsinnigen zu sterben. Der andere sollte ein wenig … anders werden.
Madison drückte aufs Gas, in Richtung King County Justice Complex und John Cameron, dem letzten Überlebenden der Hoh-River-Entführung.
Der King County Justice Complex ragte hinter einem Zementparkplatz auf und vermittelte der Welt genau, was er war: eine Haftanstalt für 1157 erwachsene Insassen, die auf ihre Verhandlung warteten oder gemäß den Weisungen der Washington State Guidelines Commission verurteilt worden waren.
Madison vergewisserte sich, dass nichts mehr sichtbar im Auto lag, und ging Richtung Besuchereingang. Mit ihr warteten ein paar andere Leute und Familien auf die Besuchszeit um zehn Uhr, eine stille, ernste Gruppe mit ein paar traurigen Kindern. Die Sonne trug wenig dazu bei, sie im Schatten der fast sieben Meter hohen Mauer zu wärmen.
Madison hätte ihre Waffe zu Hause im Safe einschließen können, um sie nicht am Empfang abgeben zu müssen, aber sie war Polizistin. Sie trug ihre Dienstmarke, sie trug eine Waffe.
Eine junge Frau in einem filigran gemusterten Kleid kam direkt auf Madison zu, sobald sie den Empfangsbereich betrat.
»Detective Madison, hätten Sie kurz Zeit? Der stellvertretende Gefängnisdirektor würde Sie gerne noch vor Ihrem Besuch sprechen.«
Mitte zwanzig, sanfte Stimme, die blonden Haare zu einem Knoten gesteckt. Sie hätte in einer Stadtbibliothek Bücher und Lutscher austeilen können.
»Natürlich.«
»Karen Hayes.« Die junge Frau führte sie durch einen Seitengang. »Ich bin die Assistentin des ersten und zweiten Direktors.«
Madison war noch nie in diesem Teil des Gefängnisses gewesen. Es sah aus wie in jeder ganz normalen großen Firma: Leute, die im Büro saßen und tippten, Teppichboden, Wasserspender. Nur dass sich hinter dem kleinen Geranientopf auf Karens Schreibtisch etwa dreiundzwanzig abgeschlossene Metalltüren befanden. Dahinter standen, gingen und schliefen Männer, die anderen Menschen das Leben genommen und ihren Opfern Dinge angetan hatten, die sie den Tod herbeiwünschen ließen.
Die Angestellten und Sekretärinnen organisierten ihren Tagesablauf, ihre zahnärztlichen Untersuchungen, ihre Bewährungsausschüsse und ihre Speisepläne – alles in diesen hell erleuchteten Räumen, in denen es nach Sandelholz und Apfel duftete.
Madison konnte nicht anders, als in ihre Gedanken einzudringen, und folgte ihnen in dunkle Gassen. Trotz des Sandelholzdufts spürte sie ihre Nähe wie den metallenen Lauf einer Waffe zwischen den Schulterblättern.
»Detective Madison.« Der stellvertretende Direktor hielt ihr seine Bürotür auf. In seinem weißen Hemd und der burgunderroten Krawatte sah er aus wie ein gutmütiger Schuldirektor; das Sakko hing auf einem Ständer.
»Will Thomas, stellvertretender Direktor des KCJC.«
Er drückte ihr einmal die Hand und winkte sie zu einem Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Ich dachte, wir sollten – wie drücke ich das am besten aus – die Kommunikationskanäle öffnen.«
Madison hatte keine Ahnung, was er meinte; sie reagierte sofort instinktiv auf jegliche Art von Amtssprache und hoffte, ihre angeborene Höflichkeit würde standhalten.
»Sie sind hier, um John Cameron zu besuchen.«
Darum ging es also.
»Richtig.«
»Sie gehören nicht zur Familie und sind nicht mit ihm befreundet.«
»Nein.«
»Sie sind nicht seine Anwältin, und Sie sind nicht in polizeilichen Angelegenheiten hier.«
»Nein.«
»Sie haben ihn regelmäßig besucht, seit er Ende Dezember hierher gebracht wurde. Ihm wird neunfacher Mord vorgeworfen, er hat eine Anzeige wegen Körperverletzung, und man hat ihm die Entlassung auf Kaution verweigert. Er ist recht gefragt. Seit seiner Festnahme waren nicht nur FBI-Agenten aus LA da, um ihn zu vernehmen, sondern auch diverse Beamte der DEA und des ATF – ich weiß gar nicht, wie viele Anfragen wir außerdem noch hatten. Er hat jede einzelne abgelehnt. Ein gefragter Bursche, wenn eines nicht wäre.« Der stellvertretende Direktor Thomas lehnte sich zurück und sah Madison an.
»Er hat kein einziges Wort gesagt. Zu niemandem. Außer«, er lächelte kurz, »außer zu Ihnen.«
Madison dachte an eine Lichtung im Wald am Hoh River zurück, in den frühen Morgenstunden: Tommy, kaltgefroren in ihren Armen, Nathan Quinn, blutüberströmt zu ihren Füßen, und John Cameron vor ihr, als bestünde er aus nichts als der Nacht, die sie umgab.
»Wenn Sie gehen wollen, dann tun Sie es jetzt. Wenn Sie bleiben, sagen Sie weder zu mir noch zu sonst jemandem auch nur ein Wort. Verstehen Sie?«
»John Cameron hat sich entschieden, am Tatort zu bleiben, weil Quinn schwer verletzt war, obwohl er wusste, dass die Polizei unterwegs war. Quinn hat sich die Verletzungen zugezogen, während er meinem Patensohn das Leben gerettet hat. Deshalb bin ich hier.«
»Ich verstehe. Wie geht es Mr. Quinn?«
»Er macht Fortschritte«, antwortete Madison. »Langsam.«
»Wie geht es Harry Salinger?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Harry Salinger war in ihr Leben eingedrungen und hatte es beinahe zerstört; Cameron hatte ihn in dieser Nacht eher tot als lebendig am Flussufer zurückgelassen. Das Justizsystem mochte Cameron wegen versuchten Mordes festhalten, aber Madison selbst hatte keinen Namen für das, was er Salinger angetan hatte.
