Jenseits der Gier - Esther Pauchard - E-Book

Jenseits der Gier E-Book

Esther Pauchard

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Beschreibung

Kassandra Bergen, erfahrene Oberärztin in der Psychiatrischen Klinik Eschenberg, sucht Ablenkung von drückenden familiären Spannungen. Nur zu gerne unterstützt sie daher ihren besten Freund Martin Rychener, als dieser von einem früheren Schulkollegen um Hilfe gebeten wird: Eric Dubach, Professor für theoretische Physik an der Uni Bern, macht sich Sorgen um seine betagte Mutter Anna, die vermeintlich immer wunderlicher wird und einen Verfolgungswahn entwickelt. Kassandra und Martin entdecken rasch, dass keineswegs eine psychiatrische Störung hinter den mysteriösen Erlebnissen von Anna Dubach steckt, sondern dass diese von Unbekannten verfolgt wird. Nur: Weshalb? Was bezwecken die anonymen Täter? Auf der Spurensuche dringen Kassandra und Martin in gefährliche Tiefen vor.

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Jenseits der Gier

Jenseits der Gier

Kriminalroman von Esther Pauchard

Der Lokwort Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021 – 2024 unterstützt.

Umschlagbild: Esther Pauchard

Lektorat: KAISERworte, Esther Kaiser Messerli

Gestaltung: arsnova, Luzern

Druck: CPI Clausen & Bosse, Leck

© 2022 Buchverlag Lokwort, Bern

Abdruckrechte nach Rücksprache mit dem Verlag

ISBN 978-3-906806-37-2

www.lokwort.ch

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Dank

Im Lokwort-Verlag bereits erschienen

Zudem erschienen

Kapitel 1

Es war nicht so, dass ich neugierig gewesen wäre, das nicht. Es war nicht mehr und nicht weniger als freundschaftliche Anteilnahme, die mich innehalten liess, als ich Martin Rychener an diesem düsteren Januartag in der Klinikcafeteria tief im Gespräch mit einem Fremden sah.

Ich war eben daran, an der Kasse das Vollkornbrötchen zu bezahlen, das ich mir als ernährungstechnisch unbedenkliche vormittägliche Zwischenverpflegung geholt hatte, als ich die beiden erblickte.

Martin Rychener sah blendend aus, natürlich. Er trug einen hellblauen Rollkragenpullover, der edel und teuer aussah und es zweifellos auch war, kombiniert mit einem lässig um den Hals geschlungenen Schal mit beigefarbenem Karomuster. Mit seinem akkurat getrimmten graumelierten Haar und der aristokratischen Haltung wäre er problemlos als Schauspieler durchgegangen, als Adliger in einer Liebesschmonzette oder attraktiver Chefarzt in einer Privatklinik. Letzteres kam der Realität ja recht nahe. Sein Blick war ernst, mitfühlend.

Martins Gegenüber war deutlich weniger elegant. Sein krauses dunkles Haar war halblang und das Gegenteil von akkurat getrimmt – ein wilder Wuschelkopf. Ein ausgebleichtes Sweatshirt, über der Stuhllehne ein abgetragener grauer Dufflecoat, wie ich mit einem abschätzenden Blick erkannte. Eine moderne Brille mit breitrandiger schwarzer Fassung in einem sympathischen, jungenhaften Gesicht, das jetzt allerdings besorgt und bedrückt wirkte. Ich schätzte den Mann ein wenig jünger als Martin.

«Frau Bergen? Das macht eins zwanzig, wie gesagt.» Die frostige Stimme der Kassiererin. Ihre Miene war vorwurfsvoll.

Hastig schaute ich über meine Schulter – da standen drei weitere Angestellte der Klinik, die ungeduldig von einem Fuss auf den anderen traten und darauf warteten, dass ich endlich vorwärtsmachte. Betretene Entschuldigungsworte murmelnd bezahlte ich mit meiner persönlichen Klinikkarte, nicht ohne einen weiteren raschen Seitenblick zu Martin und dem Fremden. Martin hatte eben über den Tisch gegriffen und dem anderen die Hand auf den Arm gelegt, eine Geste, die Trost und Sicherheit spenden sollte und deutlich machte, dass dies kein geschäftliches Treffen war.

Wer war der Fremde? Und worum ging es hier?

Betont ungezwungen schlenderte ich auf den Tisch zu, an dem die beiden sassen, im Versuch, Martins Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Umsonst.

Nun denn.

«Guten Morgen, Martin!», trällerte ich sonnig und blieb vor den zwei Männern stehen. «Schön, dich zu sehen. Übles Wetter heute, was? Als ob das Tageslicht zum Generalstreik aufgerufen hätte. Ah, hallo!», fügte ich hinzu, in einem, wie ich fand, überzeugend überraschten Tonfall, der den Eindruck vermitteln sollte, dass ich den Fremden erst jetzt bemerkt hatte. «Mein Name ist Kassandra Bergen, ich bin Oberärztin in der Klinik hier.»

Ich sah den Mann auffordernd an.

Hinter den Brillengläsern sahen dunkelbraune Augen verwirrt und unsicher zu mir auf.

«Hallo», sagte der Mann nur und lächelte vage.

«Guten Morgen, Kassandra», erwiderte Martin betont wohlerzogen. «Wie schön, ein zufälliges Zusammentreffen – es ist immer wieder eine Freude.» Ein trockener, wissender Blick. «Ich bin gerade in einem privaten Gespräch. Hast du ein fachliches Anliegen an mich? Das können wir dann sicher später besprechen, oder?» Er lächelte kühl.

Ich spürte Empörung in mir aufwallen – wie kam der Mann dazu, mir so eine Abfuhr zu erteilen?

Stoisch hielt ich die Wärme in Miene und Stimme aufrecht und gab mich harmlos. «Das tut mir wahnsinnig leid, ich wollte auf keinen Fall stören. Dann lasse ich euch in Ruhe weiterreden – ich melde mich später bei dir.»

Im Weitergehen hörte ich von Martin ein dumpfes Murmeln.

Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte, aber es hatte nach «Wetten, dass du das tun wirst?» geklungen.

Allerhand.

Ich dachte nach dieser Szene natürlich nicht daran, Martin direkt nach dem Unbekannten zu fragen.

Am grossen Klinikrapport schwebte ich mit beiläufiger Nonchalance an Martin vorbei und setzte mich an meinen Platz am langen Tisch, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, scheinbar hochkonzentriert in ein Versicherungsschreiben vertieft. Beim Mittagessen nickte ich ihm freundlich zu, wählte aber einen Tisch fernab von seinem. Und als ich ihm später auf dem Klinikareal zufällig über den Weg lief, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, um mich vor dem feuchtkalten Winterwind zu schützen, winkte ich heiter, zog aber an ihm vorbei, ohne meinen Schritt zu verlangsamen.

Sollte er nur sehen, wie falsch er mich eingeschätzt hatte. Seine Privatangelegenheiten interessierten mich nicht die Bohne.

Und trotzdem, überlegte ich, als ich später am Tag in meinem Büro sass und eine Patientenakte studierte, Martin und ich waren Freunde, gute Freunde, seit vielen Jahren. Selbstverständlich nahm ich Anteil an seinem Leben – wäre es nicht unnatürlich gewesen, wenn ich es nicht getan hätte? Konnte er mir das vorwerfen?

Seine abschätzige Haltung war unfair und selbstgerecht. Aber ich würde ihm nicht den Gefallen tun, ihm das zu sagen. Ich würde weiterhin nobel schweigen. Sollte er sich ruhig schämen angesichts meiner würdevollen Zurückhaltung. Das konnte ihm nur guttun.

Stirnrunzelnd klickte ich mich durch den Fall, an dem ich gerade arbeitete. Eine schwierige Situation – eine Patientin auf meiner Station, die in einem Akutspital als Pflegefachfrau auf der Anästhesie arbeitete und uns unter Berufung auf die ärztliche Schweigepflicht verbot, ihrem Arbeitgeber etwas über ihre schwere Medikamentenabhängigkeit zu erzählen. Die unbedingt wieder arbeiten wollte, obwohl es in ihrem Zustand nicht ratsam war.

Was, wenn die Suchterkrankung der jungen Frau zur Gefahr für die Patienten wurde, die sie betreute? Was, wenn sie lebensgefährliche Fehler machte?

Ich stand auf. So ein heikler Fall erforderte zwingend eine Besprechung mit dem leitenden Arzt.

Ich liess mich von Martins süffisantem «Ah, Kassandra, wer hätte das gedacht?», nachdem ich angeklopft und sein Büro betreten hatte, nicht im Geringsten provozieren.

«Ich möchte Frau Keller mit dir besprechen», erklärte ich und klappte meinen mitgebrachten Laptop auf. «Eine Patientin Jahrgang 1993 auf meiner Station. Wir stecken da juristisch in einer Zwickmühle.»

