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Akina Nakamura ist Schülerin einer exklusiven Privatschule in Tokyo. Gefangen zwischen den extrem hohen Anforderungen ihrer Mutter, die sie nicht erfüllen kann, und dem Gefühl der Ausgrenzung aufgrund ihres nichtjapanischen Vaters fasst sie den Entschluss, Japan heimlich zu verlassen. Was als Roadtrip beginnt, entwickelt sich schnell zu einem Abenteuer, das Akinas Leben grundlegend und für immer verändern wird. Sie trifft auf neue Freunde und neue Feinde. Sie muss um ihr Leben kämpfen und schließlich Entscheidungen treffen, die für die Entwicklung der gesamten Menschheit von Bedeutung sind.
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Seitenzahl: 453
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Chiara Sophie Eßling
„Wo warst du?“, war das Erste, was ich hörte, die Tür war kaum ins Schloss gefallen. Und da war er wieder, dieser vorwurfsvolle Was-bist-du-nur-für-ein-schreckliches-Kind-Blick. Ich versuchte, ihren böse funkelnden Augen auszuweichen. „Wo bist du gewesen? Ich frage nicht nochmal. Du hättest schon vor Stunden hier sein sollen. Hast du denn wenigstens deine Aufgaben gemacht?“ „Ja Saika“, sagte ich abwesend und schaute ihr dabei sogar kurz in die Augen. Die erste Lüge des Tages. Ausgerechnet heute hatte ich mich hinreißen lassen, endlich mal mit meinen Freunden den neuen Film im Kino anzusehen: „Die Abenteuer von Mei und dem Drachen Aladur“. Ein Kinderfilm, ja, aber wir fanden ihn dennoch toll. Die Geschichte hatte mir mein Vater früher oft vorgelesen. Es geht um ein Mädchen, das einen kleinen Drachen großzieht. Und als er groß genug ist, beschließt sie, mit ihm davonzufliegen und die Geheimnisse der Welt zu ergründen. Das war immer mein Lieblingsbuch.
Meine Mutter dagegen hatte nie Zeit dafür gefunden, mir etwas vorzulesen. Es sei denn, es sorgte für einen Fortschritt in meiner Bildung, denn aus mir sollte ja einmal etwas werden. Alles andere war nichts als reine Zeitverschwendung für sie. Und für mich war es nichts als reine Zeitverschwendung, mir einen anderen Namen für sie ausdenken als „Saika“ - das war der Vorname meiner japanischen Mutter, denn „Mutter“ war an dieser Stelle doch zu viel des Guten. Mein Vater ist Deutscher. Früher ist er viel gereist, blieb dann irgendwie in Japan hängen. Irgendwann kam ich auf die Welt, sechs Jahre nach meiner Schwester Jun. Die Jun mit den guten Noten, mit dem Erfolg, mit der Zuneigung Saikas. Ja, ihr Lieblingskind war ich eindeutig nicht, aber trotzdem war Jun die beste große Schwester, die ich mir hätte wünschen können. Hätten mich Jun und Stephan - mein Vater - mit Saika allein gelassen, wäre ich wahrscheinlich durchgedreht. Aber so war das Haus, in dem wir leben, wenigstens noch zu einem Teil ein kleiner Rückzugsort für mich.
„Akina Nakamura!“, riss mich Saika aus meinen Tagträumen von Mei und dem Drachen. Sie sprach mich mit meinem Nachnamen an, ich steckte offenbar in Schwierigkeiten. „Ich werde es nicht noch einmal machen. Entschuldigung. Morgen bin ich pünktlich da“, sagte ich, aber ihr durchdringender Blick forderte mehr als leere Versprechungen. „Ich war noch in der Bibliothek, um zu lernen. Dann habe ich die Zeit vergessen“, log ich und verschwand in meinem Zimmer, erstaunlicherweise ohne dass Saika noch etwas sagte. „Die Lüge von letzter Woche, wie unkreativ“, flüsterte meine Schwester mit einem verschwörerischen Grinsen und stupste mich neckend an, als wir uns auf der Treppe entgegenkamen. In meinem Zimmer angekommen, ignorierte ich den Berg von Büchern, der auf dem Schreibtisch auf mich wartete und ließ mich unmotiviert auf das Bett fallen. Früher oder später würde ich meine Aufgaben machen müssen. Außerdem hatte mich mein Lehrer zu einer Präsentation verdonnert, die ich eigentlich schon hätte vorbereiten sollen. „Sei die beste Schülerin von allen. Ohne Fleiß wird aus dir nichts werden, also mach deine Arbeit. Und mach sie nicht nur, mach sie ohne Fehler und ohne Verzögerungen. Ich erwarte nicht weniger, als ein perfektes Ergebnis.“
Die gestrigen Worte meiner Mutter gingen mir nicht aus dem Kopf, genauso wie ihr strenger Tonfall. Wieso zeigte sie nie Verständnis für mich oder mal einen Hauch von Emotionen? Und warum sollte mir das Wissen über die größten Wüsten und Flüsse dieser Welt und ihre Lage auf der Landkarte im Leben irgendwie weiterhelfen? Dennoch gab ich nach und beschloss, mich ihren Forderungen zu beugen und meine Aufgaben zu erledigen – so, wie ich es immer tat. Und damit war es nur ein weiterer Tag, an dem es sich anfühlte, als würde ich für jemand anderen leben, als wären meine Wünsche und Bedürfnisse weder etwas wert noch überhaupt jemals irgendwie zu erreichen. Mein Name ist Akina Kosuke Nakamura - willkommen in meinem Leben, wenn man dieses Leben überhaupt als „mein“ Leben bezeichnen kann.
Akina Kosuke Nakamura - zugegebenermaßen ein Name, der dem ein oder anderen nicht gleich in Erinnerung bleibt. Aber das ist in Ordnung. Ich war es sowieso nicht gewohnt, dass ich irgendwem lange in Erinnerung blieb. Tokyo hat fast zehn Millionen Einwohner - eine der wenigen in der Schule gelernten Informationen, die es sich zu wissen lohnte. Und von diesen zehn Millionen Einwohnern war ich nur ein kleiner, unbedeutender Punkt in einem Meer aus Punkten. Ich ging auf eine bekannte und angesehene Privatschule außerhalb meines Bezirks Shinjuku - kein Wunder bei dem, was Saika von mir verlangte. Immer nur das Beste. Ich tat genau das, was Millionen von Menschen jeden Tag taten, und blieb dabei in der Menge unsichtbar. Ich stach auch mit meinem Aussehen nicht unbedingt hervor. Nicht gerade der Typ Mädchen, nach dem man sich umdreht. Viele Freunde hatte ich auch nicht. Nur zwei, um genau zu sein: Meinen besten Freund Taro und meine Freundin Airi. Doch seit die beiden ein Paar waren, war jede Minute, die ich mit ihnen verbringen konnte, umso seltener und wertvoller geworden. Und ich fing an, mich sogar unter meinen Freunden weniger willkommen zu fühlen.
„Akina“ ist ein Name, der in Japan Frühlingskindern wie mir gegeben wird. Er bedeutet „Frühlingsblume“, denn geboren wurde ich an einem regnerischen Apriltag. Die Japaner stehen auf diese Bedeutungen. Ich bin da wie mein Vater und finde das eher unwichtig. Er hatte damals versucht, diese Tradition zu nutzen und wollte mich „April“ nennen. Ein ironischer Seitenhieb auf die alten japanischen Traditionen. Aber nichts da. Wie so oft setzte sich meine Mutter durch und verpasste mir den japanischen Namen. Dabei wusste ich nie, ob ich wirklich nach Japan gehörte, oder ob ich, das unscheinbarste, unbedeutendste Würmchen unter all den Menschen dort, vielleicht doch noch für etwas ganz anderes bestimmt war.
