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Der Multimillionär Robert White wurde im Büro seines Firmensitzes von einer Bombe ins Koma gesprengt. Hauptverdächtiger war sein eigener Sohn und einziger Erbe Brandon. Seltsam nur, dass der junge Mann vor einigen Monaten bei einem Erdrutsch im brasilianischen Regenwald gestorben sein sollte. Also blieb Phil und mir nichts anderes übrig, als nach Brasilien zu reisen, um dort nach den Spuren des verlorenen Sohns zu suchen. Sofort nach unserer Ankunft bekamen wir es mit radikalen Umweltaktivisten und der örtlichen Polizei zu tun, die sich alles andere als erfreut über unser Auftauchen zeigte. Die Grenzen zwischen Gut und Böse drohten zu verschwimmen, und am Ende mussten wir uns eingestehen, dass wir die ganze Zeit über einem perfiden Spiel aufgesessen waren.
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Der verlorene Sohn
Vorschau
Impressum
Der verlorene Sohn
Robert White war im Begriff, sein Büro in der obersten Etage des konzerneigenen Gebäudes in der Fifth Avenue in Manhattan zu verlassen.
Er drückte den Knopf an der Telefonanlage, die ihn mit dem Vorzimmer verband, und meldete sich für heute ab. Seine Arthritis machte ihm wieder einmal zu schaffen, und er würde den Nachmittag bei seinem Physiotherapeuten verbringen.
Noch während er einer seiner Sekretärinnen letzte Anweisungen für die morgige Konferenz mit der Leitung seiner Stiftung gab, wollte er wie jeden Tag das gerahmte Foto seiner verstorbenen Ehefrau aus der Schreibtischschublade nehmen und wieder auf den Tisch stellen.
Das Foto zeigte neben seiner über alles geliebten Evelyn seinen einzigen Sohn Brandon, dessen Gesicht zu betrachten er nicht mehr ertrug. So hatte er sich angewöhnt, das Bild tagsüber zu verstecken und erst abends hervorzuholen. Ein neues wollte er Evelyn zuliebe nicht aufstellen, aber den verlorenen Sohn mochte er tagsüber auch nicht sehen.
Er nahm das Foto, es rutschte ihm aus den steifen Fingern und fiel zu Boden. Seufzend ließ er sich von seinem Sessel auf die schmerzenden Knie gleiten, verfluchte Leben, Alter und Krankheit und stieß aus Versehen mit einem Knie das Bild unter die dicke Eichentischplatte.
Wie ein verdammtes Kaninchen in seinen Bau musste er fast vollkommen unter den Tisch kriechen, bis er mit zitternden Fingern das Bild erreichte. Er hielt es gerade in seinen Händen und wollte sich unter dem Tisch umdrehen, um wieder aus seiner unwürdigen Position herauszukommen, als die Bombe explodierte.
Der Schreibtisch wurde von der Wucht der Explosion an die Wand gedrückt. Die schweren Designersessel, die vor dem Schreibtisch standen, wurden aus dem Fenster geschleudert, ebenso die Hälfte seines Vorzimmers samt Sekretärinnen, Mobiliar und einem Büroboten, der gerade die letzte Post des Tages brachte.
Alle drei Sekretärinnen und der Bürobote waren sofort tot. Dreizehn Stockwerke tiefer wurden eine Dogsitterin und zwei ihrer Hunde, die sie gerade ausführte, von dem Mobiliar erschlagen. Ein Teil der Stahlkonstruktion, die das Gebäude zusammenhielt, fiel auf einen Truck, dessen Fahrer gerade an einem Essensstand einen Hotdog verspeiste.
Noch bevor der Mann den Hotdog fallen gelassen hatte, um zu seinem brennenden Lastwagen zu rennen, war die Luft von Sirenen und Schreien erfüllt.
Als Phil und ich am Tatort eintrafen, erreichte uns die Nachricht, dass die Feuerwehr in dem ausgebrannten Büro in der obersten Etage den Besitzer des Gebäudes hinter einem Schreibtisch gefunden hatte. Der Mann lebte noch und war auf dem Weg ins Krankenhaus. Er hatte zwei gebrochene Arme und ein gebrochenes Bein, und in seiner Seite steckte ein Holzsplitter des Schreibtischs.
Ich stieg aus meinem Jaguar und warf einen Blick nach oben.