Betont tüchtig und sachlich schilderte ich ihm die Details.

«Lucas Schuster betreut sie als Assistenzarzt», schloss ich meine Ausführungen. «Er findet, es läge in unserer Verantwortung, etwas zu unternehmen und zu verhindern, dass sie weiter im Operationssaal arbeitet. Er setzt mir zu, fordert, dass wir eine Gefährdungsmeldung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde machen. Ich allerdings bin unschlüssig – tue ich es, würde ich das Vertrauen der Patientin aufs Spiel setzen, und damit auch ihre Therapiebereitschaft. Und das könnte die Situation weiter verschlimmern. Was meinst du dazu?»

«Nun, das ist natürlich tatsächlich eine schwierige Situation», bestätigte Martin ernst. «Da verstehe ich absolut, dass du als Kaderärztin mit jahrelanger Erfahrung dir keinen Rat mehr weisst und direkt zu mir kommst.»

Ich verzog keine Miene.

«Ich würde», fuhr er gemessen fort, «der Patientin transparent machen, in welche Zwickmühle sie mich bringt. Ich würde ihr erklären, dass ich ihren Wunsch nach Geheimhaltung verstehe und würdige, aber nicht riskieren kann, dass dadurch ihre Patienten zu Schaden kommen. Also würde ich mit ihr über andere Wege diskutieren, um sicherzustellen, dass so etwas nicht passieren wird: eine ernsthafte und ausreichend lange Fortführung der stationären Therapie, gefolgt von einer ambulanten Nachsorge mit Urinproben in unregelmässigen Abständen. Sollten diese Urinproben anzeigen, dass sie einen Konsumrückfall hatte, dann müsste der ambulante Therapeut eine Gefährdungsmeldung erwägen.»

Ich nickte ernst. «Das scheint mir eine gute Lösung zu sein, geradezu salomonisch. Danke vielmals, Martin.»

Ich blieb sitzen.

Martin wartete einige Augenblicke.

«Ist sonst noch etwas?», fragte er dann seidenweich.

Ich strahlte ihn unschuldig an. «Von meiner Seite her nicht. Ausser, du hättest noch etwas?»

Er lächelte amüsiert. «Nein, was sollte denn sein?»

Mist.

Aber bitte, wenn er es so haben wollte.

Mit schneidigem Schwung stand ich auf. «Dann ist es ja gut. Schönen Abend noch», erwiderte ich fröhlich und schritt zur Tür.

Ich war schon fast draussen, als sein Ruf mich zurückhielt. «Kassandra, warte.»

«Ja?» Mit ahnungslos fragendem Blick drehte ich mich zu ihm um.

Martin hatte die Arme über der Brust verschränkt und schüttelte entnervt und ermattet den Kopf. «Mach um Himmels Willen diese Tür zu und setz dich wieder, ja? Das kann sonst noch tagelang so weitergehen, und ich bin zu alt für sowas.»

Triumphierend liess ich mich in seinen Besuchersessel fallen, ein Bein lässig über der Armlehne baumelnd.

«Ich bin ganz Ohr», sagte ich erwartungsfroh.

«Ich frage mich, wann du je erwachsen wirst», grummelte Martin.

Dann hob er seine Hände. «Es war im Grunde gar nichts Besonderes. Der Mann, mit dem du mich heute beim Kaffee gesehen hast, heisst Eric, ein Freund aus alten Zeiten. In meiner Jugend wohnten unsere Familien mal im gleichen Quartier in Bern. Er ist einige Jahre jünger als ich, aber eine Weile besuchten wir damals die gleichen Nachtlokale – du weisst, ich hatte als Heranwachsender eine recht aufsässige Phase.»

Ich grinste wissend. Ich hatte vor Jahren einmal das Vergnügen gehabt, ein Foto in die Finger zu bekommen, das Martin Rychener als Jüngling zeigte. Nietenbewehrtes Leder, eine Frisur, die einem Heavy-Metal-Leadsänger zur Ehre gereicht hätte, sehr viele Pickel und sehr miese Laune.

«Eric und ich hatten damals einen ähnlichen Musikgeschmack.»

Mein Grinsen wurde breiter.

«So traf es sich, dass wir uns öfter mal im Ausgang trafen und merkten, dass wir uns gut verstanden. Wir sassen beieinander und schimpften über den Staat – was lachst du so blöd?»

«Nichts, nichts», beeilte ich mich zu entgegnen – und zwang meine Miene in den streng neutralen Bereich.

Martin warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. «Natürlich haben sowohl Eric als auch ich die Schmalspur-Rebellion bald hinter uns gelassen und geordnete Pfade eingeschlagen, unsere Studien abgeschlossen. Wir haben losen Kontakt gehalten, bis er dann einige Jahre beruflich ins Ausland zog. Ich wusste gar nicht, dass er wieder im Lande war, bis er mich hier in der Klinik kontaktiert hat.»

Ich machte eine auffordernde Handbewegung. «Und?»

Er lachte wider Willen. «Er wollte meinen psychiatrischen Rat. Seine Mutter, Anna, die ich aus unserer Jugend noch kenne, ist mittlerweile Mitte siebzig und wird wunderlich. Neben den üblichen, altersbedingten körperlichen Problemen wird sie zunehmend ängstlich und zerstreut und scheint sogar eine Paranoia zu entwickeln – sie hat den Eindruck, sie werde verfolgt, jemand sei in ihrer Wohnung gewesen, man stelle ihr nach. Die Situation belastet Eric sehr. Ich habe ihm geraten, einen Termin auf der Gerontopsychiatrie für sie auszumachen, und ihm dafür gute Adressen genannt.»

Ich verzog das Gesicht. «Das ist alles?»

«Entschuldige herzlich, wenn es dir nicht dramatisch genug ist», versetzte Martin. «Es wäre mir gar nicht recht, wenn ich dich langweilen würde.»

Dann wurde seine Miene weicher. «Geht es dir gut, Kassandra? Wir haben uns wegen der Feiertage eine Weile nicht gesehen. Du kommst mir irgendwie verändert vor.»

Ich winkte ab. «Ach was, mir geht es sehr gut. Marc und ich hatten über Weihnachten und Neujahr lange, tiefgründige Gespräche. Und wir haben dabei eine Menge guter Vorsätze fürs neue Jahr gefasst. Wir wollen unser Leben ändern. Weniger Stress, mehr Zeit füreinander. Weniger Arbeit, mehr Musse. Ein einfacheres, gesünderes Leben. Du weisst, er hatte gerade im letzten Jahr in seiner Hausarztpraxis viel zu viel zu tun, war dauernd am Rande der Überforderung. Und ich …»

Ich verstummte beklommen.

«Und du hast die unselige Neigung, dich immer wieder in Bedrängnis zu bringen und in brandgefährliche kriminelle Machenschaften zu verstricken. Vor allem dich, aber auch deine Familie. So wie im letzten Herbst», ergänzte Martin ruhig.

Ich schluckte hart in Erinnerung an die Geschehnisse nur wenige Monate zuvor. Ich war um Haaresbreite davongekommen. Und ich hatte nicht nur mich selbst in Gefahr gebracht.

«Eine Weile hatte ich Angst, Marc zu verlieren, Martin», gestand ich kleinlaut. «Er schien mir so verändert, abwesend, desinteressiert, in sich versunken. Als wäre er innerlich weit weg. Sicher hat die Tatsache, dass ich erneut in die Aufklärung von mysteriösen Verbrechen involviert gewesen bin, ihn nicht gnädiger gestimmt, und der Fall Graf war wirklich ausserordentlich hässlich. Aber es war mehr als das, es ging tiefer. Als würde er uns als Paar, als Familie in Frage stellen. Als wäre er sich nicht mehr sicher.»

Ich strich mir mit beiden Händen über das Gesicht. «Ich habe nicht ganz verstanden, was in ihm vorgegangen ist. Er hält sich bedeckt, auch heute noch, er sagt, ich würde mich täuschen, es sei nichts gewesen. Aber immerhin», ich bemühte mich um einen forschen, munteren Tonfall, «schmieden wir konkrete Zukunftspläne. Gemeinsame Zukunftspläne. Wir wollen uns eine Auszeit gönnen, im Sommer. Juni bis August – Marc hat eine Stellvertretung für seine Praxis und unbezahlten Urlaub für mich organisiert, er meint das ernst. Aber nun sagt er, es würde wenig Sinn machen, uns drei Monate aus der Realität auszuklinken und auf ungetrübtes Familienglück zu machen, wenn wir danach wieder ins alte Fahrwasser geraten würden. Wir müssten unseren Alltag ändern, unsere Normalität, greifbar und nachhaltig.»