„Schalte endlich den Wecker aus, das ist ja nicht mehr auszuhalten!“, brüllte eine Stimme und es wurde ein paar Mal an meine Zimmertür gehämmert, bis ich den piepsenden Würfel erreicht und zum Schweigen gebracht hatte. „Erst kurz nach sieben Uhr, aber sie ist schon wieder so nervig“, dachte ich, während ich gähnend meine Sachen zusammensuchte. Ich hatte gestern noch mehrere Stunden gebraucht, um meine Aufgaben nachzuholen, wodurch mein Schlaf wieder einmal etwas in Mitleidenschaft gezogen worden war. „Kommende Nacht werde ich acht Stunden schlafen. Mindestens“, legte ich fest und erschien kurze Zeit später brav zum Frühstück in der Küche. Mit den Worten: „Jun ist schon los“, begrüßte mich Saika und schenkte mir etwas Tee ein. „Wie, so früh?“, entgegnete ich. „Du kennst doch das alte Sprichwort ...“ „Wer früh anfängt ... Ich weiß“, fiel ich Saika ins Wort und durchforstete den Kühlschrank nach meinem Lieblingsbrotaufstrich. „Wer früh anfängt, holt das maximal Mögliche aus dem Tag heraus und kommt schneller an sein Ziel“, wiederholte sie das, was sie mir schon seit Jahren wie ein Mantra eintrichterte, als wäre dies ihre einzige Aufgabe. „Ziel ...“, murmelte ich, „Wenn ich nur wüsste, was das Ziel ist ...“ „Was hast du gesagt?“, fragte sie, da sie mich nur hatte nuscheln hören. „Ist Papa schon los?“, fragte ich und war mir sicher, dass diese Antwort keine Lüge war. Immerhin hatte ich zu keinem Zeitpunkt behauptet, dass dies die Antwort auf ihre Frage gewesen war.
„Das ist er. Und ich jetzt auch. Vergiss nicht, abzuschließen.“ Mit diesen Worten griff sie nach ihrer Handtasche, nahm im Vorbeigehen noch ihre Jacke mit, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, und war kurz darauf verschwunden. „Ich sollte mich auch auf den Weg machen“, dachte ich und räumte den Tisch ab. Denn obwohl mein Unterricht erst in über einer Stunde beginnen würde, dauerte die Hinfahrt während des Berufsverkehrs in Tokyo doch recht lange. Es dauerte hingegen nicht lange, bis sich ein weiterer Mensch namens Akina Nakamura zu all den vielen anderen anonymen Menschen in dem vollen Zug gesellt - oder eher gequetscht - hatte. Immerhin stand ich an der Tür, sodass ich zumindest einen freien Blick nach draußen hatte. Dort geriet ich wieder mal ins Tagträumen, bis der Zug kurz Halt machte. Ausgerechnet vor einem Die-Abenteuer-von-Mei-und-dem-Drachen-Aladur-Plakat. In genau diesem Augenblick wurde eine Idee geboren, von der ich zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnte, welche Auswirkungen sie einst haben würde.
„Hey, Akina!“, begrüßte mich Taro und stürmte auf mich zu, als ich es endlich in die Schule geschafft hatte. „Du siehst irgendwie nicht so gut aus. Ist alles okay?“ Wir setzten uns auf eine Bank auf dem Hof, denn wir hatten noch genügend Zeit, bis der Unterricht anfangen würde. „Ja. Alles wie immer“, sagte ich, etwas verwirrt darüber, worauf Taro wohl anspielte. „Du hast ganz schöne Augenringe“, erklärte er. „Ach so, wenn es nur das ist“, seufzte ich und machte eine abweisende Handbewegung. „Ich hatte noch zu tun, also letzte Nacht.“ „Es war wegen des Films, oder? Du hast deine Aufgaben nachgeholt.“ „Ja, ich hätte ansonsten ein schlechtes Gewissen gehabt.“ „Ich finde, dass deine Mutter zu streng mit dir ist. Aber das weißt du ja.“ Er schaute mich etwas kritisch und zugleich besorgt an. „Heute gehen wir nach der Schule nicht raus, dann kannst du sofort nach Hause und hoffentlich etwas mehr schlafen als letzte Nacht.“ „Das ist der Plan“, antwortete ich knapp. Einerseits, weil ich zu müde war, um komplexere Gespräche zu führen, und andererseits, weil ich daran dachte, wie es wohl wäre, wenn ich einfach nicht mehr auf Saika hören würde.
„Nun, Airi und ich werden heute ohnehin etwas spazieren gehen. Wenn wir zu viele Aufgaben bekommen, gehen wir vorher noch in die Bibliothek. Du warst lange nicht mehr mit uns dort“, stellte Taro fest. „Erzähl das bloß nicht meiner Mutter, die Bibliothek ist meine beste Ausrede“, grinste ich verschmitzt. „Wenn sie fragen sollte, sage ich ihr natürlich, dass wir zu dritt dort waren und gelernt haben, ist doch klar.“ „Danke, Taro“, erwiderte ich. „Und wo du von Airi sprichst: Wo ist sie denn?“ „Keine Ahnung, ich habe sie noch nicht gesehen und geschrieben hat sie mir auch nicht. Sie taucht bestimmt bald auf.“ „Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn du einfach abhauen würdest?“, fragte ich wie aus dem Nichts und Taros Lächeln verschwand schlagartig. „Akina ...“, fing er vorsichtig an, „Was hast du vor?“ „Ich habe zuerst gefragt“, beharrte ich auf meiner Frage. „Ich finde Tokyo eigentlich ganz schön. Ich meine, ja, die Schule ist stressig und die Erwartungen sind ziemlich hoch angesetzt. Aber ansonsten? Du und Airi seid hier. Und meine Familie. Ich würde nicht gehen wollen“, antwortete er schließlich und sah mich interessiert an. „Aber du schon?“ „Na ja, du kennst ja die Situation zuhause“, fing ich an. „Und bist du denn gar nicht neugierig, was da draußen alles so ist? Außerhalb von Tokyo? Außerhalb von Japan?“ Er schmunzelte kurz. „Für den Moment nicht, nein. Aber irgendwann später möchte ich mir Frankreich angucken.“ „Wieso ausgerechnet Frankreich?, fragte ich verwundert. Er hatte nie zuvor davon gesprochen. „Es soll nirgendwo besseres Essen geben. Das habe ich zumindest mal gehört. Und bei dem Essen, das meine Eltern machen, muss ich doch schauen, ob die Gerüchte über Frankreich stimmen!“ „Natürlich dreht sich bei dir mal wieder alles nur um das Essen!“, rief ich und wir mussten beide laut lachen.
„Aber nun zurück zu dir. Ich muss auf einer Antwort bestehen“, meinte Taro mit besorgtem Blick. „Willst du einfach so abhauen, ohne etwas zu sagen?“ „Wenn ich etwas sagen würde, wäre die Reise schon vorbei, bevor sie angefangen hätte, nicht wahr? Also, sagen würde ich zumindest meiner Familie nichts. Ich habe auch nur mit dem Gedanken gespielt. Ich werde morgen wahrscheinlich nicht gleich einfach verschwunden sein. Und außerdem hätte ich ja sowieso keinen richtigen Plan“, argumentierte ich. „Es wäre sehr schade, wenn du gehen würdest. Ich ... Airi und ich würden dich sehr vermissen. Und eine derart spontane Idee scheint mir auch ziemlich gefährlich und undurchdacht zu sein.“ Er wollte noch weiter argumentieren, jedoch wurde er von der Schulklingel unterbrochen, die unerbittlich den nahenden Beginn der ersten Unterrichtsstunde verkündete. Also gingen wir hinein. Es war Zeit, sich wieder dem wenig aufregenden Schulalltag zu widmen.
„Heute geht es um die größten Flüsse und Wüsten der Welt, wie bereits in der letzten Stunde angekündigt.“ Unser Lehrer, Herr Hiramatsu, blickte in meine Richtung und mir schien, als würde er etwas schadenfroh lächeln. Ich wusste ja, dass er mich nicht leiden konnte und es oft genug nur darauf anlegte, dass ich eine Antwort nicht wusste und vor der Klasse zu stottern begann. Das passierte mir häufig, wenn ich aufgeregt war. Danach würde er irgendetwas Herabwürdigendes sagen, die gesamte Klasse würde lachen und einer der Klassenstreber würde dann mit einem überlegenen Unterton die richtige Antwort verkünden. Herr Hiramatsu würde dann milde lächelnd langsam nicken, wobei sich seine fünf letzten, quer über den ansonsten kahlen Schädel gekämmten Haare keinen Millimeter bewegen würden. Wie das möglich war, war eines der Mysterien, die ich noch nicht entschlüsseln konnte. Immerhin hätte ich danach aber meine Ruhe und die Schande wäre nicht von langer Dauer gewesen.