Die oberste Etage des Gebäudes sah aus, als hätte ein Riese ein Stück daraus herausgebissen. Zackige Reste von Beton, aus dem Stahl ragte, halbrund aus dem Gebäude gesprengt. Wasser aus klaffenden Leitungen, das in die darunterliegende Etage strömte, in der sich Feuerwehrleute und Kollegen vom NYPD drängten. Der Boden von drei nebeneinanderliegenden Räumen war bis auf einen schmalen Rest verschwunden, und auf diesem Rest, nicht breiter als sieben oder acht Yards, befand sich der Schreibtisch, ein wenig abgerückt von der Wand.
»Wie haben sie ihn da herausbekommen?«, fragte Phil, der neben mir stand.
Ich antwortete nicht.
»Die Bombe muss direkt im Raum gewesen sein, vor dem Schreibtisch«, sagte ich stattdessen nachdenklich. »Ist mir ein Rätsel, wie er da drunter gekommen ist, bevor sie explodierte. Normalerweise hätte ihn das Ding zerquetschen müssen, wenn er dahinter gesessen hat, wenn ihm die Bombe nicht vorher schon den Kopf abgerissen hätte.«
Ich sah mich kurz um und registrierte das Getümmel aus Polizei, Presse und Schaulustigen, die sich vor und hinter den Absperrbändern drängten. Ich überquerte die Straße und ging gemeinsam mit Phil auf den Eingang des Gebäudes zu, vor dem sich der Chief der Feuerwehr mit ein paar Kollegen von der Spurensicherung unterhielt.
Wir zückten unsere Marken und nannten unsere Namen.
Dann wandte ich mich an den Leiter der Spurensicherung und richtete dieselbe Frage an ihn, die ich mir eben auch gestellt hatte. »Wie ist der Mann rechtzeitig unter den Tisch gekommen? Die Explosion hätte ihn sonst doch wohl zerfetzt.«
»Können wir ihn fragen, wenn er wieder wach ist«, antwortete der Kollege. »Wenn er wieder wach wird. Einer von der Feuerwehr hat ein Stöhnen gehört, sonst würde er wohl noch da oben liegen.«
»Verstehe.«
»Wir sind mit einer Leiter rauf und haben den Schreibtisch gerade so weit abrücken können, dass sie ihn rausziehen konnten. Sie haben ihn in ein künstliches Koma versetzt. Ist ein alter Mann, um die siebzig.«
»Wie geht es ihm?«
»Mehrere Brüche, innere Verletzungen. Keine Ahnung, müssen Sie mit den Ärzten reden. Wir wissen bisher nur, dass die Bombe in einem Stahlbehälter versteckt war.«
Ich zog die Brauen hoch.
»Aufgrund der Splitter, die wir gefunden haben. Muss direkt vor dem Schreibtisch gestanden haben, das Ding. Ich schicke Ihnen den Bericht. Wir untersuchen noch die Gebäudeteile, die hier unten rumliegen, aber mehr über das, woraus das Ding bestand, werden wie Ihnen nicht sagen können. Der Rest ist Ihre Sache.«
Er tippte sich an die Stirn und redete wieder mit dem Chief der Feuerwehr, während wir zu den Fahrtstühlen gingen und in das Stockwerk unter dem betroffenen fuhren, um uns ein genaueres Bild zu machen.
Viel war am Tatort nicht zu sehen. Die obere Etage war so gut wie nicht mehr da. Nur der Schreibtisch war übrig, alles andere lag entweder unten auf der Straße oder kokelte in der darunterliegenden Etage vor sich hin. Also fuhren wir in unser Büro, telefonierten mit einem Arzt, der uns erklärte, dass der alte Mann für mindestens drei Wochen ins Koma versetzt worden war. Man fürchtete, dass der Körper dem Schock nicht gewachsen wäre, würde er in seinem jetzigen Zustand wieder zu Bewusstsein kommen.
Anschließend baten wir unseren IT-Spezialisten Dr. Ben Bruckner, uns alles aus dem Netz und unseren internen Datenbanken zusammenzusuchen, was über Robert White und sein Unternehmen zu finden war.
»Check bitte mal, ob die Überwachungskameras in den letzten Wochen etwas Verdächtiges aufgezeichnet haben«, fügte ich hinzu. »Und bezieh die Gebäude ringsum mit ein. Ich mache mir zwar keine großen Hoffnungen, doch vielleicht haben wir Glück.«
Eine halbe Stunde später hatten wir die Infos von Ben auf meinem Schreibtisch liegen. Phil packte die Reste des kargen Mittagessens beiseite, das wir beim Chinesen um die Ecke bestellt hatten. Gemeinsam lasen wir von meinem Bildschirm ab, was es gab.
