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Yassin Musharbash

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Beschreibung

Dschihadisten aus Deutschland – der hochaktuelle Politthriller von Yassin Musharbash. Gent ist einer von Hunderten deutschen Dschihadisten, die sich der Terrorgruppe »Islamischer Staat« angeschlossen haben. In Rakka, der syrischen Hauptstadt des »Kalifats«, amputiert er Dieben die Hände. Doch plötzlich meldet er sich bei seinen Eltern. Will er aussteigen? Und was sind die Informationen wert, die er anbietet? Die Botschaft aus dem Kalifat setzt eine Kettenreaktion in Gang. Die Journalistin Merle Schwalb wittert die größte Geschichte ihrer Karriere. Der Verfassungsschützer Sami Mukhtar hofft auf den Fall, an dem er sich endlich beweisen kann. Der Sozialarbeiter Titus Brandt behält ein gefährliches Geheimnis zu lange für sich. Was passiert, wenn alle das Richtige wollen – aber nichts so ist, wie es scheint?

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Seitenzahl: 414

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Yassin Musharbash

Jenseits

Thriller

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Yassin Musharbash

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Widmung

Motto

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Epilog

Dank

Inhaltsverzeichnis

Fast alle Personen und Ereignisse, die in diesem Buch geschildert werden, sind fiktiv. Das schließt bewusste Anspielungen ebenso wenig aus wie absichtliche Verfremdungen.

Zitate aus Koran und Hadith sind in der Regel an einschlägige Übersetzungen aus dem Arabischen angelehnt. In Einzelfällen habe ich mich allerdings an Varianten orientiert, die in islamistischen Zirkeln kursieren.

Inhaltsverzeichnis

Dieses Buch ist Z. gewidmet, mit der zusammen kein Abenteuer zu groß ist.

Inhaltsverzeichnis

»Der Schreibtisch ist ein gefährlicher Ort, um die Welt zu betrachten.«

John le Carré

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Es gibt keinen Gott außer Gott – ratatatatatata!

Es gibt keinen Gott außer Gott – ratatatatatata!

Natürlich hatte er Angst. Auch wenn niemand auf ihn schoss, alle stattdessen bloß in die Luft feuerten. Aber diese Kugeln kamen irgendwann wieder herunter, nur dann ohne ratatatata, sondern einfach so. Zwei Mal hatte Gent an diesem Nachmittag schon gesehen, wie Brüder, die von einer solchen Kugel auf ihrem Rückweg getroffen worden waren, blutüberströmt vom Wagen fielen. Am Wegesrand wurden sie versorgt, bekamen Verbände, Wasser und irgendwelche Tabletten. Gut sahen sie nicht aus.

Es gibt keinen Gott außer Gott – ratatatatatata!

La Ilaha illa Allah – ratatatatatata!

La Ilaha illa Allah – ratatatatatata!

Auch Gent drückte ab, wenn die anderen schossen. Sein Zeigefinger war längst taub, sein Arm zitterte vor Erschöpfung. Er versuchte, ein wenig schräg zu schießen. Er hoffte, dass die Kugeln, die er abfeuerte, in dem Wassermelonenfeld niedergehen würden, das merkwürdigerweise direkt neben der Straße lag, obwohl sie schon fast im Zentrum angekommen waren. Er musste daran denken, wie er das erste Wassermelonenfeld angestarrt hatte, das er zu sehen bekam. Das war kurz nach seiner Ankunft gewesen. Er hatte sich vorher nie gefragt, wie und wo Wassermelonen wuchsen.

Im Schritttempo kroch der Konvoi durch die Stadt. Seit einer Stunde schon, dabei war es nur eine kleine Stadt, eher ein großes Dorf. An einer Tankstelle vorbei; an einem staubigen Blumenladen, an Geschäften, in denen man Pistazien und Kürbiskerne kaufen konnte, an einem kleinen Restaurant mit roten Plastikstühlen, an einer Bäckerei vorbei; an einer Schule vorbei, aus deren Fenstern Kinder in blauen Uniformen starrten. Im Augenwinkel sah Gent, wie ein Mann auf einer Leiter balancierte, die an ein Haus gelehnt war. Der Mann hatte Schweißperlen auf der Stirn und ließ eilig ein Bettlaken über das Schaufenster seines Ladens fallen. Alkohol, vermutete Gent. Einer der Brüder auf dem Wagen vor seinem zeigte auf den Mann und lachte. Er hatte einen Revolver. Tack. Tack. Im Fallen warf der Mann die Leiter um.

Es war heiß. Einige Brüder tanzten auf den Fahrzeugen: dunkelgrüne Mannschaftswagen, gepanzert gegen Sprengfallen, ein Kettenfahrzeug, das sich keuchend und qualmend um die Kurven quälte, weiße Toyota-Pick-ups mit Flecktarnnetzen über den Ladeflächen und sogar zwei Polizeimotorräder mit blau-roten Lampen. Immer wieder ließen die Brüder, die sie bestiegen hatten, die Sirenen aufjaulen.

»Takbir!«, schrie ein Bruder irgendwo neben oder hinter ihm auf der Ladefläche des Transporters, auf dem er gelandet war. Vielleicht war es Kalashin oder Shruki, vielleicht jemand ganz anderes, Gent wusste es nicht, er sah nicht hin, aber gemeinsam mit allen anderen folgte er der Aufforderung: »Allahu Akbar! Allahu Akbar! Allahu Akbar!«

Gott ist größer!

Ratatatata!

Aber wie auch nicht, wenn es doch keinen anderen Gott außer Gott gibt?

 

Gent schloss die Augen, und alle Geräusche um ihm herum verschmolzen zu einem Stampfen, einem gewaltigen Mahlen, alles fügte sich ein, die peitschenden Schüsse, die schweren Motoren, die wabernden Gesänge, der Jubel, die Schreie, selbst das Zirpen der Grillen, sogar der Geruch von Öl und Feuer. Ihm wurde übel. Natürlich hatte er Angst.

Inhaltsverzeichnis

1

Als Titus Brandt das unauffällige kleine Ladengeschäft in der Bergmannstraße verließ und dann von außen abschloss, bemerkte er nicht, dass gleich zwei Menschen ihn beobachteten. Sonst hätte er nicht vor sich hin gesummt. Und ganz sicher hätte er nicht in einem Anfall überreizter Albernheit versucht, den Schlüssel, den er gerade abgezogen hatte, mit einem Wurf aus der rechten Hand und über seine linke Schulter in den halb geöffneten Rucksack fliegen zu lassen, der an den Schiebegriffen seines Rollstuhls angebracht war. Mit einem Klirren schlug der Schlüssel auf dem Asphalt auf. Titus seufzte, wendete den Rollstuhl und machte sich bereit, den Schlüssel aufzuklauben. Er war auf seiner linken Seite gelandet, sein Gehör hatte ihn nicht getäuscht. Doch bevor er den Schlüssel aufheben konnte, ergriff ihn eine andere Hand. Sie war groß, das war das Erste, was Titus wahrnahm. Dann sah er die dazugehörigen Hosenbeine, eine grau karierte Anzughose mit Aufschlag, und als Nächstes die geflochtenen schwarzen Lederschuhe. Titus hob den Blick und erkannte einen hochgewachsenen Mann von etwa fünfzig Jahren mit schütterem grauem Haar. Der Mann war stämmig, aber nicht dick. Sein Gesicht war rund, und seine Augen waren sehr klein und versteckten sich hinter den dicken Gläsern einer Hornbrille. Der Ausdruck des Mannes war … ausdruckslos, dachte Titus. Nicht freundlich, nicht unfreundlich, nicht offen und nicht verschlossen, als hätte ein Kind ihn gemalt, und sein Gesicht bestünde aus ein paar Strichen und ansonsten aus unbemaltem Papier. Der Mann hielt ihm den Schlüssel hin. Neben dem Mann stand eine Frau, etwa im selben Alter.

»Hier«, sagte der Mann.

»Danke«, antwortete Titus.

Als Titus die Frau ansah, lächelte sie schüchtern.

»Wir wollten eigentlich reinkommen. Wir dachten, es sei noch geöffnet«, sagte der Mann.