„Akina hat sich in der letzten Stunde freundlicherweise bereiterklärt, etwas zu unserem spannenden, neuen Thema beizutragen. Also bitte, Bühne frei für dich.“ Mit einer Handbewegung forderte er mich dazu auf, vor die Klasse zu treten. „Freundlicherweise bereiterklärt ...“, murmelte ich und kramte ein paar kleine Notizzettel zusammen. Taro, der zwei Reihen hinter mir saß, flüsterte mir noch zu: „Du schaffst das“, bevor ich dann schließlich vor der Klasse stand. „Die Zettel wirst du doch nicht brauchen“, meinte der Lehrer und so legte ich sie zögernd beiseite. „Nun“, sagte er mit seiner lauten, selbstsicheren Stimme, die von einem Hauch Narzissmus geprägt war, „Kannst du uns denn die zehn größten Wüsten der Erde benennen?“ „Also, da wäre einmal die Sahara, die kennen wahrscheinlich alle“, fing ich an und wusste, dass man die Unsicherheit in meiner Stimme deutlich spüren konnte. „Und ...“ „Und weiter?“, hakte mein Lehrer nach, der, erfreut darüber, dass ich bereits jetzt Schwierigkeiten hatte, dabei breit grinsend einen Schluck Kaffee schlürfte. „Dann gibt es noch die große arabische Wüste. Oh, und die syrische Wüste.“ Der „freiwillige“ Vortrag dauerte gefühlt eine halbe Ewigkeit an, bis ich schließlich entlassen und zurück auf meinen Platz geschickt wurde. Mit dem Satz: „Nun, du hast zwar die Hälfte aller Informationen vergessen, aber wenigstens haben wir schon einmal ein paar der klausurrelevanten Wüsten und Flüsse benannt“, wurde meine Qual beendet.
„Ich hätte es besser machen müssen“, seufzte ich, „Es war eine Blamage.“ „Du übertreibst“, versuchte mich Taro zu beruhigen. „Ich hätte es auch nicht besser hinbekommen. Und dass der Typ ein Sadist ist, wissen wir alle.“ Wir gingen nach draußen, um die kleine Pause an der frischen Luft zu verbringen. Auf dem Weg dorthin begegnete uns Airi. „Schön, dass du auch mal auftauchst“, sagte Taro leicht vorwurfsvoll und fiel ihr in die Arme. Wieder fühlte ich mich wie das dritte Rad am Wagen. „Entschuldigt, dass ich mich nicht gemeldet habe“, sagte sie, „ich habe heute verschlafen.“ „Und wie willst du das unserem gnädigen Geografielehrer erklären?“, fragte ich ironisch. „Er ist so mies drauf wie immer.“ „Gar nicht, schätze ich“, meinte Airi. „Meine Mutter hat mich bereits entschuldigt und geschrieben, dass ich einen Arzttermin hatte. Sie ist einfach die Beste.“ Autsch. Rieb mir Airi nun absichtlich unter die Nase, was für eine tolle Familie sie hatte? Oder war ihr einfach nach all den Jahren unserer Freundschaft immer noch nicht bewusst, dass sie mit ihrer Familie etwas hatte, was mir nicht zuteilgeworden war? „Wir sehen uns später, Akina“, sagte Taro knapp. Kurz darauf waren die beiden verschwunden und ich kam mir vor wie abserviert.
Ich holte mir am Automaten etwas Warmes, es war ein kühler, windiger Herbsttag, dann setzte ich mich auf eine Bank und beobachtete die anderen Schüler. Die Schule, auf die ich ging, war so exklusiv, dass man hätte meinen können, sie würde nur von wenigen Schülern besucht werden. Aber das Gegenteil war der Fall: Es waren so viele, dass ich ihre Zahl nicht im entferntesten hätte schätzen können. Beinahe alle Schüler und Schülerinnen sowie einige Lehrer standen in Gruppen von vier bis zehn, vielleicht auch zwölf Leuten herum. Nur ich fühlte mich, wie so oft, wieder als Ausgestoßene. Als die, die mit ihrem deutschen Vater anders als alle anderen war und deshalb nie wirklich akzeptiert wurde. Kaum jemand sprach mich je an. Ich war immer noch „die Fremde“. Und auch leider die, die noch dazu viel zu schüchtern und introvertiert war, um sich trotzdem spontan einer der Gruppen auf dem Schulhof anzuschließen. War ich hier fehl am Platz? War es falsch, an ein Leben außerhalb von Shinjuku zu denken, außerhalb von Tokyo? Ich fragte mich inzwischen immer häufiger, wie es wohl wäre, andere Länder zu bereisen. Und ich wollte wissen, wie Deutschland so war, das Heimatland meines Vaters. In Tokyo schien ich nicht willkommen zu sein, vielleicht könnte Deutschland mein wahres Zuhause sein?
An diesem Tag war ich extra pünktlich zuhause. Meine Eltern, die sowieso wenig Zeit für uns Kinder hatten, waren natürlich noch nicht wieder zurück. Aber Jun war da. Sie saß an ihrem Schreibtisch und machte irgendetwas Produktives, wie immer. „Wie war die Schule?“, fragte sie mich. „Alles wie immer. Ausdauertraining in Sport und peinliches Stottern in Geografie“, antwortete ich. „Oh je, das hört sich nicht gut an. Aber jetzt bist du ja zuhause. Wenn du bei deinen Aufgaben Hilfe brauchst, bin ich für dich da.“ „Danke, Jun“, seufzte ich und verschanzte mich in meinem Zimmer. Irgendwer hämmerte draußen auf einer Baustelle, weshalb ich erstmal das Fenster schloss, meine Sachen in eine Ecke schmiss und mich dann auf das Bett fallen ließ. „Abhauen. Was wäre, wenn ich einfach erstmal nur einen kleinen Ausflug machen würde und gar nicht so lange wegblieb?“, fragte ich mich und vergaß völlig, mich den Hausaufgaben zu widmen. „Meine Eltern wären zwar sauer, aber vielleicht würden sie, wenn sie mich vermissen, endlich mal einsehen, dass ich doch gar nicht so verkehrt bin. Und mir hoffentlich mehr Freiraum lassen, wenn ich wieder zurückkehre. Alle wären erleichtert und würden sich glücklich in die Arme fallen, wie im Happy End eines Buches oder Films.“
Auch wenn mir trotz meines Eifers bereits irgendwie bewusst war, dass ich, wenn ich nach meinem Ausflug zurückkehren würde, einige Strafen abzusitzen hätte und es ganz bestimmt nicht wie in einem Film zugehen würde, hielt ich die Idee, einfach abzuhauen für immer besser. Aber ich musste überlegt vorgehen und mir einen ordentlichen Plan zulegen, sonst würde ich nicht weit kommen. Soweit, so gut. Doch wie erstellte man sich einen derartigen Plan? Ich hatte noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, von zu Hause abzuhauen. Vielmehr war dieser Gedanke, den ich schon so lange gehabt und unterdrückt hatte, tatsächlich so unwirklich wie die Existenz von Drachen geblieben. Nichts weiter, als ein schöner Traum, um dem ungeliebten Alltag zu entfliehen. Doch bevor ich einen Rückzieher machen konnte, legte ich mir selbst gegenüber nun eines fest: Ich wollte diese Reise antreten und das würde ich auch. Wohin es mich auch führen würde, ich wollte dadurch lernen und wachsen, egal welche Konsequenzen das später auch haben würde.