White hatte sein Vermögen mit natürlichen Düngemitteln für die Landwirtschaft gemacht, war in der Börse in verschiedene andere Unternehmen eingestiegen und bezifferte sein Vermögen mittlerweile auf rund achtzig Millionen Dollar.
»Nicht schlecht«, meinte Phil, der noch auf einem Zahnstocher herumkaute, mit dem er die Reste der Frühlingsrollen aus seinen Zähnen gepult hatte. »Was man aus Mist alles machen kann.«
»Wenn man den Mist dann noch fruchtbar zur Börse trägt«, sagte ich. »Wie heißt es doch? Der Teufel ...«
»Schau mal hier«, unterbrach Phil meine lockere Bemerkung und scrollte nach unten. »Anscheinend hat sein Glück an der Börse nicht auf seine Familie abgefärbt.«
Ich überflog die Artikel aus ein paar Boulevardblättern, die darüber berichteten, dass die zweite Ehefrau von Robert White vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Er hatte sie kennengelernt, nachdem seine erste Ehefrau einige Jahre vorher an Krebs gestorben war. Brandon White, Sohn aus erster Ehe, war vor ein paar Monaten bei einem Erdrutsch im brasilianischen Regenwald verschüttet und für tot erklärt worden. Seine Leiche hatte man bis jetzt nicht gefunden.
»Tragisch«, murmelte Phil. »Da nützt einem das ganze Geld nichts.«
Wir sahen uns eine Reihe von Fotos an, die die Familie zeigten, als die Stiefmutter und der Sohn noch lebten. Fotos von Empfängen, Opernbesuchen und einige mit der politischen Prominenz New Yorks.
Dann kamen ein paar Bilder mit Brandon White im Porträt. Er hatte das Gesicht eines willensstarken jungen Mannes, mit einem trotzigen Zug um den Mund, wilden blonden Haaren, hohen Wangenknochen, einer runden Brille und dahinter ein paar ungewöhnlich helle grüne Augen und eine auffällige rechte Braue, die in der Mitte durch eine haarlose Stelle geteilt war und dem Gesicht einen markanten Ausdruck verlieh.
Die Stiefmutter war vom Alter her näher am Sohn als am Vater gewesen. Der Sohn hatte sein gutes Aussehen wohl von der leiblichen Mutter geerbt, während der Alte ein hartes, unnahbares Äußeres zu pflegen schien, mit einem grimmigem Gesichtsausdruck und einem misstrauischem Blick in die Kamera.
In einem Artikel über das Verschwinden des Sohns war zu lesen, dass mit dem Tod des einzigen noch verbliebenen Erben das Vermögen des Alten bei dessen Tod an eine Stiftung gehen würde. Sie kümmerte sich darum, dass Kinder und Jugendliche aus den Krisengebieten der ganzen Welt Operationen erhielten, wenn sie sich Verletzungen etwa durch Minen oder andere kriegsbedingte Ursachen zugezogen hatten. Diese Stiftung war von White selbst gegründet worden, was wohl auch der Grund für seine Großzügigkeit war im Falle seines Todes.
»Nobel«, meinte Phil. »Da wird das Geld ja gut angelegt, wenn der arme Mann nicht wieder aus dem Koma erwachen sollte.«
»Was wir nicht hoffen wollen«, sagte ich mit einem Seufzer. »Ich würde zu gern wissen, wie er es geschafft hat, noch unter den Tisch zu kriechen, bevor die Bombe hochging, und ob er uns sagen könnte, warum es überhaupt jemand auf ihn abgesehen hat.«
Wir scrollten weiter, aber es fand sich nichts, was uns interessiert hätte.
Ich schaltete den Computer aus und versuchte das wenige, was wir wussten, zu einem Ganzen zu ordnen, als Ben über Videocall anrief.
»Wir haben einen Treffer«, kam er gleich zur Sache, »und zwar einen in die Mitte der Zielscheibe. Ich musste gar nicht lange suchen.«
»Schieß los«, sagte ich.
