Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein historischer Roman, der das Mittelalter nicht verklärt, aber auch nicht verdunkelt. Jenseits der Zeitenwege erzählt von einer jungen Frau, die sich zwischen Erbe und Eigenständigkeit behauptet – mit klarem Blick, geheimnisvoller Tiefe und einer Prise Magie. Hanna und Gregor finden im Jahr 1396 in einer historischen Fantasiewelt ihre Liebe und müssen sie gegen viele Widrigkeiten verteidigen, bis sogar ihr Leben in Gefahr ist. Hanna, jung und unerfahren wächst sie inmitten von Verlusten und übernatürlichen Bedrohungen zu einer starken Frau heran, die ihre Familie vor dem Untergang bewahren will. Gregor ist ein erfahrener Kaufmann, der für seine Entschlossenheit und seinen Sinn für Gerechtigkeit bekannt ist. Seine Liebe zu Hanna gibt ihm die Kraft sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen und für eine gemeinsame Zukunft zu kämpfen. Jenseits der Zeitenwege begegnen sich Vergangenheit und Gegenwart, Liebe und Mut. Hanna und Gregor müssen ihre Kräfte vereinen, um die Schatten der Geschichte zu überwinden und eine neue Zukunft zu schaffen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 546
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Jenseits
der
Zeitenwege
Enthüllungen, Hoffnungen, Entscheidungen
VON UTE DIENES
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar
Texte: © 2025 Copyright by Ute Dienes
Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by Seneid
Lektorat: Ursula Hahnenberg
Verlag: SelfpublishingUte DienesHauptstr. 1366871 Etschberg
gebt8@ mail.de
www.utedienes.de
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU–Produktsicherheitsverordnung:
Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Datamining im Sinne von §44b UrhG ausdrücklich vor.
Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Autorin bleiben davon unberührt.
Alle Rechte vorbehalten.
Für alle die Geschichten lieben.
INHALTSVERZEICHNIS:
Ruf der Freundschaft
Tage der Trauer
Ein Trost in der Trauer
Schutz und Konflikte
Begegnung
Die ungehorsame Magd
Eines weisen Freundes Rat
Ein neuer Morgen bricht an
Ein unerwartetes Wiedersehen
Die Neustadt
Piratenschatz
Wahrheiten
Sie schleicht auf leisen Sohlen in sein Herz
Vorwürfe
Die Kaltherzige
Betrug
Die Geduldige
Gedanken eines Toten
Beobachtungen
Die hungrige Magd und der Handel mit den Zeugen
Freundlichkeit
Wohltat
Die Lügen der Gierigen
„Verwunderlich …“, sagte er süffisant. „Wo Ihr doch ein Weib seid.“
Alte Bande
Richterspruch
Rheingasse
Ein wohlmeinender Rat an einen tapferen Burschen
Ein schönes Kleid
Jungfer Dornenreich
Eine Freundschaft
Bedrohung
Schmerzende Wahrheiten
Das fällt nur einem eitlen Gecken ein
Die List des Vaters
Heiratsgedanken
Geständnisse und Abschiede
Leidenschaft in der Nacht
Hochzeitsnacht
Labsal für ein wundes Herz
Zwiespalt
Einsichten
Offene Herzen und verborgene Geschichten
Hochzeitstag
Sühne
Schwere in den Herzen
Erkundungen über eine Magd
Abschiedsschmerz
Heimreise
Einzug auf dem Gut
Tröstende Äste
Einfältiger Tropf
Freudige Begegnung
Der erste Angriff
Magie
Irrungen und Wirrungen
Zänkisches Blut
Reue sticht im Herzen
Giftige Kräutlein
Fiebertraum
Familienbande
Geschichten über einen Helden
Die Rüstung
Eine Leiche auf dem Gut
Die Mahnung
Eine vertraute Begegnung
Veränderung
Das Erbe des Vaters
Ein Mann in Not
Glückseligkeit
Die Rüstung bewährt sich
Der nächste Überfall
Bartholomäus
Hanna
Die Hoffnung erwacht
Zweifel
Marktplatz von St. Blasien
Gut Wachheim
Entdeckungen
Eigenmächtigkeiten
St. Blasien
Herausforderung
Ein Brief für Armgard
Entdeckung
Der ewige Kreis
Hoffnung
Gemeinsam
Zu Hause
Angriff in der Nacht
Der Traum
Prüfung des Herzens
Flüsternde Stimmen
Stille Bande
Erwachen
Kampfgeist
Kampf mit dem Hexer
Neubeginn
Freiheit
Handelnde Personen.
Nachwort:
Neugierig auf mehr?
Prolog
Gregor
Gregor prüfte die Zahlen noch einmal, dann setzte er einen Punkt und legte die Feder auf den Tisch. Er lehnte sich zurück, strich sich durch das dichte dunkle Haar und lächelte zufrieden. Das Lächeln verlieh seinen markanten Zügen eine unerwartet weiche Note. In diesem Moment strahlten seine wachsamen Augen vor Zufriedenheit und Stolz. Denn der Tag war erfolgreich für seinen Handel gewesen und hatte die Mühen des vergangenen Jahres einmal mehr belohnt. Er hatte zwei Dutzend Ballen Tuche verkauft, dazu siebzig Fass von dem süßen Wein, den er aus Portugal gebracht hatte, und sieben Kisten mit spanischem Schinken. Seine Gedanken schweiften zu den Anfängen seines Handels, als jeder Verkauf hart erkämpft war und die Unsicherheiten ihn oft um den Schlaf brachten. Damals waren seine Schultern schwer vor Sorge gewesen, doch heute fühlte er eine erfrischende Leichtigkeit. Er schloss das Buch, in das er stets mit Sorgfalt die Einkäufe und Verkäufe eintrug, und packte es in die lederne Tasche – gerade, als es an der Tür klopfte. Der kleine Mönch, der ihn zuvor in die gemütliche Kammer geleitet hatte, die das Kloster für Gäste bereithielt, lud ihn zu Abt Roderick in die Bibliothek ein. Gregor folgte dem Mann, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte, durch die langen Flure, bis sie zu der Tür kamen, die in den Kreuzgang führte.
„Ich nehme den Weg durch den Garten“, verkündete er. Und bevor der Mönch etwas einwenden konnte oder sich womöglich anbot, ihn zu begleiten, öffnete er die Tür und trat ins Freie. Dort atmete er die frische, kalte Luft tief in seine Lungen und spürte, wie sie ihm eine wohlige Klarheit brachte. Sein Blick fiel auf das schneebedeckte Gras, aus dem die ersten Schneeglöckchen scheu hervorsahen, als wollten sie den Frühling vorsichtig begrüßen. Die Dämmerung zog allmählich ein, und die sanften Farben des Himmels spiegelten eine stille Melancholie wider. Gregor blieb einen Moment stehen, versunken in den Anblick, während die Stille des Klostergartens ihn umfing. In dieser friedlichen Umgebung fühlte er sich in einer anderen Welt, weit entfernt von den geschäftigen Märkten und dem Lärm der Stadt. Hier konnte er seinen Gedanken nachhängen, die wie der aufkommende Abendnebel leise in seinem Geist aufstiegen. Der Duft der Erde und das zarte Glitzern der Schneeflocken auf den Blättern erinnerten ihn an seine Kindheit, an Tage, die er draußen in der Natur verbracht hatte, frei und unbeschwert. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen, während er diese kostbaren Erinnerrungen hervorrief. Doch die Glockenschläge, die zur Vesper riefen, holten ihn zurück in die Gegenwart. Es war Zeit, sich von diesem friedlichen Anblick zu lösen und so setzte er seinen Weg zur Bibliothek fort.
Für einen flüchtigen Moment erstarrte er, denn wenige Schritte entfernt stand unerwartet eine Frau.
„Leha!“ rief er überrascht.
Es kamen ihm die vielen Male in den Sinn, in denen er ihr begegnet war: der Tod seines Vaters, die Nacht, in der Ari geboren wurde, der Tag, an dem Bennu wegen eines Fiebers mit dem Tod gerungen hatte, und die einsame Nacht in Beijing, während der er als Gefangener von Kaiser Hongwu um sein Leben fürchtete.
„Deine Familie ist in Sicherheit.“, sagte sie, noch bevor er die Sorge, die ihn plagte, ausgesprochen hatte.
„Samuel?“ fragte er hastig. Die Worte drängten sich ihm über die Lippen, begleitet von einer Flut an sorgenvollen Gefühlen. Leha trat näher und legte eine Hand auf seine Schulter, ihre Berührung war warm und beruhigend.
„Dein Bruder Samuel ist wohlauf“, versicherte sie ihm mit sanfter Stimme.
„Aber du wirst in Mainz gebraucht“, sagte sie in ernstem Ton.
„Ferdinand!“
Sein Freund aus Kindertagen hatte ihn in einem Brief, den der Abt ihm bei seinem Eintreffen vor wenigen Tagen ausgehändigt hatte, gebeten, ihn bald aufzusuchen. Was er, aber wegen der guten Geschäfte der letzten Tage ein wenig aufgeschoben hatte.
„Es ist an der Zeit“, hörte er Leha noch eindringlich sagen, dann war sie so unerwartet verschwunden, wie sie vor ihm gestanden hatte.
Gregor brauchte einen Augenblick, bis er verstanden hatte, was soeben geschehen war.
Doch noch am selben Abend nach der Vesper machte er sich mit Bartholomäus Schröder, einem heimatlosen Magister, der ihn auf seiner Handelsreise begleitet hatte, auf den Weg nach Mainz.