»Detective, ich stelle mir das KCJC gerne als Schiff vor, als sehr großes Schiff. Manche Leute kommen und gehen, so wie Sie heute, aber andere, wie Mr. Cameron, kommen, um eine sehr lange Zeit hierzubleiben. Eine lange Fahrt, sozusagen. Ich würde diese Reise gerne so ruhig wie möglich verlaufen lassen. Für ihn genauso wie für alle anderen hier. Sie wissen, dass er nicht bei den normalen Insassen untergebracht ist?«
»Ja, das weiß ich.«
»Zwei Tage nach seiner Ankunft stiegen die Gewalttaten unter den Insassen um zehn Prozent an. Allein weil sie wussten, dass er hier war.«
Madison war klar, dass Cameron nicht zu seinem eigenen Schutz isoliert wurde.
»Es gibt eine große Zahl von Männern, die es nicht erwarten können, sich ihm gegenüber zu beweisen, und das können wir hier leider überhaupt nicht brauchen. Da Sie also der einzige Mensch sind, mit dem er spricht, wollte ich nur sichergehen, dass wir dieselbe Einstellung haben.«
»Wir tauschen keine Kochrezepte aus, Sir. Ich kenne den Mann kaum.«
»Trotzdem«, sagte der stellvertretende Direktor. »Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
Kein gutmütiger Schuldirektor, eher ein Biologielehrer, der gleich einen Frosch seziert.
»John Cameron wurde nicht festgenommen, Mr. Thomas«, sagte Madison. »Er wurde nicht geschnappt. Er ist hier, weil er sich dafür entschieden hat. Solange das alle im Kopf behalten, sollten Sie keine Probleme bekommen.«
»Warum sollte er sich für das Gefängnis entscheiden?«
»Weil er Quinn nicht alleinlassen wollte, solange er um sein Leben kämpfte.«
»Vielleicht überschätzen Sie seine persönliche Beteiligung an der Situation und unterschätzen das Sicherheitssystem dieser Einrichtung. Das hier ist keine Frühstückspension auf den San Juan Islands.«
»Vielleicht könnte Harry Salinger etwas dazu sagen, wie persönlich beteiligt sich Cameron fühlte, als Salinger James Sinclair und seine Familie ermordet hat. Und was das Sicherheitssystem hier betrifft, nichts würde mich glücklicher machen, als zu wissen, dass ich es unterschätzt habe.«
Sie musterten einander einen langen Augenblick. Madison sah einen Mann mit ergrauendem rotblondem Haar und einem Schreibtisch ohne jegliche Familienfotos, einen Mann, der eine Institution am Laufen halten musste, wo Männer aus jedem beliebigen Grund jedem anderen alles nur Denkbare antun würden.
»Wenn Sie mich fragen«, sagte sie, »hat Cameron nicht das Gefühl, sich vor irgendjemandem beweisen zu müssen. Er ist nicht eitel; er wird sich nicht bemühen, Unruhe zu stiften. Aber wenn jemand – wenn sich irgendjemand zwischen ihn und sein Ziel stellt, dann kann man ihn nicht aufhalten, nicht ohne extreme Konsequenzen für beide Seiten.«
»Was ist, wenn er es sich anders überlegt und nicht mehr bleiben will?«
Madison erhob sich. »Wir können nur hoffen, dass es nicht dazu kommt.«
Als Madison John Cameron zum ersten Mal begegnet war, war sie ihm in einen dunklen Wald gefolgt und hatte gewartet, unbewaffnet, nur um mit ihm zu sprechen. Beim zweiten Mal war er bei ihr zu Hause eingebrochen, und sie hatte nicht einmal gemerkt, dass er da war. Beim dritten Mal hatten sie Harry Salinger durch den Hoh River Forest gejagt, den Mann, der seinen Freund getötet und ihren Patensohn entführt hatte.
Wenn John Cameron draußen in Freiheit herumliefe, würde sie zu denjenigen gehören, die ihn aufzuspüren versuchten. Wenn sie diejenige wäre, die zwischen Cameron und einem seiner Ziele stünde, er würde nicht zögern, das Hindernis zu beseitigen. Wenn es Wörter für diese Art von Bekanntschaft gab, so kannte Madison sie nicht.
Wie immer trafen sie sich in einer gesonderten Zelle, abseits vom Trubel im Besucherraum und der unverhohlenen Neugier von Insassen und Fremden. Madison hatte ihre Dienstmarke und ihre Waffe abgegeben, während die Wärterin sie begutachtete, als wäre sie ein nicht gezündeter Sprengkörper.
Man hatte sie abgetastet und ihr die Sachen abgenommen, und nun stand sie in einem schmucklosen Raum, bestehend aus Metallstangen in einem größeren Raum; ein verkratzter Tisch war mit dem Boden verschraubt, zwei Stühle, die in den Fünfzigern in irgendeiner Gefängniswerkstatt hergestellt worden waren, vervollständigten den Aufbau.
Die Tür ging auf. Zwei bewaffnete Wärter kamen herein, einen großen Mann im orangefarbenen Overall zwischen sich. Das bedeutete, dass er auf seinen Prozess wartete und ihm keine Kaution gewährt wurde; es hieß: Gewaltverbrechen.
Madison wandte sich zu ihm um.
Die Akte verriet ihr, dass er 37 Jahre alt war, sechs Jahre älter als sie selbst, und dass die vier schimmernden Narben, die sich über seine rechte Hand zogen, ein Andenken an die Stunden waren, die er im Alter von zwölf mit James Sinclair und David Quinn an einen Baum gekettet verbracht hatte. Die weiteren Zahlen waren unerbittlich: fünf tote Männer an Bord der Nostromo, drei Drogendealer in LA, ein Dealer in Seattle. Neun mutmaßliche Morde: Nicht einer davon hatte auch nur annähernd zu einer Anklage geführt.