»Heute morgen hat eine Gruppe Männer das Gebäude betreten, in den Uniformen der Firma für Gebäudereinigung, die dort sauber macht. Die hatten mehrere Karren dabei, mit Besen und all dem Zeug. Groß genug, um einen Rollcontainer mit einer Bombe darin zu verstecken.«
»Das ist ein erster Ansatz.«
»Ja. Ältere Aufnahmen aus Whites Büro zeigen tatsächlich, dass es dort eigentlich gar keine von den Dingern gab. Bis heute morgen eben. Die Männer haben den Container ins Büro und zwischen die Aktenschränke geschoben, sodass es wohl nicht weiter auffiel. Vom Zeitpunkt der Explosion haben wir keine Aufnahmen, die Kameras im Büro schalten automatisch ab, wenn White den Raum betritt.«
Ich nickte.
»Es steht meiner Meinung nach außer Zweifel, dass die Bombe in dem Container war. Schaut euch einfach die Aufnahmen an. Es ist sogar eine mit Ton darunter, aus dem Fahrstuhl, mit dem sie hochgefahren sind. Da gibt es auch Tonaufnahmen, wenn mal einer stecken bleibt und um Hilfe ruft. Die Kerle haben Russisch gesprochen. Die Firma beschäftigt schon seit ein paar Jahren keine Russen mehr, weil ...«
»Sind sie allein deshalb schon verdächtig, weil sie Russisch sprachen?«, unterbrach ich unseren aufgeregten jungen Freund.
»Nein, das ist es nicht«, sagte Ben und grinste. »Nur schaut euch die Aufnahmen aus dem Fahrstuhl an, und ihr werdet sehen, dass einer der Kerle tatsächlich kein Russe war.«
Ben schob uns auf dem Bildschirm eine Videodatei ins Sichtfeld, öffnete sie und wartete, wie wir reagieren würden.
Wir blickten wie durch ein Froschauge direkt von oben in einen Fahrstuhl, in dem sich sechs Männer um zwei Putzwagen drängten. Alle Personen blickten starr auf den Boden, hatten ihre Kappen tief ins Gesicht gezogen und murmelten nur ab und an etwas, während sich der Fahrstuhl nach oben bewegte. Es hörte sich tatsächlich eindeutig wie Russisch an.
Dann passierte es. Einer der Männer vergaß für den Bruchteil einer Sekunde jede Vorsicht, drehte den Kopf nach oben, streckte seinen wohl steif gewordenen Nacken und sah direkt in die Kamera.
»Ja, da brat mir doch einer ...!«, rief Phil und beendete den Satz nicht.
Aber auch mir wäre in diesem Moment nichts Intelligenteres eingefallen, selbst wenn es mir nicht komplett die Sprache verschlagen hätte.
Direkt in die Kamera sah für den Bruchteil einer Sekunde niemand anderes als Brandon White, verschollener und für tot erklärter Sohn des spendablen Multimillionärs und Glückspilzes. Einwandfrei zu erkennen an der Brille, den hellen grünen Augen und der geteilten Braue.
»Nun gut«, schloss ich die Diskussion ab, die Phil, Iris McLane und ich geführt hatten, nachdem wir unsere Psychologin in den Fall eingeweiht und ihr das Video gezeigt hatten. »Es zeichnen sich zwei Theorien ab, die beide ihr Für und Wider haben.«
»Lass hören«, sagte Iris.