Hanna
„Du unnützes Ding solltest dankbar sein, dass ein so großmütiger Mann wie mein Enderlin dir überhaupt die Ehe anträgt!“ spie die alte Vettel aus und verzog dabei ihren rot angemalten Mund, so dass ich ihre fauligen Zähne sehen musste.
Mein Herz raste. Was für eine schreckliche Kreatur, dachte ich. Nur allzu gern hätte ich diesem widerlichen Weibsstück ins Gesicht gespuckt. Doch Enderlin hatte meinen Arm mit festem Griff gepackt, und der Abstand zu ihr verhinderte die Ausführung meines Gedankens. Warum muss er immer im Weg sein? fragte ich mich. Ganz die Tochter meiner Eltern trat ich, so fest ich konnte, zu. Das wird ihn lehren, hoffte ich. Ich verfehlte mein Ziel, sein empfindlichstes Ding, leider um einen Fußbreit. Verdammt! fluchte ich innerlich, da es Enderlin in einem seiner lichten Augenblicke gelang, mir auszuweichen. Dennoch landete mein Fuß mit voller Wucht auf seinem Bein. Das wird ihm weh tun, dachte ich zufrieden. Sein Griff um meinen Arm lockerte sich und ich konnte mich befreien. Jetzt oder nie! trieb ich mich in Gedanken an. Ich stürzte zum Schreibtisch meines Vaters, das Blut rauschte in meinen Ohren. Enderlin war mir dicht auf den Fersen. Im letzten Moment packte ich den Scherenstuhl und rammte ihn ihm vor die Füße. Strauchelt er nur? Stürzt er? Meine Gedanken rasten und noch während der nach Schweiß und Bier stinkende Sohn dieser warzengesichtigen Ausgeburt sabbernder Schweine damit beschäftigt war, sein Gleichgewicht nicht zu verlieren, griff ich nach meinem Schwert. Zum Glück liegt es noch hier, stellte ich erleichtert fest. Da ich es vor dem unangemeldeten Besuch dieser Krötengesichter gereinigt hatte. Im Geiste dankte ich meinem Vater für seine Weitsicht, mir ein Schwert schmieden zu lassen.
Ich stürzte mich auf den verdutzten Enderlin, und nur einen Lidschlag später bettelte das widerliche Schandmaul, das sich seine Mutter nannte, heulend um sein armselige Leben. Während sich die Spitze meiner Waffe unerbittlich ins fleischige Kinn des jämmerlichen Wichts bohrte, versuchte ich meine sich überschlagenden Gedanken zu ordnen.
Tante Ranghild und Onkel Richart waren wegen des Todes meines Vaters zum Rathaus bestellt. Hannes, der Knecht, war mit einer Fuhre Wein unterwegs zum Schwanen, und die Magd, die dieses liederliche Pärchen ins Haus gelassen hatte, würde wohl eher schreiend auf die Augustinergasse laufen, als mir zur Hilfe zu kommen.
Über den Tumult hatte ich nicht bemerkt, dass bereits einem weiteren Besucher Einlass gewährt worden war. Fast hätte ich mein Schwert fallen lassen, als ich den großen Mann in der geöffneten Tür stehen sah.
„Apage Satanas.“ Die dunkle Stimme füllte den Raum mit Autorität – Weiche, Satan! Ein alter lateinischer Ausruf zur Abwehr des Bösen. Krötengesicht sperrte den Mund auf, und ihr jämmerlicher Sohn begann rückhaltlos zu schluchzen.
„Du dreckige Hure wirst brennen, dafür sorge ich!“ drohte mir dieses schauerliche Weibsstück. Sie war offenkundig der lateinischen Sprache nicht mächtig und wiegte sich in der Anwesenheit des Fremden in Sicherheit. Sie stemmte ihre Hände in die beleibten Hüften und verzog wieder den rot geschminkten Mund.
Angewidert wandte ich meine Augen ab von ihr, ich wollte nicht noch einmal in ihren fauligen Schlund sehen.
„Horribile dictu“, zitierte der Fremde weiter, ein Ausdruck für etwas so Schreckliches, dass man es kaum auszusprechen wagt.
„Horribile visu“, wandte ich mich ihm zu, schrecklich anzusehen, ein Ausdruck für etwas so Furchtbares, dass der bloße Anblick Entsetzten auslöst.
Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen. Während er mir einen durchdringenden, aber freundlichen Blick schenkte, sah das Weib die Gelegenheit gekommen. Sie beschuldigte mich ohne Atem zu holen, eine Zaubersche, eine Hexe, eine Giftmischerin zugleich zu sein. Dabei vergaß sie auch nicht zu erwähnen, dass selbst meine Mutter – die eine hervorragende Ärztin gewesen war – sich zu ihren Lebzeiten schon der dämonischen Kunst verschrieben hatte und mein Vater – ein vom König anerkannter Naturwissenschaftler – vor wenigen Tagen erst den Tod gefunden hat, weil er mit dem Teufel im Bunde gestanden habe. Mit jedem Wort aus ihrem aasigen Mund überfielen mich Wut und Trauer gleichermaßen. Ohne nachzudenken, senkte ich das Schwert von Enderlin’s Kinn und trat dem heulenden Jämmerling kraftvoll ins Gesäß. Jäh fiel er mit seinem ganzen Gewicht gegen seine verlogene Mutter und riss sie mit sich zu Boden. Im selben Moment trat der Fremde zu mir, nahm mir das Schwert aus der Hand und zog mich für einen kurzen Augenblick tröstend in seine Arme.
„Ich bin Euer Freund“, flüsterte er mir dabei ins Ohr.
„Vasa vacua maxime sonant!“ Wandte er sich an das Pärchen. Wohl wahr, leere Gefäße tönen am lautesten, stimmte ich ihm in Gedanken zu.
Dann stand ich wieder allein und nahm die folgenden Geschehnisse nur als Zuschauerin wahr. Zu meinem Erstaunen trat ein weiterer Mann in den Raum. Er war fast ebenso groß wie der dunkelhaarige Fremde, aber von breiterer Statur. Dies stellte jedoch keineswegs eine Benachteiligung seiner Gewandtheit dar. Geschickt half er Mutter und Sohn auf die Beine und geleitete sie aus dem Raum. Die Männer tauschten einen Blick, dann schloss der dunkelhaarige die Tür und wir waren allein im Raum.
„Gregor von der Breeden. Euch zu Diensten, Jungfer Hanna“, sagte er und trat zu mir.
„Ihr seid unzweifelhaft das Kind Eurer Eltern“, stellte er fest.
Ich konnte ihn nicht mit klarem Blick sehen, denn sobald ich seinen Namen gehört hatte, flossen die Tränen der Trauer über meine Wangen.
Fünf Tage waren vergangen, seit mein Vater gestorben war. Fünf Tage hatte ich versucht, meine Trauer mit Wut zu bekämpfen.
Wie konnte er mich verlassen, wo doch schon der Tod meiner Mutter vor ein paar Jahren so schmerzlich für mich gewesen war?Wie konnte er es nur zulassen, dass sein Herz einfach stehen blieb? Dabei hatte er mir versprochen, dass wir ein beschauliches Leben auf unserem Gut führen würden. Diese Gedanken hatten am Tag und auch des Nachts die Tränen verdrängt, die sich nun Bahn brachen.
Gregor von der Breeden, den Namen hatte ich schon so oft gehört, dass ich glaubte, den Mann ebenso gut zu kennen, wie meine Eltern ihn gekannt hatten. Bei seiner Erwähnung kamen mir die vielen friedlichen Abende in den Sinn, an denen meine Eltern mir Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt hatten, und der Schmerz über meinen Verlust raubte mir nun beinahe die Sinne.
„Alles wird wieder gut, ich bin jetzt da“, flüsterte er, dann fand ich mich in seinen Armen wieder. Während ich den edlen Stoff seiner schwarzen Tunika mit meinen Tränen durchnässte, strich er mir tröstend über die Haare und murmelte beruhigende Worte. Ich fühlte mich wohlig und so behütet und geborgen wie damals, als kleines Mädchen in den Armen meines Vaters. Ich tat, was ich mir fünf Tage lang verwehrt hatte: Ich beweinte meinen Verlust.
Später, nachdem meine Tränen versiegt waren, standen wir noch immer eng umschlungen vor dem Schreibtisch meines Vaters. Erst als Ranghild den Raum betrat und mit sorgenvoller Stimme sagte, dass ich seit nunmehr fünf Tagen fast keinen Schlaf gefunden habe, lockerte er seinen Griff, aber nur, um mich auf seine Arme zu nehmen und in meine Kammer zu tragen.
Ich schlief den restlichen Tag und die ganze Nacht. Als ich am Morgen erwachte, waren es nicht Trauer und Hilflosigkeit, die mich als erstes erfüllten, sondern die wohlige Geborgenheit, die ich in Gregor von der Breedens Armen gespürt hatte.
Während ich mich wusch und ankleidete, dachte ich an die Geschichten, die mir meine Eltern über ihre Kindheit erzählt hatten. Sowohl meine Mutter als auch mein Vater hatten Gregor von der Breeden ihren Freund genannt. Das war nicht weiter verwunderlich, denn auch meine Eltern waren in ihrer Kindheit Freunde gewesen. Mein Vater, Ferdinand von Hayden, Gregor von der Breeden, sein Bruder Samuel, Francois de Broglio und Minerva von Mandel, eine Base meiner Mutter, waren als Kinder benachbarter Mainzer Familien zusammen aufgewachsen.