Die Akte verriet Einzelheiten und Daten und Todeszeitpunkte, aber sie konnte unmöglich vermitteln, wie es war, im selben Raum wie dieser Mann zu stehen. Die Tatsache, dass sie sich in einem Gefängnis befanden, war nebensächlich. Er war ein Raubtier, und als der Blick seiner bernsteinfarbenen Augen sie traf, spürte sie die vertraute Kälte in der Magengrube.
»Detective.«
»Mr. Cameron.«
Er trug keine Handschellen. Die beiden Wärter zogen sich wortlos zurück und schlossen die Gittertür mit einem metallischen Kratzen. Madison sah sie in dem schwachen Licht, sie standen zu beiden Seiten des Ausgangs; ihre Waffen – und ihr Wunsch, überall anders als hier zu sein – waren nicht zu übersehen.
Man hatte ihm die dunklen Haare, wie im Gefängnis üblich, kurz geschnitten, aber abgesehen davon, konnte sie keine Veränderungen ausmachen. Er sah aus, als wäre er gerade hereinspaziert und könne genauso einfach wieder hinausspazieren. Nur eines war anders, wie ihr auffiel – und das würde niemand außer ihr bemerken: Sie hatte Cameron mit Nathan Quinn zusammen gesehen, und da war ein Funken Menschlichkeit gewesen, Wärme. Dieser Cameron hier war völlig verschlossen.
Sie nahmen Platz.
Madison sammelte sich. Er wartete. Dieser Besuch würde anders sein als sonst.
»Ich habe gerade mit Doyle gesprochen.« Sie schloss einen Moment die Augen und rief sich die Einzelheiten zurück. »Blutdruck normal, die Abstriche sauber – keine Infektion; mit der Physiotherapie geht es vorwärts, aber mit Schwierigkeiten. Der Sehtest war in Ordnung, keine Einbußen beim Sehvermögen. Sie wollen die Antibiotika für die Milz nach und nach reduzieren und sehen, wie sie sich verhält. Kein Fieber. Blutwerte in Ordnung.«
John Cameron sah ihr in die Augen. Sein Blick war sehr direkt.
Madison fragte sich, was er während dieser Besuche wohl über sie gelernt hatte und wie er das eines Tages, außerhalb der Zelle, verwenden würde.
»Danke, Detective.« Er stand auf und war mit einer einzigen schnellen, leisen Bewegung schon fast bei der Tür.
»Da ist noch etwas.«
Er wandte sich um.
Sie hatten nie darüber geredet, und soweit Madison wusste, hatten auch die Jungen seinerzeit kaum darüber gesprochen.
»Etwa eine Meile von der Lichtung entfernt …« Es war nicht nötig, näher zu erläutern, wo das war, nicht diesem Mann. »… hat die Park Police menschliche Überreste gefunden. Ein Kind. Möglicherweise vor über zwanzig Jahren vergraben.«
Etwas kam und ging in Camerons Augen. Ein Gedanke, vielleicht Hoffnung. Madison konnte es nicht sagen, und doch war sein Fokus auf sie beinahe greifbar.
Fünfundzwanzig Jahre lang hatten alle geglaubt, der Tod des Jungen sei ein Unfall gewesen. Man hatte ihnen die Augen verbunden, sie hatten gehört, wie er erstickte. Als hätte dieser Tag nicht schon genug Unheil mit sich gebracht.
»Man hat ein stumpfes Schädeltrauma gefunden, das durchaus zum Tod geführt haben könnte«, fuhr sie fort.
John Cameron stand starr da. Da waren Erinnerungen, Madison war sich sicher.
»Sie haben gerade eine neue DNA-Probe von Quinn genommen«, schloss sie.
Es gab keinen Grund, noch weiterzusprechen, und bevor sie Atem schöpfen konnte, stand er bereits an der Tür, und das Schloss öffnete sich scheppernd. Die Besuchszeit war vorüber.
Madison lehnte sich zurück und schaute zur Decke, ein feines silbernes Netz vor vielen Schichten Beton. Eine schöne Art, seinen freien Tag zu verbringen.
Der stellvertretende Gefängnisdirektor Thomas sah auf die Uhr. Detective Madisons Besuche dauerten nie lange, und er wollte sichergehen, dass er den Wärtern ausreichend Zeit gelassen hatte, John Cameron zurück in seine Zelle zu bringen. Und er würde ihnen auch noch zusätzlich Zeit geben, bevor er sich zu einem Routinegang durch die Sicherheitstrakte wagte.
Eines hatte er Detective Madison verschwiegen. Es hatte am dritten Tag nach Camerons Ankunft angefangen. Ein anderer Insasse im selben Trakt hatte ihn vorbeigehen sehen und angefangen, gegen die Gitterstäbe seiner Zelle zu trommeln, schnelle Schläge wie auf ein Becken. Andere hatten mitgemacht, ein ganzer Trakt, zwei verdammte Stockwerke, hatten mit allem, was sie in die Hände bekamen, gegen die Gitterstäbe geschlagen, ein gleichmäßiger, hypnotischer Marsch, der immer lauter wurde und sich wie ein übler Wind von Trakt zu Trakt ausbreitete.
Seither, jeden Tag, jedes Mal, wenn John Cameron seine Zelle verließ – um in den Hof zu gehen, um seinen Anwalt zu treffen, um zu duschen, um die Polizistin zu sprechen – hob dieser Wall aus Lärm an, und die Insassen hörten nicht auf, bis sie den letzten Rest ihrer Energie verbrannt hatten. Keine Stimmen, nur das Gehämmer.
Die Wärter hatten untereinander ihre Schichten getauscht, um zu vermeiden, da zu sein, wenn Cameron aus seiner Zelle geholt wurde, und Will Thomas beschäftigte sich dann mit Papierkram, sah auf die Uhr und trödelte.