Norddeutschland, tippte Titus.

»Kein Problem«, sagte er.

»Wir haben von Ihnen gehört«, sagte jetzt die Frau und lächelte erneut. Aber das Lächeln war schnell wieder verschwunden.

»Es gab einen Stau«, warf der Mann ein.

»Woher sind Sie denn gekommen?«, fragte Titus.

»Aus der Nähe von Rostock«, sagte der Mann. »Sie sind doch Titus Brandt, oder?«

Titus war eigentlich verabredet. Er trainierte für den Rollstuhlbike-Marathon im September, und in einer halben Stunde wollte er sich mit Ernst auf dem Tempelhofer Feld treffen, um ein paar Runden zu drehen und danach ein Bier zu trinken.

»Wir könnten um die Ecke gehen, da gibt es eine Tapas-Bar«, schlug er vor.

»Wir wollen Ihnen keine Umstände machen«, sagte die Frau. »Wir könnten bestimmt hier irgendwo ein Zimmer finden und morgen früh wiederkommen.«

Sie sah müde aus. Titus fragte sich, ob sie wohl enttäuscht war. Ob sie etwas anderes erwartet hatte als einen Mittdreißiger im Rollstuhl, der Schwierigkeiten hatte, seinen Schlüssel zu verstauen.

»Sohn oder Tochter?«, fragte er.

»Sohn«, sagte der Mann.

»Gent«, sagte die Frau im gleichen Moment. »Er heißt Gent.«

»Lassen Sie mich kurz telefonieren«, sagte Titus.

 

Die Bar war ziemlich voll, aber sie hatten Glück und fanden einen Tisch.Den kurzen Weg hatten sie schweigend zurückgelegt. Auch jetzt, da sie saßen, hatte noch niemand ein Wort gesagt. Die Kellnerin brachte die Speisekarten. Der Mann und die Frau schlugen sie auf, legten sie aber gleich wieder auf den Tisch.

»Wo ist ihr Sohn jetzt, wissen Sie das?«, fragte Titus.

»Nicht genau«, sagte der Mann.

»In Syrien, glauben wir«, sagte die Frau. »Er ist vor ungefähr einem Jahr verschwunden.«

»Wo wir wohnen, gibt es niemanden, der sich so richtig mit so etwas auskennt«, sagte der Mann.

Die Kellnerin kehrte zurück, und Titus bestellte ein Glas Rioja und Schinken und Käse. Der Mann fragte, ob es Bier gäbe. Es gab welches. Die Frau bestellte ein Mineralwasser. Und dann, kurz entschlossen, auch einen Rioja.

»Entschuldigung, Herr Brandt, dass wir Ihnen so aufgelauert haben«, sagte sie, nachdem die Kellnerin verschwunden war. »Wir waren uns nicht sicher, ob man einen Termin machen muss. Und dann sind wir einfach losgefahren.«

Titus nickte. Er war froh, dass die Musik nicht allzu laut war.

»Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt«, sagte der Mann. »Sassenthin. Karl Sassenthin. Und das ist meine Frau.«

»Elisabeth Sassenthin«, sagte die Frau. »Freut mich sehr.«

»Meinen Namen kennen Sie ja«, sagte Titus.

»Ja, das stimmt«, sagte Karl Sassenthin.

Titus saß an einer Seite des kleinen, quadratischen Holztisches, der Mann und die Frau saßen ihm gegenüber, eng an eng. Immerhin, dachte Titus. Er hatte Eltern getroffen, die einander nicht mehr ertragen konnten.

Elisabeth Sassenthin muss einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein, dachte er. Ist sie immer noch. Braune, glatte Haare. Hohe Wangenknochen. Große, grüne Augen. Schlank. Karl Sassenthin hatte sich offenbar beim Rasieren am Morgen geschnitten. Ein winziger Schnitt am Kinn, ein dünner, senkrechter Strich verkrusteten Blutes. Er trug eine braune Cordjacke und umfasste sein Bierglas mit beiden Händen, die kräftigen Finger auf der Rückseite des Glases ineinander verschränkt.

»Seit einem Jahr ist er weg?«, fragte Titus.

»Ja«, sagte Elisabeth Sassenthin. »Zwei Jahre nachdem er den Islam angenommen hat. Er hat nicht mehr bei uns gelebt. Aber wir haben fast jede Woche telefoniert, uns oft gesehen. Und plötzlich war er fort. Von einem Tag auf den anderen.«

Den Islam angenommen, registrierte Titus. So wird er es gesagt haben. Sie verwendet seine Worte. »Keine Anzeichen, dass er ins Ausland wollte?«

»Nichts«, sagt der Mann. »Da war gar nichts. Ich meine, wir wussten, dass er, wie sagt man das … dass er abgedriftet war, über nichts anderes mehr reden konnte. Aber es gab keine Ankündigung, keine Abschiedsbotschaft, nichts.«

»Außer, na ja, er war eine Woche vorher noch einmal bei uns. Er war auf dem Dachboden und kam mit einem Schlafsack wieder herunter. ›Wofür brauchst du das alte Ding denn?‹, habe ich ihn gefragt. ›Ach, ein Ausflug‹, hat er gesagt.«

»Elli, daraus konnte man doch nichts ableiten.«

»Ich weiß. Ich dachte nur, vielleicht ist es ja wichtig.«

Titus sah, dass sie kurz davor war zu weinen. Er war froh, dass die Kellnerin sein Essen brachte. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er, »aber ich habe heute Mittag nichts gegessen.«

»Herr Brandt«, sagte Karl Sassenthin, der ihn gar nicht gehört zu haben schien, »könnten Sie uns kurz erklären, wie das läuft? Also Ihre Arbeit? Wie funktioniert das?«

»Können Sie manchmal helfen?«, warf Elisabeth Sassenthin hinterher.

Titus, der gerade den Mund voll hatte, machte den beiden ein Zeichen mit dem Zeigefinger, um zu bedeuten, dass er gleich so weit sein würde.

»Ob ich helfen kann«, antwortete er schließlich, »hängt nicht von mir allein ab. Es hängt von Ihnen ab. Es hängt von Ihrem Sohn ab. Es hängt von Dritten ab, auf die wir keinen Einfluss haben. Es kann von den Sicherheitsbehörden abhängen. Ich kann Sie nur beraten. Ich kann Ihnen nichts versprechen.«

Titus wusste, dass es nicht half, Hoffnung zu schüren. »Haben Sie Kontakt zu Ihrem Sohn?«, fragte er stattdessen.

»Das ist es ja«, antwortete Elisabeth Sassenthin. »Gestern hat Gent sich gemeldet. Zum ersten Mal, seit er uns vor über elf Monaten eine SMS aus der Türkei geschickt hat, dass wir uns keine Sorgen machen sollen. Aber wir wissen nicht, was die Nachricht bedeutet.«

 

Drei Stunden später saß Titus Brandt in dem kleinen Garten vor seiner Wohnung in Friedrichshain an seinem Laptop und rauchte langsam die eine Zigarette, die er sich jeden Abend noch erlaubte. Eine Ligusterhecke schirmte seinen Garten nach vorne von der Bänschstraße und nach rechts vom Hauseingang ab. Auf der linken Seite begrenzte die gelbe Hauswand den Garten. Fast alle Häuser in der Bänschstraße waren gelb oder orange gestrichen, eigentlich alle, wenn er genauer darüber nachdachte, bis auf die rot geklinkerte Kirche natürlich. Das war nicht immer so gewesen. Mit den Ureinwohnern des Samariterkiezes konnte man kaum ein Bier trinken, ohne dass man vor Augen geführt bekam, wie es hier früher ausgesehen hatte, wahlweise vor der Wende, vor der großen Sanierungswelle oder vor der Gentrifizierung. Er selbst kannte die Bänschstraße nur in Gelb-Orange, seit er durch einen glücklichen Zufall die Wohnung gefunden hatte; vor sieben Jahren war das gewesen. Sie war etwas teuer, als er es sich eigentlich leisten konnte, weil sie für zwei Personen gedacht war. Dafür war sie behindertengerecht.