Francoise de Broglio hatte die Tochter eines Pariser Pelzhändlers geheiratet. Mit seiner Frau zog er nach Paris, wo er ein paar Jahre später den Handel seines Schwiegervaters übernahm. Samuel von der Breeden wurde auf Wunsch seines Vaters mit der Tochter eines florentinischen Händlers verheiratet, während sein Bruder Gregor eine Venezianerin heiratete. Minervas Eltern starben bei einem Brand, als sie gerade zwölf Sommer zählte. Einige Jahre später heiratete sie heimlich den Sohn eines verarmten Ritters und wurde daraufhin von ihrem Bruder aus dem Elternhaus verstoßen.
Einzig meine Eltern hatten bei ihrer Heirat sowohl den Segen ihrer Familien als auch den der aufrichtigen Liebe. Trotz der Widrigkeiten des Lebens hielten die Freunde aus Kindertagen Kontakt, schrieben sich Briefe und besuchten sich, wann immer es möglich war. So reiste ich vor einigen Jahren mit meinen Eltern nach Paris, um einen Sommer im Haus von Francoise de Broglio und seiner Frau Christin zu verbringen. Ein anderes Mal waren wir zu Gast in dem ansehnlichen Gasthaus, das Minerva von Mandel und ihr Gemahl Knuth in Köln betreiben.
Mit Samuel und Gregor von der Breeden verabredete mein Vater sich größtenteils auf seinen Forschungsreisen, da die Brüder oft selbst des Handels wegen auf Reisen waren.
Ranghild wird ihn über Vaters Tod unterrichtet haben, dachte ich, während ich meine Haare bürstete und mich über sein unerwartetes Erscheinen wunderte. Meine Tante Ranghild war mit den Freundschaften meines Vaters vertraut. Sie hatte ihn wie ein eigenes Kind angenommen, da meine Großmutter bei seiner Geburt schon mehr als vierzig Sommer gesehen hatte. Ohne darüber nachzudenken was ich tat, zog ich das grüne Kleid an, das meinen kastanienbraunen Haaren und den Sommersprossen schmeichelte.
Ich verließ meine Kammer und lauschte wie jeden Morgen aufmerksam an der benachbarten Tür, hinter der sich das Schlafgemach meines Vaters befand. Ich wusste, dass ich ihn nie wieder berühren konnte, aber dennoch sehnte ich mich nach ihm und wollte ihn spüren. In der Hoffnung, an einem Kleidungsstück oder gar auf seinem Kopfkissen noch einmal seinen Geruch riechen zu dürfen, öffnete ich die Tür und betrat das Schlafgemach. Erstarrt blieb ich stehen, denn Gregor von der Breeden stieg gerade nackt aus dem Zuber, in dem noch vor wenigen Tagen mein Vater gebadet hatte.
„Jungfer Hanna“, sagte er überrascht, während er zum Bett ging und nach einem Handtuch griff. „Fühlt Ihr Euch heute besser?“ fragte er, dabei schlang er das Leinen um seine Hüfte.
„Besser.“ Ich nickte, blieb regungslos stehen und starrte auf seine Brust und die muskulösen Schultern.
„Gut, denn es gibt einiges, das wir bereden müssen.“ Er schenkte mir einen freundlichen Blick, während er ein Kleidungsstück vom Bett nahm.
„Warum …“, begann ich und hatte große Mühe, meine aufsteigenden Tränen zurückzuhalten, “… schlaft Ihr nicht in der Kammer, die für unsere Gäste hergerichtet ist?“
„Das Schnarchen von Magister Schröder hat mich davon abgehalten.“
„Magister Schröder?“ Ich sah dabei zu, wie er die Hose über seine Beine zog und das Leinen, das seine Lenden bedeckt hatte, fallen ließ.
„Bartholomäus Schröder, er war gestern so frei und hat Eure Besucher aus dem Haus geleitet.“
„Oh.“ Ich seufzte und meine Schultern sanken mutlos zusammen. Gregor trat neben mich und legte den Arm um meine Schulter. Er führte mich zum großen Bett, das die einzig freie Sitzgelegenheit in der Kammer war, und hieß mich mit einer Handbewegung, darauf zu sitzen.
„Ich habe auf der anderen Seite geschlafen“, flüsterte er, als er die Decke aufschlug und mir das Nachtgewand meines Vaters reichte. Dankbar nickte ich nur und vergrub mein Gesicht in der Cotte, der noch der Geruch meines Vaters anhaftete.
Erst vor wenigen Wochen war ich zur selben Stunde in dieser Kammer gewesen. Ich hatte neben meinem Vater auf dem Bett gesessen und laut vorgelesen, was er in der Nacht niedergeschrieben hatte. Wir hatten gelacht und Pläne für das Gut geschmiedet, das uns meine Mutter hinterlassen hatte und das wir nun selbst bewirtschaften wollten. Nach ihrem Tod hatte es Vater zu sehr geschmerzt, weiter in dem Haus zu wohnen, in dem er mit seiner geliebten Frau so glücklich gewesen war.
Doch nun waren fast sechs Jahre vergangen seit dem schrecklichen Unfall, bei dem meine Mutter ihr Leben verloren hatte. Ich hatte meinem Vater noch einmal erklärt, dass ich keinen Mann ehelichen würde. Daraufhin hatten wir beschlossen, das Haus in Mainz meiner Tante zu überlassen und auf dem Gut eine Pferdezucht zu beginnen. Zudem wollten wir dort den Weinhandel fortführen, den die Großeltern meiner Mutter begonnen hatten. Ich seufzte bei dem Gedanken daran, und wischte die Tränen mit den Fingern weg.
„Was wird denn jetzt aus dem Gut?“ rief ich besorgt aus“, nachdem ich mich wieder etwas gefasst hatte.
Es ist alles geregelt, Jungfer. Euer Vater hat dafür gesorgt, dass Ihr Euer gewohntes Leben weiterführen könnt“, sagte Gregor mit ruhiger Stimme.
Ich wandte mich ihm zu und beobachtete, wie er seine Stiefel schnürte. Er hatte sich in der Zeit, in der ich meine Gedanken wieder meinem Vater zugewandt hatte, angezogen und trug nun eine schwarze lederne Hose und darüber eine Tunika aus blauem Tuch.
„Aber wir wollten doch auf dem Gut leben“, sagte ich verwirrt.
„Ich weiß. Sorgt Euch nicht, das Gut wird, wie Ihr es mit Eurem Vater besprochen habt, Euer Heim sein. Nach meinem Besuch bei Notarius Erbwin werde ich Euch das Testament erläutern.“
Er sah mich auffordernd an. „Hunger?“
Mein laut knurrender Magen antwortete, noch bevor ich ja sagen konnte, also nickte ich nur und folgte ihm schweigend in den Speisesaal.
Als ich die Küche betrat, lernte ich dann auch den Magister kennen, von dem Gregor zuvor gesprochen hatte. Er stellte sich mir als Bartholomäus Schröder vor und war tatsächlich noch höher gewachsen als Gregor.
Während des Frühstücks verteidigte ich mich gegen Ranghilds Vorwurf, dass ich mal wieder zu voreilig an meinem Schwert gewesen sei:
„Der widerliche Enderlin hat auf Geheiß seiner grässlichen Mutter versucht, mir unter den Rock zu greifen, um meine Gebärfähigkeit zu ertasten. Mir blieb keine andere Wahl!“
„Die neidische Ruth wird Gehör finden, Hanna. Die von Wessels haben Verwandtschaft im Rat sitzen“, erklärte Ranghild mir dennoch ungehalten.
„Deswegen darf sie sich noch lange nicht ungefragt Einlass in das Haus anderer Leute verschaffen“, schnaubte ich.
„Still, alle beide!“ Mischte sich Onkel Richart ungewohnt herrisch ein.
Was zur Folge hatte, dass ich meine Lippen aufeinanderpresste, und schuldbewusst das Mus in meiner Schüssel betrachtete, während Ranghild aufstand und zum Fenster trat.
„Tatsächlich haben sie sich ziemlich roh verhalten, nachdem die Magd sie nicht einlassen wollte. Als wir ankamen, hielt das Mädchen sich weinend ein Tuch gegen die blutende Stirn. Der edle Enderlin hat es recht grob zur Seite geschoben. Dabei ist es mit dem Kopf gegen die Tür gestoßen und war für einige Augenblicke besinnungslos“, sagte Bartholomäus Schröder.
Ich warf einen triumphierenden Blick auf Ranghilds Rücken und erkannte, dass sie leise weinte. Beschämt senkte ich wieder meine Augen und biss mir auf die Lippen.
Ranghild hatte sich – ebenso wie ich – das Weinen um ihren geliebten Bruder untersagt. Ich ahnte, dass sie es wegen mir getan hatte, und die Scham brannte auf meinen Wangen.
„Geschehen ist geschehen“, meldete sich Gregor zu Wort. „Aber damit das nicht wieder geschieht, habe ich gestern Abend Euer Schwert in der Waffentruhe verschlossen und den Schlüssel an mich genommen.“
„Das dürft Ihr nicht! Ihr habt nicht das Recht dazu! „rief ich. „Mein Vater hat mich den Schwertkampf gelehrt, damit ich mich gegen Widerlinge wie diesen Enderlin erwehren kann.“
„Hanna, zügele dich“, sagte Ranghild mahnend. „Gregor hat sehr wohl das Recht, das zu tun. Er wird nun an deines Vater Stelle für dich sorgen.“
„Nein!“
Ich schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass meine Hand schmerzte. Der Hocker, auf dem ich gesessen hatte, fiel zu Boden, und ich knallte die Tür hinter mir mit einem lauten Rums in den Rahmen.