Im Gegensatz zu den Insassen verzog sich der Lärm dorthin, wo es ihm gefiel, suchte sich die Stelle, wo die Nerven eines Wärters am dünnsten waren, und bohrte sich tief in den Knochen hinein.
Madison rief Doyle vom Auto aus an.
»Wie hat er es aufgenommen?«, fragte er sie.
»Fragen Sie mich ernsthaft, was dieser Mann denkt?«
»Nein, mein Fehler.«
Madison wollte ihn fragen, wie Quinn reagiert hatte, aber sie ließ es bleiben. Sie war Nathan Quinn von Beginn an zu gleichen Teilen mit Verachtung und Misstrauen begegnet. Und doch: Tommy würde bald Geburtstag feiern, weil es Quinn gab.
Madison fragte nicht, was Quinn darüber dachte, dass sein Bruder womöglich brutal ermordet worden war. Er brauchte ihre Anteilnahme nicht, und sie hätte sowieso nicht gewusst, was sie damit anfangen sollte.
Sie überprüfte die Grundausrüstung im Kofferraum – Latexhandschuhe, Taschenlampe, Batterien, Regensachen und Wanderschuhe –, dann fuhr sie auf die 509 in Richtung Norden: Die Fahrt dürfte etwa drei Stunden dauern. Der Leichnam war vielleicht noch nicht offiziell David Quinn, aber sie musste ihn selbst sehen, den Ort, wo das Stück Hölle, das Cameron mit sich trug, hergekommen war.
Irgendwie erwischte Madison noch die Fähre von Edmonds nach Kingston um 12:05. Sie holte sich einen Kaffee und setzte sich für die dreißigminütige Strecke ans Fenster. Es war voll und laut, Familien, Gruppen und Einzelreisende waren über die Sitznischen und die weißen Sessel mit den marineblauen Rändern verteilt, Speisen und Getränke waren auf den breiten Armlehnen ausgebreitet wie Beutegut.
Madison war nicht in der Stimmung für ein Mittagessen; wie beinahe jeden Tag seit dem Dezember wünschte sie sich, ihr Partner Detective Sergeant Kevin Brown würde endlich gesund werden und wieder zur Arbeit kommen. Sie unterhielten sich oft und trafen sich mindestens einmal die Woche, aber es wäre von unschätzbarem Wert gewesen, heute seine Meinung zu hören, wenn sie einen fünfundzwanzig Jahre alten Tatort erkundete.
Wegen zwei Schussverletzungen hätte sie ihn beinahe verloren, sie versuchte, gar nicht darüber nachzudenken. Damals hatten sie erst wenige Wochen zusammengearbeitet – es war Madisons Einstieg in die Mordkommission gewesen –, aber es kam ihr jetzt sehr viel länger vor, und ihr Leben davor war weiter weggerückt. Brown war einer der Ankerpunkte gewesen, als Madison in der Mordkommission versuchte, Fuß zu fassen: Sie hatte beschlossen, von ihm zu lernen, ob es ihm gefiel oder nicht. Dann passierte Salinger.
Mit etwas Glück würde ihr einer der Park-Ranger an der Hoh Station die genauen Koordinaten der Stelle durchgeben können, wo man die Überreste entdeckt hatte, und sie konnte sie per GPS finden. Da es noch keine förmliche Identifizierung gegeben hatte und der Fall nach Jefferson County gehörte, war sie nichts weiter als eine Wanderfreundin mit Dienstmarke. Sie hoffte, das würde ausreichen.
Madison trank ihren Kaffee aus – er roch so viel besser, als er schmeckte – und ging hinaus aufs Deck.
»Haben Sie an den Vorfall im Wald gedacht? Also länger als ein paar Sekunden am Tag?«
»Nein.«
Madison zog sich die Jacke zu und zwickte gegen den Wind die Augen zusammen. Sie kehrte nicht zum ersten Mal in diesen Wald zurück, und eines Tages, das wusste sie, würde es wieder einfach nur ein Wald sein – mit alten Bäumen und Tälern und einem Blätterdach, das so dicht war, dass sogar das Licht grün erschien –, aber so weit war es noch nicht.
Sie lehnte sich gegen die Reling, die Hände tief in den Taschen, den Blick schon jenseits von Kingston gerichtet, an der hübschen Hauptstraße mit den netten Cafés vorbei bis hin zu der Schattenlinie, wo die Berge der Olympic-Halbinsel und ihre Geheimnisse begannen.
John Cameron lag auf seiner Pritsche. Nach und nach war der Lärm verstummt, nachdem er in seine Zelle zurückgekehrt war, und die üblichen Rufe und Schreie prallten von den Betonwänden ab.
Er hüllte sich wieder in seine eigene Stille. Die Außenwelt war nicht mehr als eine gelegentliche Unterbrechung; sein Blick folgte dem dünnen Riss an der Decke über ihm, und er fuhr mit der Spitze des Zeigefingers über den rauhen Stoff der Decke. Er tauchte in die Erinnerungen ein wie in ein unergründliches Gewässer.
28. August 1985. Angeln am Jackson Pond mit David und James; der blaue Transporter und die schmutzigen Lumpen, die nach Chloroform stanken. Mit verbundenen Augen aufgewacht, mit einem Seil gefesselt. Das ist nichts Persönliches, es geht ums Geschäft. Das fürchterliche Keuchen und das Schnappen nach Luft, dann waren die Männer gefahren und hatten David mitgenommen. David. Es hatte sich nach Tod angehört; die Männer hatten das geglaubt, James hatte es geglaubt und er selbst auch.
Er dachte an einen bösartigen Mann, der fünf Jahre später in eine Grube gefallen war; die Spieße, die Cameron zurechtgespitzt hatte, hatten seinen Körper durchbohrt. Er dachte, dass es nicht vorbei war, nie gewesen war, und Nathan hatte alles noch einmal durchmachen müssen, nur war es diesmal noch schlimmer. Er dachte, die Zelle würde seine Wut nicht mehr lange aushalten.