Da ich schlecht mein Handy nach „Wie tauche ich am besten unter und überlebe eine vielleicht sehr dumme und gefährliche Reise“ durchforsten konnte, brauchte ich eine andere Herangehensweise. Saika hatte ihre Methoden, um für „mein Wohlergehen“ zu sorgen, und obwohl ich nicht wusste, ob sie dies jemals wirklich getan hatte, befürchtete ich, sie könnte irgendwie mein Handydisplay spiegeln oder meinen Suchverlauf durchforsten. Für Außenstehende wirkt eine derartige Sorge wahrscheinlich sehr überspitzt und unsinnig, doch ich hatte meine Gründe. Einmal hängte Saika in beinahe jedem Raum eine Kamera auf, angeblich als Einbruchschutz. Zunächst wirkte das sogar einigermaßen plausibel. Doch dann stellte ich fest, dass sich auch eine Kamera in meinem Zimmer befand, jedoch keine in Juns. Daraus schlussfolgerte ich, dass Saika es mal wieder darauf abgesehen hatte, das „böse“ Kind zu überwachen, und ich riss die Kamera ab.
An einem anderen Tag durchwühlte sie mal alle meine Bücher, um sicherzugehen, dass ich nicht log und meine Aufgaben wirklich bearbeitet hatte. Wie sich herausstellte, hatte ich die Wahrheit gesagt, aber sie hatte eine stundenlange Arbeit zerstört, nachdem sie zwei Minuten lang wild in meinem Portfolio herumwühlte. Und statt auch nur auf die Idee zu kommen, sich für ihren Fehler zu entschuldigen, musste ich die ganze Unordnung bis zum Essen beseitigt haben. Ein anderes Mal bestand sie darauf, mit in die Schule zu kommen, um dort Taro und Airi zu fragen, ob ich tatsächlich mit ihnen unterwegs gewesen war. Saika war nichts weiter als ein fanatischer Kontrollfreak, dem weder mein Vater noch ich gewachsen waren. Nur Jun, die sich immer an alle Forderungen hielt, hatte sich mit Saika gut gestellt. Doch diese Probleme würden bald nur noch den Erinnerungen an einen bösen Traum gleichen, denn ich würde so schnell wie möglich verschwinden und mein altes Leben hinter mir lassen – das war ja nun beschlossene Sache.
Ich fing damit an, ein paar warme Klamotten und reichlich Geld in einen großen Rucksack zu stopfen. Das Geld hatte ich von meinen Eltern genommen, schließlich verdienten sie mehr als genug und wahrscheinlich würde es ihnen nicht einmal auffallen. Geld war in diesem Haus noch nie das Problem gewesen. Dann suchte ich mir Essen zusammen und füllte meine Trinkflasche. Da Jun noch in ihrem Zimmer arbeitete, bemerkte sie nicht, dass ich immer wieder die Treppen nach unten schlich und noch etwas einpackte, was ich vergessen hatte. Kurz darauf stand ich - zufrieden mit meiner Ausbeute - wieder in meinem Zimmer, die Hände in die Hüften gestützt und nachdenklich auf den vollen Rucksack blickend. „Nicht schlecht“, lobte ich mich. Aber ein Problem gab es noch: Wie sollte ich Japan verlassen? Ich hatte genügend Geld, um für eine ganze Weile durchzukommen. Doch war ich mit meinen 17 Jahren noch lange nicht volljährig. In Japan ist man, anders als in vielen anderen Ländern, erst mit dem vollendeten 20. Lebensjahr „erwachsen“ und ich fürchtete, dass mein Alter auf meiner Reise zu einem Problem werden könnte.
Nachdem ich mir diverse unangenehme Situationen ausgemalt hatte, die ohne einen Ausweis auftreten könnten, beschloss ich, mir den Ausweis meiner älteren Schwester auszuleihen. Sie würde ihn wahrscheinlich in der nächsten Zeit ohnehin nicht verwenden und ich glaubte zu wissen, in welcher Jackentasche ich ihn finden würde. Also schlich ich an diesem Tag noch ein weiteres Mal die Treppe nach unten und fand den Ausweis. „Jun Teru Nakamura“ - mein neuer Name für jede Notsituation. Wenn alles klappen würde. Ich schloss die Jackentasche wieder sorgfältig und packte in meinem Zimmer nun auch das letzte Teil ein, das ich für meine Reise zu brauchen glaubte. „Heute Nacht werde ich es tun“, legte ich fest. Denn obwohl ich nicht viel über das Untertauchen wusste, erschien es mir doch am einfachsten, mich im Dunkeln herauszuschleichen, wenn alle schliefen. Also peilte ich Mitternacht an. Vor lauter Aufregung saß ich die Zeit bis zur Nacht eher nur ab und schaffte es nicht wirklich, mich gedanklich etwas anderem zu widmen. Ich versuchte, einen Anime zu schauen, und eine kurze Zeit lang funktionierte das auch recht gut. Irgendwann sah ich auf die Uhr und mir wurde bewusst, dass es nur noch eine knappe Stunde bis Mitternacht war und es nun nicht mehr lange dauern würde, wenn ich die Sache wirklich durchziehen wollte. Daran, dass ich noch meine Hausaufgaben machen müsste, dachte ich an diesem Tag zum ersten Mal nicht.
Gegen Mitternacht hörte ich noch immer eine Person im Haus herumlaufen, also beschloss ich, noch etwas abzuwarten. Schließlich war es halb eins. Ich dachte an das, was ich Taro vor wenigen Stunden gesagt hatte: „Ich habe nur mit dem Gedanken gespielt, ich werde morgen bestimmt nicht einfach verschwunden sein.“ Was er wohl tun würde, wenn ich ab morgen nicht mehr zu Schule käme? Ich hoffte, dass ich ihm mit meiner Frage nicht zu viele Probleme aufgebürdet hatte. „00:37 - Jetzt oder nie“, legte ich fest, zog mir meine wärmsten Klamotten an, nahm den Rucksack, mein Handy und öffnete das Fenster so behutsam wie möglich. Das war er also, der Weg ins Abenteuer, mein Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Und der einzige Weg, der ohne aufnehmende Kameras nach draußen führte. Mein Zimmer befand sich im ersten Stock und so stand ich direkt vor der ersten Herausforderung. An der Hauswand hangelte ich mich langsam voran. Durch viele verschiedene Verzierungen und Aussparungen, in die man hineingreifen und -treten konnte, schaffte ich es nach reichlich Mühe mit einer etwas unsauberen Landung auf den Boden. Ich wischte mir den Dreck von den Sachen und verließ, in dem Tempo, in dem ich auch ganz normal zur Schule ging, das Grundstück. Natürlich wollte ich so schnell wie möglich verschwinden und hoffte, nicht gesehen worden zu sein. Jedoch hätte ich zu viel Aufmerksamkeit erregt und wäre möglicherweise erst recht gesehen worden, wenn ich gerannt wäre. Nachdem ich das Grundstück verlassen hatte und dabei nicht gerade elegant über den piksenden Zaun geklettert war, um den Kameras und dem quietschenden Gartentor zu entgehen, fiel mir ein schwerer Stein vom Herzen. Dies war der erste Schritt in die Freiheit gewesen.
Der Dreck, der zum Teil noch an meinen Sachen klebte und die Kratzer, die sich nun auf meiner guten Hose befanden, machten mir nichts aus. Im Gegensatz zu den Erwartungen vieler Menschen, von denen ich wusste, dass sie mich auch aufgrund des Geldes meiner Eltern hassten, hatte ich nie besonders großen Wert auf Materielles gelegt. Es war mir nicht wichtig, ob meine Hose 5000 oder 50000 Yen kostete - solange sie den Zweck einer Hose erfüllte, denn in dieser Nacht war es kalt und wahrscheinlich waren es inzwischen weniger als 5 Grad Celsius. Ich ging die Straße entlang, es war fast schon zu ruhig. Gelegentlich fuhr ein Auto vorbei, aber ansonsten begegnete mir keine Menschenseele. Jedes Mal, wenn ich ein Auto hörte, drehte ich mich zur Seite, damit niemand, der mich eventuell kannte, mein Gesicht sehen konnte. Dabei war es eigentlich ziemlich dunkel und neben den Scheinwerfern der Autos wurde die breite Straße nur von den alten Straßenlaternen beleuchtet, die, wie auch alle Häuser in dieser Reihe, einen besonders teuren Eindruck machten.