Martin musterte mich skeptisch. «Will heissen?»

Ich wedelte mit den Händen durch die Luft. «Einen gesünderen Lebensstil – Bio-Gemüse, Vollkorn, kaum Fleisch, keinen Alkohol. Macht ja Sinn, oder? Wir werden nicht jünger. Weniger Hektik – ruhige Wochenenden, Mussestunden über guten Büchern, geruhsame Spaziergänge und dergleichen. Aufbauende Freundschaften mit freundlichen, unkomplizierten Menschen pflegen. Ganz allgemein ein friedliches Leben ohne ständige Aufregungen.»

«Das erklärt, warum du in den letzten Tagen immer diese Mehrkorn-Vollwert-Brötchen und das vegetarische Mittagsmenu bestellst und die üblichen fetten Snacks und süssen Desserts weglässt», meinte Martin weise.

Ich nickte verdrossen. «Ich muss mich noch an die ganzen Umstellungen gewöhnen. Aber Marc hat Recht. Wir sind über vierzig, wir müssen Sorge zu uns tragen. Vernünftig leben, den goldenen Mittelweg wählen statt immer die Ex­treme. Einen Gang zurückschalten. Das tut uns beiden gut.»

«Und weil du aus tiefster Überzeugung ein beschauliches Leben ohne Aufregungen führen willst, stürzt du dich wie ein Habicht auf den ersten Zipfel eines Rätsels, der sich dir bietet, auf ein völlig harmloses Gespräch zwischen mir und einem Freund. Doch, das überzeugt mich.» Martins Worte troffen vor Sarkasmus.

«Das war reine Anteilnahme», begehrte ich hitzig auf. «Dass du auch immer alles fehlinterpretieren musst!»

Martin schwieg eine Weile, studierte wortlos mein Gesicht.

«Das hältst du nicht lange durch, Kassandra», sagte er dann leise. «Das bist nicht du. Wenn zwischen Marc und dir etwas brodelt, dann wirst du das nicht dadurch reparieren, dass du dich verbiegst und auf stilles Wasser machst. Mehr noch – allein der Versuch ist destruktiv. Die Frau, die Marc Bergen geheiratet hat, war nie geruhsam und vernünftig, und sie hat nie den goldenen Mittelweg gewählt. Wenn er klug ist, dann weiss er das auch.»

«Und wenn nicht?», fragte ich mit einem Hauch Bitterkeit in der Stimme.

Dann, nach einem weiteren Moment des Schweigens, stiess ich hervor: «Denkst du, es könnte zur Sucht werden?»

«Was denn?»

«Die Rätsel, die Abenteuer. Die Dunkelheit und Gefahr. Meinst du, ich habe Geschmack daran gefunden und bin unersättlich geworden, verlange nach immer mehr und mehr? Könnte es sein, dass mir ein normaler, ereignisloser Alltag daneben nun schal und dröge vorkommt? Haben all die Fälle, die wir zusammen durchlebt haben, meinen Sinn für Normalität korrumpiert? Bin ich übergeschnappt?»

Martin schwieg.

«Du hast Recht», fuhr ich fort. «Ich habe dich dort in der Cafeteria sitzen sehen, mit diesem Unbekannten, dein Gesicht voller Sorge, und dieser Anblick hat in mir ein kleines Feuerwerk gezündet. Es war mehr als nur Neugier, es war eine Art Hunger. Ich wollte unbedingt wissen, was dahintersteckte, ich wollte die Geschichte hören. Ich witterte ein Rätsel. Und jetzt», anklagend hob ich die Hände, «bin ich enttäuscht, dass es sich nur um eine alte Mutter mit Altersparanoia handelt. Wie krank ist das denn? Gerade nach dem, was letzten Herbst passiert ist? Schon wieder passiert. Es war ja beileibe nicht das erste Mal.»

«Vielleicht», gab Martin launig zu bedenken, «kommt dieses Hungergefühl auch nur von deiner neuen Diät? Ich meine, von Rohkost und Vollkorn allein wird niemand satt. Und dann die Fruchtsäfte, die du neuerdings …»

Mit einer ungeduldigen Handbewegung brachte ich ihn zum Schweigen. «Es ist mir ernst. Das ist doch tragisch! Diese Gier nach dem Verborgenen, der Flirt mit Gefahr und Düsternis. Ich bin doch nicht normal!»

Ich sprang auf und begann, fahrig in Martins Büro auf- und abzumarschieren, wild gestikulierend. «Ich bin 44 Jahre alt, Mutter von zwei wunderbaren Töchtern, Frau eines hart arbeitenden Hausarztes, langjährige Kaderärztin in der Psychiatrie. Es ist Zeit, dass ich zur Ruhe komme, meine Mitte finde. Den Sinn im Alltäglichen erkenne.»

«Wenn du es sagst.»

Der mitfühlende Zweifel in Martins Stimme war unüberhörbar. «Wenn du es wirklich so willst?»

Ich blieb stehen.

«Ja, ich will es so», antworte ich mit Nachdruck. «Ich tue das nicht für Marc, nicht nur, ich will es für mich. Für meine Familie. Keine Risiken mehr. Ich werde nicht mehr in üble Geschichten hineinschlittern und dabei so tun, als hätte ich es gar nicht gewollt. Man hat immer eine Wahl, und ich wähle jetzt einen neuen Weg. Ich werde», ich bekräftigte meine Worte mit einem entschlossen erhobenen Zeigefinger, «mich ändern. Gründlich.»

Martin sah mich nur an, und ich erkannte die tiefe Zuneigung in seinem Blick, das Verständnis, das Mitgefühl, aber auch die Resignation. Er wollte meinen Worten glauben, er versuchte es aufrichtig. Aber es gelang ihm nicht.

Der Frage, ob ich selbst es tat, wich ich geflissentlich aus.

Kapitel 2

Mein Gespräch mit Martin und die daraus erwachsene scharfkantige Selbsterkenntnis hallten lange nach. Es kam mir vor, als wären die Worte, die ich ausgesprochen hatte, nicht meine gewesen, sondern die Aussage einer klarsichtigen Fremden, die mit unbestechlichem Strich ein Bild von mir gezeichnet hatte, das mich erschreckte.

Ka, die Mutwillige, Risikosüchtige, die das Privileg ihres wohlsituierten und unbelasteten Lebens als Monotonie missverstand und den dunklen Glamour des Unheils suchte, ohne Rücksicht auf Verluste, gelangweilt, angeödet von dem, was zahlreiche andere Menschen ersehnten, von Stabilität und Glück.

Ka, die Anmassende, die Mal für Mal das Schicksal herausforderte, sich etwas einbildete auf ihre vermeintliche Klugheit.

Dieses Bild meiner selbst widerte mich an.

Ich hatte sehr wohl verstanden, was Martin mir hatte sagen wollen. Nach all meinen Berufsjahren war ich Fachfrau genug, um zu wissen, dass es keine gute Idee war, sich verbiegen und Charakterzüge unterdrücken zu wollen. Darum, so sagte ich mir, ging es mir nicht.

Aber ich konnte mich verändern. Ich konnte wachsen, mich entwickeln, Wesenszüge an mir fördern, die bislang verschüttet gewesen waren. Zufriedenheit, Dankbarkeit, Genügsamkeit. Seelenruhe, Ausgeglichenheit. Ich konnte lernen, die kleinen Dinge im Leben wertzuschätzen, statt immer nach den grossen, bedeutsamen zu schielen.

Ich konnte reifer werden, ruhiger. Ich würde es schaffen.

Diesmal, so entschied ich, würde ich keine halben Sachen machen. Ich würde ganz konkrete Anpassungen in meinem Leben vornehmen. So, wie ich es meinen Patienten immer riet.

Und ich gab mir wirklich Mühe.

Ich zwang mich explizit, langsamer zu gehen. Auf meine Atmung zu achten. Mir Ruhepausen zu gönnen.

Ich nahm mir bewusst Zeit für Gespräche mit meiner Familie, liess mir die Erlebnisse und Nöte meiner Töchter erzählen.

Ich bemühte mich mehr denn je, ausgewogen und gesund zu kochen, und zügelte mein Temperament, als Jana und Mia mein biologisches Gericht aus grünen Linsen und Federkohl angewidert zurückwiesen, mit dem Vermerk, das grüne Geschmier sehe aus wie gekotzt.

Ich trank literweise Kräutertee. Ich las wertvolle Bücher.

Marc und ich spazierten am Wochenende durch den winterlich kargen Wald, führten ernsthafte Gespräche über das Leben, während unter unseren Schuhsohlen der Raureif knirschte.

Ich versuchte mich sogar an Yoga und unterdrückte dabei heroisch den Impuls, wüst über die irrwitzigen Verrenkungen zu fluchen, welche die aufreizend milde Stimme der gesichtslosen Trainerin in meiner Sport-App mir abverlangte.