Den Garten mochte er besonders gern, auch wenn der Rasen braun und stumpf war und er die Pflanzen kaum pflegte, weil er davon nichts verstand. In dem Garten war er vor Blicken geschützt und bekam trotzdem mit, was um ihn herum geschah. So wie jetzt, als er von der gegenüberliegenden Straßenseite die spielenden Kinder hörte und von rechts, aus dem portugiesischen Café ein paar Schritte die Straße herunter, Gesprächsfetzen herüberwaberten.

Es war noch warm, auch wenn die Sonne schon vor einer Stunde untergegangen war. Der Bildschirm tauchte seine Hände in bläuliches Licht. Er hatte angefangen, einen Bericht über das Gespräch mit Elisabeth und Karl Sassenthin zu verfassen. Er betreute derzeit 23 Fälle. Das bedeutete 23 Familien, 23 verkorkste Lebensgeschichten, 23 junge Männer und junge Frauen, die nach Syrien oder in den Irak gezogen waren, kurz davor standen oder bereits zurückgekehrt waren. 23 Fälle, die ihn schon jetzt rund um die Uhr beschäftigten. Zwölf Mal hatte sein Handy geklingelt oder SMS-Nachrichten empfangen, während er mit den Sassenthins in der Tapas-Bar gesessen hatte. Und bevor er heute ins Bett ging, würde er nicht nur diesen Bericht zu Ende schreiben und einigen der anderen Eltern eine Antwort schicken, auf die sie ohne Zweifel schon warteten, sondern anschließend noch eine Stunde oder auch zwei Stunden damit verbringen, sich durch die im Laufe des Tages veröffentlichten Videos aus Syrien und dem Irak zu zwingen.

So sah sein Leben an den meisten Tagen aus, seit er vor fünf Jahren in der Beratungsstelle zu arbeiten begonnen hatte.

Anfangs waren sie zu zweit gewesen, nur er und Lotte. Das Büro in Kreuzberg gab es da noch nicht, bloß einen improvisierten Schreibtisch in Lottes Gästezimmer, den sie sich teilen mussten. Er hatte sich kurz nach Abschluss seines Studiums bei ihr beworben, das sich viel zu lange hingezogen hatte, weil er schon nach dem zweiten Semester nicht mehr gewusst hatte, warum er dabei war, Sozialarbeiter zu werden. Auch wenn alle anderen es logisch fanden, dass er Sozialarbeiter werden wollte. Oder vielleicht: Gerade weil alle anderen es logisch fanden. Seine Mutter zum Beispiel, die ihm das Studium vorgeschlagen hatte. Und ein paar Kommilitonen, die ihm allen Ernstes auf tausend verschiedene und immer noch verschwiemeltere Arten wissen ließen, dass sie ihn regelrecht beneideten, weil er ja aus eigener Erfahrung wisse, wie es sei, wenn man Unterstützung brauche.

Aber abbrechen wollte er das Studium auch nicht. Stattdessen bemerkte er, dass ein bestimmter Gedanke sich immer wieder in seinen Kopf schlich und jedes Mal ein wenig länger blieb. Ein rätselhafter Gedanke, den er selbst nicht ganz verstand: Wenn ich schon helfen muss, dann will ich Arschlöchern helfen!

Nazis zum Beispiel. Üblen Nazis. Solchen von der Sorte, die ihn in der Tram umgestoßen und »Ins Gas mit dir, du Missgeburt!« gerufen hatten.

Er sprach mit niemandem über diesen Gedanken. Aber eines Tages, kurz bevor die letzten Klausuren anstanden, klaubte er in der Mensa eine Broschüre auf. »Soziale Arbeit in der Stadt« oder irgend so etwas stand darauf. Darin war auch »Neuanfang« erwähnt, eine Beratungsstelle, die dabei half, Nazis auf dem Weg aus der Szene zu begleiten. Darunter stand Lottes E-Mail-Adresse.

»Nichts zu machen, Herr Brandt. Keine Stellen bei den Nazis, tut mir leid! Aber ich hätte eventuell trotzdem etwas für Sie«, hatte sie gesagt, als er ein paar Wochen später vor ihr saß. »Falls Sie Lust auf etwas ganz anderes haben!«

Dann hatte sie ihm von ihrem neuen Projekt erzählt. Davon, dass immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene aus Deutschland nach Syrien und in den Irak zogen, um sich Terrorgruppen anzuschließen. Und warum sie glaubte, dass dieselben Techniken, mit denen sie selbst jahrelang den Rechten beigestanden hatte, vielleicht auch bei den Dschihadisten funktionieren könnten. »Es geht auch bei denen ganz sicher nur, wenn sie es selbst wirklich wollen. Und es geht auch bei denen vermutlich am ehesten, wenn man die Familien einbezieht. Tja, das ist jedenfalls der Plan.«

Monatelang hatte sie Experten kontaktiert, Imame in sogenannten Problem-Moscheen besucht, schließlich auch Eltern gesucht und gefunden, deren Kinder zur ersten Rutsche deutscher Foreign Fighters gehört hatten, die schon Jahre zuvor nach Waziristan zu al-Qaida oder nach Somalia zu den Shabaab gezogen waren. Dann hatte sie ein Konzeptpapier geschrieben. Und tatsächlich erreicht, dass »Neuanfang« eine neue Sparte eröffnete: jetzt neu – Beratungsstelle Islamismus.

»Und jetzt geht es los, Herr Brandt. Und Sie könnte ich gerade noch so bezahlen. Wenn Sie genügsam sind.«

Einen Moment lang hatte er sie über die auf zwei Holzblöcken stehende Sperrholzplatte hinweg angesehen und kein Wort gesagt. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Nicht einmal, was er denken sollte.

»Eine Frau und ein Rollstuhlfahrer«, hatte Lotte schließlich noch trocken hinterhergeschoben. »Was soll da schon schiefgehen?«

Das war der Moment, in dem er sicher war, dass er Ja sagen würde.

Mittlerweile waren sie bei »Amal« zu fünft. Amal hieß Hoffnung auf Arabisch. Auch das war Lottes Idee gewesen. Geld war jetzt kein Problem mehr. Sie bekamen Geld vom Ministerium und vom Bundesamt, und es gab sogar Spenden. Dafür war die Zahl der Fälle eine Herausforderung. Sie kamen kaum noch hinterher: mit dem Papierkram und mit der Korrespondenz mit den Angehörigen. Vor allem aber mit dem Dabeisein, wenn die Eltern mit dem Sohn oder der Tochter in Rakka oder Mosul chatteten, damit sie den Eltern in Echtzeit Ratschläge geben konnten, wie sie am besten reagierten, was sie jetzt schreiben sollten, um sicherzustellen, dass sie aus lauter Angst und Sorge und Wut nicht den letzten zarten Draht zerschredderten, der ihre – wie hatte Karl Sassenthin es genannt? – abgedrifteten Kinder noch mit ihnen verband.

Dieser Draht war das Allerwichtigste.

Denn ab und zu, ganz selten, führte dieser Draht dazu, dass Murad oder Amira oder Thomas den Weg nach Hause fanden. Ohne sich die Hände und den Rest ihres Körpers und ihre Seelen mit Blut beschmiert zu haben.

Die Frage, ob er es mit Arschlöchern zu tun hatte, stellte er sich nicht mehr. Sie war unwichtig geworden. Er war gut in seinem Job. Und er war gerne gut in dem, was er tat.

 

»Gent Sassenthin, 26 Jahre alt, im Alter von 23 Jahren zum Islam konvertiert«, hatte er bislang notiert. »Vergleichsweise stabiles Elternhaus, Vater Bootsbauer, Mutter Klavierlehrerin. Eine Zwillingsschwester, im Alter von 23 Jahren verstorben (Ursache?). Seitdem war Gent Sassenthin rastlos und offenbar auch leicht (?) depressiv. Studium (Medizin) nicht erfolgreich, Abbruch. Gelegenheitsjobs als Rettungssanitäter. Konversion von Eltern und sozialem Umfeld halbwegs akzeptiert, Konflikte erst im Zuge zunehmender Radikalisierung (Geburtstagsfeiern plötzlich haram, Konflikt wegen Essensvorschriften etc.). Im vergangenen Sommer unangekündigte Ausreise nach Syrien (oder Irak?). Mutmaßlich beim ›Islamischen Staat‹. Weitere Details zurzeit unbekannt.«

Titus starrte auf den Bildschirm. Er hatte keine Zeit, einen weiteren Fall anzunehmen.