Ich brauchte einen Schlafplatz für die restliche Nacht, damit ich einerseits ausgeruht in den nächsten Tag starten konnte und mir andererseits aufgrund der niedrigen Temperaturen nicht gleich zu Beginn meiner Reise eine Krankheit zuzog. Also peilte ich eines der sogenannten Kapselhotels an, die rund um die Uhr geöffnet hatten, und wollte mir dort eine Box nehmen. Man kann es sich als eine Art Jugendherberge vorstellen für alle, die spontan eine Übernachtungsmöglichkeit brauchen und dabei frei von Platzangst sind. Die „Zimmer“ sind nicht sehr viel größer als eine geräumige Kiste. Aber sie sind billig und gar nicht so unbeliebt. Sei es jemand, der aus seiner Wohnung geworfen wurde, der es nach einem langen Arbeitstag nicht mehr nach Hause schafft oder einfach jemand, der auf Reisen ist und einen günstigen Schlafplatz sucht - dort kommen viele verschiedene Arten von Menschen zusammen. Um dorthin zu gelangen, musste ich jedoch unsere ruhige Straße verlassen, die, obwohl wir praktisch im Zentrum Tokyos wohnten, eine selten günstige Lage hatte. Ich musste nur ein paar Mal abbiegen und dann befand ich mich inmitten einer großen Einkaufsfläche, auf der sich selbst um diese Uhrzeit noch viel zu viele Menschen tummelten. Ab und zu fuhr eine volle Straßenbahn vorbei, aber insgesamt war es natürlich um einiges ruhiger und leerer als an einem gewöhnlichen Tag.
Ich wusste genau, wo die Unterkunft war, die ich suchte. Und bei den vielen Menschen, die hier noch unterwegs waren, machte ich mir auch weniger Sorgen, dass mich ein bekanntes Gesicht entdecken könnte. Die meisten Leute kamen um diese Zeit von der Arbeit, waren Touristen, die eine Nachttour machten oder Menschen, die gerne mitten in der Nacht einkaufen gingen. Was für mich unverständlich war, machte das lebendige Tokyo erst zu dem, was es war. Ohne lange zu überlegen, ging ich also in den Laden meiner Wahl hinein. Ich wusste, wie viele Leute hier täglich ein- und ausgingen und hoffte, dass mir meine Gabe, nicht aufzufallen, dieses Mal etwas Gutes bringen würde. Der Eingangsbereich war recht klein und bestand aus nicht viel mehr als kahlen, renovierungsbedürftigen, weißen Wänden, einem Tresen mit einer beinahe toten Topfpflanze und einem unscheinbaren Mitarbeiter dahinter, der noch vier Personen vor mir zu bedienen hatte.
Aufgrund des starken Andrangs schien er selbst ziemlich müde und unmotiviert zu sein. Er ließ die Gäste relativ schnell vorbeiziehen. Was würde passieren, wenn ich morgen gehen und meine Familie mich dann vor der Tür des Kapselhotels abfangen würde? Ich hoffte, dass dies nicht passieren wird, denn weit gekommen war ich noch nicht. Dafür hatte ich aber zuhause meine Zimmertür von innen abgeschlossen, bevor ich aus dem Fenster geklettert war. Damit würden sie im besten Fall erstmal einen Handwerker rufen müssen um dann festzustellen, dass ich nicht mehr in meinem Zimmer war. Das sollte mir etwas Zeit verschaffen und ich wäre meiner Familie nochmal einen Schritt voraus. „Guten Tag, Name und Kontaktdaten einmal hier auf-“, wollte der Mann hinter dem Tresen den Satz wiederholen, den er in demselbem, gelangweiltem Tonfall schon zu den vier Menschen vor mir gesagt hatte, als er mich kritisch anschaute. „Wie alt sind sie denn?“ „23“, musste ich lügen, damit meine Antwort mit Juns Ausweis übereinstimmte. Ich zeigte ihm das Datum auf „meinem“ Ausweis und bekam tatsächlich den Schlüssel für ein Gepäck-Schließfach. Auf dem Stand die Zahl 7 und das war auch die Nummer meiner Box. Die Schlafboxen selbst waren jedoch nicht abschließbar.
Zu meinem Glück sah mir meine Schwester auf ihrem Ausweisbild ziemlich ähnlich und zum ersten Mal zahlte sich diese Ähnlichkeit irgendwie aus, die auf jedem Familientreffen immer wieder angesprochen worden war: „Oh Akina, wie bezaubernd, du siehst ja aus wie deine Schwester Jun! Bist du denn genauso erfolgreich?“ Ich konnte es nicht mehr hören. Und das musste ich ja nun zum Glück auch nicht mehr. Ein kleines Schild an der Wand führte mich zu „meiner“ Schlafkabine mit der Nummer 7. Von diesen Kabinen standen jeweils zehn Stück in einem Raum. Zugegebenermaßen war dies kein besonders komfortabler Schlafplatz, aber für diese eine Nacht war er deutlich angenehmer, als irgendwo auf der Straße zu übernachten.
An diesem Abend, an dem ich mir die Schlafbox nahm, begann ich, Tagebuch zu führen. Das hatte ich zuvor noch nie getan, aber jetzt, wo ich endlich einmal etwas erlebte, hielt ich es für sinnvoll, meine Erfahrungen aufzuschreiben. Das half mir auch, mich etwas zu entspannen. Und weil ich noch nicht müde war, schrieb ich noch ein wenig mehr hinein. So fing es an, dass ich in dieser Nacht den Beginn einer langen Geschichte schrieb. Keine zwei Minuten nachdem ich den Stift abgesetzt hatte, schlief ich ein.
Am nächsten Morgen fiel mein erster Blick auf mein Handy und ich stellte fest, dass ich noch keine Nachrichten hatte. Ob sie schon bemerkt hatten, dass ich fehlte? Wahrscheinlich waren alle bereits zur Arbeit gegangen und hatten sich gar nicht für mich interessiert. In meiner aktuellen Situation war das umso besser für mich. Ich bezahlte meine wirklich günstige Übernachtungsmöglichkeit und fuhr mir mit den Fingern etwas durch die Haare. Ich hatte nicht daran gedacht, eine Haarbürste einzupacken. Dann kaufte ich mir ein günstiges belegtes Brötchen und machte mich wieder auf den Weg. Mein Tagesziel war es, Tokyo zu verlassen, also suchte ich mir einen Zug, der mich aus Tokyo herausbringen sollte. Langfristig gesehen hatte ich ein großes Ziel: Europa. Deutschland. Das Land meines Vaters. Ein Land, in dem man mich hoffentlich nicht finden würde. Ich wollte zunächst in die nördlichste Stadt Japans fahren: Wakkanai. Von dort aus ginge es dann hoffentlich per Schiff nach Russland, soweit mein Plan. Mit Hilfe meines Handys fand ich heraus, dass eine Zugfahrt nach Wakkanai über 14 Stunden dauern würde. Die Flugzeit hingegen wäre natürlich deutlich kürzer gewesen, doch war Fliegen gefährlicher, wenn man als minderjähriges Mädchen mit einem falschen Ausweis unterwegs war. Daher entschied ich mich für die aufwendigere, aber sicherere Variante.
Ich kaufte mir ein Ticket und reservierte einen der billigsten Plätze, denn 14 Stunden lang stehen wollte ich nicht. Genug geschlafen hatte ich eigentlich, also beschloss ich nach einer Weile, etwas Produktives zu tun: Ich nutzte mein Handy dazu, um etwas Deutsch zu lernen. Das hatte ich schon einige Male getan, einfach, weil mich die Sprache so faszinierte. Und manchmal hatte ich auch meinen Vater gebeten, mir etwas Deutsch beizubringen. Aber besonders gut darin war ich dennoch nicht. Die Zeit verging schleichend und es war recht langweilig. Doch fühlte ich mich zunehmend besser. Denn jede einzelne Minute die verstrich, bedeutete, dass ich mich weiter von dem Ort entfernte, den ich bisher mein „Zuhause“ genannt hatte.