Der kleine Innenhof, der an das Nachbarhaus grenzte, war menschenleer. Ich machte ein paar tiefe Atemzüge und rieb meine Schläfen, denn in meinem Kopf brummte und summte es ohne Unterlass. Ich empfand Wut, Scham und Trauer zugleich und wusste für den Augenblick keinen Ausweg.
Einer Eingebung folgend ging ich durch das Hoftor zur Straße. Da die Augustinerkirche wegen Baumaßnahmen geschlossen war, lief ich zum Kirschgarten, um dort in der kleinen Kapelle meine Gedanken zu ordnen. Ich missachtete die eisige Kälte, die im Innern des spartanischen Gebäudes herrschte, und setzte mich auf eine Bank.
Ich fühlte mich einsam, aber ich bedauerte es nicht, dass ich keine Freundschaften zu Mädchen meines Alters pflegte. Mir war es einfach zu langweilig, den halben Tag lang über die Farbe oder die Rüschen eines Kleides nachzudenken. Albernes Gekicher wegen der Blicke der Jungen war nicht meine Bestimmung. Dennoch vermisste ich eine Freundin, die meine Interessen teilte und verstand, worüber ich sprach.
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“, begann ich nach einer Weile flüsternd zu beten, setzte die trostbringenden Verse dann aber stumm fort.
Ich wusste, dass meine Eltern mich anders erzogen hatten, als es üblich war. Ich hatte mehr Bildung erfahren als Jungen, denen das Studieren erlaubt gewesen war. Mit sieben Jahren hatte ich schon fünf Hauslehrer verschlissen, da sie es wegen meines regen Geistes nach kurzer Zeit wieder aufgegeben hatten, mich zu unterrichten. Einzig Pater Konrad war es gelungen, meinen Wissensdurst zu stillen. Der alte Mann war bis zum heutigen Tag mein kluger Mentor, dem es noch immer gelang, meinen Geist zu fordern.
Vater hätte Gregor von der Breeden niemals zu meinem Vormund bestimmt, wenn er gewusst hätte, dass er mir mein Schwert verweigert, dachte ich zornig. Außerdem stand ich nur wenige Wochen vor dem Beginn meines 18, Lebensjahres und brauchte keinen Vormund.
„Bist du auch traurig?“ flüsterte eine Stimme dicht neben mir. Ich hatte das Mädchen nicht bemerkt, das nun zu meiner rechten Seite saß und mich neugierig anschaute.
„Ja, ich bin traurig“, erwiderte ich.
Das Mädchen zog mich auf eine unerklärliche Weise in seinen Bann. Seine Augen erinnerten, selbst in dem kargen Licht der Kapelle, an einen warmen Tag des Sommers. Das zierliche Gesicht war geschmückt mit Sommersprossen und die Farbe seiner Haare glich einem Weizenfeld. Der Mantel, den es trug, schien abgetragen zu sein, war aber aus gutem Stoff, und seine Beinchen steckten in ledernen Stiefeln.
„Ist dein Vater auch zu dem Herrn Gott gegangen?“ fragte es.
„Ja, das ist er.“ Ich schenkte ihm ein trauriges Lächeln. Es seufzte laut und legte die kleine Hand auf meine ineinander verwobenen Finger, die auf meinem Schoß ruhten.
„Dann beschützen ihn nun die Engel und wir beschützen uns“, wisperte es die Worte, die mich jäh erstarren ließen.
„Was hast du gesagt?“ flüsterte ich kaum hörbar, als neben uns eine weibliche Stimme erklang.
„Elen, es ist Zeit zu gehen“, sagte sie.
„Elen?“ Ich sprang auf – und erstarrte augenblicklich.
„Jonata“, hauchte ich tonlos, während mein Blick auf der Frau haftete, die die Schuld am Tod meiner Mutter trug.
„Hanna“, erwiderte Jonata, die augenscheinlich ebenso erstaunt war wie ich. Während wir uns stumm gegenüberstanden, stellte Elen sich auf die Bank und umarmte mich.
„Ich bin dein Engel und du meiner“, sagte sie mit ihrer kindlichen Stimme, ehe sie von der Kirchenbank hüpfte und zu Jonata ging, an deren Hand sie die Kapelle verließ.
Immer noch verwirrt von dem unerwarteten Wiedersehen bewegte ich mich erst, als ich hörbar mit den Zähnen zu klappern begann. Ich bin dein Engel, wir beschützen uns. Elens Worte hallten in meinen Kopf wider und vermischten sich mit den Worten, die mein Vater zu mir gesagt hatte, als wir um meine Mutter trauerten. Ich bin mir gewiss, dass sie einen Engel ausfindig macht, der uns beschützt.
Mutter hatte die Schriften über Engel studiert und war überzeugt, dass sie über uns wachten, wenn wir in Not waren und unsere Gedanken lenkten, damit wir entfliehen konnten. Vater und mich hatte der Gedanke daran getröstet. Als Elen nun zu mir gesprochen hatte, dachte ich einen Moment, den tröstenden Tonfall meines Vaters vernommen zu haben. Tief in Gedanken versunken verließ ich die kleine Kapelle.
Auf der Augustinergasse kam mir Onkel Richart entgegen. Ohne ein Wort zu sagen, legte er mir meinen Schal um die Schultern. Ich nickte dankbar und zog das Tuch fest um meinen Leib, während wir schweigend zum Haus liefen.
„Wir müssen weiterleben“, brach er schließlich das Schweigen, als wir den Innenhof erreicht hatten. Er blieb stehen und sah mich mit traurigem Blick an, bevor er mich umarmte.
„Deine Tante liebt dich, Kindchen, sie kann es dir nur nicht zeigen.“
„Ich weiß, Onkel Richart“, flüsterte ich schluchzend. „Aber er fehlt mir so sehr.“
„Ich weiß, Hanna – mir fehlt er auch““, sagte er leise.
Armgard
Die feuchtwarme Luft in der Badstube hatte ihr den ganzen Tag über den Schweiß auf die Haut getrieben. Ihre Kehle fühlte sich ausgedörrt an, und ihr Kopf schmerzte so sehr, dass das Denken schwerfiel. Dennoch wollte sie nicht mehr warten und noch in der Nacht fliehen. Keinen Tag länger würde sie bei diesem Schänder bleiben. Sie wusste, dass er sich heute nicht mehr mit ihrer Ausrede zufriedengeben würde.
Ihr Magen knurrte unaufhörlich, seit ihr Vater sie vor zwei Tagen zum Bader gebracht hatte, um damit seine Schulden zu begleichen. Die dünne Suppe und der Kanten Brot, den die Köchin ihr jeden Abend vorsetzte, waren bei weitem nicht genug, um sie zu sättigen.
„Wenn du fertig bist, badest du in dem kleinen Zuber und ziehst die an, bevor du dann ins Schlafgemach meines Vaters gehst“, beschied ihr die hagere Tochter des Baders und warf ihr im Vorbeigehen eine saubere Cotte vor die Füße.
Armgard hob sie schweigend auf. Die Nächte waren noch kalt, und sie musste um jeden wärmenden Stoff dankbar sein. Sie löffelte die scheußliche Suppe aus und stahl unbemerkt von der Köchin einen weiteren Kanten Brot, den sie in ihren Beutel gleiten ließ. Dort landete wenige Augenblicke danach auch das Messer, das bei dem angeschnittenen Laib lag. Dann begab sie sich wie geheißen in die Badekammer.
Dort trat sie hinter den Paravent und streifte ihre schmutziges Kleid ab. Sie zog die saubere Cotte über ihre eigene und das Kleid wieder darüber. Zwei lange Tage hatte sie den Bader und den Knecht beobachtet und wusste genau, wo sie die Schlüssel aufbewahrten, die ihr die Flucht ermöglichen würden. Vorsichtig schlich sie sich in den kleinen Raum, den der Bader sein Kontor nannte, und nahm den Schlüsselbund von einem Nagel an der Wand. Dann hörte sie Stimmen, deshalb verließ sie den Raum so schnell, wie sie ihn betreten hatte, und versteckte sich hinter dem Paravent.
„Ich möchte Euch einen vorteilhaften Vorschlag bezüglich Eurer Schulden unterbreiten“, hörte sie eine Männerstimme sagen.
„Ein vorteilhafter Vorschlag ist mir willkommen“, erkannte sie die Stimme des Baders, der sein hämisches Lachen erklingen ließ.
Armgard schüttelte sich vor Ekel.
„Die Tochter des Schmieds, wo ist sie?“ fragte der Fremde, und Armgard hielt den Atem an.
„Hm, nein, Walpes! Die Schulden, die ich bei Eurem Oheim habe, sind in zwei Tagen, wie wir es verabredet haben, beglichen. Das schöne Jüngferchen gehört mir. Sie wartet bereits in meinem Schlafgemach auf mich. Ihr könnt sie haben, wenn sie mir zuwider ist“, sagte der Bader spöttisch.
„Bedenkt, dass Ihr ohne mein Zutun gegen den Schmied das Kartenspiel verloren hättet“, erwiderte Walpes.
„Dafür hattet Ihr eine ganze Nacht mit Marie. Nein, Walpes, ich lasse nicht mit mir handeln. Das Mädchen gehört mir“, erwiderte der Bader kalt.
„Ja, ja, schon gut. Deswegen bin ich nicht hier. Ich brauche Euch und einige Eurer Mägde und Knechte als Zeugen bei Gericht. Ihr müsst gegen die Tochter des Professors sprechen“, gab Walpes nach.