»Es kann jede Familie treffen, wirklich jede«, hatte er den Sassenthins gesagt.

»Aber irgendetwas müssen wir falsch gemacht haben!«

»Nicht einmal Gent würde das sagen, Frau Sassenthin.«

 

Er log die Familien nie an. Die Wahrheit konnte nicht schlimmer sein als das, was sie sowieso durchmachten. Aber sie alle verzehrten sich nach etwas, an dem sie sich festhalten konnten. Sie brauchten das Gefühl, dass es Muster gab, Gesetzmäßigkeiten, begründete Mutmaßungen. Irgendetwas, mit dessen Hilfe sie die schlaflosen Nächte überstehen konnten. Also versuchte er, ihnen wenigstens damit zu helfen. Er navigierte sie durch die typischen Phasen einer Radikalisierung. Berichtete ihnen davon, wie Rekrutierungen abliefen. Malte ihnen ein Bild von dem Leben, dass ihr Sohn oder ihre Tochter »dort unten« wahrscheinlich führten.

Ja, es gibt auch im Kalifat Krankenhäuser. Sicher, auch mit ausgebildeten Ärzten. Aber natürlich sind die Zustände nicht optimal.

Nein, nicht jeder muss an der Front kämpfen.

Nein, ich glaube nicht, dass die Rekruten gezwungen werden, Selbstmordattentate zu begehen.

Oder jemanden zu enthaupten.

 

Wie unwirklich auch ihm dieser Exodus von Kindern manchmal vorkam, diese böse Farce auf den Rattenfänger von Hameln, behielt er für sich. Erst am Abend, wenn er, so wie jetzt, in seinem Garten saß, erlaubte er sich, diesen Gedanken nachzugeben. Er hatte mehr als nur einen der Jungs kennengelernt, bevor sie abgehauen waren. Hatte gesehen, wie die Basecaps verschwanden, die Hoodies durch lange Gewänder ersetzt wurden, das ständige Grinsen einer undurchdringlichen Ernsthaftigkeit wich. Und wie, wenn man genau hinhörte, sogar das Getto-Nuscheln nachließ und die Aussprache deutlicher wurde, ein besonders grotesker Nebeneffekt der neu erworbenen Selbstdisziplin und Entschlossenheit. Aber wenn er die Jungs dann, wie es mitunter vorkam, in den Videos aus dem Kampfgebiet wiedersah, die Bärte faustlang, in den Augen ein Flackern, die Finger am Abzug – dann fragte er sich trotzdem, wieso er sich einbildete, helfen zu können. Etwas beobachten heißt ja nicht, es zu verstehen, schoss es ihm durch den Kopf. Es gibt gar kein Rezept. Wir alle improvisieren nur.

Trial and error.

Nicht nur ihr; wir auch.

 

»Antonia, du musst jetzt wirklich ins Bett«, schallte es von der anderen Straßenseite herüber. »Jetzt, Mäuschen, sofort!«

»Empfehlung: Übernahme der Beratung der Familie Sassenthin durch Amal e.V.«, tippte Titus schließlich. »Vorschlag für Berater: T. Brandt.«

Er wusste, was sie ihm in der Teambesprechung am Montag sagen würden. »O Mann«, würde Gabriel stöhnen, »wenn ich auch jedes Mal Ja sagen würde …« Aber Gabriel hatte auch nicht mit den Sassenthins in der Tapas-Bar gesessen.

 

»Gestern hat Gent sich gemeldet. Zum ersten Mal, seit er uns vor über elf Monaten eine SMS aus der Türkei geschickt hat, dass wir uns keine Sorgen machen sollen. Aber wir wissen nicht, was die Nachricht bedeutet.«

»Wie hat er sich denn gemeldet?«

»Er hat mir eine E-Mail geschickt. Ganz wirr.«

»Haben Sie die Nachricht dabei?«

»Es war nur Zeichensalat.«

»Zeigen Sie doch mal, bitte.«

Aus ihrer Handtasche hatte Elisabeth Sassenthin daraufhin ein DIN-A4-Blatt gezogen und ihm gereicht. Die E-Mail war sehr kurz. Sie bestand aus nichts weiter als Buchstaben und Zahlen, geordnet in zehn Vierergruppen. Titus hatte keine Ahnung, was die Zeichen bedeuten könnten. Aber dass Gent Sassenthin diese Zahlen und Buchstaben nicht ohne Grund geschickt hatte, davon war er überzeugt.

* * *

»Sammy?«

»Ja?«

»Darf ich dich mal was Persönliches fragen?«

»Was denn?«

»Sag mal, wo finde ich denn hier das … du weißt schon?«

»Da müssen irgendwo Taschentücher sein, geht das vielleicht auch?«

»Klar. Danke, Süßer!«

Ihre Stimme klang noch genau so fröhlich wie zuvor, nur etwas gedämpft durch die Tür zwischen ihnen. Trotzdem war er sicher, dass dieser Moment das Ende des Abends einläuten würde. In ein oder zwei Minuten würde sie aus dem Bad kommen, vielleicht würden sie noch eine Runde knutschen, aber bleiben würde sie wohl nicht mehr.

Und das war ihm nur recht.

Das mit dem Toilettenpapier war ihm egal. Süßer war schon schlimmer. Sammy war zu viel.

Vielleicht konnte er das Ganze abkürzen? Wenn er jetzt ginge, zum Beispiel.

Wahrscheinlich könnte ich sie sogar mögen, dachte er, ich kenne sie ja erst seit drei Stunden. Aber er wollte allein sein, am liebsten sofort, ohne eine verkrampfte Verabschiedung. Und es war nicht davon auszugehen, dass sie zum Beispiel sagen würde: »Sammy, alter Haudegen, ich geh mal besser, vielleicht stehen die Sterne ein anderes Mal besser für uns beide.«

Das hätte etwas.

Er versuchte sich vorzustellen, wie sie diesen Satz sagte, doch es gelang ihm nicht. Also stand er auf und verließ die Wohnung. Er war zwar in gewisser Weise Experte für alles Unwahrscheinliche; aber deswegen wusste er ja auch, wie selten es war.

Eine halbe Stunde später saß Sami Mukhtar wieder auf dem abgeschürften Ledersessel, den er für zu viel Geld auf einem Flohmarkt gekauft hatte, weil er angeblich aus dem Originalbestand des Flughafens Tempelhof stammte, und sah sich selbst dabei zu, wie er sich einen Gin Tonic mixte. Es hatte nicht einmal drei Minuten gedauert, bis Nina an der Ecke Manteuffel- und Reichenberger Straße an ihm vorbeigestapft war: Eine schöne Frau in einer lauen Sommernacht. Nur etwas zu schnell: KlackKlack … KlackKlack … KlackKlack. Als er sie kommen sah, hatte er sich an eine Brandmauer gelehnt, sich leise geschämt und den Kopf in den Nacken gelegt.

Es war eine Vollmondnacht, und am Himmel standen Wolkenfetzen: kleine kreisförmige neben bizarr lang gestreckten, wild vermischt. Der Anblick hatte ihn an eine gigantisch vergrößerte Griechenlandkarte mit Myriaden von Inseln erinnert. Nein, nicht an eine Landkarte. Sondern daran, wie es tatsächlich aussah, wenn man über Griechenland hinwegflog, der Himmel das Meer, die Wolken als Inseln. Und dann: diese jedes Mal so spektakuläre Landung in Beirut, bei der man das Land nicht sah, wenn die Maschine aufsetzte, ganz so, als würde man notwassern. Und sobald die Flugzeugtür aufging, zwischen all dem Geschäftsmännerschweiß und der Kinderkotze und dem Schleiereulen-Parfüm: der erste Hauch Pinienduft. Von da an wusste man nicht mehr, was passieren würde. Weil man das in Beirut nie wusste. Nur, dass man am richtigen Ort war.