Nach vielen Stunden Fahrt kam ich - zum zweiten Mal mitten in der Nacht - an meinem Ziel an: Wakkanai. Und erst jetzt, spät abends, schien meiner Familie aufgefallen zu sein, dass ich fehlte. Denn meine Mutter hatte mir „Wo zum Teufel bist du? Komm endlich nach Hause“ geschrieben. Aber auf diese Nachricht reagierte ich nicht. Meine Schwester hingegen war wie immer einfühlsamer und fragte, ob es mir gut gehe und ob ich vielleicht in der Bibliothek beim Lernen eingeschlafen wäre. Obwohl es mir schwerfiel, hielt ich es für besser, auch ihr nicht mehr zu antworten. Ich stieg aus dem warmen, aber stickigen Zug und stand daraufhin in der dunklen Kälte. Ich war orientierungslos, denn noch nie zuvor war ich in Wakkanai gewesen. Doch das sollte mich nicht davon abhalten, ein zweites Mal einen Schlafplatz zu finden, bevor ich dann hoffentlich bald mit dem Schiff nach Russland fahren würde. Also lief ich durch die Stadt und suchte nach einer Unterkunft. Auch noch um diese Uhrzeit liefen viele Leute umher, aber es war deutlich ruhiger als in Tokyo. Die meiste Bewegung fand am Wasser statt, denn ab und zu sah ich ein Lieferschiff mit Containern abfahren.
Auf meiner Suche nach einer Unterkunft für die Nacht durchforstete ich die halbe Stadt. Schließlich fand ich eine Art Kneipe, in der man sich ein Zimmer nehmen konnte. Sie wirkte wie eine billige, schmutzige Spelunke, deren einziger Zweck es war, die Kapitäne der vielen Containerschiffe mit Alkohol abzufüllen. Als ich den dunklen Kneipenraum betrat, der nur von wenigen kleinen, roten Lichtern erhellt wurde, schauten mich viele Augen an. Die Gespräche verstummten. Da saßen fast ausschließlich alte, griesgrämige Männer, die meiner Klischeevorstellung eines Seemanns nicht besser hätten entsprechen können, an mehreren hölzernen Tischen. Einige hatten einen langen Bart und Tattoos. Nach einem kurzen Moment absoluter Stille wendeten sich ihre Blicke von mir ab und sie begannen wieder, laut zu reden. Sie lachten manchmal kurz und schlugen sich dann gegenseitig auf die Schultern. Sie tranken, während altmodische Musik spielte, die ich eher als Lärm empfand. All das war ganz anders als alles, was ich je zuvor gesehen hatte, obwohl ich Japan bis jetzt noch nicht einmal verlassen hatte.
Obwohl ich durch die vielen Männer etwas eingeschüchtert war, versuchte ich, möglichst selbstsicher zu wirken, indem ich mich nicht zur Seite drehte und geradewegs den Mann ansteuerte, der scheinbar für die Verteilung der Zimmer zuständig war. „Ich hätte gerne einen Schlafplatz für die Nacht“, sagte ich und versuchte, meine Stimme etwas tiefer klingen zu lassen, wahrscheinlich, um wenigstens auf eine Weise nicht wie ein kleines Mädchen zu wirken. Ich blickte den Mann zielstrebig an und wartete geduldig auf seine Antwort. „Das feine Mädchen möchte einen Schlafplatz für die Nacht haben“, sagte er so laut, dass alle es hören konnten, und sein strenger Blick hatte sich in ein verhöhnendes Lachen gewandelt. Er blickte sich, nach Zustimmung suchend, um und auch viele der Gäste begannen zu lachen. „Was ist daran so witzig?“, sagte ich und schreckte etwas zurück, als sich der Mann über den Tresen lehnte, um mich besser erkennen zu können. Er hatte einen ungepflegten, braunen Vollbart und bereits einige graue Haare. Auch hatte er blaue Augen, was mich annehmen ließ, dass er nicht von hier stammte.
„Was ist daran so witzig?“, wiederholte ich leicht aggressiv, ohne dabei wirklich einen Streit anzetteln zu wollen. Denn ich wusste, dass ich den ohne Zweifel natürlich verlieren würde. „Nichts“, sagte er, zuckte kurz mit den Schultern und setzte dann sogar ein Lächeln auf. „Wir sind es hier nur nicht gewohnt, von solch einer weiblichen Schönheit beehrt zu werden. Nicht wahr, Jungs?“ Ich wagte es, mich kurz nach rechts und links zu drehen und sah, dass die anderen Männer ihm mit Kopfnicken und Handbewegungen zustimmten. „Ich möchte ein Zimmer“, sagte ich ein weiteres Mal, diesmal sehr energisch, und legte direkt etwas Geld auf den Tisch. Dieses Gespräch war mir einfach zu blöd. Der Mann rückte nun endlich einen Zimmerschlüssel heraus und die Situation entspannte sich. Die Gäste tranken und redeten wieder miteinander und ich war froh, dass die Aufmerksamkeit nicht mehr auf mir lag. „Da entlang“, sagte der bärtige Mann nur noch und wies mir den Weg, bevor er freudig sein Geld zählte. Es war ein dunkler Gang, an dem noch vereinzelt Tische standen und Leute saßen. An seinem Ende befanden sich eine offene Tür und dahinter eine alte Wendeltreppe, die wohl zu meinem Zimmer führen sollte.
Langsam ging ich den unheimlichen Weg entlang, meine Hände die Bänder meines Rucksacks umklammernd. Mein Herz blieb beinahe stehen, als ein Mann nach meinem Rucksack griff und mich leicht zu sich zog. Er beugte sich zu mir nach oben und flüsterte: „Du bist aber auch eine Schöne. Sowas sieht man, wie du dir sicher vorstellen kannst, unter den vielen Männern hier sehr selten. Lust auf Gesellschaft?“ Dann grinste er mich auf eine widerliche Weise an und mit einem leichten Ruck riss ich mich los. „Lassen sie mich in Ruhe“, sagte ich in einem lauten Ton und zog noch einmal die Aufmerksamkeit auf mich, bevor ich dann die knarrende Treppe nach oben ging und mein Zimmer fand.
Ich schlief sehr unruhig und wachte nach ein paar Stunden auf, weil ich einen Albtraum hatte. Ich kannte die Leute hier nicht und obwohl ich mich in einem abgeschlossenen Einzelzimmer befand, das sehr viel größer war, als die Schlafkabine der vergangenen Nacht, fühlte ich mich unwohl. Ich konnte nichts weiter tun als hoffen, dass der Mann, der mir den Schlüssel gegeben hatte, den anderen nicht gesagt hatte, in welchem Zimmer ich mich befand. Und, dass es keinen zweiten Schlüssel gab. Um mich von meinen Sorgen abzulenken, öffnete ich das Fenster und blickte nach draußen. Von hier aus konnte ich das Meer sehen und wenn ich mich nicht völlig irrte, war dies sogar die Richtung, in die ich morgen mit dem Schiff aufbrechen wollte. Der kühle Nachtwind und der Blick auf das weite Meer fühlten sich nach Freiheit an und ich bereute in keiner Weise, was ich getan hatte. Dennoch vermisste ich meine Schwester, meinen Vater, Taro und Airi in dieser Nacht besonders. Ich fragte mich, ob ich sie überhaupt jemals wiedersehen würde. Denn meine ursprüngliche Idee, nur einen kurzen Ausflug zu machen und dann in mein altes Zuhause zurückzukehren, erschien mir nun bereits naiv. Nein, das hier würde eine große Reise werden. In eine neue Zukunft und in ein neues Zuhause.
Ich setzte mein neues Ritual, abends das Erlebte aufzuschreiben, fort und schlief danach wieder schnell ein. Morgens wachte ich gegen 10:00 Uhr auf. „Ich hoffe, du kommst heute noch in die Schule, ist alles okay? Selbst Herr Griesgrämig ist heute nicht da, du verpasst was!“, hatte mir Airi vor zwei Stunden geschrieben und ich drückte die Nachricht weg. An Herrn „Griesgrämig“ hatte ich jetzt schon länger nicht mehr gedacht, er war nun kein Problem mehr, mit dem ich mich herumschlagen musste. Von meinen Eltern hatte ich keine neue Nachricht bekommen, nicht mal mein Vater hatte sich gemeldet. Es schien fast schon, als würde er sich gar nicht mehr für mich interessieren. Oder meine Mutter hatte ihn unter Kontrolle und verbat ihm, mich zu kontaktieren. Welche dieser Theorien der Wirklichkeit entsprach, wusste ich nicht und konnte es auch nicht herausfinden. Sehr wahrscheinlich war allerdings die zweite. Ich machte mich also fertig, räumte das Zimmer auf, so, dass es mindestens so ordentlich war wie vor meinem Besuch und schloss die Tür auf.