Ich war zufrieden mit mir, sehr zufrieden. Ich übertraf meine eigenen Erwartungen.

Martin hielt ich laufend über meine wundersame Entwicklung auf dem Laufenden. Er lauschte mir geduldig und machte aufmunternde Geräusche, aber ich sah ihm an, dass er dem Frieden nicht recht traute.

Nun gut, das war ihm zu verzeihen, sagte ich mir grossmütig. Er kannte die alte Kassandra Bergen schon seit mehr als zehn Jahren. Er würde Zeit brauchen, um sich an die neue zu gewöhnen.

«Möchtest du wissen, wie es mit der Mutter von Eric weitergegangen ist?», fragte Martin mich eine Weile später unvermittelt. «Was er mir kürzlich erst erzählt hat, hat mich gelinde gesagt überrascht.»

War das ein Test? Wollte Martin prüfen, ob sich erneut meine Gier nach Rätseln melden würde, beim kleinsten Anlass?

Ich lächelte milde. «Wenn du mir davon erzählen willst?»

Martin runzelte die Stirn. «Du schaust so komisch. Halb teilnahmsvoll, halb doof. Wie ein Schaf. Ist das die neue Seelenruhe?»

Ich warf ihm einen kühlen Blick zu.

«Schon besser, Gott sei Dank», versetzte Martin. «Eric war mit seiner Mutter mittlerweile beim Gerontopsychiater. Der hat die üblichen Abklärungen gemacht, breite Anamnese, Testdiagnostik, Status und Labor, Schädel-MRI, EEG. Und jetzt rate mal, was die ergeben haben?»

«Eine leichte bis mittelgradige Demenz?»

«Falsch. Toppwerte, die alte Dame ist völlig klar im Kopf. Alles bestens.»

«Das muss nichts heissen. Ich bin keine Spezialistin, aber könnte es auch eine depressive Pseudodemenz sein? Oder eine wahnhafte Störung? Sucht? Eine Angsterkrankung?»

«Wäre alles möglich, aber die alte Dame will nichts davon wissen. Sie pocht darauf, dass sie psychisch völlig gesund sei. Sie will ernst genommen werden, nicht behandelt.»

«Das ist nicht ungewöhnlich, oder? Fehlt es gerade im Alter nicht häufig an Krankheitseinsicht?», fragte ich.

«Doch, natürlich. Was es aber nicht leichter macht. Anna erweist sich als bemerkenswert stur. Sie will nicht zum Arzt. Aber mit mir», er hüstelte, «würde sie reden. Weil sie mich kennt. Eric hat mich darum gebeten, einmal ein Gespräch mit ihr zu führen. Er möchte meine Meinung hören.»

Ich spürte das leise Aufglimmen von Interesse irgendwo in meinem Brustkorb. Dezidiert erstickte ich die Flamme.

«Na, dann wünsche ich dir viel Erfolg. Ich bin sicher, du wirst einen Weg finden, die alte Frau zur Behandlung zu motivieren. Wer, wenn nicht du?»

Wieder lächelte ich betont milde.

«Bäääh», blökte Martin.

Ich streckte ihm die Zunge heraus.

Eine Woche später fiel mir im grossen Klinikrapport Martins umwölkte Miene auf. Er gab sich Mühe, unbeteiligt zu wirken, aber ihn beschäftigte etwas, das war mir sonnenklar.

Als nach dem Schlusswort des Klinikdirektors das allgemeine Stühlerücken losging, Akten zusammengeklaubt, Laptoptaschen umgehängt und Jacken ergriffen wurden, drängte ich mich zwischen Ärzten, Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen hindurch und tippte Martin von hinten auf die Schulter.

«Alles okay bei dir?», fragte ich. «Du siehst besorgt aus. Probleme?»

Er zögerte.

«Es hat nichts mit der Klinik zu tun», erwiderte er dann. «Es geht um Eric und seine Mutter.»

Ich zog in höflichem Interesse die Augenbrauen hoch.

Martins Miene verdüsterte sich. «Ich habe mit Anna gesprochen. Sie wirkt tatsächlich sehr klar auf mich, weder depressiv noch ängstlich noch wahnhaft, zumindest nicht auf den ersten Blick. Aber mehr noch als das. Die Paranoia hat nun auch auf Eric übergegriffen.»

Ich zog die Augenbrauen noch höher. «Eine Folie à deux? Meine Güte.»

Martin schüttelte unwirsch den Kopf. «Eric ist psychisch vollkommen stabil, Kassandra, und zudem einer der intelligentesten Menschen, die ich je getroffen habe. Aber nun erzählt er mir, dass auch er das beklemmende Gefühl hat, beobachtet zu werden. Mir kommt diese Sache zunehmend seltsam vor.»

Ich spürte es, das Aufwallen von etwas Feurigem, Altbekanntem in meinem Inneren. Ein Prickeln, ein Kribbeln.

Atmen, sagte ich mir entschieden. Tief atmen. Ein. Aus. Ein. Und aus.

«Ich muss auf meine Station, Martin, tut mir leid. Ich werde für ein schwieriges Gespräch erwartet. Viel Glück mit der Sache, ja?»

Aufmunternd klopfte ich ihm auf die Schulter und entschwand dann, ehe er noch etwas entgegnen konnte.

Ich glühte vor Stolz. Kassandra Bergen, Heldin des neuen Weges, schlug sich auf die Seite der Résistance und widersetzte sich der schmeichelnden Versuchung. Konnte es einen besseren Beweis dafür geben, dass ich die alten Muster gründlich hinter mir gelassen hatte, dass ich auf dem Weg war zu einem weisen, in sich ruhenden Selbst?

Da sieht man es wieder, sagte ich mir selbstzufrieden. Menschen können sich verändern, können eine neue Wahl treffen. Hatte ich es nicht immer schon gesagt?

Beschwingt betrat ich an diesem Abend das Haus. So erfüllt war ich von einem warmen Gefühl von Dankbarkeit und Freude, dass ich versöhnlich darüber hinwegsah, dass Jana und Mia schon wieder Schulsachen, ausgelatschte Turnschuhe und verdreckte Jacken kreuz und quer im Eingang verstreut hatten.

Ohne grosses Aufheben darum zu machen, räumte ich die Sachen weg.

«Hallo?», rief ich dann. «Jemand zuhause?»

«Hier!», brüllte Marc aus seinem Büro im Kellergeschoss. «Ich muss noch kurz etwas erledigen, bin gleich bei dir.»

Mein Weg führte mich in die Küche, wo ich, wenig verwunderlich, ebenfalls ein kleines Chaos antraf – leergefutterte Kekspackungen, Krümel überall, eingetrocknete Müslischalen, eine schrumpelige Bananenschale im Spülbecken. Erneut unterdrückte ich meinen ersten Impuls, in wüstes Gebrüll zu verfallen. Kam es auf lange Sicht darauf an? Spielte es eine Rolle? Es waren noch Kinder, sie mussten nicht alles perfekt machen.

Also entsorgte ich den Abfall, steckte das Geschirr in die Abwaschmaschine, und gerade, als mir beim Abwischen der Tischplatte eine verheissungsvolle Blechbüchse in mattem Rot ins Auge fiel, betrat Marc die Küche.

«Oh», machte ich und reckte den Hals, um die geschmackvoll in Shabby-Chic gehaltene Büchse genauer zu betrachten. «Was ist denn das?»

«Gebäck», erwiderte er. «Ein Geschenk.»

Frohlockend hob ich den Deckel ab.

«Meine Güte!», keuchte ich, als ich die wunderschönen regenbogenfarbigen Meringues erblickte. «Die sind aber nicht etwa selbstgemacht, oder?»

«Doch, offenbar schon.»

«Wow. Eine Patientin?»

«Nein», erwiderte Marc beiläufig.

«Sondern?», bohrte ich nach. Marc liess sich heute aber wirklich die Würmer aus der Nase ziehen.

«Eine Bekannte von früher.»

«Welche Bekannte von früher?»

«Niemand Besonderes. Sie heisst Linda», antwortete er und verzog sich ins Wohnzimmer.

Ich blieb eine Weile bewegungslos in der Küche stehen, die Stirn in Falten, den Kopf schräggelegt, und suchte in den verborgenen Winkeln meines Zentralnervensystems nach einem guten Grund, warum dieser Name mir ein leichtes Unbehagen bescherte.

Dann fiel der Groschen.

«Linda? Deine Ex-Freundin?», rief ich sofort.

«Ja», grummelte Marc aus dem Wohnzimmer über das Geraschel einer Zeitung hinweg.

«Ich dachte, du hättest schon seit ewigen Zeiten keinen Kontakt mehr mit ihr?», gab ich zurück.