 

Sammy. Wie deutlich sollte er seinen Namen eigentlich noch aussprechen, damit die Leute ihn nicht so nannten? Vielleicht sprach er seinen Namen aber auch gar nicht so deutlich aus, wie er dachte. Vielleicht sagte er sogar mit Absicht: Ich heiße Sammy.

In der Mariannenstraße befand sich ein Späti, einer dieser Kioske, die rund um die Uhr aufhatten, diese seltsame Berliner Spezialität, wo es nicht nur Kippen und Jägermeister gab, sondern auch Spreewaldgurken und Toastbrot und Schmalz in Plastiktöpfen und was Bolle und Atze offenbar sonst noch so um Mitternacht benötigten. Dort hatte er auf dem Rückweg Zigaretten besorgt, und weil er schon einmal da war, auch Toilettenpapier. Als er an der Kasse stand, um zu bezahlen, war ihm ein metallischer Geruch in die Nase gestiegen. Den Bruchteil einer Sekunde musste er an Blut denken, also hatte er sich umgedreht, aber hinter ihm stand bloß einer dieser Menschen, die nachts schon die druckfrischen Zeitungen des kommenden Tages verkauften. Der Mann war deutlich über sechzig Jahre alt und hatte einen Rauschebart, dessen obere Hälfte gelb vom Nikotin war. Sami kannte ihn vom Sehen. Seine Spezialität war es, die Zeitungen mit selbst getexteten Reimen anzupreisen. Der Mann blickte Sami freundlich an, deutete vielsagend auf den Zeitungsstapel in seiner Armbeuge und deklamierte mit heiserer Stimme: »Wir werden alle sterben, doch sterbt lieber nicht dumm! Drum lest erst mal den Tagesspiegel, denn der sagt euch warum!«

Sami hatte auf die Schlagzeile geblickt, dem Mann zwei Euro in die Hand gedrückt und war nach Hause gegangen. Jetzt lag der Tagesspiegel vor ihm auf dem Glastisch.

Terroralarm für Berlin – Hauptstadt im Visier von Dschihadisten

Er wusste, was in dem Artikel stand, auch ohne ihn zu lesen. Und auch ohne diese Schlagzeile wäre er morgen extra früh ins Büro gefahren. Das war nach dem Scharmützel mit Eulenhauer heute Mittag schon klar gewesen. Aber jetzt war es noch wichtiger. Wütend warf Sami die Zeitung in die Ecke.

 

»Darf ich mal fragen, Herr Mukhtar: Wann genau finden Sie es eigentlich angemessen, Alarm zu schlagen? Nach einem Anschlag?«

Kann man natürlich so machen, Eulenhauer, klar, kann man machen! Aber dann habe ich, bis du um Punkt zwölf Uhr dreißig in die Kantine verschwindest, um dein Schweineschnitzel mit Paprikagemüse Balkan-Art zu essen, schon dreizehn Mal »Unspezifische Drohung« in die Betreffzeile getippt. Und dann? Dann muss irgendein Sesselfurzer, der noch weniger Ahnung hat als ich, sich damit herumschlagen. Und dann, Eulenhauer? Weißt du, was dann passiert? Melden macht frei, Eulenhauer: Glaub bloß nicht, du wärst der Einzige, der so denkt! Immer schön nach oben weiterreichen – bis irgendein Staatssekretär oder Jurist in irgendeinem Landesamt für Verfassungsschutz oder irgendein Polizeipräsident, der 1983 mal zwei Wochen in Tunesien im Urlaub war und sich im Souq verlaufen hat, findet: Das klingt ja krass! Diese Fusselbärte! Und dann, Eulenhauer, sagen die, noch bevor du deinen Wackelpudding aufgegessen hast, einen Lufthansa-Flug ab, eine Demonstration oder ein Fußballspiel.

Und wer freut sich darüber, Eulenhauer? Abu Arschloch Sohn von Arschloch freut sich darüber. Und morgen, spätestens übermorgen, twittert Abu Arschloch seine nächste »Warnung an die Kuffar«, weil er plötzlich irre mächtig ist, ein wahrhaftiger Mudschahid, alle zittern, sobald er seine Tastatur rausholt! Und dann, Eulenhauer?

Das hatte er gedacht. Tatsächlich hatte er nur mit den Augen gerollt und sich umgedreht. Weil er wusste, dass Eulenhauer das hasste.

Sami sah auf die Uhr. Es war zwei Uhr am Morgen. Er könnte sich jetzt hinlegen und noch vier Stunden schlafen. Aber er ahnte, dass er dafür zu wütend war.

 

»Was machst du denn eigentlich so? Beruflich, meine ich?«, hatte Nina ihn gefragt.

Er hatte an der Bar gesessen. In einer kleinen Kneipe am Ende der Falckensteinstraße, wo Olivenbäume in Blechkanistern neben den Tischen standen und die von der Decke baumelnden Glühbirnen in grünen Weinflaschen steckten und ein Licht verbreiteten, das ihn beruhigte. Sie hatte auch an der Bar gesessen, aber immer wieder auf ihre Armbanduhr geschaut, weswegen er mutmaßte, dass jemand sie versetzt hatte. Aus einer Laune heraus hatte er den Barkeeper gebeten, ihr einen Aperol zu bringen, was der auch unaufgeregt erledigt hatte, genau so, wie sich das gehörte: mit einem angedeuteten Nicken in Samis Richtung, als er ihr das Getränk hinstellte. Und dann war sie tatsächlich zu ihm herübergerutscht. Es waren ja nur drei Meter.

Sie war klein, dunkelhaarig und schlank, und ihm hatte gefallen, dass ihr dichtes Haar sich nicht entscheiden konnte, ob es geordnet oder wild sein wollte, halb Scheitel, halb abstehendes Chaos. Als sie sich zu ihm setzte, konnte er sehen, dass sie ungeschminkt war und braune Augen hatte.

»Danke für den Drink! Das ist mir wirklich noch nie passiert.«

»Dann ist es ja höchste Zeit!«

Aber dann, nach drei Minuten: »Was machst du denn eigentlich so? Beruflich, meine ich?«

Wieso ist das so, fragte er sich. Wieso haben fast alle langweilige und austauschbare Jobs, betrachten sie aber als derart identitätsstiftend, dass sie unbedingt, sofort, als Erstes, voneinander wissen müssen: Bist du Steuerberater? Systemadministrator? Oder Einzelhandelskaufmann? Er hätte sie eher gefragt, ob sie nachts gerne wach war. Oder Gedichte las.

»Was mit Akten«, hatte er geantwortet. »Sag Bescheid, wenn du mal einen Locher brauchst!«

 

Das war nicht einmal gelogen, außer dass er keine Ahnung hatte, ob und wo es in seiner Dienststelle Locher gab. Auswerter beim Bundesamt für Verfassungsschutz wäre präziser gewesen. Derzeitige Verwendung: das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum in Berlin-Treptow. Aber das zu sagen, hätte dem Abend eine ebenso vorhersehbare Wendung gegeben, wie wenn er auf die Frage nach seinem Namen »Sami« geantwortet hätte und nicht »Sammy«, wie er es zwei Minuten zuvor getan hatte. Warum hatte er das getan?

Zu viele Fragen. Immer dieselben.

Dabei ist doch die eigentliche Frage – und wahrscheinlich, dachte Sami, während er seinen Gin Tonic austrank, ist das eine von diesen beschissenen Drei-Uhr-am-Morgen-Fragen, also ist sie entweder komplett unerheblich oder die wichtigste von allen: Warum macht mich das alles so wütend?

Er fragte sich das schon eine ganze Weile. Warum bin ich so wütend? Warum regt mich alles so auf? Warum saufe ich mir jeden Abend einen an? Warum verschwinde ich aus meiner eigenen Wohnung, um Nina auf die denkbar übelste Art und Weise loszuwerden, obwohl sie vollständig hinreißend ist? So hinreißend, dass du es jetzt schon wieder bereust.