Als sähe er sie vor sich, wusste er, dass Detective Madison zu der Stelle gehen würde, wo man David gefunden hatte. Er würde mit ihr dort sein; sein Blick verharrte auf dem winzigen Riss, bis er nichts anderes mehr sehen konnte.
Die Rufe aus der nächsten Zelle erreichten ihn nicht; der Wärter schaute herein, schaute weg und ging weiter.
Madison fuhr mit der erlaubten Höchstgeschwindigkeit auf dem Highway 101. Der Tag war hell; die Sonne hatte sich hinter einen dünnen Wolkenschleier zurückgezogen. Sie blickte nach vorne und bat die Gottheit, die für Tatortanalyse zuständig war, um so viel Licht wie möglich. Die örtliche Spurensicherung hatte den Bereich bestimmt schon untersucht, aber Madison brauchte ihre eigene Wahrnehmung, selbst wenn die Zeit alles bis auf den Namen des Jungen weggespült hatte.
Irgendwann einmal würde sie Cameron Fragen über diesen Tag stellen. Sie fragte sich, ob es jemals so weit kommen würde, ob die Überreste, die gefunden, eingesammelt, untersucht und geprüft worden waren, ausreichen würden, um eine richtige Ermittlung in Gang zu setzen. Madison hatte eine solide forensische Ausbildung, und Beweismittel waren ihr heilig. Bei jedem anderen Fall hätte sie gesagt, die Chancen auf eine strafrechtliche Verfolgung nach fünfundzwanzig Jahren Wetter und Wildnis im Pazifischen Nordwesten stünden gleich null. Trotzdem trat sie fest aufs Gas, als sie schwere Wolken vom Westen heraufziehen sah.
Sie war hier, weil das nicht jeder andere Fall war, und ganz egal, welche Beweismittel noch vorhanden waren, Madison vermutete, dass man sie nicht in eine Tüte stecken und etikettieren konnte. Man musste sie anders beurteilen, auf eine Art und Weise, die sie selbst noch nicht abschätzen konnte.
An der Hoh Station fuhr sie auf den Parkplatz, der um diese Jahreszeit glücklicherweise fast leer war, und holte ihre Wanderstiefel und ihre Regensachen aus dem Kofferraum. Der Wald war feucht, er atmete durch einen Schleier aus feuchter Luft, egal ob es regnete oder nicht.
Madison richtete das Knöchelholster und steckte ihre kleine Kamera und ihre restlichen Sachen in einen leichten Rucksack. Als sie die Riemen an den Schultern festzurrte, zurrte sie plötzlich wieder die Riemen der kugelsicheren Weste fest, die Nathan Quinn damals angezogen hatte, ihre Hände zitterten vor Angst und Kälte, Quinn schaute weg. Sie hatte ihn in dieser Nacht quasi gezwungen, die Weste anzulegen, als sie noch dachte, dass Harry Salinger mit so etwas Profanem wie Munition hinter ihnen her wäre.
Madison hob die Schultern, der Rucksack saß.
Der Park-Ranger, dreißig Zentimeter größer und einen halben Meter breiter als Madison, musterte sie.
»Sie wissen, dass die Akte bei den Behörden von Jefferson County liegt, Detective«, sagte er.
»Ja. Ich brauche nur die Stelle, das ist alles.«
Es war ein hübsches Büro: ein großes Fenster mit Blick auf den Wald und Landkarten an jeder Wand.
»Sie möchten zu der Stelle laufen?«
»Ja, das habe ich vor.«
»Warum?«
»Ich will mir ein paar Notizen machen, für alle Fälle.«
»Ein bisschen überstürzt?«
»Vielleicht.«
»Warum?«
»Weil ich heute meinen freien Tag habe.«
Der Ranger lächelte. »Lassen Sie mich erst telefonieren.«
»Danke.«
Madison ließ ihn in Ruhe und ging hinüber zu den Landkarten an der Wand. Mit dem Zeigefinger fuhr sie das Netz aus Wanderwegen nach: Auf vielen davon war sie schon gegangen, manche hatte sie bei jedem Wetter gesehen, die meisten kannte sie zumindest ein bisschen.
Eins wurde deutlich: Einer der Männer, die die Jungen entführt hatten, musste die Gegend sehr gut gekannt haben. Jemand hatte die Lichtung ausgesucht, wo die Jungen gefesselt worden waren, jemand hatte die Stelle ausgesucht, wo man David Quinn begraben hatte. Ende August waren Wanderer in der Gegend, und doch hatte sie niemand gesehen.
Madison folgte den Windungen der Upper Hoh Road, die beinahe parallel zum Fluss verlief. Sie hatten ganz genau gewusst, wo sie hinmussten und wie sie ungebetene Gäste von ihrer Privatparty fernhielten.
Rugged Ridge, Indian Pass, Owl Creek – die Wanderrouten überkreuzten sich und flochten sich durch das Gelände.
Madison war so vertieft in die topographische Karte, dass sie kaum hörte, wie der Ranger näher kam.
»Ich habe mit meinem Chef gesprochen. Ich bringe Sie hin«, sagte er.
Madison begriff nicht gleich, was er gemeint hatte. »Danke, aber ich wollte Ihre Zeit nicht in Anspruch nehmen. Ich will nur …«
»Meine Schicht endet gerade, und eine Schlechtwetterfront ist im Anrücken. Wenn Sie vorher an der Stelle sein möchten, bringe ich Sie hin. Das ist wirklich kein Problem.«
Madison glaubte ihm das nicht so recht, aber sie nahm dankend an.