«Ich habe sie zufällig wieder einmal getroffen», grummelte es aus dem Wohnzimmer.

«Wann?»

«Vor einer Weile.»

Mir wurde das Rufen quer durch das Haus zu blöd. Die Büchse des Anstosses noch immer im Arm, marschierte ich ins Wohnzimmer hinüber.

«Warum hast du mir nichts davon erzählt?», wollte ich wissen, und klang dabei brüsker, als ich vorgehabt hatte.

«Es ist nicht wichtig», kam es hinter der grossflächig aufgespannten Zeitung hervor.

«Und weshalb schenkt die Frau dir jetzt das Zeug hier?» Anklagend schüttelte ich das Corpus delicti.

«Ich glaube, sie hat es einfach nett gemeint», erwiderte Marc. Es war offenkundig, dass ihm das Gespräch zuwider war. «Sie hatte eine harte Zeit, ich habe sie ein wenig unterstützt, und sie wollte ihre Dankbarkeit zeigen.»

«Was für eine harte Zeit?», hakte ich argwöhnisch nach.

«Eine hässliche Trennung. Wüster Rosenkrieg über Monate, bis nun kurz vor Weihnachten die Scheidung rechtskräftig wurde.»

Ich schluckte. Starrte in die Blechbüchse. Die Meringues waren perfekt. Federleicht, pastellfarben gestreift, wunderschön geformt. Jede einzelne.

«Lass mich das zusammenfassen», sagte ich, um Sachlichkeit bemüht. «Deine Ex-Freundin Linda – diejenige, welche dir vor knapp zwanzig Jahren gründlich das Herz gebrochen hat – ist überraschend wieder aufgetaucht und hat sich wegen ihrer Scheidung an deiner Schulter ausgeweint, richtig? Und jetzt schenkt sie dir das da», erneut schüttelte ich vorwurfsvoll die Dose mit dem Schaumgebäck der Superlative, «und zwar aus lauterer Dankbarkeit und ohne jegliche Hintergedanken?»

Marc senkte die Zeitung und sah mich an. «Es ist nichts, Ka. So, wie du es schilderst, klingt es völlig falsch. Ich bin schon ewig über Linda hinweg, und ihr geht das umgekehrt genauso. Die Treffen waren rein freundschaftlich, unterstützend. Du musst dir keine Sorgen machen.»

Ich griff mir eine der Meringuen und hielt sie ihm dicht vor die Nase. «Hast du dir die Dinger mal genau angeschaut? Sie sind dreifarbig gestreift. Dreifarbig! Weisst du, wie schwierig sowas ist? Diese piekfeine Perfektion, das ist doch eine Provokation an meine Adresse! Erinnerst du dich, wie ich mich mal daran versucht habe, meinerseits Regenbogen-Meringuen zu backen, nach einem Rezept in einem hippen Blog?»

Marc verzog das Gesicht. «Redest du von dieser schlammfarbenen, brettharten Platte, die du uns vor ein paar Monaten hast unterjubeln wollen? An der ich mir fast einen Backenzahn ausgebissen hätte?»

«Eben!», triumphierte ich. «Normale Frauen können keine Regenbogen-Meringuen backen. Die hier kann es. Und deshalb ist dieses Geschenk nicht mehr und nicht weniger als eine Machtdemonstration. Mehr noch: eine Kriegserklärung.»

Jetzt legte Marc seine Zeitung ganz beiseite.

«Ka», sagte er, mit seiner ruhigen, geduldigen Hausarzt-Stimme. «Du übertreibst. Ich bin sicher, Linda hat nie daran gedacht, dir den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Sie macht solche Dinge einfach gerne, hatte schon immer ein Faible dafür – Kochen, Backen, Dekorieren, Basteln. Neuerdings beschäftigt sie sich mit Kalligrafie.»

Ich verzog angewidert das Gesicht. Schlimmer als befürchtet.

«Du hingegen», fuhr Marc gemessen fort, «hast ganz andere Qualitäten. Mag sein», räumte er ein, «dass die typisch weiblichen Eigenschaften nicht so ganz dein Ding sind.»

Ich schnaubte.

«Aber in anderen Bereichen übertriffst du eine Linda um Längen. Und schliesslich habe ich dich geheiratet, oder? Nicht sie.»

«Vielleicht auch, weil sie damals, bevor du mich kennengelernt hast, Hals über Kopf zu einem anderen gezogen ist und dir einen emotionalen Scherbenhaufen hinterlassen hat?», gab ich zu bedenken.

«Das auch», erwiderte Marc trocken. «Aber nicht nur. Linda und ich, das wäre nie etwas geworden. Also wie gesagt: keine Sorge. Eifersucht ist unnötig. Wir sind einfach Freunde. So wie du und Martin.»

Ich öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, klappte ihn dann aber wieder zu.

Martin.

Natürlich. Damit hatte er mich. Und zwar in vielerlei Hinsicht.

Ich hatte Marc über all die Jahre zugemutet, Martin Rychener als meinen engen besten Freund zu akzeptieren, ob mein Mann das nun wollte oder nicht. Es war gelungen, immerhin, die beiden hatten einen Weg gefunden, miteinander auszukommen, mehr noch: ihrerseits gute Freunde zu werden. Aber Marc hatte in dieser Sache keine Wahl gehabt.

Und da war diese kurze, heftige Affäre zwischen Martin und mir gewesen, damals, vor Jahren. Ich hatte sie Marc nie eingestanden.

Ich konnte das drehen und wenden, wie ich wollte, mildernde Umstände anführen, betonen, dass Martin und ich seitdem nie mehr auch nur annähernd die Grenze überschritten hatten, ich konnte unsere beiderseitige Reue ins Feld führen, die klare, unverbrüchliche Entscheidung für unsere jeweiligen Partner und Familien … Es änderte nichts.

Ich hatte Marc betrogen, ich hatte ihn belogen. Ich hatte ihm immer wieder versichert, dass er sich keine Sorgen machen müsse. Er hatte mir vertraut, und ich hatte dieses Vertrauen gebrochen.

Jetzt hatte sich das Blatt gewendet, die Rollen waren vertauscht. Und ich war nicht in der Position, pompös auf meine Rechte als Ehefrau zu pochen.

An Marcs irritiertem Blick merkte ich, dass ich zu lange geschwiegen hatte. Also gab ich mir einen Ruck. «Du hast Recht. Tut mir leid, ich habe überreagiert, Marc. Ich weiss auch nicht, was in mich gefahren ist, warum ich mich wie eine besitzergreifende Furie gebärde. Wahrscheinlich der blanke Neid, weil Linda diese vermaledeiten Baisers besser hingekriegt hat als ich damals.»

In heroischer Selbstentsagung biss ich in eines der luftigen Wunderwerke.

«Mmh», machte ich tapfer. «Hervorragend.»

Noch immer kauend, gab ich meinem Mann einen artigen Kuss auf die zweifelnd gerunzelte Stirn und zog mich in die Küche zurück.

Ich musste die Emotionen, die in meinem Inneren losgebrochen waren, das Karussell von Ängsten, Wut, Zweifel und Schuldgefühlen mit mir selbst ausmachen, ausserhalb von Marcs Sichtweite.

Ich musste mich als Erstes beruhigen, mich fangen. Die Anspannung auf ein gangbares Niveau senken.

Ich stützte mich mit beiden Armen auf dem Herd auf, nahm ein paar bewusste, tiefe Atemzüge, schloss die Augen.

Schon besser.

Vor meinem inneren Auge formierte sich ein Muster. Lindas Rosenkrieg, über Monate. Marcs abwesende, distanzierte Unkonzentriertheit im Herbst, die vielen Abwesenheiten. Lindas Scheidung, die erst kürzlich über die Bühne gegangen war. Das Ungesagte, das zwischen Marc und mir stand, bis heute. Die verflixten Meringuen.

Traute ich dieser Linda? Nicht die Spur. Eine Frau, die so backen konnte, war zu allem fähig. Insbesondere eine frisch geschiedene Frau, die so backen konnte. Ich witterte Ungemach, ich witterte Probleme.

Aber ich durfte das jetzt nicht über Marc austragen. Es stand mir nicht zu, zu nörgeln und zu fordern. Mir ganz sicher nicht.

Ich brauchte eine Strategie.

Kapitel 3

«Deine Strategie ist Schwachsinn», beschied Martin Rychener kategorisch.

«Ist sie nicht», beharrte ich. «Sie ist wohldurchdacht, zieldienlich und fundiert. Wenn auch womöglich leicht ungewöhnlich.»

Martin lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, wodurch seine Frisur ein klein wenig in Unordnung geriet – ein klares Zeichen dafür, dass das Gespräch ihm zusetzte.