Etwas nagt an dir, Sami. Lässt dir keine Ruhe. Klar bist du kein Vorzeige-Beamter, aber das ist es nicht. Du bist einsam, aber das ist es auch nicht. Du wärst gerne öfter in Beirut. Aber auch das ist es nicht. Was zur Hölle ist es dann?

 

Es war schön zu sehen, wie die Sonne aufging, dachte er weitere zwei Stunden später. Wie der Himmel, der ja überhaupt nur kurze Zeit richtig dunkel gewesen war, sich allmählich durch alle erdenklichen Blaustufen hindurch emporschwang, bis man ihn hell nennen konnte. Noch bevor er die U1 kreischen hörte, fiel ihm eine Vogelstimme auf. Er hatte sich für diese Wohnung entschieden, weil sie ganz oben lag, im fünften Stock, unter einer Schräge mit durchgehender Fensterfront, unter die er seinen Sessel gestellt hatte. Er stand auf, öffnete eines der Fenster und zündete sich eine Zigarette an, rauchte sie aber nur halb. Dann ging er in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an, ging ins Bad, duschte mit geschlossenen Augen und zog sich danach an.

Er hatte noch nie gerne geschlafen. Er war gerne in der Nacht wach. Schon als Abiturient hatte er sich am Ende einer Party, wenn alle anderen, nachdem das letzte Bier geleert war, auf dem Fußboden lagen und leise vor sich hin atmeten, am liebsten irgendwo hingehockt, sich an die Wand gelehnt und seinen Gedanken nachgehangen. Hatte die Schlafenden beobachtet: das schönste Mädchen, das jetzt nicht mehr das schönste war, weil ihm eine kleine, silberne Sabberspur aus dem Mund lief; das viertschönste Mädchen, das plötzlich wie eine Prinzessin aussah, die Haare aufgefächert und um ihren Kopf herumdrapiert wie bei einer Meerjungfrau im tiefen Ozean; der picklige Typ, der in der miesen Metal-Band E-Gitarre spielt und beim Versuch, das vormals schönste Mädchen anzugraben, eingepennt war, seine rechte Hand noch knapp neben ihrer Brust liegend, im Niemandsland zwischen Triumph und Niederlage.

Yallah, nishar!

Los, wir bleiben wach bis zum Sonnenaufgang!

Das war etwas anderes als »die Nacht zum Tag machen« oder »durchmachen«. Für ihn jedenfalls. Und für Maha in Beirut auch, die er seine Sandkastenfreundin genannt hätte, wenn es in Beirut Sandkästen gäbe und die Kinder nicht in den Gassen des Viertels oder auf alten Friedhöfen spielen würden, wie er und Maha es getan hatten, und neben der er seither mehr als nur eine Nacht gemeinsam schweigend und auf dem Boden sitzend verbracht hatte.

Er musste lächeln, während er an Maha dachte und seinen Espresso trank. Er war bereit.

 

Morgens um sechs gab es fast keinen Verkehr in Berlin, eigentlich nur Taxen, ein paar übermüdete Pendler und die unvermeidlichen BVG-Busse. So brauchte er kaum eine Viertelstunde, bis er mit seinem alten Passat an der Schranke stand, dem Wachhabenden seine Ausweiskarte entgegenhielt und den Wagen im Schritttempo zum Parkplatz steuerte.

Er musste daran denken, wie ein dürrer junger Mann aus der Personalabteilung ihn am Tag seines Dienstantritts in Treptow über das riesige Gelände geführt und erklärt hatte, dass die roten Klinkerbauten, die über das Areal gewürfelt waren, einmal das Telegraphen-Bataillon der preußischen Armee beherbergt hatten. Bis heute hatte er sich nicht daran gewöhnen können, wie Berliner solche Dinge ganz beiläufig sagen konnten. Eine frühere jüdische Mädchenschule. Eine alte Farbenfabrik. Die ehemalige Zentrale der USPD. Und hier, ach so, das alte Versammlungshaus der Hitlerjugend.

Alles nur noch Kulisse und vorbei, irgendwie nicht mehr wahr. Mitten zwischen den Gebäuden der preußischen Kaserne stand jetzt ein moderner Zweckbau, entworfen und umgesetzt in einem ähnlichen Stil wie die Bundestagsbauten und fast all die anderen Gebäude, die im Zuge der Hauptstadtwerdung Berlins errichtet worden waren: Glas und helles Holz und dünne Stahlträger. Wie IKEA-Regale neben Gründerzeit-Vitrinen. Praktisch, nüchtern, unverdächtig. Es war nicht so, dass es ihn umtrieb, was in dieser preußischen Kaserne dereinst vor sich gegangen sein mochte. Aber da war ein Grusel, eine gewisse Schwere, die ihn erfasste, sobald er auch nur flüchtig darüber nachdachte.

Als er sein Büro betrat, das sich in dem IKEA-Würfel befand, war es noch nicht einmal halb sieben. Automatisch fuhr er seinen Rechner hoch, obwohl er ihn nicht brauchen würde. Jedenfalls vorerst nicht. Holger war nicht da, womit er aber auch nicht gerechnet hatte. Er legte die Füße auf den Tisch, lehnte sich zurück und überflog den Artikel im Tagesspiegel.

Nicht mehr lange, und das Telefon neben seinem Rechner würde klingeln. Denn Gernot Eulenhauer, der nicht nur aussah wie ein Aktenschrank, sondern auch so dachte, würde zweifellos davon ausgehen, dass er noch nicht da sei. Aber genau deswegen war er ja da: Damit er rangehen konnte, und Eulenhauer nicht würde behaupten können, er sei nicht da gewesen. Damit er dann, wie Eulenhauer es zweifellos vorschlagen würde, der Eulenhauer-Show beiwohnen konnte.

Und er täuschte sich nicht, auch wenn es etwas länger dauerte, als er vermutet hatte: Um 8 Uhr 45 klingelte das Telefon.

»Aber natürlich, ich komme sofort rüber!«

Eulenhauer war gut darin, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Wahrscheinlich lernen das die BKAler in irgendeinem Lehrgang, dachte Sami.

 

Er selbst wäre am liebsten zum Bundesnachrichtendienst gegangen. Damals, als er nach dem Politikstudium auch nicht mehr über den BND wusste, als dass er für Spionage im Ausland zuständig war, genau das jedoch verheißungsvoll genug klang. Er hatte sich ausgemalt, wie er in gottverlassenen Winkeln des Globus, in Timbuktu oder Taschkent oder Tripolis, Umschläge mit Geld gegen einen USB-Stick tauschen würde, nur um eine Woche darauf am anderen Ende der Welt in einem mondänen Hotel einen Militärattaché oder Legationsrat oder Kriegsreporter betrunken zu machen. Aber der BND hatte ihn auf seine Bewerbung hin nicht einmal eingeladen. Obwohl er fließend Arabisch sprach, wonach der Dienst seit 9/11 immer noch händeringend suchte. Enttäuscht hatte er sich für die nächstbeste Alternative entschieden, den Verfassungsschutz, über den er noch weniger wusste. Erst in Heimlichheim, wie die in einem Kaff im Rheinland versteckte Ausbildungsstätte des Verfassungsschutzes von den Eingeweihten genannt wurde, hatte ihm ein Ausbilder nach dem zweiwöchigen Observationskurs abends beim Bier zwischen den Tischtennisplatten im Innenhof erklärt, dass der BND ihn niemals einstellen würde.

»Aber warum nicht?«

»Weil du Familie im Libanon hast.«

»Ja und?«

»Du bist erpressbar, Sammy. Was machst du, wenn der Geheimdienst der Hisbollah dir auf die Spur kommt und deine Cousinen unter Druck setzt?«

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er im Stillen gehofft, mit ein paar Jahren Erfahrung beim BfV im Rücken für den BND doch noch interessant zu werden.

»Sei froh, dass du nicht bei denen gelandet bist«, hatte der Ausbilder, Markus Helten, ihn zu trösten versucht. »Beim BND, da sind so viele Soldaten. Da würdest du gar nicht reinpassen. Glaub mir, hier ist es spannender.«

Spannender, das sagte sich natürlich leicht. Aber Sami kannte Helten da schon gut genug, um zu wissen, dass der das wirklich glaubte, aus reinstem Herzen. Denn Helten gehörte zu jenen im BfV, die beseelt waren von ihrer Arbeit. Die froh darüber waren, dass sie keine »nassen Sachen« machen durften. Und die »freiheitlich-demokratische Grundordnung« sagen konnten, ohne rot zu werden.