»Phil ist der Meinung, dass der junge Mister White in Brasilien nicht verschüttet wurde, wie es offiziell heißt, sondern untergetaucht ist, eine Bande krimineller Russen um sich scharte und zurückkehrte, um seinen alten Herrn ins Jenseits zu befördern. Für diese Vermutung spricht, dass der alte White seinen einzigen Sprössling enterben wollte. Demnach hätte sich Brandon White für tot erklären lassen, damit die Notwendigkeit, ihn zu enterben, für den Vater entfällt.«
»Cleverer Schachzug.«
»Ja. Er ist tot. Das Testament bleibt, wie es ist. Er bringt seinen Erzeuger um, wartet ein paar Wochen oder Monate und taucht dann quicklebendig aus dem Dschungel wieder auf, und niemand kann etwas dagegen sagen, weil es eben ein paar russische Terroristen waren, die den Vater auf dem Gewissen haben. Warum sie das getan haben sollten, das werden wir bestimmt in den nächsten Tagen erfahren. Das sagt mir mein Bauchgefühl. Iris ist ...«
»... ist der Meinung, dass es sich tatsächlich um eine Bande Krimineller handelt, die Brandon White in Brasilien entführt und ihn umgedreht haben«, unterbrach sie mich, um ihre Position selbst zu vertreten. »Sie entführten ihn, wollten Lösegeld erpressen und haben bemerkt, dass der junge Mann nicht gut auf den Alten zu sprechen war. Dann haben sie einen anderen, größeren Plan entwickelt: Warum sich mit ein paar Millionen Lösegeld zufrieden geben, wenn man das ganze Geld einsacken kann? Immerhin rund achtzig Millionen, das Vermögen in Immobilien und so weiter nicht mitgezählt. Dafür würde sprechen, dass zwischen dem Verschwinden von Brandon White und dem Attentat so viel Zeit verstrichen ist. Wenn man Lösegeld erpressen will, wartet man nicht Monate lang, und man lässt schon gar nicht das Opfer für tot erklären.«
»Was beides im Grunde auf dasselbe hinausläuft«, meinte Phil. »Dass nämlich der junge Mister White an dem Verbrechen beteiligt ist.«
»Nun, es könnte schon entscheidend sein, ob man die Haupttäterschaft Brandons oder eine psychologische Ausnahmesituation beweisen kann, die ihn zu seinen Handlungen gezwungen hätte«, sagte Iris. »Wenn man dem jungen Mann nämlich das Stockholm-Syndrom ohne wesentliche Beteiligung an dem konkreten Verbrechen nachweisen kann, er also nur als Mitläufer dabei war, wäre er eben doch unter Umständen erbberechtigt.«
»Ich kann nicht einsehen, warum jedes Mal, wenn so ein verwöhnter Millionärsbengel so richtig böse über die Stränge schlägt, das Stockholm-Syndrom bemüht wird«, widersprach Phil ihr. »Um so weit umgedreht zu werden, dass man seinen Vater abmurksen will, muss schon vorher eine Menge an Absichten in dieser Richtung vorhanden gewesen sein. Schließlich wollte der Alte seinen Filius enterben. Ich würde wirklich gern wissen, warum. Es geht ja schließlich nicht darum, ein kleines Kind dazu zu überreden, seinen Spinat zu essen. Er wollte es, und die bösen Buben haben ihm dabei geholfen. Ob die nun als Erstes die Idee hatten oder er, spielt meiner Meinung nach keine Rolle.«
»Aber es würde erklären, warum er im Fahrstuhl in die Kamera geschaut hat«, meinte ich. »Ob bewusst oder unbewusst, damit hat er uns einen wertvollen, wenn nicht den einzigen Hinweis auf die Aufklärung des Falls gegeben. Wenn er wirklich der abgekochte Verbrecher wäre, der sich seit Monaten auf die Aktion vorbereitet hätte, wäre sein Fauxpas, einfach mal nach oben in die Kamera zu schauen, schwer zu erklären.«
»Auch Verbrecher machen Fehler«, wandte Phil ein, »sonst wäre unser Job aussichtslos. Und manchmal eben dumme Fehler. Doch ganz egal, was ihn getrieben hat, wir müssen ihn erst einmal finden, um ihn das fragen zu können. Wir können ja schlecht ein paar Monate warten, bis er wie das Teufelchen aus dem Kasten springt und ›Her mit dem Erbe!‹ ruft.«
»Genau«, stimmte ich meinem Freund und Partner zu. »Da ich annehme, dass er und seine Bande jetzt erst einmal irgendwo untergetaucht sind, bis es so weit ist, sehe ich nur eine Möglichkeit, der Wahrheit und damit diesen Gangstern auf die Schliche zu kommen: Wir müssen nach Brasilien fahren, um vor Ort zu erfahren, was damals wirklich passiert ist. Dann können wir vielleicht auch herausbekommen, wo sich die Bande jetzt aufhält.«
Wie wir es erwartet hatten, trudelte am nächsten Tag ein Bekennerschreiben der Internationalen Rotfront bei uns ein, in dem die Gruppe die Verantwortung für das Attentat übernahm. In umständlichem Polit-Blabla wurde die Einmischung der Stiftung des alten White in die internationalen Auseinandersetzungen um das Wiedererstarken des Sozialismus angeprangert.
Wie man auf die Idee kommen konnte, die Rettung von Tausenden von Kinderschicksalen mit dem Wirken des todbringenden amerikanischen Imperialismus in Verbindung zu bringen, blieb uns schleierhaft. Da wir jeder Spur nachgehen mussten, gaben wir das an Ben weiter, mit der Bitte, uns Bescheid zu geben, wenn er irgendetwas über die Existenz einer solchen Gruppe herausfinden könnte.