Es war drei Tage später, Freitag, und einmal mehr sass ich in seinem Büro in der Klinik, zu einer ausserordentlichen Lagebesprechung.

«Du kannst etablierte psychotherapeutische Werkzeuge nicht auf dermassen bizarre Weise anwenden», gab Martin mir zu bedenken. «Das Konzept der inneren Persönlichkeits-Anteile, des inneren Teams ist nützlich, um Patienten deutlich zu machen, dass es unterschiedliche Strebungen in ihrem Inneren gibt und dass jede dieser Strebungen wertvoll ist und da sein darf. Dass es besser ist, wenn diese Strebungen alle wahrgenommen und akzeptiert werden, als wenn ungeliebte Anteile ins Unbewusste abgedrängt werden, wo sie dann unbeaufsichtigt ihr Unwesen treiben.»

Ich nickte heftig. «Eben, da hast du es.»

«Aber das heisst nicht», fuhr Martin mit nun erhobener Stimme fort, «dass man dieses therapeutische Konzept gezielt und strategisch missbrauchen darf, um sich und andere hinters Licht zu führen. Was du vorhast, ist unehrlich und manipulativ.»

«Durchaus nicht», insistierte ich. «Ich bin absolut ehrlich mit mir. Ich erkenne, dass meine Psyche aus unterschiedlichen, sich teils widerstrebenden Anteilen besteht und dass jeder davon wichtig und richtig ist. Ich akzeptiere jeden einzelnen, setze sie zusammen an einen Tisch und verteile ganz bewusst Aufgaben. Jeder Anteil bekommt einen Bereich meines Alltags, in dem er sich verwirklichen und die Führung übernehmen kann. So kann ich mich in alle Richtungen frei entfalten und mich dynamisch an Umgebungsfaktoren anpassen.»

«Das ist dummes Geschwätz!» Martin wirkte mitgenommen, völlig übertrieben, wie ich fand. «Du formulierst es wunderschön, geradezu juristisch. Aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass du vorhast, gegenüber dem wichtigsten Menschen in deinem Leben hochstrategisch deine wahren Gefühle und Motive zu verbergen. Und das ist nicht richtig!» Er unterstrich die letzten Worte, indem er heftig mit der Faust auf seine Armlehne schlug.

«Du findest, ich sollte Marc gegenüber ehrlich sein?»

«Ja, allerdings.»

«Das heisst», fuhr ich kühl fort, «ich soll ihm von unserer Affäre damals erzählen? Und du, Martin? Wirst du deiner Ehefrau und Mutter deiner Tochter dann auch erzählen, dass du während ihrer Schwangerschaft mit mir im Bett warst?»

Martin erbleichte. «Das hat mit Selma nichts zu tun.»

«Nein? Was denkst du, wird Marc tun, wenn ich es ihm erzähle? Auch in Zukunft bei unseren lauschigen Abendessen zu viert edel schweigen, Selma im Unklaren lassen? So tun, als wäre nichts?»

Er verstummte.

«Ich habe mir hunderte von Malen überlegt, ehrlich zu ihm zu sein, Martin», fuhr ich ruhig fort. «Ich finde es grauenhaft, es ihm zu verheimlichen. Das Wissen um meinen Treuebruch liegt wie ein Stein in meinem Magen, ein stetiger Misston, der sich wie ein giftiger grauer Schatten über die schönsten Augenblicke mit Marc legt. Ich wünschte, ich könnte die Erinnerung exzidieren wie ein Geschwür.»

Martin seufzte tief.

«Wir waren Idioten», stellte er fest.

«Ja, das waren wir. Und das wissen wir auch. Und wir leben danach, wir haben aus unserem Fehler gelernt, heute sind wir wahre Musterschüler, nicht wahr?»

Er lächelte schwach, und ich erwiderte sein Lächeln.

«Aber», fuhr ich fort, «der Misston ist immer noch da, lastet mir – und dir – auf der Seele, zwickt und schmerzt. Und die Versuchung wäre gewaltig, reinen Tisch zu machen, mich zu entlasten, ehrlich zu sein. Aber dann? Dann hätten wir unsere Last selbstgerecht auf Marc und Selma übergewälzt. Wäre etwas besser geworden? Beide würden leiden, massiven Schmerz empfinden, wegen einer Sache, die kurz aufgeflammt, sofort wieder erstorben ist und seitdem keine Auswirkungen mehr auf unser Leben, unsere Wahrheit hat. Im Heute sind wir absolut aufrichtig. Wir waren es nur nicht immer, wir sind einmal gestolpert. Nein, Martin, diese Art von Ehrlichkeit ist nicht konstruktiv. Sie ist feige.»

Er strich sich mit einer Hand über das Gesicht. «Das sage ich mir auch in einem fort. Und meistens glaube ich mir das auch.»

«Es gibt kein Richtig und kein Falsch in solchen Situationen. Es gibt nur Entscheidungen. Und ich habe meine Entscheidung getroffen.»

«Und nun taucht eine andere Frau am Horizont auf.»

«Ganz genau. Eine neue Kontrahentin hat den Ring betreten», erwiderte ich grimmig.

Er runzelte die Stirn. «Meinst du nicht, dass du die Sache überbewertest? Dir da etwas zusammenreimst?»

Langsam schüttelte ich den Kopf. «Ich wünschte, es wäre so. Aber nein, das glaube ich nicht. Es passt alles. Das ungute Gefühl wegen Marc, das mich seit Monaten umtreibt, die intensive, wortlose Spannung zwischen den Zeilen. Seine Zerstreutheit, dass er mir zunehmend entgleitet. Ich glaube nicht wirklich, dass er eine Affäre mit Linda hat – es würde nicht zu ihm passen. Marc ist ein geradliniger Mensch, er macht keine halben Sachen.»

«Dasselbe könnte man über dich sagen, und doch …», warf Martin sachte ein.

«Ich weiss. Ich könnte mich täuschen. Und ich dürfte mich nicht einmal beklagen, wenn er eine heimliche Affäre hätte. Mehr noch, wenn dem so wäre, so weh mir das auch täte, wären wir quitt. Ich könnte mit ihm ins Reine kommen, wir könnten neu beginnen. Das ist nicht meine Hauptsorge. Ich habe Angst», ich schluckte hart, «dass Marc langsam, aber anhaltend zum Schluss kommen könnte, ein klassischeres Modell von Frau wäre besser für ihn. Dass eine Partnerin mit typisch weiblichen Interessen und Eigenschaften ihm die Ruhe und den Frieden schenken würde, die ihm bei mir fehlen. Das ist die grösste Gefahr. Und Linda könnte exakt diesen Typ Frau verkörpern.»

«Wie war das noch?», sagte Martin mitfühlend. «Kochen, Backen, Basteln?»

«Und Kalligrafie», ergänzte ich dumpf. «Und regenbogenfarbige Meringuen.»

«Ich glaube, du unterschätzt Marc», wandte Martin freundlich ein. «Mag sein, dass er bisweilen die Nase voll hat von deinen Anwandlungen, besonders nach der üblen Sache im letzten Herbst. Aber ich glaube nicht, dass er das ernst meint. Wir Ärzte kennen diesen Effekt doch alle – bisweilen haben wir die Schwierigkeiten und Widerhaken in unserem Beruf so satt, dass wir davon träumen, ein ruhiges Leben zu führen und irgendwo auf dem Land ein Feld zu bestellen. Aber täten wir das wirklich, würde uns schnell langweilig. Das brave Weibchen mag für Marc ein stiller Traum sein, ein imaginärer Kontrast. Aber er ist mit Kassandra Bergen verheiratet. So ein Mann will im Innersten kein liebes Frauchen.»

Ich verzog das Gesicht. «Ich wünschte, ich könnte dir zustimmen. Und das mag eine ganze Weile auch so gewesen sein. Aber er ist müde, Martin. Die Praxis laugt ihn aus. Das hat viel verändert. Er wünscht sich diese Ruhe und diesen Frieden, aus tiefstem Herzen. Und ich», entschlossen richtete ich mich auf, «werde sie ihm geben. Diese Linda kann einpacken.»

«Lass mich deinen Plan noch einmal zusammenfassen», hob Martin betont neutral an. «Du hast vor, deinen wilden, abenteuerlustigen inneren Anteil fortan penibel von Haus und Heim fernzuhalten, richtig? Zuhause wirst du die warmherzige Mutter, treusorgende Ehefrau und begeisterte Hausfrau sein?»

«Das mit der Hausfrau könnte schwierig werden», räumte ich ein. «Ich muss realistisch bleiben – ich werde nie eine Göttin an Herd und Ofen sein. Aber ich wollte schon immer mal neue Sofakissen nähen. Und ich bin ganz ordentlich im Garten. Mit Blumen und so», fügte ich vage hinzu.