Er war nicht wie sie, das wusste er. Aber er hatte auch nicht vergessen, wie überwältigt er gewesen war, als er das erste Mal begriff, wirklich begriff, was es bedeutete, in den privatesten Geheimnissen anderer herumzustochern. Da hatte es diesen Terrorverdächtigen gegeben, Mitte 40, aus Gaza. Sami hatte zu Ausbildungszwecken danebengesessen, als die Kollegen ihn durchleuchteten. Tagelang. Hatte miterlebt, was es bedeutet, dabei zu sein, wenn die Eltern die Wahrheit über die Krankheit ihrer Tochter erfahren. Zu wissen, wie hoch die Schulden der Familie wirklich sind – und wie wenig die Ehefrau von ihrem Ehemann darüber erfährt. Zu lesen, welche Suchworte beim nächtlichen Surfen eingegeben werden, wenn Frau und Tochter längst im Bett sind und es nicht mehr um Religion oder Politik und die Verwandten in der Heimat geht, sondern darum, dass »die Zielperson 18 Minuten und 25 Sekunden lang diverse URL-Adressen angesteuert hat, die laut einer nachträglich durchgeführten Internetrecherche in hiesiger Dienststelle vorwiegend pornografische Inhalte bereitstellen«.

Bei uns ist es spannender … Für Sami war es bis heute eine glückliche Ausnahme, wenn er als Analyst auch einmal mit Quellen reden durfte. Das war eigentlich gar nicht vorgesehen, doch weil die Beschaffer nicht immer das nötige Hintergrundwissen hatten, um die passenden Fragen zu stellen oder die Signale der Informanten richtig zu deuten, kam es seit einigen Jahren öfter vor, dass Auswerter sie zu den Treffen begleiteten. Meistens verbrachte er seine Tage allerdings damit, Terrorvideos auszuwerten, Ansprachen von keifenden Emiren zu interpretieren, in all dem Durcheinander Netzwerke zu erkennen, »seine« Jungs im Auge zu behalten und in langweiligen Vermerken all das für die Ewigkeit festzuhalten, was sie anstellten.

Immerhin: Er arbeitete im GTAZ. Weniger Theorie, dafür echte Terroristen, manchmal sogar solche mit echten Anschlagsplänen, das alles auch noch in Echtzeit – und als Dreingabe gab es nicht nur die Polizisten vom BKA und den Landeskriminalämtern sowie die BNDler, über die er Helten im Nachhinein recht geben musste, weil sie tatsächlich noch robotiger waren als die meisten anderen, die hier zusammenkamen, sondern auch noch Jack und John und Samantha vom FBI, von der NSA und der CIA, die gelegentlich in Treptow aufschlugen, als wäre das hier ihr eine Art Airbnb für Spione, nur dass sie es zugleich fertigbrachten, noch ein wenig wichtiger und geheimnisumwitterter zu schauen und zu reden als der Rest. Spannend? Das GTAZ war exakt so spannend, wie es in Deutschland eben werden konnte. Und es war eine Bühne ersten Ranges.

Der Tisch im Besprechungsraum A242 war lang und schmal. An einem der schmalen Enden stand Eulenhauer und schaute ungeduldig auf die Uhr. Sami nickte in die Runde, als er den Raum betrat, sah sich kurz um und nahm in der Mitte der langen Seite Platz, die der Tür am nächsten lag. Dort hatte er Holger entdeckt, und der hatte ihm einen Platz frei gehalten. Sie mussten ihn auf dem Weg ins Büro auf dem Handy erwischt haben. Etwa ein Dutzend Personen saßen in dem Raum. Eulenhauer hatte ein gemeinsames Treffen der AG Gefährdungsbewertung und der AG Tägliche Lagebesprechung anberaumt. Eine Viertelstunde vor dem üblichen Termin.

»Na, dann können wir ja anfangen«, sagte Eulenhauer.

»Er wird predigen«, flüsterte ihm Holger zu, während Sami mechanisch sein Notizbuch und seinen Stift auspackte. »Ich seh’s ihm an.«

»Ich weiß«, sagte Sami.

Eulenhauer stand auf, trat einen Schritt zurück, nur um wieder nach vorne zu treten, und hob dann an: »Charlie Hebdo in Paris, verehrte Kollegen, dann Brüssel, Garland in Texas, dann Isère. Dann wieder Paris, Sie erinnern sich. Dann wieder Brüssel. Hannover, Nizza, Ansbach, Würzburg. Orlando. Und, verdammt noch mal, der Breitscheidplatz! Und das sind nur die, die nicht vereitelt werden konnten!«

»Ich hab es dir gesagt«, sagte Holger und stöhnte leise. Sami nickte, ohne von der Kaffeetasse aufzusehen, die Holger aus der Thermoskanne für ihn gefüllt hatte.

»Schon deshalb müssen wir jeden Hinweis ernst nehmen, der Berlin auch nur erwähnt. Man sollte meinen, dass wir uns darin einig sind. Aber anscheinend ist dem nicht so. Deswegen habe ich diese inoffizielle Vorabrunde einberufen. Wie Sie wissen, ist der Zweck des GTAZ die Vernetzung aller kompetenten Behörden in der Terrorbekämpfung. Zusammenarbeit sollte hier großgeschrieben werden, auch und gerade über Behördengrenzen hinweg. Gestern gab es einen sehr spezifischen internetbasierten Hinweis auf eine geplante Anschlagshandlung hier in Berlin. Trotzdem blieb er mysteriöserweise im BfV hängen. Er wurde nicht einmal vernünftig protokolliert. Der betreffende Analyst des BfV fand das anscheinend nicht zwingend, er hat den Hinweis stattdessen ad acta gelegt, und er kam zu diesem Ergebnis, ohne dass er sich zuvor mit jemandem beraten hätte – und zwar weder mit der Polizeiseite, wie ich bestätigen kann, noch mit seinen eigenen Kollegen aus dem Nachrichtendienst-Strang, wie ich mittlerweile ebenso sicher weiß. Man könnte fast meinen: Der Hinweis sollte verschwiegen werden. Dass jedem Kollegen hier, auch den jüngeren, angesichts der hohen Schlagzahl eine gewisse Erstbewertungskompetenz zugestanden wird, versteht sich von selbst. Aber genau dieser Hinweis auf einen geplanten Anschlag in Berlin liegt mittlerweile der Presse vor – und die nimmt ihn durchaus ernst.«

Eulenhauer griff in seine Jacketttasche und knallte den Tagesspiegel vor sich auf den Tisch.

Ein Kollege vom LKA Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg, Sami war sich nicht sicher, er brachte die beiden immer durcheinander, und das Namensschild stand schief, setzte sich ruckartig auf. Er war nicht der einzige, nur der erste. Sie wittern Ärger, dachte Sami. Gesprächsstoff für später.

»Oh«, flüsterte Holger. »Die Eule meint es ernst.«

»Ich würde«, fuhr Eulenhauer fort, und ging nun langsam von rechts nach links und wieder zurück, »das gerne kurz nachbereiten. So etwas darf nicht wieder passieren. Ich habe mir erlaubt, die Drohung, um die es hier geht, noch einmal für alle auszudrucken, falls Sie sie nicht kennen sollten.«

Eulenhauer begann nun, um den Tisch herumzugehen und jedem der Anwesenden ein Blatt Papier hinzulegen.

Sami hätte seine Kopie nicht gebraucht. Er kannte den Tweet auswendig. Die Rechtschreibfehler eingeschlossen.

Allahu Akbar, die Bruder sind bereits auf dem Wege. Berlin, die Kuffar-Hauptstatt, hat exakte 24 St Zeit! #BerlinWirdBrennen

»Wir hatten wegen dieses Versehens keine Möglichkeit, mit Partnerbehörden im Ausland über diese Ankündigung eines Anschlages auch nur zu sprechen«, fuhr Eulenhauer fort. »Wir haben uns blind und taub gemacht.« Die Stimme des Polizisten wurde nun lauter. »Was, wenn unsere Partner gewusst hätten, was dahintersteckt? Ein Puzzlestück kannten, das wir gebraucht hätten? Was dann?«

O.K., dachte Sami: Jetzt.