„Warum, was hat sie getan?“ fragte der Bader.
„Noch nichts. Aber ich werde dafür Sorge tragen, dass sie sich etwas zu Schulden kommen lässt, und dann gebe ich Euch Nachricht“, antwortete Walpes.
„Was soll ich sagen?“ fragte der Bader neugierig.
Walpes ließ sich Zeit, bevor er antwortete.
„Der Bote, der Euch Nachricht bringt, wird es Euch sagen.“
„Das Erbe der Jungfer ist groß. Ihr müsst mir schon mehr dafür bezahlen als den Erlass der läppischen Silberstücke“, forderte der Bader, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte.
„Ich bin Euer treuer Kunde. Das wird sich nicht ändern, wenn ich sie geheiratet habe und über das Erbe verfüge“, erwiderte Walpes.
„Hm. Nun gut, Ihr seid einmal mehr überzeugend. Aber seid Euch gewiss, dass Ihr die Tochter des Schmieds nicht so billig wie Marie haben könnt“, antwortete der Bader.
„Das ist mir egal. Sorgt dafür, dass sie mir willig zu Diensten ist und mich nicht nach ein paar Tagen schon langweilt“, verlangte Walpes ungeduldig.
„Dann geht und schmiedet Euren Plan. Ich werde gleich damit beginnen, sie zu lehren – darauf mein Wort“, ließ der Bader keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit.
Armgard schüttelte sich erneut, als sie das süffisante Lachen der Männer vernahm. Sie biss sich in die Faust, um die Tränen der Wut zurückzuhalten, die ihr die Kehle zuschnürten. Als sie sicher war, dass die Männer den Raum verlassen hatten, atmete sie tief ein und aus.
Ihr Herz raste. Dies war ihre Chance zur Flucht. Ohne zu zögern eilte sie zur Tür, die zum Seitenausgang des Hauses führte. Ihre Hände zitterten, während sie einen Schlüssel nach dem anderen ausprobierte. Beim zweiten Versuch drehte sich der Schlüssel lautlos im Schloss und sie spürte große Erleichterung. Ebenso lautlos öffnete sie die Tür und einen Augenblick später trat sie hinaus und sog die frische Nachtluft tief in ihre Lungen.
Mit jeder Faser ihres Körpers spürte sie die Freiheit. Sie rannte, so schnell ihre geplagten Füße sie trugen, von ihrem Gefängnis weg. Jeder Schritt fühlte sich an wie ein Triumph über die Qualen, die sie erlitten, hatte. Die Dunkelheit der Nacht umhüllte sie, und trotz ihrer Erschöpfung spürte sie einen Funken Hoffnung aufkeimen. Endlich war sie frei.
Gregor
Es war einer dieser nassen, kalten Tage, an denen einem die Finger vor Kälte nicht gehorchten und selbst die Knochen, die den Leib aufrecht hielten, zu zittern schienen. Gregor wusste genau, wie der Mensch unter der Haut aussah, denn er hatte das Skelett, das in der Amtsstube seines Oheims gestanden hatte, noch deutlich vor seinem inneren Auge.
Siebenundzwanzig Knochen an nur einer Hand. Wie viele waren es doch gleich im gesamten Leib? Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, welche Zahl sein Bruder und er vor fast dreißig Jahren wie aus einem Munde gerufen hatten, als sie jeden einzelnen Knochen mit dem Finger berührt und gezählt hatten, doch sie wollte ihm nicht einfallen.
„Siebenundzwanzig an einer Hand“, sagte er und schüttelte resigniert den Kopf. Das Skelett verschwand aus seinen Gedanken, und dann erschien ihm das Antlitz der Frau, die er einst als das schönste Wesen auf Erden betrachtet hatte.
„Verschwinde, Benigna“, fauchte er wütend und wischte mit der Hand den Becher vom Tisch, der mit einem dumpfen Laut auf dem Boden zerbarst. Er sah unbewegt zu, wie neben seinen Stiefeln eine kleine Pfütze aus dem restlichen Bier entstand.
„Sie solltest du nun endlich vergessen haben“, brummte Bartholomäus, der ihm gegenübersaß, fischte ein paar Münzen aus seinem Beutel und warf sie klirrend auf die derbe Tischplatte. „Für heute ist es genug, Gregor“, bestimmte der junge Freund und stand auf.
Gregor betrachtete ihn einen Augenblick unschlüssig, dann nickte er und tat es ihm gleich.
Das Wirtshaus war gut besucht, und der Tisch, an dem sie gesessen hatten, stand in der hinteren Ecke neben dem Kamin. Elle, dachte Gregor, als er sich mit Hilfe seines Arms den Weg an den umstehenden, meist betrunkenen Gästen vorbei, aus der Schenke bahnte.
„Ich bin es müde, allein zu sein, Bartholomäus. Ich habe nun bald vierzig Sommer gesehen und viel zu viele davon in Einsamkeit verbracht“, gestand er dem Freund mit ruhiger Stimme, als sie endlich aus der Tür waren und nebeneinander in der Dunkelheit zum Stall gingen.
„Ich verstehe dich, mein Freund. Aber ich schließe mich Ovid an. Er sagt, dass alles, was uns im Leben widerfährt, einen Sinn hat.“
„Pah. Ovid hat seine Frauen abgelegt wie einen alten Mantel, wenn er ihrer überdrüssig war. Was daran ergibt Sinn?“
Bartholomäus lächelte schwach und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat nicht alles einen offensichtlichen Sinn, Gregor. Aber ich glaube, dass wir irgendwann verstehen werden, warum die Dinge so geschehen wie sie geschehen. Zudem Hat Ovid seine Frauen nicht abgelegt. Seine Ehen wurden geschieden und die Frauen konnten ebenso unbehelligt wie er neue Verbindungen eingehen.“
„Neue Verbindungen.“ Gregor spuckte den Schleim, der seine Kehle emporgekrochen war, verächtlich aus und verschränkte seine Arme vor der Brust, wobei er seine Hände in den weiten Ärmeln der Kutte verschwinden ließ.
„Weißt du Bartholomäus, ich verfluche nicht den Tag, an dem ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Ich bin noch immer dankbar dafür, dass sie mir Ari geschenkt hat. Aber ich hasse sie dafür, dass sie mir das Vertrauen in mein Herz geraubt hat“, gestand er dem Freund.
„Benigna war schlau, listig, ränkevoll, verlogen und untreu, aber sie war keine Diebin“, entgegnete Bartholomäus ruhig, als sie den Stall betraten.
Gregor strich dem schwarzen Hengst, den er aus Ferdinands Stall genommen hatte, liebevoll über den Hals. Er wühlte in seinem Beutel, bis er ein Silberstück hervorzog, das er dem Stallknecht, der wartend neben dem Tier stand, gab.
Die Männer schwiegen, während sie die Pferde aus dem Stall führten. Erst als sie ein Stück des Weges gegangen waren, richtete Bartholomäus noch einmal das Wort an Gregor.
„Nashwa war sich deiner Liebe gewiss“, brummte er, nahm den grauen Filzhut vom Kopf und kratzte sich geräuschvoll.
„Und dennoch habe ich sie getötet“, flüsterte Gregor mutlos, während er sich das Antlitz seiner zweiten Frau in Erinnerung rief.
„Viele Frauen sterben bei der Geburt eines Kindes. Nashwa wusste es, dennoch hat sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als dir einen Sohn zu schenken.“
Bartholomäus legte eine Hand auf Gregors Arm und betrachtete ihn aufmerksam. „Du hast ein aufrichtiges Herz, Gregor. Es wird wieder sprechen, darauf solltest du vertrauen. Dem Herzog bist du in Freundschaft verbunden, aber wenn du eine Ehe, in der es keine Liebe gibt, eingehst, machst du dich zu einem Trottel und wirst die Bande Eures Bundes zerbrechen. Ottos Schwester ist ein ansehnliches Weib, ich bin mir sicher, dass ihr Dasein als Witwe nicht lange dauert“, sagte er mit ernster Stimme.
„Meine Söhne hätten endlich wieder eine Familie, ein Heim das …“, begann Gregor, doch Bartholomäus unterbrach ihn.
„Winnegunde ist ihren eigenen Kindern nicht sonderlich zugetan, Gregor. Deine Söhne wären eine Last für sie. Zudem wird Ari bald ein Weib nehmen, mit dem er eine Familie gründet. Und Bennu, er ist nun schon zwölf Jahre. Ich denke nicht, dass er es schätzen würde, wenn du ihn vom belebten Markusplatz in Venedig in die Einsamkeit einer herzoglichen Burg zu einem lieblosen Frauenwesen bringst.“
Gregor hörte dem Freund schweigend zu und atmete tief ein, als der seinen Einwand beendet hatte. „Viele Ehen werden aus Gründen der Vernunft geschlossen, und die Paare leben dennoch oft ein zufriedenes Leben, da sie sich achten“, sagte er dann nachdenklich.
„Achtung ist nur dann genügend, wenn man sich nichts ersehnt und desgleichen auch nichts vermisst“, erwiderte Bartholomäus gedankenvoll.
„Achtung. Ist das denn nicht genug? Mann und Frau achten sich und leben in Freundschaft zusammen.“
„Nicht für dich, mein Freund. Du würdest dich stetig nach Liebe sehnen und daran zu Grunde gehen.“
„Du glaubst mich zu kennen?“
„Ich kenne dich, Gregor. Ich habe dich nun einige Jahre begleitet und dein Innerstes gesehen. Vertraue mir, wenn ich dir sage, dass eine Ehe ohne Liebe nicht der richtige Weg für dich ist“, widersprach der Freund.