Auf dem Flur war es ruhig, nur ein einziger Mann kam mir entgehen. Wir grüßten uns und dann war er auch schon verschwunden. Ich schloss die Tür hinter mir zu und gab den Zimmerschlüssel unten ab. Nur wenige Männer saßen nun noch an den Tischen und insgesamt war alles sehr viel heller und freundlicher als in der Nacht zuvor. Auch der ekelige Mann, der an dem Tisch in der Nähe der Treppe gesessen hatte, war nun zum Glück nicht mehr zu sehen. Wer weiß, was passiert wäre, hätte einer der gruseligen Männer vor meiner Tür gestanden. Wahrscheinlich wäre ich im Zweifelsfall ein weiteres Mal aus dem Fenster geklettert. Ich ging nach draußen, endlich war ich wieder an der frischen Luft. Genau in diesem Moment hörte ich das Horn eines abfahrenden Schiffes und ging in Richtung Hafen, um zu sehen, ob sich eine Mitfahrgelegenheit bieten würde. Ich war überzeugt, solange ich genug Geld dabei hatte, konnte meine Reise gar nicht allzu schwer werden. Oder etwa doch?
Zu meinem Glück fand ich tatsächlich einen freundlichen Mann, der mir garantierte, er würde mich mit auf sein Schiff nehmen, das irgendwo in Russland anlegte. Als Gegenleistung für einen Schlafplatz und die Mitfahrgelegenheit zahlte ich einen geringen Betrag und verpflichtete mich zu ein paar kleinen Aufgaben an Bord. Er versicherte mir, dass das Schiff, das auf den schönen Namen „Freiheit“ getauft war, in einer Stunde ablegen würde und betonte, wie wichtig es war, dass ich auch pünktlich vor der Abfahrt erscheinen würde. Glücklich darüber, eine faire Verhandlung so erfolgreich abgeschlossen zu haben, ging ich ein paar Schritte an der Mole entlang. Doch dann passierte etwas, was meinen Optimismus ins Wanken brachte: Plötzlich rief Saika an. Wie eingefroren hielt ich mein Handy mit beiden Händen fest und starte auf dem Bildschirm. Aber ich schaffte es nicht, dranzugehen.
Nach einer Weile verstummte das Klingeln und ich wollte schon tief durchatmen und mich wieder dem Meerblick widmen. Doch dann kam eine Nachricht: „Da du scheinbar mit Wichtigerem als meinem Anruf beschäftigt bist, eben auf diese Weise: Ich weiß nicht, was du da vorhast oder wer dich auf diese bescheuerte Idee gebracht hat. Aber wenn du nicht von allein zurückkommst, werde ich dafür sorgen, dass du zurückgebracht wirst. Wir kennen deinen Standort und haben dich mithilfe der Polizei und deines Handys lokalisiert. Du wirst wieder nach Hause kommen und dann sorge ich dafür, dass du rund um die Uhr überwacht wird, bis du dich wieder eingekriegt hast.“ Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, was ich gerade gelesen hatte. Wie konnte ich nur so dumm sein, mein Handy mitzunehmen? Das war ein großer Fehler gewesen, den ich in der ganzen Aufregung und Eile gemacht hatte, ohne über die Folgen nachzudenken. Ich blickte ein letztes Mal auf mein Handy, bevor ich es dann in großem Bogen ins Meer warf und mich so von dem letzten Teil verabschiedete, das mich noch mit meinem alten Leben verband.
„Mist, Mist, Mist!“, fluchte ich und hätte am liebsten noch etwas ins Wasser geworfen, um meine Wut rauszulassen. Wie hatte das passieren können? Ich hatte einen großen, dummen Fehler gemacht. Durch mein Handy wusste meine Familie nun, wo ich war und möglicherweise war auch bereits jemand geschickt worden, um mich zurückzuholen. Ich musste also wachsam sein. Dazu kam ein weiterer Nachteil, den ich nun hatte und der mir meine Reise nicht gerade erleichtern würde: Da sie wussten, dass ich mich in Wakkanai befand, wussten sie auch mit großer Wahrscheinlichkeit, dass Russland mein nächstes Ziel sein würde. Doch Russland war groß und ich musste einfach nur schnell genug sein. Ich durfte nicht vergessen, dass die Reise, die ich angetreten hatte, nicht nur eine Reise war, sondern ebenso eine gefährliche Flucht blieb.
Ich lief noch etwas herum, um mir die Zeit zu vertreiben, und kehrte dann schließlich zu dem Seemann zurück, der mich mit seinem Schiff mit nach Russland nehmen wollte. „Hey du, da bist du ja! Alle einsteigen!“, rief er und lächelte mich freundlich an. Mir folgten ein Dutzend Männer, einige grimmig, andere freudig Lieder pfeifend. Auch zwei Jungs, wahrscheinlich etwas jünger als ich, gingen auf das Boot. Der Mann, der mir die Erlaubnis gegeben hatte, mitzufahren, war scheinbar der Kapitän. Er hielt eine kleine Rede, bevor dann alle an die Arbeit gingen. Da ich mir anhören wollte, was ich nun zu tun hatte, ging ich zu ihm. „Und, wie gefällt dir mein Schiff?“, fragte der Mann. „Entschuldige, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Miron.“ „Es ist sehr schön“, sagte ich und schaute in Richtung Wakkanai. Wir entfernten uns nun immer weiter vom Festland. „Und wer bist du, wenn ich fragen darf?“ Ich beschloss, ihm weder meinen echten Namen, noch, wegen der möglichen Spur, den Namen meiner Schwester zu nennen. Ich war unvorsichtig genug gewesen und musste nun besser aufpassen, damit mich meine Familie nicht finden würde. Genau wie mein Mobiltelefon, konnte ich auch den Ausweis und Namen meiner Schwester nicht mehr verwenden. „Ich bin Sakura Yamamoto“, sagte ich und hatte in diesem Moment so etwas wie eine neue Identität geschaffen.
„Sakura“ ist ein in Japan sehr verbreiteter Name, der „Kirschblüte“ bedeutet. Und was wäre ein besserer Name für ein Mädchen auf der Flucht, das nicht auffallen will, als ein Name, den sehr viele Leute tragen? „Yamamoto“ bedeutet übersetzt etwa „am Fuß des Berges“. Mein eigentlicher Nachname, „Nakamura“ ist mit „Mitte-Dorf“ zu übersetzen. Denn auch meine Vorfahren hatten stets sehr zentral gelebt. „Yamamoto“ war also wie das Gegenteil zu meinem eigentlichen Nachnamen und ließ eher darauf schließen, dass meine Vorfahren ein bescheidenes Leben mit Feldarbeit und Viehzucht geführt hatten. Ein Name, der sich perfekt dazu eignete, meine Vergangenheit zu verschleiern. „Sakura - ein schöner Name. Ich glaube, das kann ich mir merken. Weißt du, ich bin alt und ab und zu, da vergesse ich Dinge“, sagte Miron und lächelte. „Hört sich Japanisch an. Ich meine, das macht ja auch Sinn. Also, ich wollte nicht ...“ Verlegen kratzte er sich am Kopf.
„Das stimmt, ich bin in Japan geboren, in einer kleinen Stadt, nur ein paar Stunden von Wakkanai entfernt“, log ich. „Ich wurde in Russland geboren, bin inzwischen aber mehr in Japan unterwegs“, meinte Miron daraufhin und fing dann an, mir etwas über unsere Schiffsroute zu erzählen. „Wir fahren die La-Pérouse-Straße entlang, das ist die Meerenge hier, die von Wakkanai zum russischen Korsakow führt. Die Fahrt dauert etwa fünf Stunden, das ist sehr lange, ich weiß.“ „Gar nicht mal so lange ...“, sagte ich und machte eine ausholende Handbewegung. Natürlich konnte er nicht wissen, wie viele Stunden ich noch vor gar nicht allzu langer Zeit in einem Zug von Tokyo nach Wakkanai verbracht hatte. „... wenn ich in den fünf Stunden etwas zu tun habe“, fügte ich hinzu, denn ich hatte mich ja bereits dazu bereiterklärt, während der Überfahrt einige kleinere Arbeiten an Bord zu erledigen. Nachdem ich erst etwas geputzt hatte, wurde ich in die kleine Bordküche geschickt und hatte die Aufgabe, die Mannschaft mit Essen zu versorgen, bevor wir dann bald in Russland anlegen würden.