Der Ranger – Ende dreißig, helle Haare, blaue Augen – ging voran. Sie würden ein kurzes Stück fahren und den Rest des Wegs zu Fuß gehen. Er stellte sich vor: Ryan Curtis. Er klang nach Kalifornien und dann zehn Jahren Seattle obendrauf. Im Vergleich zu seinem Pick-up war Madisons alter Civic geradezu von urbaner Eleganz.
»Sie erinnern sich nicht an mich, wie?«, fragte er, während er die Upper Hoh Road Richtung Westen fuhr.
Madison wandte sich ihm zu. Sie war sich sicher gewesen, dass sie einander noch nie begegnet waren.
»Ich hatte in der Nacht damals Dienst und habe das Spezialeinsatzkommando zu Ihnen geführt.« Ranger Curtis bog abrupt in eine Seitenstraße ein, die gleich nach der Abzweigung nicht mehr asphaltiert war. Er gab ihr keine Zeit zu antworten. »In den letzten fünfundzwanzig Jahren dürfte sich vieles verändert haben – Bäume, Sträucher, der Erdboden, auf den es ständig regnet, Wurzeln, Bäche, was noch alles.«
Mit einem metallischen Knirschen zog er die Handbremse und sah Madison an. »Ich muss Ihnen das sicher nicht erklären, aber das ist kein Garten hier, es ist nicht so, als hätten sie die Überreste bei jemandem im Hinterhof gefunden. In Hinterhöfen gibt es keine Bären und Pumas. Es ist ein Wunder, dass man sie überhaupt gefunden hat.«
Die Luft war feucht und überraschend warm für Januar. Trotz seiner Größe bewegte sich Curtis leicht und flink durchs Unterholz. Der Pfad war eine halbe Stunde zuvor verschwunden, und Madison verstand jetzt, warum er angeboten hatte, sie hinzubringen: Da, wo sie liefen, gab es keinen freundlichen Weg, keine hübschen Ausblicke über die Bäche, keine Fotostellen für Wochenendausflügler. Dieser Wald wollte nicht besucht werden, und er wollte nicht fotografiert werden.
Curtis nahm keine Rücksicht auf Madison: Zu Anfang sagte er ihr, dass sie genau seinen Schritten folgen solle, und dann lief er einfach zügig weiter. Wahrscheinlich stammte er von Hirschen ab, dachte Madison bei sich. Mit dem Scherz musste sie sich von dem kupferartigen Geruch ablenken, der gar nicht da war, wie sie wohl wusste.
Sie liefen unter den Fichten und dem Blätterdach, das aus mehreren Schichten bestand, und änderten immer wieder die Richtung, um Felsbrocken und Schluchten auszuweichen. Niedrige Äste blieben an ihrem Rucksack hängen, und der Boden wurde uneben; schartige Steine ragten aus der Erde heraus und stellten ihre Standfestigkeit auf die Probe, während sich das Licht änderte und die Stille immer tiefer wurde.
Madison hielt sich immer einen Meter hinter Curtis. Sie war froh um ihre Kondition und darüber, dass nicht geredet wurde.
»Jetzt ist es nicht mehr weit«, sagte er zehn Minuten später, ohne sich umzudrehen.
Als der Regen schließlich einsetzte, war er so leicht, dass Madison ihn zunächst gar nicht bemerkte, bis ihr ein einzelner Tropfen auf die Stirn fiel. Sie blickte nach oben: Himmel zwischen den Ästen, hauptsächlich Wolken, an manchen Stellen hellblau.
»Wir sind da.« Curtis trat zur Seite und deutete nach vorn.
Sie befanden sich in einem schmalen Tal; unter einer Westlichen Hemlocktanne mit hohen Sträuchern war eine Stelle mit Tatortklebeband markiert, das im Wind flatterte.
Curtis hatte recht gehabt mit dem, was er im Wagen gesagt hatte: Madison rief sich in Erinnerung, dass die Geschehnisse fünfundzwanzig Jahre her waren. Sie hatte damals die Grundschule besucht, ihre Mutter hatte noch gelebt, und sie war noch nie in Seattle gewesen. Alles hatte sich verändert, war gewachsen oder abgestorben, und was hier vor ihr lag, war nur zum kleinen Teil noch so, wie es die Entführer – die Mörder, korrigierte Madison sich –, gesehen hatten.
Langsam ging sie auf das gelbe Absperrband zu: Das Loch wurde sichtbar, es hatte glatte Ränder und war nicht tief.
»Er lag fast an der Oberfläche; der Regen muss die Erde im Lauf der Jahre weggespült haben«, sagte Curtis hinter ihr.
Er war so klein. Was sie vor sich sah, traf Madison beinahe körperlich: Er war zusammengekrümmt und auf der Seite liegend vergraben worden. Sie hatten es eilig gehabt, wollten schnell aus dem Wald hinaus und hatten keine Zeit zu verschwenden. Sie gruben ein Loch, das gerade groß und tief genug war, um das Kind hineinzulegen; sie bedeckten es mit Erde und fuhren weg.
Madison holte ihre Kamera aus dem Rucksack und fotografierte – der Blitz kämpfte gegen die zunehmende Dunkelheit an –, um etwas Fassbares gegen den Zorn zu tun, der sich in ihrer Brust regte. Dieses jämmerliche Loch sagte ihr noch etwas anderes: Sie hatten ein Kind getötet, und es war ihnen egal; das war keine Grabstätte, es war eine Müllkippe.
Sie verdrängte ihre Gefühle, nahm ihren Notizblock heraus und ging die dürftigen Fakten durch.
»Wo liegt von hier aus gesehen die Lichtung? Die Stelle, zu der Sie das Spezialeinsatzkommando an dem Abend gebracht haben?«
Curtis zeigte nach Westen. »Etwa eine Meile in dieser Richtung.«
»Gelände vergleichbar mit dem, über das wir gelaufen sind?«
»So ziemlich. Wenn man nicht damit vertraut ist, kommt man nicht gut voran.«
Madison machte auf dem Standardpolizeiblock Notizen.