„Hm. Sei dir da nicht zu sicher. Benigna glaubte auch, mich zu kennen“, murmelte Gregor nachdenklich.
„Ach pahh. Sagte ich dir nicht bereits, dass du sie endlich vergessen solltest.“ Bartholomäus blieb abrupt stehen und Gregor geriet ins Straucheln, als er dem breiten Leib seines Freundes auswich, um nicht auf ihn aufzulaufen.
„Benigna ist tot, Gregor. Zuvor hat sie dich betrogen, benutzt, hintergangen und verraten. Sie hätte dich auch töten lassen, wenn nicht Ihr Oheim sie durchschaut und entlarvt hätte“, schnaubte der Freund verächtlich.
„Ja aber …“
„Nein. Kein aber, Gregor. Du bist ein freier Mann. Niemand kann dich zwingen, ein Weib zu ehelichen, das du nicht liebst. Schon gar nicht ein Mann, der sich dein Freund nennt.“ Bartholomäus hatte sich umgewandt und stand nun so nah vor Gregor, dass dieser seinen warmen Atem auf seiner Wange spürte. „Politische Ehen, wir wissen doch beide, wie so etwas endet, Gregor. Freunden wie Otto, die dich für ihre Zwecke wie die Figur eines Schachspieles lenken wollen, solltest du nicht folgen. Der Herzog hat großen Nutzen aus deiner Freundschaft gezogen, nun ist es an der Zeit, dass er sich erkenntlich zeigt.“
„Ich treibe keinen Handel mit meinen Freunden“, erregte sich Gregor.
„Ich weiß, aber weiß Otto das auch?“
Gregor zog den Atem scharf ein und blies ihn dann nachdenklich wieder aus. Bartholomäus Worte waren nicht unrecht. Er hatte dem Herzog treu gedient, ohne je etwas eingefordert zu haben. „Ein Kaufmann ist wirklich nicht der rechte Schwager für einen Herzog“, sagte er schließlich nachdenklich.
„Nein ist er nicht.“ Bartholomäus nickte und schlug ihm zustimmend auf die Schulter. „Du bist einzig deinen Söhnen und dir selbst verpflichtet.“
„Und Ferdinands Tochter“, stimmte Gregor zu, und dann war die Trauer, die er wegen dem Tod seines Freundes empfand, wieder in seinem Herzen. Der schmerzliche Verlust hatte ihn an diesem Abend ins Gasthaus getrieben.
„Wenn das, was man sich über die Jungfer erzählt, auch nur zur Hälfte stimmt, dann solltest du sie gleich morgen verheiraten, sonst wirst du deines Lebens nicht mehr froh werden“, sagte Bartholomäus scherzend.
„Sie ist die Tochter ihrer Eltern. Es hätte mich gewundert, wenn sie eine fügsame, von allen gut gelittene Maid wäre. Ihre Mutter hat sich einst in große Gefahr gebracht, als sie der Schwester des Erzbischofs einen Tumor aus dem Kopf geschnitten hat. Und ihr Vater hat mit dem Ritter von Scharfenberg gefochten, als dieser ihn einen Phantasten genannt hat“, stimmte Gregor in das Lachen ein.
Die Männer führten ihre Pferde weiter durch die nächtliche Stadt. Die Stimmung wurde leichter, als die Unterhaltung auf Ferdinands Tochter kam. Gregor spürte, dass sich die Last auf seinem Herzen allmählich verringerte, auch wenn der Weg vor ihm noch voller Herausforderungen war.
Der nächste Morgen zeigte ihm, wie sehr Hanna ihren Eltern wirklich ähnelte.
Er nickte Bartholomäus kaum merklich zu, als dieser sich anschickte, der flüchtenden Jungfer zu folgen, und wechselte mit Richart einen vielsagenden Blick.
„Seit Ferdinands Tod klopfen Tag für Tag Mitgiftjäger an unsere Pforte“, berichtete ihm der schmächtige Mann.
„Geier sind die“, zischte Ranghild hinter ihm.
„Keiner von ihnen hat gefragt, wie es uns geht. Sie haben weder ihr Bedauern noch ihre Anteilnahme kundgetan. Aber sie schreien und gackern lauter als die Hühner, weil Hanna sich nicht mit ihnen ins Lager legt.“
„Dem wird nun Einhalt geboten, Ranghild. Ferdinand hat gut daran getan, Hanna unter Gregors Munt zu stellen. Niemand wird es wagen, seinen Namen zu verleumden“, versicherte Richart beruhigend.
Gregor polierte seinen Löffel mit dem Leinentuch, das Ranghild zuvor auf den Tisch gelegt hatte, und verstaute ihn dann wieder in seinem Beutel.
„Ferdinand war in den letzten Jahren nicht mehr der Mann, den du gekannt hast, Gregor. Er hat sich nach Elisabeths Tod verändert“, flüsterte Richart und hielt ihn davon ab, vom Tisch aufzustehen.
„Nicht jetzt, Richart. Lass Gregor erst einmal die Bücher einsehen“, mahnte Ranghild ihren Mann. „Hanna muss so schnell als möglich heiraten“, wandte sie sich dann an Gregor.
Obwohl Ranghild noch einmal versuchte, ihn davon abzuhalten, machte Gregor sich eine Weile später auf den Weg zum Gericht, um das gewaltsame Eindringen des Enderlin von Wessels und seiner Mutter anzuzeigen.
Die rechte Augenbraue des Sekretarius hob sich interessiert, als Gregor sein Anliegen vortrug. Der grauhaarige Mann bat ihn in eine mit schwerem Holzmöbel eingerichtete Amtsstube, und ersuchte ihn, sich eine Weile zu gedulden. Dann verließ er sichtlich erregt den Raum.
Gregor trat mit auf dem Rücken verschränkten Händen zu dem großen Fenster und betrachtete gedankenversunken den Innenhof. Ranghild hatte ihm abgeraten, den Vorfall anzuzeigen, weil die von Wessels mit einem Richter verwandt waren. Das seltsame Verhalten des Sekretarius ließ ihn zu dem Schluss gelangen, dass sie wohl Recht behalten würde.
Niemals. Er schüttelte den Gedanken mit einer Kopfbewegung ab. Kein Richter wagt es aus Willkür zu richten.
Er wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als eine Bewegung am gegenüberliegenden Gebäude seine Aufmerksamkeit fesselte. Aus der Domherren Trinkstube trat ein großgewachsener Mann, dessen Gestalt ihm vage vertraut vorkam. Der Mann war in ein fein gewebtes und kunstvoll geschnittenes, graues Gewand gekleidet. Er hielt inne, warf einen suchenden Blick über den Hof und bewegte sich dann zielsicher auf eine Frau zu, die an der steinernen Mauer im Schatten auf ihn wartete. Ihr weißes Gewand hob sich leuchtend vom düsteren Stein ab, als wäre sie eine Gestalt aus einer anderen Welt. Eine unheimliche Spannung lag in der Luft, während Gregor gebannt beobachtete, wie die Frau den Mann erst heftig beschimpfte – nur um sich kurz darauf von ihm umarmen zu lassen. Das seltsame Schauspiel fesselte ihn, doch schließlich riss er sich von der Szene los und wandte sich wieder dem Raum zu.
Er betrachtete anerkennend die beiden, mit Leder bezogenen Lehnsessel, die an dem großen Tisch standen auf dem Schachteln mit Schreibzeug, verschiedene Siegel und mehrere Pergamente lagen. Daneben stand ein irdener Krug, der mit Wein gefüllt war. Das hölzerne Regal, in dem neben dem Sachsenspiegel auch der Schwabenspiegel, der Deutschenspiegel und zahlreiche weitere Bücher über Land- und Lehnsrecht untergebracht waren, wies deutliche Spuren von Wurmfraß auf.
Auf der obersten Ablage bemerkte er eine einfache kleine Truhe, neben der eine Statuette stand. Bei näherer Betrachtung erkannte er sie als das hölzerne Abbild des göttlichen Bacchus.
„Richter Johann!“ rief er überrascht aus.
Im selben Moment öffnete sich die Tür, und ein in eine schwarze Robe gekleideter Mann trat an dem sichtlich erregten Sekretarius vorbei in den Raum.
„Nein, leider nur sein Sohn“, sagte der Robenträger mit freundlicher Stimme, während er den Kopf zum Gruß neigend vor ihm stehen blieb.
„Leonhardt!“ Gregor neigte ebenfalls den Kopf und betrachtete den Mann mit freundlichem Blick. „Ihr seid also auch Richter geworden“, stellte er mit ebenso freundlicher Stimme fest.
„Man konnte mich noch eines Besseren belehren“, antwortete der Mann augenzwinkernd und deutete mit einer Geste auf einen Lehnstuhl. „Setzt Euch, Gregor.“
„Ich erinnere mich – Ihr wolltet zur See fahren und …“
„Ferne Länder bereisen, um unentdeckte Schätze zu entdecken“, vollendete der Richter Gregors Gedanken. Dabei lachte er herzlich – und fing sich dafür von dem Sekretarius, der noch abwartend an der Tür stand, einen schockierten Blick ein.
„Herr Martin, schenkt uns Wein ein und setzt Euch zu uns. Dann berichtet noch einmal, was sich gestern zugetragen hat“, forderte Richter Leonhardt den hageren Mann auf.