Nach fünf Stunden Fahrt, inklusive Putzen, Kochen, erneut Putzen und auch leicht seekrank sein, hatte es das Schiff endlich nach Korsakow geschafft. Somit befand ich mich nun offiziell nicht mehr in Japan, dem Land, an das ich so viele schlechte Erinnerungen hatte, sondern in Russland. Einem Land, von dem ich zuvor nur gehört und gelesen hatte. Glücklicherweise gab es keinerlei Grenzkontrollen, an denen ich mich hätte vorbeischleichen müssen. Saika hätte es mit Sicherheit niemals erlaubt, hätte ich mir früher Russland anschauen wollen. Doch jetzt war ich hier und folgte keinem anderen Willen als meinem eigenen. „Danke für deine Hilfe an Bord. Ich hoffe, du findest hier, was auch immer du suchst!“, verabschiedete mich Miron. „Vielen Dank fürs Mitnehmen!“, rief ich und winkte ihm noch zu, bevor ich von Bord ging. Bis zum Abend hatte ich eine günstige Bleibe gefunden. Sie war ähnlich wie jene, die ich in Wakkanai aufgesucht hatte. Und das Beste: Niemand beachtete oder belästigte mich dort, denn natürlich wollte ich so unauffällig wie möglich reisen. Die Verständigung mit dem Wirt war etwas holprig, aber mit Händen und Füßen, wie man so sagt, klappte sie dann doch irgendwie.
Am nächsten Tag fragte ich eine junge Frau freundlich auf Englisch, ob sie mir kurz ihr Handy leihen würde, denn mein eigenes lag ja nun am Grund des Meeres. Die Frau betrachtete mich kritisch. Meine Haare waren etwas unordentlich, aber meine Kleidung, die ich das erste Mal in meinem Leben gründlich von Hand gewaschen hatte, war zwar etwas faltig, doch sauber. „In Ordnung, aber nur kurz“, willigte sie ein und gab mir ihr Telefon in die Hand. Ich ließ mir darauf eine Karte anzeigen und sah, dass ich noch eine ganze Weile nach Norden reisen musste. Und ich würde noch ein weiteres Mal ein Stück Meer überqueren müssen, jedoch war diese Strecke dann nicht besonders lang. Erst danach hätte ich die russische Insel Sachalin, auf der ich mich hier befand, verlassen und könnte offiziell den Westen, genauer gesagt Europa und Deutschland anpeilen. Bevor ich der Frau das Handy zurückgab, fand ich noch heraus, in welcher Richtung Norden lag. Und dann ging ich los.
Nach fast zwei Stunden Fußmarsch fand ich einen Bus, der nach Norden fuhr. Es dauerte dann noch weitere 15 Stunden in dieser klapprigen, alten Kiste bis zur Endhaltestelle. Ich konnte während der Fahrt nur sehr wenig schlafen, obwohl ich eigentlich müde war. Die Aufregung, schätze ich. Irgendwann kam ich dann in einer Stadt namens Pogibi an. „Die Orte hier haben komische Namen“, dachte ich, als ich völlig übermüdet aus dem stickigen Bus ausstieg. Ich hatte zwar kaum geschlafen, aber ich entfernte mich immer weiter von Tokyo - und das war ein gutes Gefühl. Es war nun wieder mitten in der Nacht, etwa ein oder zwei Uhr. Ich irrte müde durch die mir unbekannte Gegend und hoffte, auch zu dieser Uhrzeit noch einen Schlafplatz finden zu können. Doch das stellte sich als sehr viel schwieriger als erwartet heraus. Die Straßen waren leer und dunkel, nur vereinzelt liefen oder fuhren Menschen vorbei und die beachteten mich nicht, wenn ich rief und winkte. Ich wollte eigentlich nur nach dem Weg zu einer Unterkunft für die Nacht fragen, doch taten die Menschen so, als würden sie mich nicht hören. Manche beschleunigten sogar ihren Schritt. Bisher hatte ich dieses Problem noch nie gehabt, aber natürlich war es schon sehr spät. Mitten in der Nacht weicht man einer Begegnung mit Fremden wahrscheinlich lieber aus.
Wenn ich bisher mit den Leuten sprach, konnte ich dies häufig noch auf Japanisch tun. In grenznahen Regionen ist Mehrsprachigkeit nicht ungewöhnlich. Doch nun, in Pogibi, konnte ich mich auf die Japanischkenntnisse der Menschen natürlich nicht länger verlassen und sprach sie lieber direkt auf Englisch an. Russisch konnte ich nicht verstehen, jedoch hatte ich mir unterwegs schon das ein oder andere Wort gemerkt. Doch in dieser Nacht reagierten die Menschen nicht auf meine Rufe, also war ich vorerst auf mich allein gestellt. Ich fand schließlich ein Gebäude, das wie eine Art Herberge auf mich wirkte. Jedoch war die Tür verschlossen und mein Rütteln an ihr und laute Rufe verschlimmerten die Situation nur: Ein verschlafener Mann steckte seinen Kopf aus dem Fenster und brüllte etwas auf Russisch, was ich zwar nicht verstand, was aber vom Tonfall her eher wie „Verschwinde!“ klang. So kam es dazu, dass ich meine erste Nacht auf der Straße verbrachte. Und die sollte großen Einfluss auf den weiteren Verlauf meiner Reise haben.
Diese Nacht war nicht einfach für mich. Nachdem ich keine Unterkunft oder wenigstens einen warmen und trockenen Ort gefunden hatte, war ich gezwungen, mir einen Schlafplatz im Freien zu suchen. Ich sah ein paar Obdachlose unter einer Brücke, hatte mich aber nicht getraut, sie anzusprechen oder in ihrer Nähe zu bleiben. Stattdessen ging ich weiter, müde und nervös, und fand schließlich eine kleine, unauffällige und abgelegene Seitengasse. Dort legte ich mich, versteckt hinter einem großen Müllcontainer, schlafen und machte es mir so gemütlich, wie es die Situation zuließ. Ich fragte mich, was Saika von mir denken würde, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Ihr kleines, stures Mädchen, das eigentlich gerade in seinem Bett liegen sollte, damit es für den morgigen Schultag ausgeruht sein würde. Doch nun lag ich hier, mitten in der Nacht, ein zuvor doch sehr verwöhntes Kind, auf dem Boden neben einer stinkenden Mülltonne. Trotz der Kälte, des Gestanks, des harten Bodens und der Angst, jemand könnte mich dort finden, war ich vor Müdigkeit schnell eingeschlafen.
Erst am nächsten Morgen wachte ich wieder auf. Es war schon hell. Die Straßen waren durch Autos und Menschen wieder laut und lebendig - wenn auch nicht in dem Maße, wie ich es aus Tokyo gewohnt war. Mein Nacken und mein Rücken schmerzten, außerdem hatte ich, offenbar durch die Kälte, leichte Halsschmerzen bekommen. Aber was hatte ich erwartet? Ich beschloss, mich nicht über solche Kleinigkeiten zu beklagen. Diese Probleme würden vergehen und aufgrund der recht speziellen Art meiner Reise musste ich natürlich auch mit Unannehmlichkeiten rechnen. Das wahre Leben spielte sich nun nicht mehr in meinem Zimmer zuhause oder in der Schule ab. Nachdem ich mir zunächst ein paar Gedanken über die nächsten Schritte gemacht hatte und dabei wieder einigermaßen zu mir gekommen war, stand ich auf und lief steif etwas auf und ab. Meine Beine waren eingeschlafen und ich musste sie wieder zum Mitspielen überreden. Plötzlich sah ich, dass mein Rucksack, den ich zum Schlafen als ein - wenn auch hartes - Kopfkissen verwendet hatte, offen war.