Martins Miene sah verdächtig danach aus, als müsste er sich zügeln, um nicht in Gelächter auszubrechen. «Und während im privaten Umfeld ausschliesslich der harmonische, weibliche Anteil deiner selbst zum Zug kommt, inklusive all den neuen Teufeleien wie Rohkost und Yoga», fuhr er fort, «wirst du dem besagten wilden, abenteuerlustigen Anteil anderswo kontrolliert Auslauf verschaffen?»

Ich nickte mit Nachdruck. «Exakt. Ich halte es da ganz mit Friedrich Schiller: ‹Strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillstand deiner Tätigkeit.› Kalenderspruch», ergänzte ich und tippte mir schlau gegen die Nase.

Martin hob eine Augenbraue, liess sich aber nicht beirren. «Konkret willst du dieses Gleichgewicht erreichen, indem du gemeinsam mit mir diese, wie du sagtest, mysteriöse Angelegenheit untersuchst, die mein Freund Eric mir zugetragen hat?»

«Ganz genau», strahlte ich. «Ich bin zum Schluss gekommen, dass es sinnlos ist, mir einreden zu wollen, dass diese Seite an mir nicht existiert. Ein Teil von mir ist neugierig, wagemutig und risikofreudig, das lässt sich einfach nicht leugnen. Versuche ich, diese Seite zu unterdrücken, entstehen Spannungen, die sich dann explosiv Bahn brechen. Und das kann ich gerade in der jetzigen Situation nicht brauchen, das wäre destruktiv. Also ist es besser, diese beträchtliche Energie in kontrollierte Bahnen zu lenken. Gezielt, überlegt, gefasst. Und ohne dass es Marc und die Familie betrifft.»

«Wirst du mir jetzt gleich wieder erzählen, dass diesmal sicher nichts passieren könne? Weil dieses Mal alles anders und keineswegs gefährlich sei?», warf Martin mit müder Skepsis ein.

«Nein, Martin», antwortete ich ernst. «Für einmal nicht. Im Gegenteil. Ich weiss aus Erfahrung, dass einem solche Geschichten immer entgleiten können. Und das wenige, was du mir über Eric und seine Mutter und ihr komisches Gefühl berichtet hast, reicht völlig aus, um mir eine Gänsehaut zu bescheren, ein vielsagendes Prickeln in meinem Nacken. Nein, ich mache mir keine Illusionen. Ich gehe zum ersten Mal sehenden Auges in so eine Geschichte hinein, in vollem Bewusstsein der Risiken. Und vielleicht ist genau das meine Chance. Die Klarheit, die Struktur. Wir werden umsichtig sein. Professionell.»

Martins verblüffte Miene machte deutlich, dass er mit so einer Antwort nicht gerechnet hatte. «Das klingt beinahe, als sähest du uns beide als Privatdetektive, die einen neuen Fall übernehmen. Absurd.»

Ich grinste breit. «Privatdetektive – das finde ich gar nicht so übel. Psychiatrie-Detektive? Irgendwo im Übergang zwischen den düsteren Winkeln der menschlichen Psyche und dunklen Machenschaften? Warum nicht? Wir haben eine Menge Erfahrung, sowohl ärztlich als auch kriminalistisch. Und ich finde», ich wurde ernst, «wenn irgendwo im Verborgenen etwas Finsteres vor sich geht, dann lohnt es sich, dagegen anzugehen. Leute, die wegsehen, gibt es zur Genüge. Lass uns zumindest den ersten Schritt machen, ja? Dann sehen wir weiter. Es geht schliesslich um deinen Freund.»

Martin schwieg eine Weile, sichtlich bewegt, hin- und hergerissen.

Dann machte sich auf seinem Gesicht ein wackeliges Grinsen breit.

«Dr. Watson meldet sich zur Stelle», sagte er nur.

Kapitel 4

Die Wohnung im Berner Monbijou-Quartier war nicht besonders gross, aber lichtdurchflutet und freundlich. Hohe, weiss gestrichene Räume, helles, matt schimmerndes Parkett, moderne Küche und Nasszellen in neutralen Tönen, die letzte Renovation konnte noch nicht allzu lange zurückliegen. Das kompakte Wohnzimmer öffnete sich in einem schönen halbrunden Erkerfenster gegen eine kleine Parkanlage hinaus.

Das sandfarbene Sofa, auf dem Martin und ich sassen, hatte eine altmodisch hohe Lehne, der geschnitzte Couchtisch aus honigfarbenem Holz stand auf geschwungenen Beinen. Eine Ständerlampe mit hellem Textilschirm spendete gedämpfte Beleuchtung – es war später Montagnachmittag, und das Januarlicht draussen schwand rasch. An der Wand hing ein trübes, freudloses, schwerfällig gerahmtes Landschaftsgemälde in Öl, und der abgeschabte Orientteppich unter meinen Füssen hatte seine besten Tage schon lange hinter sich gelassen.

Anna Dubach sass auf einem gepolsterten Holzstuhl uns gegenüber, die Hände im Schoss verschränkt. Beige Hose mit Bundfalten, eine dezent gemusterte Bluse, darüber trug sie eine offene Strickjacke in Dunkelgrün. Ihr gewelltes, fast reinweisses Haar trug sie halblang, eine unaufgeregt praktische Frisur ohne Schnörkel. Sie hatte ein feingeschnittenes Gesicht, blasse, pergamentartige Haut, eine schmale Nase. Ihre Augen, ein ausgeblichenes Hellblau, musterten mich zurückhaltend, vorsichtig. Der schmale Mund trug ein vages Lächeln. Sie war mittelgross, zart gebaut, feingliedrig. Arthrose hatte ihre Finger verformt und ihren oberen Rücken gebeugt, und trotzdem hielt sie sich aufrecht. Die Fünfundsiebzigjährige strahlte eine abwartende Reserviertheit aus, aber in ihrem Blick, so fand ich, funkelte eine hintergründige, wache Intelligenz.

«Sie sind also diese Kassandra Bergen, von der Martin mir erzählt hat», sagte sie. Ihr Tonfall war neutral, abwartend, ihre Stimme weich, leise. Keine Frau, die sich in den Vordergrund drängte.

«Ganz genau», erwiderte ich und setzte mein vertrauenswürdigstes Lächeln auf.

«Sie sollen mithelfen, zu beurteilen, ob ich auf meine alten Tage langsam gaga werde?» Auch diese Worte klangen völlig neutral.

Ich überlegte kurz. Dann entschied ich mich für Aufrichtigkeit.

«Frau Dubach, ich bin Psychiaterin, aber keine Spezialistin für», ich kam kurz ins Stocken, «betagte Patienten.»

«Sprechen Sie es ruhig aus, Frau Bergen: Alt. Ich bin alt.» Das feine Lächeln verstärkte sich dezent.

Ich grinste. «In Ordnung. Ich bin keine Gerontopsychiaterin, und wenn es darum ginge, zu beurteilen, ob Sie», ich stockte erneut, vermied aber, noch einmal den gleichen Fehler zu machen, «ein wenig gaga werden, bin ich nicht die erste Wahl. Das ist nicht mein primäres Anliegen. Aber ich will Ihnen nicht verschweigen, dass ich die Möglichkeit einer psychiatrischen Störung immer als Alternative im Hinterkopf behalten werde. Ich kann Ihnen allerdings versprechen, dass ich ehrlich zu Ihnen sein werde. Wenn ich zu der Überzeugung gelange, dass Sie sich Dinge einbilden, werde ich Ihnen das offen sagen, in Ordnung?»

Ihr ruhiger Blick verliess mein Gesicht keinen Moment.

«In Ordnung», sagte sie nach einer Weile. «Sie sagten, das sei aber nicht ihr Hauptanliegen. Was dann?»

«Kassandra Bergen», schaltete sich ihr Sohn ein, der mit lässig überschlagenen Beinen neben ihr auf einem zweiten gepolsterten Holzstuhl mit steifer Rückenlehne sass, «scheint laut Martin eine bemerkenswerte Gabe zu besitzen. Sie hat eine Nase für versteckte kriminelle Machenschaften. Deshalb ist sie hier.»

«In der Klinik, in der wir beide arbeiten», fügte Martin genüsslich hinzu, «wird Kassandra hinter vorgehaltener Hand die Amazone genannt, Anna».

Ich warf ihm einen warnenden Blick zu, den er geflissentlich ignorierte.

«Nicht weniger als vier haarsträubende Fälle hat sie bisher gelöst, und in einem weiteren assistiert. Morde, Brandstiftung, Drogenhandel, sie hat schon alles gesehen. Kein schlechter Leistungsausweis, finde ich. Wenn hier etwas Unsauberes vorgeht, wird sie es herausfinden. Und ich», er hob in bescheidener Geste beide Hände, «bin ihr getreuer Helfer.»