»Es war August«, sagte sie. »Der 28. August 1985. An dem Tag hat es nicht geregnet, das habe ich überprüft. Kann es sein, dass sie einen Teil der Strecke mit dem Transporter gefahren sind?«
»Früher gab es eine schmale befestigte Straße zu einer Wetterstation, aber nachdem wir die Station nicht mehr benutzt haben, wurde die Straße nicht besser, und jetzt ist sie fast zugewachsen. Wenn sie die kannten, hätten sie fast bis zur Lichtung fahren können.«
»Ab wann wurde die Wetterstation nicht mehr benutzt?«
»Seit Anfang der Achtziger, glaube ich.«
»So sind wir aber nicht gekommen. Wir haben das Auto stehen gelassen und sind ein ganzes Stück gelaufen.«
»Sie war nicht auf den Karten verzeichnet. Es war eine alte Serviceroute, die nirgendwo hinführte. Davon hätten Sie gar nicht wissen können.«
Madison merkte, wie ihr das fransige Ende eines Gedankens entglitt, und schnappte es sich.
»Sie kannten sie aber«, sagte Madison. »Die Mörder. Kreuzen denn irgendwelche Wanderwege diese Straße oder die Strecke von hier nach dort?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Was wiederum bedeutet, dass die Kinder, die sie zurückgelassen hatten, nicht allzu schnell gefunden werden würden. Und wenn sie David Quinn nur weit genug von den Kindern entfernt vergraben würden, würde man ihn überhaupt nicht finden.«
Madison sah sich um. Keine Fußspuren, keine Reifenspuren, keine Spuren von Werkzeugen, kein Stofffetzen, der an einem Zweig hängengeblieben war. Die Liste der Dinge, die sie nicht hatten und die sie nie bekommen würden, war lang.
Sie legte ihr Maßband an die lange Seite des Lochs, machte ein Foto und schrieb sich die Maße auf. Die Spurensicherung hatte das alles schon getan, sie machte es trotzdem. Seitlich wuchsen Wurzeln aus den Wänden, und das Insektenleben hatte schon begonnen, das Grab zurückzufordern.
Sie stellte sich an den Rand der Grube. Hatte sich die Erde verändert, weil sie ein ermordetes Kind bedeckte? Wie konnte man diese Veränderung messen? Madison ging in die Hocke und berührte den Boden. Kalt und feucht. Das Kind war zu einer Leiche geworden, und die Leiche war zu menschlichen Überresten geworden. Regen und Erde hatten sie durchdrungen, während sie sich zersetzte. Irgendetwas, dachte Madison – die Mörder mussten doch irgendetwas zurückgelassen haben, etwas, das bei David Quinn geblieben war und das auf sie gewartet hatte, damit sie ihn fanden.
»Wir müssen zurück, Detective.«
Madison richtete sich auf und nickte.
»Diese Sträucher hier um die Grube, sehen Sie?« Curtis zeigte darauf. »Das ist Dicentra formosa.«
Madison sah ihn verständnislos an.
»Man sagt auch Kleines Tränendes Herz dazu«, sagte er. »Die Blüten sind sehr hübsch.«
Madison schulterte ihren Rucksack und zog sich die Kapuze über. Über ihr, außer Sichtweite und jenseits der Schichten von Grün, flatterten Flügel und verschwanden rasch in der Ferne.
Trotz der einsetzenden Dämmerung kamen sie auf dem Rückweg schneller voran, und Curtis war nicht an Smalltalk interessiert. Sie stiegen in seinen Pick-up, und ehe Madison es sich versah, hielt er schon neben ihrem Civic auf dem Parkplatz der Hoh Station.
»Danke«, sagte Madison. »Das meine ich ehrlich. Auch dass Sie das Spezialeinsatzkommando zu uns geführt haben. Es tut mir leid, dass ich mich nicht an Sie erinnert habe.«
»Kein Problem. Das überrascht mich eigentlich nicht. Etwas Derartiges hatte ich noch nie gesehen.«
»Wir beide nicht.«
Sie stieg aus dem Pick-up aus, setzte sich in ihren Honda und fuhr los. Die Scheinwerfer des anderen Wagens folgten ihr bis zur Ausfahrt Forks.
Madison fühlte sich erschöpft und müde, als hätte sie eine Prüfung abgelegt und nicht einmal die Fragen verstanden. Als sie später auf der Fähre in einer Nische saß, die Hände um eine Tasse Tee, die sie nicht trank, wurde ihr klar, dass sie sich etwas geschworen hatte, egal, ob es sich bei dem Kind um David Quinn handelte oder nicht.
Als die Fähre anlegte, war sie immer noch dabei, sich Notizen zu machen.
Nathan Quinn blickte auf die runde Wanduhr. Noch drei Minuten bis zu seinem Telefonat mit Staatsanwalt Scott Newton, der in dem Fall das County gegen John Cameron vertrat. Entsprechend Quinns Weisung an Doyle hatte ein Senior Associate von Quinn Locke Cameron vertreten, während Quinn arbeitsunfähig war, aber es stand nie außer Frage, dass er seine ursprüngliche Rolle als Camerons Anwalt wieder einnehmen würde.
Quinn wollte Cameron so bald wie möglich aus dem Gefängnis holen. Jeder Tag, den er im KCJC verbrachte, war ein Tag, an dem er ein Ziel darstellte, und ein Tag, an dem er dazu gedrängt werden könnte, sich mit maximaler Kraft zu verteidigen, um am Leben zu bleiben. Die Insassen würden vielleicht gutes Geld bezahlen, um das mit anzusehen, aber Quinn wollte ihn einfach schnell dort herausholen. Selbst Schutzhaft – wer wurde da geschützt, fragte er sich – war kaum mehr als Wunschdenken.
Rein technisch gesehen fungierte Quinn nur als Berater in dem Fall; er bekam immer noch Schmerzmittel, und der Anwalt von Quinn Locke musste erst das Mandat zurückgeben. Aber alle wussten, wer die Entscheidungen traf.