Die einstigen Nachbarjungen betrachteten sich schweigend, während der Sekretarius dienstbeflissen der Aufforderung des Richters nachkam.
Das Amt hat einen stärkenden Einfluss, überlegte Gregor. Leonhardt wirkte entschlossener, nicht mehr wie der zögerliche junge Mann, den er vor Jahren gekannt hatte. Er war das einzige Kind von Richter Johann und dessen kränklicher Frau. Wegen deren übertriebener Fürsorge konnte er sich nur selten aus dem Haus schleichen, um mit den Nachbarsjungen zu spielen. Pirat wollte er werden und ferne Länder erobern. Gregor konnte sein breites Grinsen nicht verbergen, als er Leonhardts belustigten Blick auf sich spürte. Offenbar hatte auch der denselben Gedanken, denn er nickte ihm fast unmerklich zu, während seine klaren Augen amüsiert funkelten.
Inzwischen stellte der Sekretarius umständlich den Krug auf dem Tisch ab und setzte sich mit aufrechtem Rücken auf einen Schemel. Der beflissene Mann räusperte sich, dann wanderte seine rechte Augenbraue erneut in die Höhe, während er offenbar überlegte, wie er seinen Vortrag beginnen sollte.
Als er geendet hatte, wusste Gregor, dass Enderlin von Wessels und seine Mutter Ruth unmittelbar nach dem Vorfall, in der Augustinergasse vor Gericht erschienen waren. Sie hatten Anzeige gegen Jungfer Hanna erstattet, und behauptet, die Jungfer habe sie während eines Höflichkeitsbesuches mit dem Schwert angegriffen habe.
Der Sekretarius erregte sich noch heftig, bei der Schilderung der Geschehnisse. Er hatte der beleibten Frau zu verstehen gegeben, dass es nicht in seiner Befugnis liege, die Büttel anzuweisen, Jungfer Hanna in den Turm zu bringen. Zuerst müsse sich der Schultheiß oder ein Richter der Angelegenheit annehmen.
Um Gregors Lippen zuckte ein kaum wahrnehmbares Lächeln. Er hatte das Zetern der Vettel am Vortag selbst erlebt und konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihre schrille Stimme den beflissenen Sekretarius in Aufregung versetzt hatte.
Als er nun seinerseits die Begebenheiten schilderte, beruhigte sich das aufgewühlte Gemüt des Sekretarius allmählich. Hie und da nickte dieser, als Gregor die Wesenszüge der beiden Eindringlinge beschrieb. Eigenschaften, die auch ihm nicht verborgen geblieben waren.
Richter Leonhardt hatte sich während der Beschreibungen in seinem Sessel zurückgelehnt und schweigend gelauscht. Nun beugte er sich vor, stützte die Arme auf dem Tisch ab, legte sein Kinn auf die ineinander verschränkten Hände und senkte den Blick auf die Tischplatte.
„Ein beachtliches Paar“, sagte er nach einer Weile und lehnte sich wieder in den Stuhl zurück. Dann wandte er sich an den Sekretarius: „Macht Euch mit dem Schultheißen auf den Weg zur Augustinergasse und lasst Euch von der Jungfer und der Magd die Vorfälle noch einmal schildern.“
Der Sekretarius fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, seine rechte Augenbraue wanderte in die Höhe, bevor er sich dienstbeflissen erhob.
„Selbstredend werdet ihr die Stirn der Magd besonders genau in Augenschein nehmen, Martin.“
„Selbstredend, Euer Ehren.“ Der Sekretarius neigte grüßend den Kopf, bevor er die Tür leise hinter sich schloss.
„Es steht zu befürchten, dass die Jungfer in nächster Zeit noch weitere Besuche dieser Art erwarten“, wandte sich der Richter dann ohne Umschweife an Gregor.
„Ich gedenke, vorerst in der Augustinergasse zu verweilen. Wie Ihr wisst, beherberge ich in der Rheingasse seit ein paar Wochen eine liebe Freundin.“
„Frau Magdalena“, bestätigte der Richter nickend. „Meine Töchter sind bereits bestens mit ihr bekannt.“
„Meine ständige Anwesenheit im Haus würde für Tratsch sorgen, den ich ihr ersparen möchte“, erläuterte Gregor seine Überlegungen.
„Vermutlich. Dann seid Ihr also nicht … Ihr seid also kein Paar?“ Richter Leonhardt hielt die Luft an und betrachtete Gregor mit starrem Blick.
„Nein, wir sind uns in Freundschaft verbunden“, beeilte sich Gregor zu sagen und sah, wie der Mann die angehaltene Luft ausstieß. Er hatte zwar nicht das Aussehen seines Vaters geerbt, doch er war ebenso geradlinig wie Richter Johann. Unwillkürlich lächelte Gregor bei dem Gedanken an den fülligen Mann, der oft weinselig mit seinem Vater zusammengesessen hatte.
„Verstehe.“ Leonhardt ließ sich gelöst in den Stuhl zurück sinken und trank seinen Becher in einem Zug leer.
Die Männer vereinbarten, dass Gregor das Schwert, mit dem Jungfer Hanna sich gegen die unliebsamen Besucher gewehrt hatte, in Verwahrung behalten würde. Danach machte Gregor sich auf den Weg zu Notarius Erbwin, der – wie er von Richart erfahren hatte – Ferdinands Testament verwahrte. Er wollte endlich Klarheit über den letzten Willen seines verstorbenen Freundes erhalten und verstehen, welche Rolle ihm darin zugedacht war.
Der alte Fuchs zählt doch nunmehr gewiss schon an die siebzig Jahre, überlegte Gregor. Ein unerwartetes Kribbeln der Vorfreude durchfuhr ihn, als er feststellte, dass er sich auf das Wiedersehen mit dem Notar freute. Dem lebenserfahrenen Mann schien es ebenso zu ergehen. Er erhob sich erstaunlich gelenk aus seinem Stuhl, als Gregor die Amtsstube betrat, und begrüßte ihn mit herzlichen Worten, während sich ein fast jungenhaftes Lächeln auf seinem runden Gesicht zeigte.
„Gregor!“ rief er mit seiner merkwürdig hellen Stimme. „Verzeiht mir – Herr von der Breeden.“ Er legte die rechte Hand auf die Brust und verbeugte sich in einer entschuldigenden Geste vor Gregor.
„Gregor –so habt Ihr mich genannt, seit ich denken kann, bitte – bleibt dabei“, wehrte Gregor ab und neigte seinerseits den Kopf.
„Ah, man hat mir schon gesagt, dass du dich nicht verändert hast. Es freut mich zu sehen, dass es die Wahrheit ist.“ Der Notar wies auf den mit neuem Leder bezogenen Lehnstuhl, vor dem Tisch, bevor er selbst auf den abgenutzten Stuhl zurückkehrte, aus dem er zuvor so gewandt aufgestanden war. Gregor verspürte erneut Erleichterung, als er aus dem Munde des Notars erfuhr, dass Ferdinand ihn an das Versprechen band, das er Elisabeth und ihm vor langer Zeit gegeben hatte.
„Ich werde in eurem Sinne handeln“, flüsterte er, als er das Testament seiner Freunde in Händen hielt.
Der Notar räusperte sich und rieb sich über die müden Augen, bevor er sich in seinen Sessel lehnte und ihn mit ernstem Blick musterte.
„Ferdinand hatte gehofft, dass du ihn noch lebend antriffst, denn es gibt eine heikle Angelegenheit zu bereden“, sagte er mit ernster Stimme.
„Ich weiß, ich bin nicht sofort aufgebrochen, nachdem sein Brief mich erreicht hat, aber ich wusste nicht, dass es so schlimm um ihn stand“, erwiderte Gregor und spürte, wie die Trauer um seinen Freund erneut in ihm aufkeimte.
„Wie dem auch sei, werter Notarius, mir bleibt nur, mein gegebenes Versprechen einzuhalten.“ Gregor wollte das Schreiben zu Ende lesen, doch der Notar hielt ihn mit einer Handbewegung davon ab.
„Das wirst du tun, dessen bin ich mir gewiss. Aber wie ich es bereits erwähnte, gibt es noch eine heikle Angelegenheit zu besprechen.“
Um den Mund des Mannes zeichnete sich nun ein bitterer Zug. Er lehnte sich wieder in den Sessel zurück.
„Ferdinand hat sich vor seiner Familie geschämt, Gregor. Nach Elisabeths Tod war er verzweifelt und nicht mehr er selbst. Er versuchte, seinen Kummer im übermäßigen Genuss von Wein und Bier zu ertränken – bis er schließlich begann, sich an Pflanzen zu berauschen. Schlafmohn und Hanf ließen ihn in eine andere Welt entfliehen. Doch als er sich davon losriss, hatte sein Herz bereits großen Schaden genommen. Wie ich bereits sagte, Ferdinand schämte sich vor seiner Tochter, weil er sie mit ihrer Trauer allein gelassen hatte. Doch er wusste, dass er ihr noch mehr Leid zumuten würde. Denn es gibt noch etwas.“
Der Notar hielt kurz inne, als müsse er Kraft für seine nächsten Worte sammeln. Dann schüttelte er den Kopf und fuhr fort:
„Es gibt ein zweites Kind! Eine weitere Tochter. Er nannte sie Elen, nach seiner Mutter Elen von Hayden.“
Gregors Gedanken überschlugen sich. „Elen? Wo ist sie? Sie ist nicht Elisabeths Kind.“ Er sah das leichte Nicken seines Gegenübers und beugte sich vor, um ihn besser zu verstehen.