«Ich will nicht den Anschein erwecken», warf ich ein, nicht ohne Martin einen neuerlichen strafenden Blick zuzuwerfen, «als wäre ich in solchen Dingen ein Profi. Aber ich will für Sie tun, was ich kann. Frau Dubach, bitte erzählen Sie mir der Reihe nach: Was ist passiert?»

Anna Dubach presste die Lippen zusammen.

«Es klingt tatsächlich ein wenig komisch», sagte sie entschuldigend.

«Macht nichts. Erzählen Sie einfach, ungeschönt, so, wie Sie es erlebt haben.»

Sie holte tief Luft. «Ich bin jetzt Mitte siebzig, und das Gedächtnis lässt schon nach, das muss ich zugeben. Ich vergesse Namen, manchmal muss ich lange nachdenken, bis mir ein Wort wieder einfällt. Und ich habe auch schon meine Lesebrille oder Schlüssel verlegt. Ich glaube, das ist in meinem Alter normal, nicht wahr? Aber ich hatte nie den Eindruck, dass ich trottelig würde. Richtig trottelig. Ich habe nie vergessen, den Herd auszuschalten oder die Wohnung abzuschliessen, ich habe keine Termine versäumt, nichts dergleichen.»

Sie blickte mich fast herausfordernd an.

Ich nickte nur, und sie fuhr fort.

«Aber seit einigen Wochen passieren seltsame Dinge. Ich suche meinen Brieföffner und finde ihn in der völlig falschen Schublade. Meine Kopfschmerztabletten sind im Spiegelschrank im Badezimmer am verkehrten Ort. Und die Butter lag im Kühlschrank im untersten Fach – ich bitte Sie, Frau Bergen. Wer würde die Butter im untersten Kühlschrankfach aufbewahren?»

Ich zwang mich, unvoreingenommen zu bleiben, mich nicht von vorneherein auf den naheliegenden Verdacht festzulegen – dass Anna Dubach trotz dem Befund des Berner Fachkollegen die ersten Anzeichen einer Demenz beschrieb.

«Erzählen Sie weiter», sagte ich nur.

«Ich weiss, wie sich das anhört», fuhr Anna Dubach fort, und klang dabei defensiv und ein wenig zweifelnd zugleich. «Ich habe mir ja auch gesagt, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. Und trotzdem – seit mehr als siebzig Jahren verstaue ich die Butter im Kühlschrank im oberen Fach. Warum sollte ich es auf einmal anders machen? Solche Dinge sind immer wieder passiert, und sie haben mich zunehmend beunruhigt. Das ist aber nicht alles: Bisweilen nahm ich eine Art Präsenz wahr, eine beklemmende Ahnung. Als wäre ein Fremder in meiner Wohnung gewesen. Ich konnte nie festmachen, woran dieses ungute Gefühl lag, und ich kann es auch nicht besser erklären. Aber es ist ebenfalls mehrmals vorgekommen. Und auch das erschreckte mich.»

«Ich verstehe. Hat je etwas gefehlt?», wollte ich wissen. «Etwas Wertvolles vielleicht? Geld, Schmuck?»

«Nein, gar nichts. Das ist ja das Komische, das macht keinen Sinn, oder?», echauffierte sich Anna Dubach. «Und bei mir gibt es nichts zu stehlen.»

«Erzähl ihr von deinem Erlebnis im Tram», regte Eric Dubach an.

«Das war Mitte Dezember», berichtete seine Mutter, sich allmählich wieder beruhigend. «Ich hatte in der Stadt einige Besorgungen gemacht, für Weihnachten, Sie wissen schon. Es wurde bereits dunkel, die Tage sind kurz im Dezember, und dann dieses trübe Wetter …»

Konzentriert kniff sie die Augen zusammen. «Ich hatte schon in der Stadt, als ich aufs Tram wartete, ein komisches Gefühl. Als ob ich beobachtet würde. Ich wusste nicht, warum, aber das Gefühl war ganz stark, und es hat mich nervös gemacht. Als das Tram kam, stieg ich ein – zum Glück war es ein Niederflurtram, diese alten Wagen mit ihrem hohen Einstieg sind in meinem Alter eine Katastrophe – und fand sogar einen Sitzplatz. Hinter mir setzte sich ein Jüngling hin, mit Kapuze – die Jungen heute tragen doch immer diese Kapuzenpullover, kennen Sie, oder? So einen hatte er an, und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Und er trug eine Sonnenbrille, und das in der Dämmerung. Das kam mir schon sehr seltsam vor.»

Sie benetzte ihre Lippen mit der Zunge. «Als ich bei der Haltestelle Monbijou aussteigen musste, ist der Jüngling hinter mir auch aufgestanden. Es ist ja ein ganzes Stück von der Haltestelle bis zu meiner Wohnung, und ich bin nicht mehr so gut zu Fuss, ich brauche viel mehr Zeit als früher, ganz sicher viel mehr Zeit als so ein junger Mann. Aber die ganze Strecke über blieb er ein paar Schritte hinter mir, trödelte herum, die Hände in den Hosentaschen, als hätte er nichts Besseres zu tun. Das wurde mir dann langsam unheimlich. Auch als ich in unseren Hauseingang einbog, blieb der Kerl dicht hinter mir, und ich befürchtete schon das Schlimmste, als ich meine Schlüssel hervorkramte, und war bereit, laut zu schreien, falls er mich angreifen würde. Aber dann kam zufällig genau in dem Augenblick der nette junge Herr Gerber vom Parterre aus dem Haus, hielt mir die schwere Eingangstüre auf und wechselte ein paar Worte mit mir, und als ich mich umschaute, war der Jüngling verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.»

«Hast du den jungen Mann später irgendwann wiedergesehen?», wollte Martin wissen.

Anna Dubach hob enerviert die Hände. «Wie sollte ich den wiedererkennen? Mit Kapuze und Brille? Der hatte sich doch extra maskiert, da soll mir niemand etwas erzählen. Aber seitdem habe ich immer wieder dieses komische Gefühl, beobachtet zu werden. Hier, im Haus, im Quartier, im Laden. Es hat mich ganz ängstlich gemacht. Da stimmt doch etwas nicht.»

Das klang tatsächlich ein wenig eigenartig, fand ich, aber vielleicht war es auch einfach nur ein harmloser Jugendlicher gewesen, der herumgebummelt und zufällig den gleichen Weg wie Anna Dubach gehabt hatte.

«Sonst noch etwas?», fragte ich.

Anna Dubach schüttelte den Kopf.

«Ich will es dir nicht verheimlichen, ich hielt all das für Hirngespinste», warf Eric ein, schuldbewusst angesichts der vorwurfsvollen Miene seiner Mutter. «Du weisst, wie es bei Onkel Heinz war. Da hat es auch so angefangen, und jetzt ist er im Pflegeheim.»

«Ja, ich weiss», erwiderte Anna Dubach schmallippig. «Ich verstehe schon.»

«Aber dann kam der Tag, an dem auch ich beim Nachhausekommen die Ahnung einer fremden Präsenz in unserer Wohnung wahrnahm», fuhr Eric stirnrunzelnd fort. «Ich kann nichts Konkretes nennen, ich weiss nicht, wie ich darauf kam. Und doch stellte es mir die Nackenhaare auf.»

«Ein Geruch vielleicht?», warf ich ein.

Er zuckte mit den Schultern. «Zumindest bewusst hätte ich nichts wahrgenommen. Aber vielleicht, wer weiss?»

Martin schaltete sich ein. «Könnten es Pheromone sein, Kassandra? Botenstoffe, die man unbewusst wahrnimmt? Man sagt doch, dass zum Beispiel Hunde Angst riechen können, und wir sprechen von dicker Luft, schlechten Schwingungen. Was, wenn tatsächlich ein Fremder in der Wohnung war, gestresst, unter Druck, und entsprechende Stresspheromone hinterlassen hat? Die dann Anna und Eric wahrgenommen haben, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein?»

«Das wäre zumindest denkbar», gab ich zurück. «Und dann, Eric, was ist dann passiert?»

«Ich war durch diese unheimliche Wahrnehmung alarmiert und überprüfte bewusst die Sachen in meinem Zimmer. Ich bin», fügte er erklärend an mich gewandt hinzu, «nach meiner Rückkehr aus den USA nicht wie ursprünglich geplant in die Wohnung meiner langjährigen Partnerin gezogen, sondern habe mich im Gästezimmer meiner Mutter eingerichtet. Wegen ihrer», er suchte hastig nach einem passenden Ausdruck und errötete dabei charmant, «Probleme.»

«Und was hast du festgestellt, als du dein Zimmer überprüft hast?», regte ich neugierig an.