Quinn sah noch einmal auf die Uhr.
Es war Zeit.
»Noch einmal«, sagte Scott Newton. »Ihr Mandant hat Harry Salinger angegriffen und ihn zerschnippelt wie eine Anziehpuppe aus Papier. Und Sie sind der Meinung, versuchter Mord wäre eine Überreaktion meinerseits?«
»Ich glaube, auch Körperverletzung ersten Grades ist noch eine Überreaktion. Ganz ehrlich? Ich halte selbst Körperverletzung dritten Grades für eine Überreaktion. John Cameron hat lediglich versucht, Harry Salinger zu bändigen und festzuhalten, nachdem er vier Morde und die Entführung eines Minderjährigen zugegeben hat«, entgegnete Nathan Quinn.
»Sie wollen das also als eine Feld-, Wald- und Wiesen-Festnahme hinstellen, die ordentlich danebengegangen ist.«
»Keine Jury wird Ihnen einen Mordversuch abnehmen, Scott. Nicht, wenn Salinger für geistesgestört erklärt wird, nicht, wenn sie die Bilder von dem Käfig sehen, den er für den Jungen gebaut hat.«
Newton schwieg. Salinger hatte zwei Käfige gebaut, einer davon war für Quinn gewesen. »Salinger hätte sterben können. Alles, was Cameron ihm angetan hat, hätte zu seinem Tod führen können.«
»Wissen Sie, woher wir wissen, dass es kein Mordversuch war?«, fragte Quinn. »Salinger lebt noch. Das ist kein Zufall.«
Newton wollte nicht vor Gericht gehen: Es war zu riskant, den Mann anzuklagen, der Harry Salinger, den Blueridge-Mörder, gestellt hatte, und er hatte keine Ahnung, wo er eine unparteiliche Jury herbekommen sollte. Vielleicht vom Mars.
»Was bieten Sie an?«, fragte er Quinn.
»Was liegt auf dem Tisch?«, entgegnete Quinn.
Newton schnaubte. »Körperverletzung ersten Grades, und mein Chef wird mich berechtigterweise in die Verkehrsabteilung versetzen.«
»Können Sie einen Vorsatz nachweisen? Und damit meine ich einen echten Beweis für vorangegangene Überlegungen und die Absicht, schweren körperlichen Schaden hervorzurufen?«
»Ich habe den ärztlichen Untersuchungsbericht von Salinger.«
»Bestimmt eine faszinierende Lektüre, aber ich frage Sie noch einmal – können Sie Vorsatz nachweisen?«
Newton antwortete nicht.
»Und zweitens, haben Sie eine Waffe?«
»Sie suchen noch.« Sogar er selbst fand, dass er sich schwach anhörte.
»Salingers Waffe wurde ziemlich schnell gefunden und auch das Werkzeug, mit dem er die Käfige aufgebaut hat.« Das Schweigen in der Leitung dehnte sich.
Quinn schloss die Augen, der Kopf ruhte auf dem Kissen. Seine Energie nahm unberechenbar zu und ab, abhängig von der Medikation. »Grob fahrlässige Gefährdung«, sagte er.
»Das ziehe ich nicht einmal in Betracht.«
»Lassen Sie sich Zeit und überlegen Sie, was sie vor einer Jury beweisen können. Die Geschworenen werden darüber nachdenken müssen, wie schwer es wohl ist, einen Mann mit Salingers … Temperament zu bändigen.«
»Wir sprechen hier von John Cameron.«
»Der keine Vorstrafen hat und sich der Festnahme nicht widersetzt hat.«
»Nathan, haben Sie Salingers Untersuchungsbericht gesehen?«, fragte Newton. »Haben Sie gesehen, was er mit ihm gemacht hat?«
»Ja.«
»Nennen Sie das ›grob fahrlässige Gefährdung‹?«
Quinn wusste nicht, wie er es nennen sollte. Ihm wurde bewusst, dass dies auf einen Großteil von Camerons Verhalten zutraf. »Sie sollten das nicht vor Gericht bringen«, sagte er.
»Ich tue, was ich kann, um ihn drin zu behalten, solange es das Gesetz mir erlaubt.«
»Viel Glück.«
Der Mann stand in dem weißen Aufenthaltsraum neben dem hohen Fenster und sah zu, wie die Sonne hinter den Bäumen versank. Jede Minute brachte einen neuen Schatten, und die Angst schnürte ihm wieder die schmale Brust zu, während die dunkle Linie sich an das Betongebäude heranpirschte. Er sah zu und wartete. Bald war es so weit, und er würde allein sein, bis die Sonne wieder aufging.
Er merkte, wie sich der Raum leerte, auf dem Fernseher an der Halterung oben an der Wand wurden die Nachrichten eingestellt, Schritte hinter ihm.
»Jemand wird kommen«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Der Ausblick ließ ihn nicht los, bis er die Hand auf dem Arm spürte und sich langsam und widerwillig umdrehte.
»Es ist dunkel«, sagte er. »Wir sollten gehen, wir sollten nicht hierbleiben.«
»Bettzeit.«
»Wir sollten nicht bleiben, wenn es dunkel ist.«
»Ja, das habe ich gehört, genau wie gestern und am Tag davor. Los, mein Freund, es ist Bettzeit.«
»Das ist nichts Persönliches, es geht ums Geschäft.«
»Aber sicher.«
Er stand in seinem Zimmer neben dem Bett, um ihn herum nackte Wände und eine Kommode mit drei Schubladen für alles, was er auf dieser Welt besaß.
Von der Ablage der Kommode nahm er einen grauen Wachsmalkreidenstummel und hob die Hand; er schloss die Augen und zog quer über die weiße Wand eine zittrige Linie. Sie gesellte sich zu zig ähnlichen grauen Linien, mit denen die kleine Zelle überzogen war. Die Wände hinauf und hinab, überall, wo er hinkam.