Er räusperte sich. Unwirsch blickte Eulenhauer zu ihm herüber.

»Herr Eulenhauer«, fragte Sami, »darf ich, als der betreffende Analyst, auch etwas dazu sagen?«

»Also das hatte ich jetzt eigentlich nicht im Sinn. Ich wollte den Sachverhalt erst einmal darstellen. Danach vielleicht, also meinetwegen.«

»Ach so. Ja, gut. Dann machen wir das so.«

»Ja gut, also dann. Dann lassen Sie mich das hier bitte erst einmal zu Ende verteilen.«

»Moment noch, Herr Eulenhauer. Nur ganz kurz. Während Sie weiter verteilen. Können wir dann, also zum passenden Zeitpunkt, vielleicht auch kurz darüber sprechen, dass Sie es waren, der diesen Tweet an den Tagesspiegel weitergegeben hat? Ich fände es gut, wenn Sie das kurz erklären würden. Das versteht sicher nicht jeder gleich, warum das nötig war.«

Holger stieß seine Kaffeetasse um und zuckte dabei nicht einmal zusammen. Das Geräusch des auf den Boden tröpfelnden Kaffees war das Einzige, das in diesem Moment zu hören war.

 

»Merle, komm schon, ich muss es wissen!«

»Sami, hast du sie noch alle? Es ist halb vier am Morgen, und ich schlafe!«

»Hat Eulenhauer das durchgestochen? Ihr Journalisten redet doch alle miteinander.«

»Das kann ich dir nicht sagen, das weißt du genau. Wo bist du überhaupt?«

»Zu Hause. Komm schon Merle, du kennst die Jungs vom Tagesspiegel, das weiß ich!«

»Sami, echt jetzt, spinnst du?«

»Und wenn ich dir dafür auch was sage?«

»Was denn?«

»Etwas Großes.«

»Ja klar.«

»Merle, ich habe dich noch nie hängen lassen.«

»Das stimmt.«

»Also?«

»Ich kann dir das trotzdem nicht sagen.«

»Doch, das kannst du. Ich muss es wissen.«

»Warum?«

»Kann ich dir erst später erzählen.«

»Sami, du bist doch irre. Und vermutlich bist du sowieso besoffen.«

»Nein, Merle. Habe ich dich je zuvor um halb vier morgens angerufen? Ich dich? Noch nie. Du mich? Oh ja!«

»Ist es ’ne gute Geschichte?«

»Es ist ’ne gute Geschichte.«

»O.K., also …«

»Nein, warte! Bevor du etwas sagst, Merle: Ich weiß nicht, ob es ’ne gute Geschichte ist.«

»Aber?«

»Ich glaube, es könnte eine gute Geschichte sein.«

»Was denn nun?«

»Jedenfalls ist sie so wichtig, dass ich hier noch niemandem davon erzählt habe.«

»Wichtiger als Eulenhauers Geschichte?«

»Danke, Merle!«

»Mach das nie wieder, Sami!«

 

Nach dem Telefonat mit Merle war er ruhiger gewesen. So ruhig, dass er den zweiten Gin Tonic weggeschüttet und stattdessen von seinem Sessel aus dem Sonnenaufgang zugesehen und dem Vogel zugehört hatte, bevor er duschen gegangen war, sich einen Espresso gemacht und an Maha gedacht hatte.

Und jetzt genoss er es zuzusehen, wie Eulenhauer rot wurde. Nach Worten suchte, aber keine fand.

»Alter!«, flüsterte Holger. »War das deine Version von einem Selbstmordattentat?«

Erstaunlich, dachte Sami, wie gelassen ich bin. Vielleicht schmeißen sie mich sogar raus. Bin ich so ruhig, weil mir das egal wäre?

Ja, weil es mir egal wäre.

Und weil ich weiß, dass ich recht habe. Weil ich sie kenne: die, die nur das Maul aufreißen; und die anderen, die wirklich Gefährlichen. Und du kennst sie nicht, Eulenhauer. Du würdest einen Terroristen nicht mal erkennen, wenn er dir auf die Füße fällt.

* * *

Merle Schwalb erwachte vom zweimaligen Piepsen ihres Mobiltelefons, das sie aber zunächst nicht finden konnte, weil sie vergessen hatte, wo sich die Steckdose befand, an welche sie es am Abend zuvor zum Aufladen angeschlossen hatte. Als es ihr schließlich einfiel, stieß sie sich den Kopf an einem der Miniregale, die sich über der winzigen Plastikspüle befanden, direkt oberhalb der Steckdose. Wie Schneewittchen bei den sieben Zwergen, dachte sie, während sie sich den Kopf rieb. Sie trennte ihr Handy vom Ladegerät, zwang sich jedoch, die Nachricht nicht zu lesen.

Draußen, dachte sie, ich werde diese SMS, von wem auch immer sie stammt, draußen lesen, nicht in dieser stickigen Dose, und dabei werde ich auf die Ostsee blicken. Und ich werde vorher durchatmen. Noch besser: Ich werde mir erst noch an der Bude am Eingang in aller Ruhe einen richtig üblen, viel zu dünnen Kaffee holen. Den werde ich trinken und dabei auf die Ostsee blicken – und dann die SMS lesen.

Merle Schwalb zog sich ihre Shorts über und trat aus dem Wohnwagen. Dankbar atmete sie die frische Luft ein. Der Rasen unter ihren bloßen Füßen fühlte sich ungewohnt, aber gut an. Von der Ostsee her wehte ein leichter Wind, der die jungen Birken vor dem Wohnwagen rascheln ließ. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war erst kurz nach sechs Uhr am Morgen. Seufzend legte sie das Handy auf den Campingtisch vor dem Wohnwagen und machte sich auf den Weg.

»Versuch’s einfach«, hatte Henk Lauter, ihr Ressortleiter, zu ihr gesagt, als er ihr den Schlüssel in die Hand gedrückt hatte. »Ich kann da immer sehr gut nachdenken.«

Sie hatte ihn skeptisch angeschaut, den Schlüssel aber an sich genommen. Und war dann am Samstagnachmittag tatsächlich in den Carsharing-Mini gestiegen und nach Usedom gefahren, um das Wochenende in Henks Wohnwagen zu verbringen. Henk hatte ihr eine Skizze des Campingplatzes gemalt, ein dickes Kreuz auf seiner Parzelle eingezeichnet und zur Sicherheit noch ein Schild dazugemalt, das sie auf dem Grundstück rechts neben seinem sehen würde: »Hier erholen sich Conny und Babs«.

Conny und Babs, das hatte sich im Verlaufe des Samstagabends herausgestellt, waren Bob-Dylan-Fans. Conny spielte leidlich gut auf der Gitarre, und Babs sang dazu. Ab und zu ertönte auch eine Mundharmonika, aber wegen der Hecke zwischen ihren Parzellen konnte Merle Schwalb nicht sehen, wer von den beiden sie spielte. Sie mochte Bob Dylan, und weil Conny und Babs nicht besonders laut musizierten, hatte sie den Samstagabend in ungefähr drei Metern Luftlinie von den beiden in Henks Hängematte zwischen zwei Birken verbracht, drei Flaschen Störtebeker-Pils getrunken und leise mitgesummt, während sie nachgedacht hatte.

The times, they are a-changin’ …

Oder doch nicht?

Der Samstagnachmittag war hektisch gewesen, da hatten überall Kinder gekreischt, und einige von ihnen waren mehrmals einem Ball hinterhergelaufen, der auf ihr, also auf Henks Grundstück geflogen war. Und etwas später, zwischen 18 und 19 Uhr, hatten das Ploppen von Bierflaschen und das Platzen von Bratwurstdärmen auf Dutzenden Grills die Luft erfüllt. Danach war es ruhiger geworden, mit jeder Stunde ein bisschen mehr, während zugleich die Sonne in der Ostsee versank.