„Sie lebt mit ihrer Mutter Jonata in der Betzelsgasse, bei einer verwitweten Tante. Jonata Stein war Elisabeths Gehilfin, sie hat mit ihr die Kranken versorgt“, erklärte der Notar.
„Ferdinand hat mir anvertraut, dass sie sich in ihrer gemeinsamen Trauer gefunden haben. Er versicherte mir, dass es nur eine Nacht war, in der er das Lager mit der jungen Frau teilte. Dennoch war er bereit, sie zu ehelichen, als er sie ein paar Wochen später durch einen Zufall wieder traf und sie ihren Zustand nicht länger vor ihm verbergen konnte.“
„Dennoch?“
Gregor sprang abrupt aus dem Sessel auf und lief aufgeregt durch den Raum. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Wie konnte Ferdinand so etwas vor seiner Familie verbergen?
Notarius Erbwin hob abwehrend die Hände.
„Jonata wollte das nicht. Sie hatte Elisabeth sehr verehrt und wollte nicht in ihrem großen Schatten leben.“
Gregors Erregung war unübersehbar.
Ferdinand … warum hast du mir das nicht gesagt? Warum hast du mich im Dunkeln gelassen?
Verletzt von dem Schweigen seines Freundes, rang er innerlich nach einer Antwort.
„Weiß man in der Augustinergasse davon?“ wandte er sich an den Notar, nachdem er sich wieder gefasst hatte.
„Die Jungfer gewiss nicht. Aber Ferdinand hat den Verdacht geäußert, dass seine Schwester es wissen könnte“, antwortete der Notar.
Ein dumpfes Geräusch erfüllte den Raum, als Gregor mit der Faust gegen die Wand schlug, und einen lauter Fluch von sich gab.
„Himmel, Herrgott, Ferdinand! Und Himmel, Herrgott, Ranghild!“
Sein Atem ging schwer, seine Hand pochte vor Schmerz. Er beobachtete, wie ein Stapel Dokumente und samtene Säckchen mit klimpernden Münzen vom Regal fielen. Schweigend stand er da, den Kopf zornig schüttelnd, bis er die Hand des Notars auf seiner Schulter spürte.
„Ferdinand hat ein Schreiben an seine Tochter verfasst. Zwei Tage vor seinem Tod war er bei mir und hat mir einen Teil davon übergeben – die fehlende Seite konnte er nicht mehr finden.“ Der Notar reichte ihm ein beflecktes Pergament. Gregor nahm das Schreiben entgegen und trat zum Fenster, um es zu lesen.
„Himmel Herrgott, Ferdinand!“ fluchte er erneut, nachdem er es gelesen, und zusammengefaltet hatte. Seine Gefühle überschlugen sich: Wut, Enttäuschung, Schuld. Wem zürnte er mehr? Ferdinand, weil er letztendlich zu feige gewesen war, seiner Tochter in die Augen zu sehen? Oder sich selbst, weil er sein Versprechen an Elisabeth nicht gehalten und für ihre Familie nicht da gewesen war?
Schuldbeladen und noch immer zornig – auf sich selbst wie auch auf seinen Freund – verabschiedete er sich und stand wenige Augenblicke später auf der staubigen Straße. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, während er seine schmerzende Hand rieb. Wie hatte es so weit kommen können? Warum hatte Ferdinand ihm nicht vertraut?
Der schwarze Hengst, den er am Morgen aus Ferdinands Stall genommen hatte, begrüßte ihn schnaubend. Gregor löste die Zügel, behielt sie aber in der Hand und bahnte sich neben dem Pferd seinen Weg. Während der Wind ihm die unangenehmen Gerüche der Straße entgegentrieb, dachte er an seine Kindheit und die glücklichen Jahre seiner Jugend. Elisabeth hatte er den Schwur, auf ihr Kind aufzupassen, schon gegeben, als Ferdinand noch nicht einmal wusste, dass sie sein Kind empfangen hatte. Denn er hatte sich der ernsthaften Ärztin noch verbundener gefühlt als seinem oft gedankenlosen Freund.
Gregors Herz schmerzte bei der Erinnerung an Elisabeths Lächeln, an ihr Vertrauen – ein Vertrauen, das er bitter enttäuscht hatte. Er wusste, dass er handeln musste. Er musste Ferdinands letzten Wunsch erfüllen und für Hanna und Elen da sein musste.
Ich werde diese Jonata morgen aufsuchen, und danach mit Hanna reden, entschied er, als er einem großen Fuhrwerk auswich. Er konnte die Vergangenheit nicht ändern, aber er konnte versuchen, die Zukunft zu gestalten.
Sein nächster Weg führte ihn in die Rheingasse zu seinem Elternhaus. Schon bevor er die Tür zum kleinen Saal erreichte, hörte er Magdalenas kehliges Lachen und die Stimmen schnatternder Mädchen.
Das müssen Leonhardts Töchter sein, dachte er, da er sich an das Gespräch mit dem Richter erinnerte. Die Mädchen – zwei hübsche Jungfern und ein fürwitziges Mädchen mit einer großen Zahnlücke – verstummten sofort, als er den Raum betrat. Magdalena stieß einen leisen Freudenschrei aus, trat mit ausgestreckten Armen auf ihn zu und schenkte ihm ihr bezauberndes Lächeln.
„Gregor, endlich.“
Wie es ihre Art war, umarmte sie ihn herzlich und ließ ihn erst wieder los, nachdem sie ihm die Wangen geküsst hatte.
„Duretta, Kattera, Nesslin, das ist Gregor von der Breeden“, stellte sie ihn den Mädchen vor, die ihn anstarrten.
„Euer Vater hat gut daran getan, die Piraterie aufzugeben. Ihr seid weit entzückender und beachtenswerter als Gold und Juwelen“, sagte er feixend. Gregor verbeugte sich theatralisch und brachte die Mädchen damit zum Kichern.
„Wuff, wuff, wuff!“ Neben dem kleinen Mädchen erschien ein großer, zotteliger Mischlingshund.
„Ist Karl auch entschückend?“ fragte das Mädchen, mit dem feuerroten Haar, und sah ihn erwartungsvoll an.
„Hm, freust du dich denn, wenn du ihn siehst?“ Gregor tat so, als würde er ernsthaft nachdenken.
„Jaaa, und wenn wir zusammenspielen!“ Das Mädchen nickte heftig, sodass ihm die gelockten Flammen in die Stirn fielen.
„Ja dann … hm … dann ist er für dich wohl auch entzückend“, stellte Gregor in gespielter Ernsthaftigkeit fest.
„Nesslin, du solltest nicht so dumme Fragen stellen“, mahnte Duretta, die blonde Jungfer, mit ernster Stimme.
„Fragen sind niemals dumm“, antwortete Gregor freundlich und strich Nesslin liebevoll über den Feuerschopf.
Duretta sah ihn mit großen Augen an, schwieg jedoch dazu. Stattdessen wandte sie sich ihren Schwestern zu.
„Wir gehen nach Hause. Kattera, Nesslin, bedankt euch bei Frau Magdalena – und vergesst nicht, Karl mitzunehmen.“ Duretta machte einen kleinen Knicks vor ihm und hielt ihren Schwestern die Tür auf. Nesslin grinste ihn noch einmal an und zeigte dabei erneut ihre große Zahnlücke, bevor sie der Aufforderung ihrer Schwester folgte. Die schwarzhaarige Kattera knickste höflich in Magdalenas Richtung und zwinkerte Gregor belustigt zu, als sie an ihm vorbeiging. Duretta, die das bemerkte, sah mahnend von ihr zu Gregor – der nicht widerstehen konnte und ihr nun ebenfalls zuzwinkerte. Die blondgelockte, hübsche Jungfer vergaß für einen kurzen Moment ihren Mund zu schließen, doch dann richtete sie sich zu voller Größe auf und streckte den Nacken. Mit einem freundlichen, wenn auch sehr kurzen Gruß an Magdalena rauschte sie aus dem Raum.
„Duretta sorgt sich um das Wohl ihrer Schwestern. Richter Leonhardt hat nun schon die dritte Frau zu Grabe getragen – seitdem fühlt sie sich verantwortlich für die beiden jüngeren Mädchen“, erläuterte Magdalena ihm lachend. Sie dankte der Magd, die einen Krug, Becher sowie eine Platte mit Gebäck und Pasteten gebracht hatte, und übernahm dann selbst das Auffüllen der irdenen Gefäße.
„Sie ist oft angespannt“, fügte sie in ernsterem Ton hinzu.
Gregor nickte und nahm den Becher, den sie ihm reichte, dankbar an, während er sich zu ihr an den Tisch setzte. Er verspeiste eine Pastete und sah sich in dem Raum um, der noch immer genauso eingerichtet war, wie er ihn aus seiner Kindheit kannte. Seine Tante, die Schwester seines Vaters, hatte bis zu ihrem Tod vor drei Jahren das Haus bewohnt – und augenscheinlich nichts daran verändert.
Magdalena kannte ihn gut. Sie plauderte über ein paar Banalitäten, die sich im Haus unter dem Gesinde ereignet hatten, erwähnte jedoch weder Ferdinand von Hayden noch dessen Tod mit keinem Wort. Er nickte ab und an, und nachdem er die zweite Pastete gegessen und den Becher geleert hatte, fühlte er sich bereit, über seinen Freund, die Ereignisse des Morgens und das, was er in Erfahrung gebracht hatte, zu sprechen.
Magdalena hörte ihm schweigend zu und legte tröstend die Hand auf seine.